Die Gartenlaube (1861)/Heft 29
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No. 29. | 1861. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Ein Deutscher.
Die Morgendämmerung des nächsten Tages hatte sich kaum erst durch einen leicht bedeckten Himmel Bahn gebrochen; Reichardt streckte sich noch in seinem Bette und wartete, daß die im Kamin aufgebauten Kohlenstücke in rechten Brand gerathen sollten, als plötzlich die Thür aufsprang, und John Frost mit einem lachenden: „Richtig, hier haust er!“ eintrat. „Bleiben Sie liegen!“ rief er, als der junge Deutsche in wortloser Ueberraschung auffuhr, „dehnen Sie sich noch einmal und empfinden Sie, was es heißt, ein warmes Bett zu haben; ’s ist Manchem in der letzten Nacht nicht so gut geworden. Bei Gott, Reichardt,“ lachte er auf, „wenn ich Sie nicht schon lieb gehabt hätte, so würde ich Sie von heute an in mein Herz schließen – so eine Teufelsgeschichte!“
„Aber sagen Sie doch um Gotteswillen, was mir die Ehre verschafft, Sie in meiner Hütte zu sehen,“ begann Reichardt, „jetzt, wo kaum erst Milch und Bäckerwagen ihre Besuche machen –“
„Sollen Alles hören, Sir! bleiben Sie nur in Ihrer Ruhe, und ich werde ’s mir auch so bequem machen, als es sich thun läßt,“ erwiderte der junge Amerikaner, sich einen Stuhl zum Feuer und sich langsam eine Cigarre anbrennend; „die Sache ist die, Sir, daß ich soeben von der Polizeistation komme, wo ich unsern Freund Johnson nebst fünf oder sechs Andern recognoscirt habe. Unser kleines Zimmer im Astorhause ist letzte Nacht, etwa zwei Stunden nachdem Sie mich von dort weggezogen, von der Polizei überrumpelt, – die ganze Gesellschaft aber aufgehoben und nach dem Stationsgebäude abgeführt worden. Es muß ein ganz ungeheurer Verrath stattgefunden haben, mag der Teufel wissen, durch wen. Der Polizei-Capt’n hat den Schlag und das Paßwort gehabt, und der hintere Ausgang, zu dem nur Wenige den Weg von außen wissen, ist so besetzt gewesen, daß die armen Kerls die Ratte im Sack haben spielen müssen. – Well, Sir,“ fuhr er lachend fort, „ein großer Theil von den Uebelthätern hat sich durch herbeigeholte Verwandte und Bekannte noch während der Nacht legitimiren können und ist vorläufig entlassen worden; unser Johnson aber und noch einige mit ihm fürchteten nichts mehr, als daß der Streich zur Kenntniß ihrer Verwandten käme, und so wurde denn eine Botschaft an mich abgeschickt. Ich aber saß gerade irgendwo, nur nicht zu Hause, in einem allerliebsten Eckchen, und die glatte, patente Gesellschaft mußte die lange Nacht auf der Pritsche verbringen. – Bei Jingo,“ rief er, plötzlich aufspringend, „was meinen Sie, Reichardt, wenn wir Beide darunter gewesen wären? An den Kopf wär’s allerdings nicht gegangen, aber ich gestehe Ihnen jetzt ganz offen, daß ich lieber zwei Finger verlieren, als meinem Vater als arretirter Spieler unter die Augen treten möchte – und wenn jetzt mein erster Weg mich nach Ihrem Boardinghause geführt hat, trotztem es wohl die ungelegenste Zeit zu Besuchen ist, so mögen Sie daraus sehen, wie ich an Sie gedacht habe. – Aber,“ lachte er plötzlich wieder auf, „hätten Sie doch die Gesichter gesehen, als ich vor einer Stunde, nachdem ich beim Nachhausekommen den Hülferuf gefunden, in das Stationshaus trat. Ein strahlendes Licht in tiefster Finsterniß ist gar nichts gegen den Effect, den meine Erscheinung machte. Johnson ist trotz mancher unangenehmen Seite immer noch ein ganz leidlicher Junge – seinen Hochmuthsteufel in Bezug auf Sie werde ich ihm auch noch austreiben – und es hat mir wirklich wohlgethan, ihn für so manche Grobheit, die er gestern Abend hat anhören müssen, jetzt aus seinem Elende zu reißen – ja,“ unterbrach er sich plötzlich, „dabei fällt mir aber etwas Anderes ein. Wir haben morgen Danksagungstag, und es ist eine alte Sitte in unserm Hause, daß wir Kinder, meine Schwester und ich, einige unserer genauesten Bekannten Abends zur Vertilgung eines Truthahns bei uns sehen. Dazu sind Sie also jetzt feierlichst eingeladen, denn ich hoffe, Reichardt, daß ich Sie jetzt zu meinen genauesten Bekannten zählen darf!“ Er hatte sich mit ausgestreckter Hand nach dem Bette gewandt; der junge Deutsche aber war mit beiden Füßen zugleich unter seiner Decke hervor in’s Zimmer gesprungen.
„Erst muß darauf der nöthige Kratzfuß folgen!“ rief er mit einem Lachen, in dem sich seine ganze innere Genugthuung aussprach: „im Uebrigen aber kann ich Ihnen nicht mehr sagen, als ich schon gethan,“ setzte er hinzu, Frost’s Hand ergreifend, „disponiren Sie über mich, Sir!“
„All right, Sir. ich, bedarf auch keiner Worte mehr,“ gab Frost mit einem kräftigen Händedruck zurück, „jetzt aber vergessen Sie das Nächste nicht und fahren Sie in Ihre Hosen!“ – Eine Stunde später saß Reichardt auf seinem Arbeitsplatze in der Office. Er war einer der Ersten, und als er langsam seine Bücher aufschlug, meinte er die Sauberkeit und Accuratesse seiner Zahlencolonnen selbst noch nie so bemerkt zu haben, wie heute, glaubte er noch nie so zufrieden mit seiner Stellung wie jetzt gewesen zu sein. In ihm lebte ein Gefühl, als sei ihm ein unerwartetes Glück geworden, oder er habe eine fröhliche Nachricht erhalten, und wenn er, in seine Arbeit versenkt, bisweilen aufblickte, um sich zu besinnen, was ihn in eine so glückliche Stimmung versetzt, war es doch nichts, als die Einladung in das Frostsche Haus für morgen Abend. Als er sich aber endlich ertappte, wie er vor [450] sich hinstarrte, sich Margaret’s Bild in allen Einzelnheiten, wie er sie in Saratoga gesehen, vor die Seele stellte, und sich in diese lachenden, dunkelblauen Augen versenkte, da rieb er sich unzufrieden die Stirn. „Auf diese Weise hätte das Glück lieber wegbleiben sollen!“ brummte er, „aber hoffentlich werden Wille und Verstand auch noch ein Wort zu sagen haben! “ und wie befriedigt von dem Gedanken überließ er sich wieder der frühern innern Behaglichkeit.
Er hatte so eben eine für den heutigen Tag bestimmte Rechnungs-Aufstellung begonnen, als der Cassirer eintrat und bei Reichardt’s Anblick wie verwundert den Kopf hob. „Schon hier, Sir?“ fragte er, mit einem eigenthümlichen Seitenblick an sein Pult tretend.
Der Angeredete sah auf – es war das erste Mal, daß der alte Bell ein außergeschäftliches Gespräch mit ihm begonnen. „Ich denke, es ist nicht mehr früh, Sir,“ erwiderte er, „wenigstens habe ich schon ein Stück Arbeit unter den Händen weg!“
„Haben Sie?“ fragte der Alte mit einer sonderbaren Trockenheit, „in der Regel arbeitet es sich nicht gut, wenn man schlecht geschlafen hat!“
Reichardt blickte von Neuem auf. „Ich weiß nicht, Sir, ob Sie meinen Schlaf Ihrer Berücksichtigung würdigen,“ erwiderte er, als wisse er nicht recht, was aus den Worten des Cassirers zu machen, „ich darf Ihnen aber in diesem Falle sagen, daß er nie besser war, als in letzter Nacht!“
„Ah!“ zog der Alte, den Kopf langsam in den Nacken legend, „und so sind Sie auch jedenfalls recht sanft und weich gebettet gewesen? “
Durch Reichardt’s Gehirn schoß plötzlich ein Gedanke, welcher Licht in die sonderbaren Fragen des Alten brachte, zugleich aber ein helles Lächeln in dem Gesichte des Deutschen hervorrief. „Sie sind mit Ihren Vermuthungen wohl nicht ganz auf der rechten Fährte, Mr. Bell,“ sagte er, „es scheint mir fast, als wollten Sie auf einen Vorgang, welcher letzte Nacht im Astorhause stattfand, hindeuten –“
„Well, Sir, und wenn dem so wäre?“ erwiderte der Cassirer, während sein Auge, wie im Unmuth über den leichten Ton des jungen Mannes, einen strengen Ausdruck annahm.
„So habe ich eben nichts damit zu thun gehabt!“ versetzte Reichardt, ohne sein Lächeln unterdrücken zu können. „So viel ich weiß, hat der Ueberfall gegen ein Uhr stattgefunden; um elf Uhr aber hatte ich mit Mr. Frost das Haus bereits verlassen und lag kurz darauf schon weich und warm in meinem Bette –“
Der Cassirer schwieg einige Secunden, hielt aber das graue durchdringende Auge so fest auf Reichardt’s Gesicht geheftet, als wolle er in dessen Seele lesen. „Und dennoch scheinen Sie so genau zu wissen, was vorgegangen?“ versetzte er endlich.
Reichardt’s Lächeln verschwand und ein rasches Wort schien auf seine Lippen zu treten, das er aber, wie sich besinnend, zurück drängte. „Sie meinen sicher nicht damit, Mr. Bell, daß Sie einen Zweifel in meine Wahrheitsliebe setzen könnten?“ sagte er, fast wie bittend, und die Augen des Alten suchten vor seinem Blicke eine Secunde lang den Boden; „ich habe das erste Wort über die Angelegenheit erst heute Morgen erfahren.“
„Und Sie sagen, auch Mr. John Frost habe den Platz so früh verlassen?“ begann der Cassirer wieder, das Auge wie in unruhiger Spannung hebend.
„Wir haben miteinander die Straße betreten, Sir!“
Bell warf durch den halbgeöffneten Eingang einen Blick in das vordere Zimmer und schloß dann die Thür. „Haben Sie wohl irgend ein Bedenken, mir zu sagen, Sir, was den jungen Frost gerade gestern vermocht, seiner ganzen Gewohnheit zuwider so früh dort aufzubrechen?“ fragte er, sich langsam seinem Pulte wieder zuwendend; „es ist ein reiner Privatgrund, welcher mich zu der Frage veranlaßt.“
„Well, Mr. Bell, Sie bildeten selbst die Grundursache,“ erwiderte Reichardt und konnte sich eines neuen Lächelns nicht erwehren, als das Gesicht des Andern sich mit einem plötzlichen Ausdrucke von fragender Verwunderung nach ihm hob; „Sie sprachen gestern Abend zu mir über das Spiel im Astorhause; aber mehr noch als Ihre Worte blieben Ihre Blicke in meiner Erinnerung, mit denen Sie von jeder Hundertdollarsnote Abschied zu nehmen schienen; ich sah, daß John Unglück hatte, daß er in seiner Erregung vielleicht weiter gehen würde, als er es wohl mit kaltem Blute thäte, und überredete ihn, mit mir das Local zu verlassen –“
Der Cassirer nickte langsam, den ersten Blick forschend in des jungen Mannes Gesicht gerichtet, als wisse er noch immer nicht, wie weit er trauen dürfe.
„Und ich glaube, Sir,“ fuhr Reichardt fort, „daß nach Allem, was ich erfahren, der Vorfall in der letzten Nacht den besten Eindruck für alle Zukunft auf ihn hervorgebracht hat.“
„Vielleicht, Sir, vielleicht!“ erwiderte der Alte, nach einem langen Blicke in das offene, ehrliche Auge des Deutschen, „vielleicht hätte aber eine schärfere Lection noch besser ihre Wirkung gethan.“
Ein sonderbarer Gedanke schoß plötzlich durch Reichardt’s Kopf. „Das heißt, Sir,“ fragte er lachend, „es wäre besser gewesen, wenn John und ich diese Nacht auf der Polizei-Pritsche hätten zubringen müssen?“
„Von Ihnen sprach ich nicht, Sir – und die Sache hat sicher auch ihr Gutes, gerade so, wie sie geschehen ist – indessen läßt sich hier nur wenig darüber reden,“ erwiderte der Cassirer und hob das Ohr horchend; „nehmen Sie Ihr Mittagsbrod heute mit mir, Sir, und wir werden eine Stunde zu ungestörtem Austausch unserer Gedanken finden, die uns vielleicht Beiden gut thun wird.“
„Ich habe keinen Grund, Ihre freundliche Einladung auszuschlagen, Sir,“ sagte Reichardt etwas überrascht, wandte sich aber nach seiner Arbeit, als jetzt die Thür aufsprang und Augustus Frost langsam durch das Zimmer schritt, während John ihm rasch folgte und gleichzeitig mit ihm in das hintere Zimmer eintrat.
Der Cassirer, über seine Papiere gebeugt, schüttelte den Kopf. „Jetzt beichtet er ihm die ganze Geschichte und malt sie so komisch aus, bis der Alte nicht mehr ernst bleiben kann und ihn mit einem leichten Verweise entläßt,“ brummte er; „dann geht es auf dem alten Wege weiter, bis die Rücksicht vor dem Vater einmal nicht mehr besteht und das Geschäft sich jeden Abend am Rande des heimlichen Verderbens befindet. Es bedürfte einer scharfen Lection oder eines gewaltigen Einflusses, sollte ihn sein Weg einmal zum Bessern führen; aber aus alle diesen fashionablen Spielern ist noch selten mehr geworden, als fashionable Davonläufer und fashionable Selbstmörder.“ Er nickte brummend mit dem Kopfe und schien sich dann ganz in die Zahlreihen vor sich versenkt zu haben.
Reichardt saß noch eine geraume Weile, ehe er die Gedanken ganz seiner Arbeit wieder zuwenden konnte; es war ihm, als habe er durch Bell’s wenige Worte einen tieferen Blick in die Verhältnisse des Frost’schen Hauses gethan, als ihm dies auf anderem Wege möglich geworden; kaum vermochte er sich ein ansprechenderes Verhältniß zwischen Vater und Sohn zu denken, als der Cassirer es mit einem Zuge hingestellt hatte, und dessen weiter ausgesprochene Befürchtungen erschienen ihm, wie er John kannte, fast nur als die Ergebnisse eines halb verschrumpften griesgrämigen Herzens; hätte er es doch jetzt allein unternehmen mögen, den jungen Mann ganz vom Spieltisch wegzuhalten. Damit aber kam die Erinnerung an Bell’s Einladung, die er sich ohne eine bestimmle Absicht des Letzteren nicht denken konnte, bis er sich endlich aller fremden Gedanken mit Macht entschlug und seine Aufmerksamkeit den vor ihm liegenden Büchern zuwandte. Der Cassirer aber schien während seiner Arbeiten die Thür zu des Chefs Zimmer nicht aus dem Auge zu lassen; es war fast schon eine Stunde verflossen, seit Vater und Sohn bei einander waren, und mit jeder neuen Viertelstunde schien sich eine größere Befriedigung auf Bell’s Gesichte zu lagern.
„Hoffentlich schlägt einmal die Vernunft durch!“ sagte er soeben, als sich die Thür öffnete und John in seiner gewöhnlichen leichten Haltung aus seines Vaters Zimmer trat.
„Mr. Bell,“ sagte er mit einem eigenthümlichen Lächeln, „hier ist Mr. Reichardt, der mich gestern Abend vor einer ganz unangenehmen Klemme bewahrt hat, einer Klemme, die für ihn selbst die unangenehmsten Folgen hätte haben können, so unschuldig er auch dabei war. Ich habe gar nichts dawider, Sir, daß Sie auf mich keine Rücksicht nehmen, daß Ihnen selbst mein Name so wenig gilt, daß Sie ihn in die Berichte des Polizeigerichts aufgenommen zu sehen wünschen; aber Sie hätten Schonung gegen einen jungen Mann üben sollen, von dem Sie wußten, daß er nur in meinem Auftrage handelte, und dessen Zukunft Sie mit dem einzigen Streiche, welchen Sie ausführten, vernichten mußten. – Well, [451] Freund Reichardt,“ wandte er sich dann an den Deutschen, „ich denke, wir werden in eine ähnliche Gefahr nicht wieder gerathen; die Lehre, welche uns Mr. Bell zu geben gedachte, war sicherlich gut gemeint, wenn auch herber, als sich sonst mit der christlichen Liebe verträgt!“ Er nickte dem jungen Manne zu und verschwand in dem vorderen Zimmer. Bell blickte, den Kopf hoch aufgerichtet, blaß und starr vor sich hin; Reichardt aber sah plötzlich den Gedanken bestätigt, welcher ihm schon vorher gekommen, daß der Cassirer es gewesen sei, welcher die Aufhebung des Spielzimmers veranlaßt, und das Nachfolgende gab ihm die völlige Gewißheit.
„Ich weiß nicht,“ begann der Cassirer nach einer kurzen Pause steif, „wodurch der junge Mann zu einer Annahme, wie die ausgesprochene, berechtigt ist; es fällt mir aber auch gar nicht ein, eine That zu leugnen, die für jeden gewissenhaften Menschen in meiner Stellung zur Gewissenspflicht wird, sobald er den Verderb dessen, was ihm zum großen Theile anvertraut ist, vor Augen sieht. Ich habe beobachtet monatelang, ich bin selbst zum Oeftern in diesem Locale gewesen, in welchem die reichen jungen Leute zu künftigen Bankerotteurs vorbereitet und die ärmeren zu Betrügern an ihren Prinzipalen, zu Fälschern und Zuchthaus-Candidaten gemacht werden; ich habe dennoch nicht eher etwas thun mögen, bis ich sah, daß eine junge Seele, die mir nahe stand, von welcher sich so manches Gute erwarten ließ, in den allgemeinen Canal zum Verderben hineingezogen werden sollte – yes, Sir!“ fuhr er mit Selbstbewußtsein fort, „ich bin es gewesen, welcher der Polizei die Angaben über die Vorgänge im Astorhause gemacht und ein energisches Einschreiten gefordert hat; Sie haben sich selbst vor den Folgen bewahrt, und ich habe mich mehr darüber gefreut, Sir, als Sie selbst wissen können; aber auch im andern Falle würde ich dafür gesorgt haben, daß Sie von der Lection nicht weiter als nothwendig betroffen worden wären.“
Reichardt fühlte eine Art Mitleiden mit dem Manne, der plötzlich in die Lage versetzt war, sich gegen ihn rechtfertigen zu müssen; zugleich aber lehnte sich auch sein Stolz gegen diese heimliche Bevormundung, welche sich ihm plötzlich zeigte, auf. „Ich habe keine Verantwortung Ihrerseits gefordert, Mr. Bell, und Sie mögen in jeder Beziehung Ihrem Gewissen nach gehandelt haben,“ sagte er in einem Tone voller Bescheidenheit, „ich möchte nur, daß Sie daran gedacht hätten, wie wenig der Mensch das Schicksal eines andern Menschen in der Hand hat. Glauben Sie denn wirklich, ich hätte wieder einen Fuß auf meinen jetzigen Platz, der mir mit so viel Vertrauen übergeben worden, gesetzt, wenn ich in einer Weise compromittirt war, wie es hätte geschehen können? Glauben Sie mir, Mr. Bell, der Mensch soll nie Vorsehung spielen wollen.“
Ein eigenthümliches Mienenspiel begann jetzt in dem Gesicht des Amerikaners, bis seine Züge nach und nach fast den Charakter einer Art von Zerknirschung annahmen. „Sie haben Recht, junger Mann, Sie haben nur zu Recht, der Mensch überhebt sich nur zu leicht und er soll sich nicht schämen, es einzugestehen. Wir werden aber darüber noch mehr sprechen. Ich hoffe, Sir, Sie werden mir doch die Freude machen, das Mittagsbrod mit mir zu theilen.“
„Ich habe durchaus keinen Grund, warum ich es nicht sollte, Sir!“
„Danke Ihnen, Sir,“ war die Antwort, mit welcher sich der Cassirer sichtlich zufrieden seiner Arbeit wieder zuwandte.
Fast wortlos hatte am Mittage Bell den jungen Deutschen seiner Wohnung zugeführt, und der Letztere, welcher der sonderbaren Haltung seines Vorgesetzten gegenüber kaum wußte, welchen Ton er anschlagen solle, fühlte sich erleichtert, als er sich sogleich nach dem Speisezimmer an den wartenden Mittagstisch geführt sah.
„Ich bringe meinen jungen, aber würdigen Freund Reichardt, dem wir gestern Abend großes Unrecht gethan, als Gast mit,“ sagte der Cassirer zu der harrenden Lady, „und ich denke, er wird uns auch in der Zukunft dann und wann seine Gegenwart schenken!“ Reichardt verbeugte sich leicht, wenn ihm auch die ausgesprochene Hoffnung etwas wunderlich vorkam, und haschte nur im Fluge einen Blick der Wirthin, der bei Bell’s Worten wunderbar aufgeleuchtet war. Der Cassirer wies dem jungen Manne seinen Platz an, wie auch seine ganze übrige Weise viel mehr die des Hausherrn als die eines einfachen Kostgängers war, und nöthigte seinen Gast nach Beendigung des schweigsamen, nur von den nöthigsten Worten unterbrochenen Mahls, ihm nach dem Parlor zu einem Platze am Kaminfeuer zu folgen.
„Ich will von dem, was geschehen ist, nichts mehr erwähnen, Sir,“ begann Bell hier, sich langsam durch das dichte, grau gemischte Haar fahrend, während Reichardt gespannt des Kommenden harrte. „Hatte ich vielleicht auch nicht mit Bedacht genug gehandelt, so werden Sie doch vielleicht heraus gefühlt haben, daß mich eine Theilnahme für Sie dazu leitete, die sich leicht verstehen läßt, wenn auch Ihnen selbst die Gründe dafür noch nicht ganz klar sein mögen. Sie sind mit Liebe Kaufmann, sonst hätten Sie wohl Mr. Augustus Frost’s Interesse für Sie in anderer, augenblicklich gewinnbringenderer Weise benutzt – Sie haben sich nicht den übrigen jungen Leuten im Geschäfte und deren oft wenig empfehlenswerthen Vergnügungen angeschlossen, und ich habe Sie sogar schon zweimal in unserer Episkopal-Kirche gesehen – Sie haben sich Ihren Arbeiten mit allem Eifer und trotz Ihrer Leistungen mit einer Bescheidenheit unterzogen, die Leuten in meiner Stellung wohlthut – und was ich von Ihrem übrigen Leben weiß, hat mir ebenso gezeigt, daß Sie anders sind, als man es von unseren Clerks gewöhnlichen Schlags gewöhnt ist. Ich habe aber ebenso gut gewußt, Sir, daß man in Ihrem Alter, bei allen guten Anlagen, kein Engel ist, daß man meist erst in reiferen Jahren nach manchem Ringen und Kämpfen zu dem innern Halte gelangt, auf welchen der Mensch allein sich verlassen kann; ich wußte, daß die Verführung an Sie herantreten und vielleicht Alles zu Grunde richten würde, was bis jetzt meine Theilnahme für Sie geweckt, was Ihnen einen Weg für Ihre Zukunft eröffnen konnte, und sah mit Sorge, wie John Ihnen seine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Es ist ein junger Mann mit vielen tüchtigen Eigenschaften; aber in seinen Verhältnissen, die kaum eine Mühe oder einen Kampf von ihm fordern, schießen die Giftpflanzen am üppigsten auf. Well, Sir, Sie sind nicht der ersten Verführung erlegen, wie ich fürchtete, aber nichts kann Ihnen eine Sicherheit für die Zukunft geben – Sie kennen die mannigfachen Verhältnisse nicht, in welche Sie ganz naturgemäß gerathen müssen, sobald Sie mit Ihrer jetzigen Stellung völlig vertraut sein und sich nach Abwechselung und Zerstreuung sehnen werden – und so, wenn Ihnen an einem ruhigen, ungehinderten Vorwärtskommen liegt, hören Sie einen Vorschlag, den ich Ihnen, ohne den gestrigen Vorfall, erst später gemacht haben würde – werden Sie Mitglied unserer Kirche, Sir! Der tüchtige Fond, welchen Sie in sich haben, wird dadurch den Halt bekommen, ohne den wir Menschen nun einmal nichts sind, als schwaches Rohr im Winde. Außerdem aber wird es mir nicht allein möglich werden, Sie mit der Zeit in einen ganzen Kreis respectabler Familien einzuführen und so Ihr Privatleben angenehm zu machen – Sie werden auch Ihrem ganzen geschäftlichen Fortkommen die beste Stütze geben. Einem jungen Manne, der neben geschäftlicher Tüchtigkeit im kirchlichen Kreise gut angeschrieben steht, kann es nie fehlen, und ich würde Ihnen schon heute die naheliegendsten Beweise dafür geben können, wenn Sie eine Weile zu den Unseren gehört hätten –“
Er hob die bis jetzt gesenkt gewesenen Augen und begegnete Reichardt’s ruhigem Blicke, der indessen einen Ausdruck zu enthalten schien, welcher ihn in seiner Rede innehalten ließ. „Sie wollten mir entgegnen, Sir?“ fragte er nach einer Pause zögernd.
„Wenn Sie zu Ende sind, möchte ich mir wohl zwei Worte erlauben,“ erwiderte der Deutsche und um seinen Mund spielte es wie ein Zug gutmüthiger Laune. „Ich danke Ihnen zuerst herzlich für Ihre gute Meinung von mir, obgleich Sie mir damit zu viel Ehre anthun, Sir!“ fuhr er fort. „Daß ich meine Arbeiten gethan und nach besten Kräften weiter thun werde, hat seinen einfachen Grund in meiner Neigung dafür und meinem handgreiflichen Vortheile – alles Uebrige aber haben die Verhältnisse so gefügt. Ich hätte recht gern mit einzelnen der Clerks eine freundliche Verbindung angeknüpft, wenn es sich hätte thun lassen, denn das Alleinstehen war mir nichts weniger als angenehm – im Uebrigen aber hält mich ein angeborener Widerwille von den gewöhnlichen Ausschweifungen junger Leute zurück. In der Kirche bin ich der vorzüglichen Orgel und des recht braven Gesanges halber gewesen – ich bin aber auch ein leidenschaftlicher Freund aller andern guten Musik, Mr. Bell, sei sie nun im Concert oder in der Oper, und wenn ich wohl schon deshalb schlimm zu einem Kirchenmitglied taugte, so muß ich Ihnen leider bekennen, daß mir auch in jeder andern Beziehung der innere Beruf dafür abgeht. – Ich erkenne alle die Vortheile, Sir, welche sich mir bieten könnten,“ fuhr er lebhafter fort, als der Cassirer eine leichte Bewegung, wie um ihn [452] zu unterbrechen, machte; „aber es kann doch nichts Traurigeres für einen jungen warmblütigen Menschen geben, als aus reiner Berechnung einen Weg einzuschlagen, zu dem ihn nicht eine einzige Regung in seinem Innern treibt, den Heuchler zu machen und den frischen Jugendmuth sich abkaufen zu lassen. So sehr ich begreife, Mr. Bell, wie Männer von älteren Jahren sich der kirchlichen Richtung zuneigen können, so sehr widern mich doch junge Leute mit frommen Gebehrden und stillen Gesichtern an. Da haben Sie Alles, wie es in mir lebt, Sir, und habe ich mich vielleicht zu freimüthig ausgesprochen, so betrachten Sie es zugleich als Bürgschaft, daß Sie mich stets so nehmen dürfen, wie ich mich gebe.“
Der Cassirer hatte dem letzten Theile der Rede mit immer steifer gehobenem Kopfe zugehört. „Sie sind ein Deutscher – ich hätte daran denken sollen,“ erwiderte er jetzt, während ein Zug von Geringschätzung um seinen Mund zuckte; „es wird unter den jungen Deutschen, Turner oder wie sie sonst heißen mögen, überhaupt nichts auf Religion gegeben.“
Reichardt’s Backen färbten sich höher. „Ich habe immer angenommen, Sir, daß Religion und Kirche zwei verschiedene Begriffe sind, und bin ziemlich überzeugt, daß jeder denkende Mensch seine Religion in sich trägt, mag er auch zu keiner Kirche gehören,“ erwiderte er, sichtlich eine leichte Erregung unterdrückend, „und meine Religion, Mr. Bell, wenn sie auch nicht bei jeder Handlung oben auf schwimmt, hat mich bis jetzt noch nicht betrogen. Ich verachte Ihre Kirche durchaus nicht, Sir, und habe mir meine Gedanken darüber bereits gebildet – bei der unbeschränkten Freiheit und Unabhängigkeit, zu welcher die amerikanische Jugend erzogen wird, mag sie als nothwendiger Zügel wie zur Veredelung der Sitte vollkommen an ihrem Platze sein. Wir Deutschen aber sind, wenn wir hier herüber kommen, schon so gezügelt, daß wir keiner neuen Schranke bedürfen, um die friedsamsten Menschen abzugeben – und wenn Sie meine Bescheidenheit lobten, Sir,“ schloß er lächelnd, „so mögen Sie sie ruhig ebenfalls nur auf Rechnung des deutschen Charakters schreiben.“
„Ich denke, Sir, im Augenblicke haben Sie sich durchaus nicht genirt!“ sagte Bell, die Mundwinkel in die Höhe ziehend. „Es thut mir leid, nicht das für Sie thun zu können, was ich gern möchte,“ fuhr er, sich langsam erhebend, fort, „indessen kann das auf unser jetziges Verhältniß natürlich keinen Einfluß üben.“ Er sah nach der Uhr und wandte sich dann mit einem kalten „ich glaube, es wird Zeit für die Office sein!“ nach seinem Hute. Der Deutsche folgte seinem Beispiele, und Beide nahmen in derselben Schweigsamkeit, welche sie herbegleitet, ihren Weg nach dem Geschäftshause wieder zurück.
Das stattgefundene Gespräch hatte wohl nach Bell’s Aeußerung keinen Einfluß auf das Verhältniß zwischen ihm und Reichardt üben sollen. Dennoch fühlte der Letztere schon an demselben Nachmittage, wie ein ganz anderer Geist in dem Cassenzimmer zu wehen begann. Der Cassirer hatte sich immer kalt und gemessen gegen ihn benommen, aber seine Worte waren meist von einer höflichen Freundlichkeit begleitet gewesen. Jetzt indessen schien sein Gesicht stets von Stein zu werden und ein Ladestock in seinem Halse zu stecken, sobald sich der junge Clerk an ihn zu wenden hatte. Seine zur Verständigung unumgänglich nothwendigen Worte aber hätten, um ihren Zweck zu erreichen, nicht um eine Sylbe kürzer sein dürfen, und wo sonst die Arbeiten des Deutschen unbesehen bei Seite gelegt worden waren, da hatte jetzt Bell überall kleine Ergänzungen und Verbesserungen vorzunehmen. Es waren sämmtlich Dinge, über die sich kaum etwas hätte sagen lassen, selbst wenn Reichardt seiner Empfindung darüber hätte Worte geben wollen, und so nahm er sich vor, nichts von dem veränderten Benehmen des Cassirers zu bemerken und ruhig seine Pflicht fort zu thun. Trotzdem aber und wenn er sich auch vordemonstrirte, daß der Alte eben nur Clerk wie er selbst sei, von dem sein Schicksal am wenigsten abhänge, konnte er sich doch eines stillen Drucks, wie die Ahnung eines bevorstehenden Unglücks, nicht erwehren, und erst als gegen Abend der alte Frost durch das Zimmer schritt, bei ihm stehen blieb und mit einem halben Lächeln sagte, er habe gehört, daß Reichardt zu dem morgenden Truthahn eingeladen sei, und es werde ihn freuen, den jungen Mann einmal in seinem Hause zu sehen, ward es wieder völlig hell in seinem Innern. Er warf einen Seitenblick nach dem Cassirer hinüber, der mit dicht zusammengezogenen Brauen in seinen Papieren kramte. Dann aber ließ er den bunten Bildern, wie sie bei dem Gedanken an Margaret und den bevorstehenden Festabend in ihm auftauchten, freien Lauf, und Bell schien jetzt am wenigsten in der Stimmung zu sein, ihn darin zu stören.
Eine volle Stunde hatte Reichardt am andern Abend fertig für die Gesellschaft in seiner Wohnung dagesessen, ehe es Zeit zum Gehen war. Er hatte auf das Sorgfältigste Toilette gemacht, und dennoch war er viel zu früh damit fertig geworden. Er hatte die Zeit damit verbracht, sich zu stählen gegen den Eindruck, den er sich jetzt schon überkommen fühlte, wenn er sich dem Mädchen gegenüberstehend dachte, das, seit sie ihm zuerst entgegen getreten, wie ein stilles, süßes Bild in seinem Herzen gelebt hatte, und das er jetzt in dem ganzen Nimbus von Reichthum und Stellung wiedersehen sollte. Er machte sich endlich mit dem festen Vorsatze zum Gehen fertig, sich mit allen Kräften zu beherrschen, um sich nach keiner Seite hin eine Blöße zu geben, oder auch nur ahnen zu lassen, was in seinem Innern vorgehe – stand ihm doch wie ein Gespenst die Lächerlichkeit vor der Seele: der jüngste Clerk nach der Tochter des Hauses schmachtend! Dennoch, als er den Weg nach Frost’s Hause zurückgelegt hatte und die Thürklingel zog, war es ihm, als gehe er der Entscheidung seines ganzen Schicksals entgegen.
Eine hohe, erleuchtete Halle empfing ihn, als sich der Eingang aufthat, von deren Ende ihm helles Mädchengelächter entgegentönte. Der öffnende Diener nahm ihm, kaum daß er seinen Namen genannt, seine Umhüllung ab und führte ihn dem Geräusch zu nach einer der hintern Thüren, die er vor dem Angekommenen aufriß.
„Halloh, da ist Reichardt!“ klang diesem die Stimme John’s entgegen, welcher in der Mitte des großen, reichen Zimmers stand und soeben in irgend einer lustigen Erzählung unterbrochen zu sein schien; „nur herein und ganz sans gêne, wir sind en famille. wie Sie wissen!“ und Reichardt fühlte unter der Zwanglosigkeit der Aufforderung seine Selbst-Controle, die ihn einen Augenblick beim Oeffnen der Thür fast hatte verlassen wollen, zurückkehren. Er sah, als er eintrat und einen raschen Blick um sich warf, eine kleine, aus jungen Damen und jungen Elegants gemischte Gesellschaft, deren Augen sich sämmtlich nach ihm gewandt hatten, zerstreut im Zimmer umhersitzen, während er neben dem Kaminfeuer die Figur des alten Frost erkannte. John ließ ihm indessen zu keiner längeren Betrachtung Zeit. „Ladies und Gentlemen,“ rief er des Deutschen Hand ergreifend, „mein sehr lieber Freund Reichardt, den ich Ihrem besonderen Wohlwollen empfehle – und nun hier,“ fuhr er, sich gegen den Vorgestellten wendend, fort, „meine Schwester Margaret, die Sie ja wohl schon kennen –“ Reichardt sah eine leichte Gestalt sich erheben und stand mit zwei Schritten vor ihr. Er wußte, daß er jetzt vor Allem sich zusammenzuraffen hatte, und doch, als er in dieses liebe, milde Gesicht blickte, das bei seinem Näherkommen wie in heller, lächelnder Befriedigung aufleuchtete, als er ihre kleine weiche Hand faßte, die sie ihm nach amerikanischer Sitte entgegenstreckte, meinte er dem Gefühle des Glücks, welches in ihm aufwallte, kaum gebieten zu können. Er hörte ihre Bewillkommnungsworte, die so herzlich klangen, als stände er mit ihr auf völlig gleicher Stufe, und unwillkürlich bog er sich nieder, um ihre Hand zu küssen. Aber mit einem leichten Lachen entzog sie ihm ihre Finger. „Das ist europäische Sitte, die wir nicht verstehen, Sir!“ rief sie, und als Reichardt aufblickte, sah er ein hohes Roth über ihre Wangen gegossen, während ihre Augen nur unsicher die seinigen auszuhalten schienen – er fühlte das Blut in sein eigenes Gesicht steigen, und nur eine kräftige innere Anstrengung, hervorgerufen durch ein Gefühl von Gefahr, in welcher er schwebte, befreite ihn zum Theil von der ihn überkommenden Befangenheit. „Es ist der Ausdruck hoher Achtung gegen eine Dame,“ sagte er, sich leicht verbeugend, „und so mag ich nicht um Entschuldigung bitten, Miß Frost, selbst wenn ich angestoßen hätte!“ Er bemerkte noch, wie das frühere klare Lächeln auf ihr Gesicht zurückkehrte, dann sah er sich vor die übrigen Ladies geführt, er hörte Namen, um sie im nächsten Augenblicke wieder zu vergessen, und erst als ihm der alte Frost mit seinem wohlwollenden Lächeln die Hand drückte, erlangte er seine völlige Sicherheit wieder.
Ein deutscher Zeitungsschreiber.
Die in Berlin erscheinende Volkszeitung ist bekanntlich das in
Deutschland am meisten gelesene politische Organ, da sie in einer Auflage
von mehr als 26,000 Exemplaren erscheint. Wer diese Zeitung
kennt, weiß es, daß sie ihre große Verbreitung nicht dem
Reichthum literarischen oder politischen Materials, sondern vorzugsweise
dem Inhalt ihrer Leitartikel verdankt, die ein eigenthümliches
geistiges Gepräge an sich tragen.
Diese Eigenthümlichkeit besteht in einer durchsichtigen Klarheit und Einfachheit der Darstellung, welche sich mit einem so großen Scharfsinn und so tiefer Auffassung der Ereignisse paart, so sehr in den Organismus der Erscheinungen dringt und ihre Lebensgesetze offenbart, daß sie sich dadurch gänzlich von der gewöhnlich sogenannten Popularität unterscheidet.
Die Leitartikel tragen einen Talisman in sich, welcher unwiderstehlich ist; sie überzeugen, sie sprechen zu Sinn und Herzen des unstudierten Mannes; sie rücken den Gegenstand in seine unmittelbare Nähe, entkleiden ihn von altem falschen Beiwerk, welches Unverstand oder Parteisophistik ihm angehängt haben, und zergliedern dann mit unwiderleglicher Logik Schritt für Schritt, Satz für Satz, die ganze Frage in alle ihre Bestandtheile, kurz, bündig, handgreiflich, so daß der Leser am Schlusse das Facit selbst ziehen muß und ausruft: der Mann hat Recht – das ist sonnenklar! Er trifft eben immer den Nagel auf den Kopf. Und wo es angebracht ist, trifft er nicht blos, sondern mit einer prächtigen Wendung, mit beißender Ironie, mit zündendem Witz zermalmt er seine Gegner. Es ist bezeichnend für den Ton dieser Artikel, daß sie mit gleichem Interesse vom Kutscher auf dem Bocke und von dem Tagelöhner, wie von den gebildetsten Ständen gelesen werden, welche von den abgestandenen Leitartikeln der monotonen Doctrinairs großer politischer Zeitungen, bei diesen geharnischten und gleichsam aus der Pistole geschossenen Artikelchen Erholung und Anregung suchen.
Da sich die durchsichtige Klarheit und Einfachheit der Darstellung in den verschiedensten Gebieten immer gleich bleibt, so muß es allen Lesern der Zeitung längst klar geworden sein, wie diese Leitartikel sammt und sonders das Erzeugnis eines Mannes sein müssen, in welchem sich seltene Geistesgaben vereinigen. Wenn wir versichern, daß dem so ist, daß die geistige Productionskraft, die so viel gewirkt, die sich schon seit länger als einem Jahrzehnt täglich bewährt, sich noch immer in ihrer Frische erhalten hat, wenn wir hinzufügen, daß weder revolutionaire Schmähungen noch reactionaire Verfolgungen den eigenthümlichen geistigen Stempel dieser Leitartikel abzuschwächen vermocht haben, so werden unsere Leser es natürlich finden, daß wir den Wunsch hegen, den Verfasser dieser Arbeiten ihnen im Bildniß und Lebensabriß vorzuführen. Denn trotzdem, daß sein Name vollgültigen Anspruch hat, in der ersten Reihe derer genannt zu werden, welche als die bewährtesten Vorkämpfer für die politische Freiheit und Selbstbestimmung der Nation in Aller Munde leben, ist er der bei weitem größten Mehrzahl von Lesern, welche aus seinen Artikeln nunmehr seit länger als zehn Jahren täglich Belehrung, Anregung und Erhebung schöpfen, gänzlich unbekannt. Niemals hat sich der Verfasser der Leitartikel genannt, und nur diejenigen, welche sich speciell um die Zeitungsangelegenheiten kümmern, kennen den Namen des Ehrenmannes.
Was wir nachstehend von dem Lebensgange Bernstein’s mittheilen, verdanken wir den Notizen einiger seiner Freunde – daß das Material, welches uns zu Gebote steht, ein nur spärliches ist, hat seinen Grund einmal in der Bescheidenheit des Mannes, [454] der es verschmähte, eine Berühmtheit zu werden, und dann in der Thatsache, daß sein Leben bisher kein äußerlich bewegtes, sondern ein tief innerliches war, welches nur er selbst einmal in dem ganzen Reichthum geistiger Kämpfe und Erlebnisse wird darstellen können. So lange seine fruchtbare Wirksamkeit nach außen uns eine solche Selbstschau nicht in Aussicht stellt, müssen wir versuchen, aus der reichen und mannigfachen Thätigkeit des Mannes ein Bild seines eigensten Wesens zu gewinnen.
A. Bernstein ist im Jahre 1812 in Danzig von jüdischen Eltern geboren, wurde von diesen für den Rabbinerstand erzogen und war bis zum reifen Jünglingsalter ausschließlich auf die geistige Nahrung angewiesen, die das emsige Studium der Bibel und des Talmud einem energischen Geiste darzubieten vermag.
Die Sehnsucht nach erweitertem Wissen trieb ihn im zwanzigsten Jahre seines Lebens nach Berlin, wo er sich mit der ganzen Kraft der Jugend und dem Feuer eines lange unterdrückten geistigen Triebes in alle ihm bisher verschlossen gebliebenen Gebiete des Wissens hineinwarf. Der Umstand, daß er erst in reiferen Jahren die Elemente unserer Cultur aufnehmen konnte, hatte für ihn den Uebelstand, daß er die schulgerechten Stadien einer classischen Bildung nicht mehr nachholen konnte. Aber eben dies scheint zu seiner an den Tag getretenen seltenen Kunst, selbst die strengsten wissenschaftlichen Probleme zu popularisiren, den Grund gelegt zu haben. Denn auf dem Wege der Ausbildung ganz auf sich angewiesen, war er nicht blos gezwungen, bei jedem Zweig des Wissens sich zu möglichster Geistesklarheit und Uebersichtlichkeit emporzuarbeiten, sondern er lernte und erprobte auch an sich selber die Methode, wie man ohne die übliche, schulgerechte Vorbereitung den Wissenschaften beizukommen vermag. Energische Anstrengungen, unerschütterlicher Muth und eine von tiefem sittlichen Ernst getragene Begeisterung für alles Edle und Hohe reichten hin, um in wenigen Jahren die Lücken seiner Kenntnisse und seiner Lebensanschauungen auszufüllen. Vor Allem fühlte er sich gedrungen, mit der hinter ihm liegenden theologischen Epoche zu brechen, und er that dieses mit einer Uebersetzung und Bearbeitung des Hohen Liedes Salomonis (erschienen Berlin 1834), in welcher er mit der freiesten Kritik das biblische Buch als ein literarisches Product behandelte. Die in dieser Schrift von ihm aufgestellte Behauptung, daß das dritte Capitel des Hohen Liedes ein späteres und eingeschobenes sei, erwarb sich bei fachwissenschaftlichen Autoritäten Anerkennung und Zustimmung, und gab jedenfalls den Beweis, daß schon der 22jährige Jüngling den Muth seiner eigenen Meinung und das Talent besaß, sie geltend zu machen. Doch vermochte er nicht die Ehrfurcht vor der sein ganzes Wesen tief ergreifenden deutschen Literatur so weit zu überwinden, daß er mit seinem Namen ihr ihm heiliges Gebiet betrete. Sein Schriftchen erschien unter dem Namen „Rebenstein“, und durch diese Pseudonymität ermuthigt, begann er sich in freien lyrischen Productionen und kritischen Abhandlungen zu versuchen. Diese Arbeiten erregten die Aufmerksamkeit der älteren Literaten Berlins, die, in hohen Lebensstellungen, es sich zur Ehre rechneten, junge Talente geistig zu unterstützen und zu fördern.
Hitzig, Varnhagen von Ense, Chamisso, Streckfuß, Gubitz und der Jüngste dieses Kreises, Wilibald Alexis, zogen den jungen Mann zu sich heran, wiesen ihm Arbeiten im Gebiete der wissenschaftlichen, der literarischen und Kunstkritik zu und übertrugen ihm zeitweise auch die Redaction der Berliner literarischen Organe, welche theils von ihnen, theils unter ihrer Einwirkung geleitet wurden.
Durch die Erfolge seiner literarischen Thätigkeit ermuthigt, entschloß sich Bernstein im Jahre 1836 sich in Berlin häuslich niederzulassen. Er heirathete ein junges armes Mädchen, das er kurz nach seiner Ankunft in Berlin kennen und lieben lernte, und fand in seiner Ehe ein so tiefes innerliches Glück, daß Alle, welche ihm in jener Zeit nahe gestanden, das Verhältniß als ein solches schildern, wie es in reinster Idealität und Verklärung nur selten einmal in die Erscheinung tritt. Diese Ehe breitete über sein ganzes Leben mehr wie je eine sittliche Weihe, und als sie im Jahre 1854 durch den Tod seiner Gattin gelöst wurde, konnte er den seelenvernichtenden Schmerz nur dadurch überwinden, daß er immer selbstloser sich der Arbeit für das Allgemeine hingab und durch eine alle Kraft absorbirende Thätigkeit täglich von Neuem das Leben dem Schmerze abrang. Doch haben wir damit vorgegriffen und kehren zu dem Jahre 1837 zurück.
Die literarische Thätigkeit stillte weder den wissenschaftlichen Trieb Bernstein’s, noch bot sie ihm ein gesichertes Auskommen. Letzteres zu erreichen, verband er sich mit Wilibald Alexis, um ein Lesecabinet in großem Style in Berlin zu gründen. Es trat sehr hoffnungsreich in’s Leben, scheiterte aber an dem Mangel kaufmännischen Sinnes beider Unternehmer. Ein Versuch Bernstein’s, sich als Buchhändler einen Erwerb zu schaffen, gelang ebenfalls nicht, und Alles verwies ihn von Neuem auf seinen literarischen Fleiß. Sein wissenschaftlicher Trieb führte ihn um diese Zeit zuerst dem Studium der Natur zu, und wie er in Allem, was er ergriff, sogleich productiv wurde, war das nächste Ergebniß dieses Studiums eine Arbeit über die „Rotation der Planeten“, die zwar das bis jetzt von der Wissenschaft ungelöste Problem nicht löste, aber von so ernster Anlage war, daß der weltberühmte Astronom Bessel es nicht verschmähte, sich hierüber in einen Briefwechsel mit dem Verfasser einzulassen und ihn zur fachwissenschaftlichen Durcharbeitung seiner Ideen zu ermuntern.
Von günstigem Erfolge war eine zweite kleine Arbeit Bernstein’s, im Fach der preußischen Finanz- und Domainenverwaltung.
Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelm’s IV. hatte die Bande der Censur gelockert und neue Hoffnungen auf Reformen des Staatswesens erregt; aber zunächst bemächtigte sich die feudale Partei dieser Gunst der erwachenden Oeffentlichikeit, und Herr von Bülow-Kummerow schrieb sein Werk über Preußens Finanzen, das, weil es der Freiheit des Wortes huldigte, außerordentliches Aufsehen erregte, aber dadurch gerade falsche staatswirthschaftliche Grundsätze unter dem Scheine der Opposition gegen die alte gesunde Nationalwirthschaft verbreitete.
Da erschien gegen Bülow-Kummerow eine kleine anonyme Schrift unter dem Titel: „Zahlen frappiren“, die in zwei Auflagen schnell vergriffen wurde. In derselben wurde der Nachweis geführt, daß die bis dahin von der Finanzverwaltung befolgte Veräußerung der Staatsdomänen zu Gunsten der Tilgung der Nationalschuld ein gesundes Volks- und staatswirthschaftliches Princip enthalte; Bülow-Kummerow rechnete, wie die Gegenschrift nachwies, mit falschen Zahlen zu Gunsten einer falschen volkswirthschaftlichen Anschauung. Da die kleine Schrift die bisherige Verwaltung vertheidigte, nahm man an, daß ihr Verfasser ein Finanzbeamter sein müsse, und da sie schlagend die Rechenfehler Bülow-Kummerow’s bewies, schrieb man sie keiner geringeren Autorität, als dem jetzigen preußischen Finanzminister, Herrn von Patow, zu, der auch noch in neuerer Zeit von Prutz als deren Verfasser angegeben ist. So schmeichelhaft diese Voraussetzung für den wahren Verfasser sein mußte, so wenig veranlaßte ihn dies, aus seiner Anonymität herauszutreten. Diese Thatsache ist nicht blos für Bernstein’s literarischen Charakter bezeichnend, sondern genügt auch zum Beweis, wie fern er schon damals von der Vorliebe für Opposition und von der Ausbeutung seiner Ansichten war, wo er sie für die Regierung geltend machte.
Die Reformbestrebungen auf dem Gebiete der Religion boten vom Jahre 1845 an unserm Autor Gelegenheit, die theologischen Studien seiner Jugendjahre im Interesse der Reform des Judenthums geltend zu machen. Die jüdische Reformgemeinde in Berlin verdankt seiner Theilnahme sowohl die Gründung wie die Einführung eines Gottesdienstes in deutscher Sprache und einer Religionsschule, welche nach geläuterten Principien eine Neubildung des Judenthums anbahnt. Noch jetzt sind theologische Studien für Bernstein eine Lieblingsbeschäftigung seiner Mußestunden, und oft finden wir in seinen Mahnungen an das Volk einen Klang, der uns an die großen Vorbilder erinnert, die uns im Prophetenthum als erschütternde Beispiele sittlicher Einwirkung auf ein sinkendes Volk aufbewahrt sind.
Das Jahr 1848 war es nicht, welches Bernstein zur politischen Schriftstellerei anreizte; seiner im tiefsten Grunde maßvollen Natur widerstrebten im Gegentheil viele der damals hervortretenden politischen Erscheinungen so sehr, daß er sich von jeder Publicität fern hielt. Gerade diese Erscheinungen waren es aber, die ihn überzeugten, daß das Volk einer besonnenen Vorbildung für die politische Freiheit bedürfe, um auf gesunder Grundlage einen Widerstand gegen die Reaction zu leisten, welche durch die Straßen-Demagogie gestärkt wurde.
Von dieser Ueberzeugung getrieben, gründete er auf gut Glück, mitten im Belagerungszustande, im März des Jahres 1849 die „Urwähler-Zeitung“, weder von einer Partei, noch von einem [455] nennenswerthen Capital unterstützt, einzig und allein im Vertrauen auf seinen guten Muth, auf sein gutes Ziel und auf das Bedürfniß eines solchen Organs, zu einer Zeit, wo ein sehr wenig vorgebildeter Theil des Volkes in seiner Eigenschaft als Urwähler einer bessern Leitung bedurfte, als die der Demagogie war.
Der Erfolg krönte das Unternehmen mit beispielloser Schnelligkeit. Schon nach den ersten vierzehn Tagen war die Zahl der Abonnenten auf drittehalbtausend gestiegen, obgleich die Leitartikel durchaus mäßig gehalten waren und radicalen Demokraten für viel zu milde galten. Erst als Ende Mai das Urwählerrecht geschmälert, das allgemeine Wahlgesetz durch eine Octroyirung in das Dreiclassensystem umgewandelt wurde, begann die Urwähler-Zeitung einen energischen Kampf gegen die Regierung und die sogenannte constitutionelle Partei, welche die Regierung in ihrem Kampfe gegen Recht und Gesetz unterstützte. In diesem Kampfe, den Bernstein nicht blos mit einer bis dahin ganz ungekannten populären Sprache der Politik, sondern auch unterstützt von dem sittlichen Zorne gegen die Verderblichkeit jeder Verletzung des Rechtszustandes führte, wuchs die Theilnahme für die Zeitung so sehr, daß sie bereits im Herbste des Jahres 1849 an 10,000 Abonnenten hatte und somit die ganze Wuth der Reaction gegen sich wachrief.
Da jetzt noch nicht die Zeit gekommen war, die Presse gewaltsam zu unterdrücken, begann die Regierung die Urwähler-Zeitung durch Processe zu verfolgen. Die ersten Versuche scheiterten an dem Rechtssinn der Geschwornen, die Bernstein, als er auf der Anklagebank erschien, freisprachen. Erst als die Polizei, gegen die bestehende Ordnung, mitten im Monat zwölf neue Geschworne direct für einen Proceß gegen die Urwähler-Zeitung wählte, erfolgte eine Verurtheilung, so daß Bernstein eine viermonatliche Gefängnißhaft zu überstehen hatte.
In der richtigen Voraussetzung, daß mit seiner Verhaftung der Lebensfaden der Zeitung abgeschnitten werde, überließ sich die Polizei nun einer Maßregelungswuth, die in Preußen ohne Beispiel war. Sie confiscirte Tag für Tag die Zeitung für mehrere Wochen, selbst wenn sie ohne Leitartikel erschien, und begünstigte eine andere, der Urwähler-Zeitung nachgeahmte, die sie den Lesern derselben aufzuzwingen hoffte. Die Leser jedoch ließen sich weder durch die Maßregelungen abschrecken, noch durch die Manöver irre leiten. Sie blieben der Urwähler-Zeitung treu, obgleich diese oft gar nicht, oft verstümmelt erschien, bis denn der Polizei nichts mehr übrig blieb, als bei Gelegenheit eines von Polizeiagenten provocirten sogenannten Complotes, das mit ungeheurem Eclat „entdeckt“ wurde, die Urwähler-Zeitung gewaltsam zu unterdrücken.
Hierauf übernahm der Buchhändler Franz Duncker den Verlag der „Volkszeitung“, die sich offen als eine Nachfolgerin der unterdrückten Urwähler-Zeitung zu erkennen gab. Die Leser erkannten den Geist derselben sofort aus den Leitartikeln, und schon die erste Woche ihres Erscheinens reichte hin, ihr 5000 Abonnenten zu verschaffen. Allein damals – im April 1853 – war die Fluth der Reaction im vollsten Aufsteigen, und Bernstein erkannte, daß es nothwendig sei, der Volkszeitung noch in anderer Weise als durch die politischen Artikel eine gesicherte Grundlage zu schaffen, für die Zeit, wo sie vielleicht einmal gezwungen sein könnte, die Politik ganz ruhen zu lassen.
Aus Bernstein’s Feder erschien in Folge dessen durch volle drei Jahre neben den täglichen Leitartikeln noch täglich ein naturwissenschaftlicher Artikel, und diese Arbeiten fanden so außerordentlichen Beifall bei Laien und Fachkennern, daß die Volkszeitung dadurch ein beliebtes Blatt selbst in solchen Kreisen wurde, wo man ihre politische Richtung nicht theilte und bekämpfte. Diese naturwissenschaftlichen Arbeiten Bernstein’s – jetzt auch gesammelt erschienen – halten sich ebenso fern von Speculation, wie von irgend einer gemachten Tendenz und verfolgen nur den Zweck, durch die einfache Darlegung des Gesetzmäßigen in der Natur den Geist des Volkes für die Erkenntniß solch hoher Gesetzlichkeit zu wecken, eine Grundlage der Bildung zu schaffen, die für jeden Beruf, sei er welcher er wolle, fördernd und erhebend wirkt, Gedankenlosigkeit und Aberglauben zerstört und die Einsicht erzeugt, daß nur durch organisches Wachsen, durch ungehemmte Entfaltung innerer Lebenstriebe gesunde Gestaltungen entstehen. Gewiß ist die so liebevolle und gründliche Beschäftigung mit den Naturwissenschaften von großem Einflusse auf Bernstein’s ganz eigenthümliche Art gewesen, auch die Erscheinungen der Gesellschaft und des Staates von dem Punkte ihres ersten Werdens aus zu erfassen, im Gesetzmäßigen und Nothwendigen das Gute und Dauernde zu erkennen, sich von jedem Uebereilen fern zu halten und doch nie die Kraft und Energie in der Forderung dessen zu verlieren, was das naturgemäße Wachsen des Volksgeistes verlangt.
Die Leichtigkeit, mit welcher die naturwissenschaftlichen Arbeiten die verwickeltsten und schwierigsten Probleme ohne irgend welche Abbildung dem Verständniß einfacher Leser zugänglich machen, hat ihnen auch den Beifall des Auslandes gewonnen. Es erschienen Uebersetzungen davon in dänischer, schwedischer, polnischer und holländischer Sprache. Von der holländischen Uebersetzung sind bereits fünf Auflagen veranstaltet, von welchen die vierte Auflage in 16,000 Exemplaren so schnell vergriffen wurde, daß eine Concurrenz-Uebersetzung erscheint. – Die deutsche Originalarbeit wurde nicht blos in der Hamburger Reform nachgedruckt, sondern auch die deutsche Zeitung in New-York brachte dieselbe regelmäßig, und gegenwärtig erscheinen daselbst die sämmtlichen Bände im Nachdruck. Und dennoch hat selbst diese zwiefache Thätigkeit weder der Productivität noch der geistigen Beschäftigung Bernstein’s eine Grenze gesetzt. Im Jahre 1856 ertheilte ihm die preußische Regierung ein Patent für die Erfindung eines telegraphischen Problems, welches bisher noch kein Anderer zu lösen vermochte. Bernstein stellte im königlichen Telegraphenamt zu Berlin einen Apparat auf, der zwei Depeschen sowohl in gleicher, wie in entgegengesetzter Richtung auf einer Leitung telegraphiren kann, und die Bedeutung der Erfindung überwand die Schwierigkeiten, welche sich sonst wohl dem demokratischen Schriftsteller bei den Behörden entgegengestellt hätten; die Telegraphendirection stellte ihm zur Lösung dieser wie anderer telegraphischer Probleme die Leitungen zu Gebote. Die nähere Darstellung derselben würde uns zu weit abführen, wir wollen nur bemerken, daß die königliche Regierung die Lösung der Probleme, aber zugleich auch die Nothwendigkeit umfassender Verbesserungen im ganzen Telegraphenwesen anerkannte, um sie praktisch durchzuführen. Wenn einmal die Telegraphie, wie das nothwendig erfolgen muß, in die Hände von Privatgesellschaften übergegangen ist, dann werden auch diese Erfindungen ihre volle Wichtigkeit bewähren.
Inmitten all dieser Arbeiten trat aber in Bernstein der Drang nach freier poetischer Gestaltung, der in seiner Jugend so lebendig gewesen war, wieder hervor, und er schrieb für zwei folgende Jahrgänge des jüdischen Kalenders zwei Novellen, welche später in einer besonderen Ausgabe erschienen. „Vöggele der Maggid“ und „Mendel Gibbor“ sind Erzählungen aus dem jüdischen Gemeindeleben einer kleinen Stadt im Großherzogthum Posen und stellen so höchst eigenartige, unserm ganzen Culturleben anscheinend fernliegende Zustände dar, daß wir uns staunend fragend, ob wir denn mit diesen Menschen in demselben Staate und zu derselben Zeit leben. So ist das Stoffliche von ganz besonderm Interesse, wird aber weit überboten durch den sprudelnden, frischen Humor in der Darstellung der Verhältnisse, durch Zartheit und Tiefe in der Schilderung von Seelenzuständen und durch die echteste poetische Kraft, Gestalten so lebensvoll vor uns hinzuzaubern, daß uns ist, als hörten wir ihren Herzschlag und hätten Theil an ihrem innersten Sein. In diesen beiden Novellen sind Frauengestalten von solch seelischer Anmuth und unvergeßlich ergreifender Herztiefe, daß wir sie den idealsten Schöpfungen auf diesem Gebiete unserer Literatur an die Seite stellen können. Und wohl glauben wir, daß Eine von ihnen, wie uns die Freunde Bernstein’s versichern, das verklärte Bild der Frau ist, die sein höchstes Glück gewesen und deren Verlust über sein ganzes Leben den Schleier einer oft so tiefen Wehmuth breitet, denn das Bild ist von einem so lichten Glanze umgossen, wie ihn nur die Liebe giebt. Der Genuß dieser Erzählungen wird manchen Lesern durch die häufige Anwendung des jüdischen Idioms erschwert, obgleich ebenso Viele es wie etwas durchaus Aeußerliches kaum empfinden und sich mit ungetrübter Freude dem umfangenden Zauber dieser Darstellungen hingeben.
Indem wir noch hinzufügen, daß im Fache der Photographie und hauptsächlich der Stereoskopie auf Glas Bernstein’s Arbeiten mit den Leistungen der Pariser Meister wetteifern, brauchen wir unsern Lesern nicht mehr zu versichern, daß eine so vielseitige Thätigkeit nur durch ein strengem Fleiße gewidmetes Leben möglich ist. Diese unausgesetzte Arbeit nach so vielen Richtungen des geistigen Lebens, vereint mit einer großen Zurückhaltung und Bescheidenheit, bewirken es, daß Bernstein nur in einem verhältnißmäßig [456] kleinen Kreise gekannt ist. Aber gerade, weil er sich allem nach außen Zerstreuenden völlig fern hält, gelingt es ihm, bei anscheinend so verschiedenartigen Arbeiten die volle Harmonie des innern Wesens zu bewahren. Er ist in hohem Grade das, was man liebenswürdig nennt, hülfreich nach allen Seiten, seinen Freunden der treueste und bewährteste Freund, so daß diese bei den seltenen Geistesgaben, die ihn auszeichnen, doch den höchsten Werth des Mannes in seinem Charakter und in seinem Herzen finden. – Was Bernstein in den letzten zehn Jahren für die politische Bildung des Volkes gethan, ist nicht hoch genug anzuschlagen. Wir haben nur einer Pflicht genügt, wenn wir die Leser unseres Blattes mit einem Manne bekannt machten, welcher mit Recht den Dank der Nation für eine langjährige unerschrockene und überzeugungstreue Arbeit in ihrem Dienste beanspruchen darf.
Zur Geschichte des Aberglaubens.
Blut und Schwefel sind zwei Stoffe, an denen das phantastische Gelüst des Volkes nie müde geworden ist, seine Kunst in Verwendung zu allerhand Spukgeschichten zu versuchen. Die geheimnißvollen Eigenschaften beider machten sie zu Werkzeugen der schauerlichsten Einbildung im höchsten Grade geeignet.
Das Blut, die Bedingung, der Inbegriff alles körperlichen Lebens, entzog sich seiner Erforschung bis auf die neueste Zeit und behielt unbestritten das Recht über die Phantasie, welches alles Geheimnißvolle verleiht. Alle alchemistischen Versuche, die sich mit dem Aufsuchen des Steines der Weisen und ähnlicher Probleme beschäftigten, hatten die Lebenskraft zum Gegenstande, welche noch heute in den Köpfen mancher Naturforscher eine eigenthümliche Rolle spielt, und suchten im Blute deren wirksamste Quintessenz. Extravagante Schwärmer und schlaue Betrüger redeten dem leichtgläubigen Volke die mannigfachsten Wirkungen und Kräfte des Blutes ein, die, weil sie wunderbar waren, beim Haufen Glauben fanden; und wo eine geheimnißvolle Unternehmung vorbereitet oder ein absonderliches Medicum gebraut wurde, durfte es unter den Ingredienzien und Beschwörungsmitteln nicht fehlen. Es wurde jener sonderbare Saft, vor dem selbst der Teufel Respect hatte.
Der Schwefel hatte vermöge seiner feurigen Natur sich ein bedeutendes Ansehen von Haus aus mitgebracht. Wo er sich auf der Erde fand, waren die räthselhaften, gewaltigen Kräfte der ewig verschlossenen, vulcanischen Tiefe in unverkennbarer Thätigkeit gewesen und er selbst eine sichtliche Folge ihrer Wirkungen. Seine leichte Entzündlichkeit, die blaue Flamme, mit welcher er verbrennt, seine Begierde, sich in der Retorte des Goldmachers mit den mannigfachsten Stoffen auf unerklärliche Weise, oft unter dem prachtvollsten Flammensprühen, zu verbinden und neue ungeahnte Körper zu erzeugen, welche die sonderlichsten Eigenschaften besaßen, und die wahrhaft infernalischen Gerüche, welche allen diesen Verbindungen eigenthümlich sind, machten ihn recht zu einem Attribut des Teufels geeignet. Und es kann nicht geleugnet werden, daß es kaum ein würdigeres Element geben dürfte, die Staatszimmer des Höllenfürsten zu wärmen und das Boudoir seiner Großmutter zu parfümiren.
Da fand man bisweilen nach Gewitterregen, welche von heftigen Stürmen begleitet gewesen waren, auf den Pfützen, die sich an den Wegen gesammelt hatten, eine dicke Haut eines schwefelgelben Pulvers, welches auch außerdem oft die vom Regen getroffenen Gegenstände förmlich überzogen hatte. Dieses Pulver war offenbar mit dem Regen heruntergefallen und zurückgeblieben, als das Wasser sich verlaufen hatte. Es hatte, wie man sagte, „Schwefel geregnet“. Bei dem Gedanken daran schauerte jedem ehrlichen Christenmenschen die Haut, da es doch nicht anders anzunehmen war, als daß der Teufel bei einer solchen höchst bedenklichen Erscheinung seine Hand mit ganz besonderer Lust im Spiele gehabt haben mußte. Wenn man den gelben Staub sammelte und durch eine Lichtflamme blies, so flammte er blitzartig auf – das bewies ja seinen höllischen Ursprung vollständig.
Der Blutregen war nicht minder schauerlich. Es bedurfte keiner finstern, stürmischen Nacht dazu. Nach dem hellsten Vollmond oft erschrak man über blutige Lachen, die an Waldesrändern, in feuchten Gräben, selbstverständlich auch an den verrufenen Kreuzwegen, – warum hier nicht? – gefunden wurden. Halbgeronnen, wie eben aus der Wunde geflossen, konnte die Substanz, aus der sie bestanden, nur Blut oder ein Blendwerk der Hölle sein. Nicht weit von der einen Lache war eine zweite, oft war das ganze Gewässer eines Teiches davon roth gefärbt. Oder auf dem Schnee zeigte sich die geheimnißvolle, plötzlich entstandene Röthe in großer Ausdehnung. Manchmal waren es wieder nur einzelne Tropfen, die auf dem Grase oder dem hellen Lehmboden sichtbar wurden. Immer aber war die Erscheinung des Blutregens eine das Gemüth des Volkes im höchsten Maße beunruhigende.
Da sie so unvorhergesehen eintrat, so konnte nur auf ein Niederfallen der merkwürdigen Substanz aus der Höhe geschlossen werden, und dies geschah um so lieber, als die Luft stets für den Tummelplatz dämonischer Kräfte angesehen wurde. Nun aber – im Ernst gesprochen – giebt es denn, oder hat es wirklich Regen gegeben, der Schwefel mit aus der Luft gebracht hat, oder dessen Wasser durch Blut gefärbt war? Dies gerade nicht; aber trotzdem darf man nicht Alles gleich als Fabel erklären, welche ein Jahr dem andern überliefert hätte, wenn ein einzelner Umstand darin in einer andern Weise zu deuten ist. Freilich ist dieser einzelne Umstand, die Beschaffenheit des merkwürdigen Stoffes, bei unserm Falle gerade die Hauptsache. Doch kommen wir darauf noch. Vor der Hand müssen wir zugestehen, daß die sogenannten Schwefelregen mit Blutregen nicht nur, sondern daß auch Getreideregen, Aschenregen, Schlammregen, sogar Fischregen und Raupenregen stattgefunden haben, und die Fälle davon sind so zahlreich, daß man gar nicht daran denken kann, sie einzeln zu betrachten, viel weniger sie zu leugnen. Wir wollen dies auch nicht im Entferntesten, sondern vielmehr die Eigenthümlichkeiten dieser Phänomene prüfend betrachten und durch eine vorurtheilsfreie Untersuchung dem herrschenden Aberglauben eine Provinz seines großen Reiches zu entreißen suchen.
Einer der interessantesten Schwefelregen fiel im Jahre 1804 zu Kopenhagen in der Nacht vom 24. zum 25. Mai. Nicht nur deswegen ist er interessant, weil die Menge des mit herabgefallenen gelben Staubes, von welchem die Erscheinung den Namen hat, eine besonders bedeutende war, sondern auch weil die dabei beobachteten Verhältnisse zuerst ein Licht auf seine Ursachen warfen, und weil die Schilderung davon, obwohl sie von nicht Unerfahrenen gemacht wird, doch zeigt, wie leicht sich der Mensch von seinen eigenen Sinnen beirren läßt. Die Wolke, aus welcher der Regen fiel, kam aus Südost; der Himmel war schwarz bewölkt und die herabfallenden Tropfen hatten eine bedeutende Größe. Ihre Farbe war rein gelb, und die Dächer, auf welche sie fielen, gaben nach der Aussage der Beobachter einen weißen flimmernden Schein von sich, als wären sie von einer schwach brennenden Materie übergossen. Der Eindruck, den dies machte, soll ein schreckhafter gewesen sein. Des Morgens darauf sah man überall, wo das Regenwasser zusammengelaufen war, ein gelbes Pulver schwimmen und auf der Mitte des Wassers eine gefleckte Haut. Die Festungsgräben waren an mehreren Orten gleichsam mit einem gelben Teppich überzogen. Auch auf der Erde fand man dies Pulver, vorzüglich an Stellen, wo der Regen kleine Bäche gebildet hatte, die mehr oder weniger ausgetrocknet waren. Die Farbe und zarte Beschaffenheit der eigenthümlichen Substanz gaben ihr eine große Aehnlichkeit mit Schwefelblumen. Getrocknet durch das Licht geblasen, verbrannte sie unter blitzartigem Aufleuchten, ohne aber einen schwefligen Geruch zu hinterlassen. Daraus schon mußte hervorgehen, daß es gewöhnlicher Schwefel nicht sein konnte, eine Untersuchung mittelst des Mikroskops setzte dies außer allem Zweifel, denn die kleinen Körperchen zeigten darin eine vollständige Uebereinstimmung mit den zarten Kügelchen, aus denen das sogenannte Hexenmehl (Semen Lycopodii)besteht. Als solches wurde denn auch die in einem Umkreise von mehr als einer Quadratmeile niedergefallene Substanz erkannt, nachdem sie den erschöpfendsten Analysen unterworfen worden war.
[457] Insofern nun das Hexenmehl schon von Alters her wegen seiner Farbe und seines Verhaltens beim Durchblasen durch die Flamme einer Kerze vegetabilischer Schwefel genannt worden ist, kann man einen Regen, der diesen Körper aus der Luft mitbringt, uneigentlich wohl einen Schwefelregen nennen, ohne doch damit etwas Anderes als einen ganz natürlichen Vorgang zu bezeichnen. Denn man hat durch spätere Nachforschungen erfahren, daß die Wolke, welche jenen Regen brachte, von einem derartigen Wirbelwinde begleitet auftrat, daß sie schon vor ihrer Auflösung den Bewohnern von Waldbye, einem Dorfe vor Kopenhagen, das Schauspiel einer Wasserhose darbot.
Wahrscheinlich hat diese ihren Weg über Höhen genommen, welche mit dem gerade in jener Zeit blühenden Bärlapp reichlich bewachsen waren, und hier den leichten Blumenstaub entführt, der sich in der Luft mit den Dünsten der Wolke vermischte und mit ihnen zugleich auch herabfallen mußte. Vermöge seiner Leichtigkeit kann dieser Staub über weite Strecken mit fortgeführt werden und deshalb an Orten niederfallen, an denen die Pflanzen, von denen er stammt, gar nicht wachsen. Wenn man ihm aber deshalb, weil er aus der nächsten Nähe nicht gekommen sein sollte, einen atmosphärischen Ursprung zuschreiben wollte, so wäre dies grundfalsch. Als ebenso falsch muß die Angabe betrachtet werden, daß der Regen bei seinem Niederfallen die Dächer leuchtend gemacht habe. Er mußte allerdings durch die in ihm schwimmenden oder die Tropfen umhüllenden festen Körperchen sichtbarer werden und gleichsam wie ein zarter Schneefall erscheinen, allem den Contrast, den er durch dieses Sichtbarwerden mit unserm gewohnten Begriff von Regen erzeugte, konnte nur eine von vornherein eingenommene Phantasie als ein Leuchten sich auslegen.
Wie lange selbst in ruhiger Luft der Blüthenstaub sich schwebend erhalten kann, ohne herabzufallen, beweist die Thatsache, welche vor zwei Jahren aus Stade berichtet wurde.
Dort hatte am 4. Juni früh die Atmosphäre ganz das Aussehen des Höhenrauches mit schwachgelber Trübung. Dieser gelbe Schein war durch den Blüthenstaub von Fichten hervorgerufen worden; denn der desselben Tages Nachmittags eintretende Gewitterregen brachte ihn aus der Luft mit herab. Die Tropfen waren dadurch ganz gelb gefärbt, und alles zusammenströmende Wasser überzog sich mit einer starken gelben, pulverigen Decke. Der Regen war ein Schwefelregen. In gewissen Monaten zeigt der dem Regen beigemengte Blüthenstaub gewisse Verschiedenheiten, welche von der Verschiedenheit der Pflanzen, denen er entstammt, herrühren und die besser als andere seinen irdischen Ursprung beweisen. Es sind nämlich nicht nur die langen Arme des Bärlapp (Lycopodium), sondern auch Fichten und die übrigen Nadelhölzer und eine Menge anderer Pflanzen noch, deren Staub sich in den Regentropfen gefunden hat. Je nachdem in dem Monat, in welchem der Regen fällt, eine dieser Pflanzen besonders reichlich blüht, wird von dieser auch vorzugsweise das Material bezogen werden.
Im März und April sind es Erlen und der Haselnußstrauch, im Mai und Juni vorzüglich Fichtenarten, Wachholder und Birke, im Juli, August und September Lycopodium, Rohr, Teichkolben und Schachtelhalme, welche an der Lieferung des Blüthenstaubes hauptsächlich betheiligt sind. Die Ursache dagegen, welche ihn in die Luft erhebt, bleibt unter allen Verhältnissen dieselbe, – ein Wirbelwind.
Dergleichen Winde haben auch andere lose Körper in großer Menge fortgeführt, und ihr Niederfallen hat man an den Orten, wo sie zur Erde gelangten, Regen genannt, deßhalb auch von Getreideregen, Fischregen oder anderen, je nachdem die herabgefallenen Gegenstände den Namen verlangten, gesprochen, ohne aber damit etwas Näheres über den Ursprung der Erscheinung auszusprechen.
In Andalusien zum Beispiel regnete es zu Anfang dieses Jahrhunderts einmal Getreide. Die Erscheinung machte alle Leute stutzig, und trotzdem, daß die Israeliten sich in der Wüste herzlich über den Mannaregen freuten, wollten die Spanier das Getreide nicht als wahrhaftes irdisches betrachten, bis sie erfuhren, daß der Wind dasselbe in Tanger weggefegt hatte.
Die Aschenregen, welche sich bei vulcanischen Ausbrüchen oft über viele Quadratmeilen erstrecken, sind bekannt. Bei einer Eruption des Aetna führte der Wind den vulcanischen Staub bis nach Carthago, wo er erst niederfiel. Herculaneum und Pompeji sind lautredende Zeugen für die ungeheure Menge Materiales, welches auf diese Weise fortgeführt werden kann. Von einem Fischregen erzählt uns Forbes Mackenzie. Derselbe fand einst in Schottland drei bis vier Meilen von der Meeresküste entfernt den Boden vollständig bedeckt mit kleinen zwei bis vier Zoll langen Heringen. Die Fische haben die Gewohnheit, bei Gewitterluft aus dem Wasser emporzuschnellen, und sie sind dabei wahrscheinlich vom Winde erfaßt und fortgeführt worden. Oder aber sie können, wie dies leicht möglich ist, wenn sie in so ungeheuren Schaaren streichen, daß sie manchmal die Schiffe in ihrem Laufe hemmen, ähnlich wie das Meerwasser vom Winde in großer Menge schraubenartig zur Wasserhose aufgewirbelt und fortgeführt wird, auch einer solchen unfreiwilligen Bewegung verfallen und, einmal emporgerissen, fortgeführt und erst über dem trocknen Lande wieder herabgelassen worden sein.
Wie sich Fischregen auf diese Art und auf ähnliche Weise auch die Raupenregen erklären lassen (am 24. Juli 1804 fielen zu St. Hermine bei Fontenay in Frankreich kleine Raupen in so ungeheurer Menge aus der Luft, daß sich die Einwohner genöthigt sahen, Feuer vor ihren Häusern zu machen, um sich des Andranges zu erwehren) – so haben doch die sogenannten Frosch- und Mäuseregen nur in gewöhnlichen, besonders heftigen Regengüssen ihre Ursache. Die in Folge der Trockenheit in Spalten und Löcher geflüchteten Frösche werden dadurch wieder hervorgelockt; umgekehrt aber die Mäuse schaarenweise aus ihren Wohnungen durch das einströmende Wasser vertrieben. Dagegen müssen wir auf eine andere interessante Erscheinung, die in gebirgigen Gegenden oft nach plötzlichem großem Regen sich zeigt, aufmerksam machen, weil sie früher gewöhnlich als Folge eines sogenannten Körnerregens den Cours durch die Zeitungen machte. Man findet den Boden mitunter wie übersät mit kleinen, erbsengroßen rundlichen Knöllchen, die durch ihre Aehnlichkeit mit manchen Früchten oft Veranlassung gegeben haben, sie für Pflanzensamen zu halten, welcher mit dem Regen herabgefallen sei, während sie doch auf ihrem Fundorte gewachsen waren, und der vermeintliche Körnerregen zu ihrem Erscheinen nichts weiter beigetragen hatte, als daß er die Erde von den zarten Würzelchen einer Pflanze (einer Ranunkel – Ranunculus Ficaria) hinweggespült und die an denselben oft zu 20 bis 30 sitzenden Wurzelknöllchen bloßgelegt oder sie gar losgerissen und mit fortgeführt hatte. Eine Reise durch die Luft haben diese Dinger keineswegs gemacht. Sie enthalten sehr viel Stärkemehl und sind deshalb ein gutes Nahrungsmittel, so daß ihre Einsammlung, zumal sie oft scheffelweise den Boden bedecken, armen Leuten wohl anzurathen ist.
Etwas Wunderbares haben wir bisher noch nicht gefunden, auch die merkwürdige Erscheinung des Blutregens wird, obwohl sie häufig andern, als den bis jetzt von uns betrachteten Ursachen ihre Entstehung verdankt, uns etwas Uebernatürliches und Unerklärliches nicht zeigen. Es ist zwar eben auch möglich, daß Körperchen, kleine Pflanzen, Flechten oder dergleichen durch den Wind entführt werden, welche vermöge ihrer rothen Farbe dem Regenwasser eine blutrothe Färbung mittheilen können, indessen sind Fälle dieser Art bisher nur selten beobachtet worden. Meist ist die Ursache der eigenthümlichen, blutähnlichen Farbe in mikroskopisch kleinen Thierchen (in süßem Wasser der sogenannte Wasserfloh, Daphnia pulex, im Seewasser kleine Crustaceen und Medusen) oder Pflanzen (Algen) gefunden worden, welche sich in stehenden Gewässern ungeheuer rasch vermehren.
Parry fand auf seiner Polarreise am 10. Juli 1823 unter dem 71. Breitengrade braunrothe Stellen im grünen Seewasser. Jeder Tropfen enthielt nach seiner Berechnung mehr als dreizehnhundert solcher kleiner Thierchen, die zum Theil eine Länge von dem zweihundertsten Theil einer Linie hatten. Ehrenberg, der berühmte Begleiter Humboldt’s auf seiner Reise nach Sibirien und sein Nachfolger in der Liste der französischen Akademie, hat durch die Entdeckung der Infusorienwelt – denn was vor ihm auf diesem Gebiete gearbeitet war, ist gegen das, was er ans Licht gebracht, verschwindend, so daß man ihn wohl den eigentlichen Entdecker des mikroskopischen Lebens zu nennen berechtigt ist – auch die räthselhafte Erscheinung der gefärbten Gewässer erklärt. Er fand im Schnee Sibiriens, wie in den Wassertropfen aus dem rothen Meere die färbenden Körper und reihte sie in die geregelten Ordnungen bekannter Geschöpfe. In Sibirien fand er als Ursache der Färbung Infusorien (Astasia haemotodes), bei Tor am rothen Meere eine [458] neue Algenart, die er Tridochesmium erytrhaeum nannte. Aehnliche Algen sind im fallenden Schnee, den sie ganz carminroth zu färben vermögen, bemerkt worden.
Es giebt auch einige Pilzgattungen (Palmella, Telephora), welche durch warme Gewitterregen aus dem Boden hervorgelockt werden, sich in der Feuchtigkeit überraschend schnell entwickeln und dann in eine dunkelrothe, gallertartige Masse verwandeln, die eine große Ähnlichkeit mit geronnenem Blute hat und oft bei Unkundigen den Gedanken an einen atmosphärischen Ursprung erregt haben mag, wenn nicht der Gedanke an wirkliches menschliches oder thierisches Blut sich in den Vordergrund drängte. Haben doch viel abweichendere Erscheinungen die Gemüther in Schrecken zu setzen vermocht.
Im Jahre 1608 geriethen die Bewohner von Aix in Frankreich durch rothe Blutstropfen, die man hie und da in großer Anzahl auf dem Erdboden, den Blättern und Stengeln der Pflanzen, an den Thürpfosten, an Bretergewänden, kurz überall antraf, in große Bestürzung. Es hatte „Blut geregnet“ über die sündhafte Menschheit, und die Geistlichkeit vermehrte noch die Furcht der abergläubischen Menge. Als man nun, gänzlich zerknirscht, überzeugt war, die Gottheit hätte durch diese Erscheinung ein Zeichen ihres Zürnens gegeben, fand Peiresc die Ursache der blutrothen Flecken darin, daß Schmetterlinge, welche gerade in unerhörter Menge vorhanden waren, nach dem Ausschlüpfen aus den Puppenhälsen einige Tropfen einer rothen Flüssigkeit fahren ließen, welche jene blutartigen Flecken veranlaßt hatte.
In einem andern Falle fand ein Edelmann Blutflecke auf dem Schnee in seinem Garten. Genauen Untersuchungen zu Folge waren es die Excremente kleiner Vögel, welche von den mit einem rothen Saft erfüllten Beeren der Phytolacca decandra, die in dem Garten stand, gefressen hatten.
Diese Thatsachen, denen sich in manchen Fällen noch andere erklärend anschließen können, werden das Unhaltbare und Thörichte des Glaubens an den übernatürlichen Ursprung und die dämonische Bedeutung derjenigen Substanzen, welche mit dem Regen herabfallen, dargethan haben; sie werden in den meisten Fällen auch zur Deutung ähnlicher Erscheinungen den Schlüssel an die Hand geben.
Man wolle nur nicht sich selbst täuschen; man wolle nicht mit Gewalt die klare Vernunft, das göttlichste Geschenk, welches der Mensch erhalten, beirren und umschleiern lassen von dem Nebel der abergläubischen Furcht, sondern die Kräfte des Verstandes benützen zur Forschung, welche den Irrthum verbannt.
Aus den Erlebnissen eines alten Sachwalters.
Nr 2.
Mein Nachbar in X. war ein pensionirter Beamter mit einem hübschen Vermögen; er lebte mit seiner Ehehälfte, da er kinderlos war, sorgenlos und mit behaglichem Genuß des Lebens; denn wenn schon die Jahres- und Tagesordnung mit einer für jeden Dritten höchst peinlichen Genauigkeit und Gleichförmigkeit inne gehalten wurde, so war doch diese Regelmäßigkeit so eng mit der Natur des in der Handhabung eines strengen und pünktlichen Dienstes ergrauten Mannes verwachsen, daß ohne sie ein Lebensgenuß für ihn nicht möglich war. Es fehlte meinem Nachbar auch nicht die höhere Weihe des Lebens; denn unter einem trockenen und etwas kurz angebundenen Aeußern trug er ein warmes und fühlendes Herz in seiner Brust, und war der unverschuldeten Armuth im Stillen ein trostreicher Berather und Helfer; namentlich erstreckte sich seine Fürsorge auf Waisenkinder, die er in seiner Eigenschaft als Mitglied des Armenvereins des Orts mit großem Takt in braven Familien unterzubringen wußte. Die Unterbringung in einem Waisenhause mit seiner äußerlichen Ordnung und Regelmäßigkeit wäre ihm vielleicht noch erwünschter gewesen; zum Glück gab es aber ein solches in der Stadt nicht.
Oft pflegte ihm ein Freund zu rathen, die Armenbehörde wohl auch an’s Herz zu legen, daß er, der kinderlose und wohlhabende Mann, sich doch selbst ein Kind annehmen möge; das lehnte er aber stets ab. Er sah wohl ein, daß seine Frau hierzu nicht tauge; denn obwohl gutherzig, war sie doch kränklich, alternd und eigensinnig, daher zu Kindererziehung durchaus ungeeignet; so blieb also unser Ehepaar im altgewohnten, einsamen Gleise.
Dieses harmlose Leben sollte durch ein schlimmes Mißgeschick unterbrochen werden. Es brach ein bösartiger Typhus in der Stadt aus und raffte auch meines Nachbars Frau weg. Zugleich mit andern Opfern wurde der Seuche auch eine ganze Familie zur Beute; es war dies meines Nachbars Amtsnachfolger mit Weib und drei Kindern. Verschont von dieser Familie blieb nur ein vierzehnjähriges Mädchen, ein frisches, munteres, sanftes Wesen, Namens Clara. Dessen nahm sich eine wohlhabende Familie an, während mein Nachbar die Stelle seiner Hausfrau durch eine alte Wirthschafterin zu ersetzen suchte. Es erwies sich aber bald, daß sie sich in die starren Eigenthümlichkeiten des alten Herrn nicht finden konnte; sie ward entlassen, eine andere angenommen, und diese mußte einer dritten weichen, welche ebenfalls nicht einschlug. Mein Nachbar, durch den Tod der Gattin ohnehin tief gebeugt, gerieth dadurch in die allerbedenklichste Stimmung und ward, obwohl sonst trotz seiner Sechszig ein noch rüstiger Mann, völlig lebensmüde. In solcher Lage hielt ich es für meine Pflicht, dem Armen mit Rath und That beizustehen; ich begriff wohl, daß eine alte Person mit ihren eingewurzelten Gewohnheiten sich in die Eigenheiten des Nachbars nie finden werde, wußte aber auch, daß eine junge ihm in keiner Weise bequem war, und ich lenkte daher seine Aufmerksamkeit auf die ihm von seinem Umgange mit ihrer Familie her wohlbekannte und lieb gewordene Clara, welche in der Familie, die sich ihrer angenommen, eine mehr dienende Stellung einnahm und nicht eine solche Thätigkeit entfalten konnte, als sie ihrer Bildung entsprach. Ich schlug ihm vor, sie als Pflegetochter in sein Haus zu nehmen und damit nicht nur die Leere seines Herzens auszufüllen, sondern sich auch zugleich eine Sorgerin für sein Hauswesen zu schaffen. Er ging auf diesen Plan ein, auch Clara, die schon als Kind viel in seinem Hause verkehrte und manch Liebes und Gutes da genossen hatte, folgte gern seinem Rufe; sie nannte ihn Vater, er sie Tochter; er sorgte aber auch für sie als ein Vater und ließ es an Nichts fehlen, was zur Weiterbildung ihres Geistes und Herzens dienen konnte; sie liebte ihn wie eine Tochter und wußte sich ihm anzuschmiegen und in seine Eigenheiten zu schicken, daß daraus ein Verhältniß erwuchs, wie es reiner und schöner nicht gedacht werden konnte. Um seiner Tochter eine unschuldige Freude nicht zu verderben, geschah nicht selten das früher Unerhörte, daß er die seit einem Menschenalter mit der größten Pünktlichkeit innegehaltene Speise-, Spazier- oder Ruhestunde verrückte. Wenn er sich dabei ertappte, pflegte er selbst darüber zu lächeln und kopfschüttelnd zu sagen: „Ich hätte doch nimmer geglaubt, daß ich auf meine alten Tage noch so ein lüderlicher Kerl werden würde.“
Es konnte sich über den glänzenden Erfolg, den mein Rath gehabt hatte, Niemand mehr freuen als ich, wenn mein Nachbar mir oft mit Dank und Stolz von seiner Tochter erzählte. Bei einer solchen Gelegenheit lenkte ich denn auch das Gespräch auf das künftige Schicksal Clara’s, was ja doch größtentheils in seiner Hand liege, und welches möglichst sicher zu stellen seine Pflicht, dazu aber eine förmliche Adoption der beste Weg sei.
„Nein,“ sagte er, „von Adoption will ich nichts wissen, das ist mir wie eine Spielerei, das kann uns nicht näher bringen, als wir uns schon sind; seinen ehrlichen Namen mag das Kind behalten, so lange sie Jungfrau bleibt, denn sie hat ihn von einem würdigen Vater geerbt; wenn sie heirathet, verliert sie ihren wahren und meinen Namen; beerben soll sie mich ohnehin.“
Ich erwiderte, daß es aber dann eines Testamentes bedürfe, und daß es gut wäre, daran bei Zeiten zu denken.
Er sagte: „ei, bin ich denn plötzlich so alt und schwach geworden, daß ich schon mein Testament machen muß?“ in so bestimmtem Tone, daß ich abbrechen mußte; auch später, so oft ich auch davon anfing, konnte ich ihn nicht bewegen, mit mir über diesen Gegenstand zu verhandeln; denn kurz, fast finster ging er auf etwas Anderes über. Clara selbst hatte einen viel zu feinen Takt und zartes Gemüth, als daß sie je hätte diese Saite berühren können.
Der Grund zu diesem Eigensinne des Alten war vielleicht [459] weniger die Todesfurcht, welche Viele bei dem Gedanken an testamentarische Verfügungen beschleicht und sie davon abhält; es schien vielmehr ein anderes Gefühl die Triebfeder zu sein: das war die Sorge, es könnten sich etwa in die Liebe und Anhänglichkeit seiner Tochter, die sie ihm frei und uneigennützig entgegentrug, eigennützige Motive mischen und so seine reine Freude an ihr trüben, denn er fürchtete, eine Testamentserrichtung bleibe nicht verschwiegen; er hatte auch bisher seiner Clara sorgfältigst verheimlicht, daß er außer seiner Pension noch ansehnliche Zinsen einnahm. So mußte ich denn die Sache gehen lassen und zunehmender Altersschwäche oder eintretendem Siechthum anheimgeben, eine Sinnesänderung meines Nachbars herbeizuführen.
Inzwischen war Clara zur stattlichen Jungfrau erblüht, und es konnte nicht fehlen, daß manche junge Männer sich zu ihr hingezogen fühlten und ihr auf Bällen oder sonst Aufmerksamkeiten erwiesen. So oft solches geschah, war unschwer zu bemerken, daß düstre Wolken meines Nachbars Stirn umzogen, und, wie wir denn in offenem und vertrautem Verkehre mit einander standen, so unterließ ich nicht, ihm meine Verwunderung hierüber zu erkennen zu geben. Er räumte ein, daß diese Mißstimmung eine Schwäche von ihm sei, und entschuldigte sich damit, daß es ihm zu schwer auf’s Herz falle, wenn er denke, Clara werde ihn verlassen und in eines andern Mannes, ihres künftigen Gatten, Haus folgen; er werde sich aber nöthigenfalls darein fügen und sei weit entfernt, seiner Clara irgend welchen Zwang anzuthun. Diese war indeß zu feinfühlend, als daß ihr der Seelenzustand ihres Pflegevaters bei solchen Gelegenheiten hätte entgehen können, und sie nahm daher, um ihn nicht zu kränken, alle Huldigungen mit Gleichgültigkeit, ja mit Kälte auf. Dies wurde ihr so lange auch nicht schwer, als ihr Herz frei blieb.
Da tauchte am geselligen Horizonte unserer Stadt ein junger Mann, Namens Adolf, auf, der Sohn eines Fabrikherrn, von angenehmem Aeußern, der seit seinem Austritte aus der Schule in der Ferne gelebt, viele Länder bereist hatte und durch dies Alles, sowie durch das seiner Erscheinung anhängende Fremdartige die junge Mädchenwelt mehr oder weniger bezauberte. Obwohl fast gegen Jede freundlich und artig, gab er doch Keiner einen Vorzug, so sehr man ihm auch entgegen kam. Was mich hierbei interessirte, war die nicht zu verkennende Thatsache, daß Clara nicht gleichgültig gegen ihn war.
Gerade in dieser Zeit hatte mein Nachbar unerwartet um meinen Rath darüber gefragt, wie man auf möglichst verborgene Weise sein Testament machen und wie es namentlich seiner Clara verheimlicht werden könne; denn er werde doch immer älter, und er wünsche Clara’n sein Vermögen nach seinem Tode zuzuwenden, da er nur ganz entfernte, dazu noch sehr reiche Verwandte habe. Ich zeigte ihm hierzu den schicklichsten Weg, da er aber, während ich doch in allen Rechtsgeschäften sein Beistand war, wieder eine ziemliche Zeit verfließen ließ, ohne auf die Testamentserrichtung zurückzukommen, so lenkte ich das Gespräch darauf. Er erwiderte: „Sie haben doch wohl bemerkt, wie der junge Adolf meiner Clara in die Augen gestochen hat? Ich habe auch nichts gegen ihn einzuwenden, aber wie gleichgültig ist er gegen sie! Er wird gewiß erfahren, daß ich jetzt mein Testament gemacht habe, und denken, daß ich ihn damit ködern will, meine Clara zu heirathen; denn er ist Kaufmann und speculativ; so würde ich meinen unschätzbaren Schatz verhandeln, wie eine Waare.“ Von dieser Idee war er auch nicht abzubringen. Inzwischen hatten sich Adolf und Clara zwar auf verborgene, mir jedoch bekannt gewordene Weise genähert. Es war zwischen ihnen zu Erklärungen gekommen; Clara konnte sich jedoch, theils aus Zärtlichkeit für ihren Pflegevater, theils weil dieser ja dem Gespräche über Adolf geflissentlich auswich, nicht entschließen, sich ihrem Pflegevater zu entdecken, und verschob dadurch die Entscheidung von einer Zeit zur andern, während Adolf, bei dem abgemessenen Wesen, das mein Nachbar gerade gegen ihn beobachtete, ohne vorgängige Sondirung Seiten Clara’s in Bezug auf ihres Pflegevaters Gesinnungen sich nicht vorwärts wagte.
So verging zwischen Schwanken und Hoffen wohl ein halbes Jahr, als plötzlich Adolf abbrach und, weniger seiner Neigung folgend, als dem Drängen seines Vaters nachgebend, sich mir einem reichen Mädchen verlobte. Adolf’s Vater hatte gewünscht, daß sein Geschäft einst auf seinen Sohn übergehen möchte; da er aber noch mehrere jüngere Kinder hatte, so war dies nicht wohl möglich, wenn Adolf nicht eine reiche Partie machte. Gegen Clara’s Person hatte er nicht das Geringste einzuwenden, auch auf sofortige Mitgift wollte er verzichten, nur das sollte sicher sein, daß sie ihren Pflegevater einst beerbe; diese Garantie sei aber nicht da.
Bei Clara’s sanftem Wesen äußerte diese Wendung ihres Schicksals sich zwar nicht in leidenschaftlicher Weise; aber ein innerer Gram zehrte sichtlich an ihr, und sie zog sich von aller Welt zurück. Auch ihr Pflegevater war selten sichtbar. Was damals zwischen ihnen Beiden vorgegangen sein mochte, habe ich nie erfahren können. Plötzlich eines Morgens kam athemlos und in voller Hast meines Nachbars alter Diener mit der Botschaft zu mir, sein Herr sei plötzlich bewußtlos umgefallen, zwar wieder zu sich gekommen, aber ganz schwach; er verlange nach mir. Ich eilte hinüber und fand ihn mit verstellten Zügen im Bette liegend; mit der einen Hand hatte er krampfhaft die seiner Pflegetochter gefaßt, welche schluchzend an seinem Bette stand, die andere drückte er gegen die Brust, als wolle er einen tiefen Schmerz niederkämpfen. Die Sprache war fast verschwunden. Doch lispelte er mir zu: „Testament machen, Testament machen, Alles meiner Clara.“ Ich sendete sofort nach dem Gerichte, während ich in kürzester Form diese seine Willensmeinung zu Papier brachte. Ich las ihm dieses vor und fragte nochmals, ob das so sein letzter Wille sei, den er auch nachher vor der Deputation des Gerichts anerkennen wolle. Er antwortete hastig: „Ja, ja, ja,“ darauf ließ ich ihn das Papier unterschreiben; es gelang, zwar in ungewöhnlich großen, zitterigen Zügen, aber doch deutlich war sein Name zu lesen. Es fehlte nur noch, daß das Testament dem Gerichte übergeben werde. Ich stand in der gespanntesten Erwartung am Fenster und schaute auf die fast noch menschenleere Straße, um nach den Gerichtspersonen zu sehen; jede Minute, die verging, erschien mir wie eine Stunde; der Kranke stöhnte ängstlich und preßte wiederholt zwischen seinen bleichen Lippen die Frage hervor: „kommt denn Niemand?“ und drückte die Hand seiner Tochter an Mund und Herz. Ich sah, daß wir einen Sterbenden vor uns hatten, auch der inzwischen erschienene Arzt bestätigte dies, aber keine Gerichtsperson erschien. Endlich, endlich unten am Ende der Straße erscheint der Richter mit einem Actuar; sie gehen rasch, aber rascher noch breitet der Tod seine Schatten über das Gesicht des Sterbenden; doch sein Auge drückt noch Bewußtsein aus; mich bald ängstlich fragend, bald seine Tochter anblickend. Wenn er nur noch so lange lebte, daß er die Frage des Richters, ob dies sein letzter Wille sei, was er vor sich liegen hatte, zu beantworten vermochte! so dachte ich um der armen Clara willen in meinem Inneren. Ja, es ist Hoffnung dazu! Die Gerichtspersonen erscheinen am Hause, sie treten ein, man hört sie deutlich die Treppe herauf eilen; die Thüre öffnet sich, der Kranke hört’s, er will sein Haupt erheben, da zuckt es noch einmal über sein Antlitz, er stirbt, ehe das Gericht in’s Zimmer tritt. Das Testament war nicht gemacht!
Clara war wieder eine arme Waise; verwaist von dem, dem sie ihr Lebensglück geopfert hatte. In tiefstem Schmerze noch verloren saß sie, als ihr Pflegevater kaum begraben war, in ihrem einsamen Zimmer, da erschien der unbekannte, theilnahmlose Vetter des Verstorbenen, welcher mit kaum verhehlter Freude das ziemlich bedeutende Vermögen in Empfang nahm. Ich suchte ihn unter Eröffnung alles dessen, was vorgefallen war, zu bewegen, der armen Clara wenigstens so viel auszusetzen, daß sie nothdürftig leben könne. Er bot ihr darauf ein Geschenk von hundert Thalern an, womit er nach seiner Meinung etwas Besonderes zu thun glaubte. Sie lehnte dies aber in gerechtem Stolze ab, verließ Stadt und Haus und ward Diakonissin.
Es existirt ein alter Aberglaube, daß der Tod nahe vor der Thüre stehe, sobald man sein Testament mache. Wie viel Beeinträchtigungen, Streit und Unglück diese von Vielen geglaubte Albernheit schon zur Folge gehabt, davon wissen am besten die Gerichte und Sachwalter zu erzählen. Wenn nun mein Nachbar auch nicht zu diesen Abergläubischen gehörte, so lag doch der tiefeingewurzelte Widerwille gegen das „Testamentmachen“ auch bei ihm vor und vernichtete schließlich seinen Lieblingswunsch, die treue Pflegerin seines Alters vor Sorge und Noth zu schützen. Tausend ähnliche Fälle lassen sich noch anführen, und nicht dringend genug kann es jedem Besitzenden an das Herz gelegt werden, in Zeiten der Gesundheit und des Wohlbefindens über die Verwendung seines Eigenthums zu bestimmen, d. h. sein Testament zu machen.
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Es ist eine schöne Sitte, das Andenken der Todten zu feiern und die Gräber zu schmücken, wie es in Leipzig geschieht, eine Sitte, die hoffentlich nach und nach in allen deutschen Gauen mehr und mehr Raum finden wird. Giebt es eine sinnigere Vermittlung zwischen Tod und Leben als die Blumen? Nur einmal braucht man in Leipzig am Johannistage über die Friedhöfe zu schreiten, und der starre, kalte Eindruck, den der Tod macht, schwindet. Vergebens forschen wir, wann dieser schöne Brauch, der in Leipzig getreu festgehalten wird, aufgekommen ist, wem er seine Entstehung verdankt. Des Volkes Bräuche lassen sich selten auf einzelne Jahre und Personen zurückführen, aus dem ganzen Volke sind sie meistens hervorgewachsen.
Die Todten in dieser Weise zu feiern, mag ein christlicher Gedanke sein, dennoch müssen wir den ersten Ursprung bis in frühere Jahre, bis in die Zeit des deutschen Heidenthums verfolgen. Oder sollte diese Feier mit den verschiedenen Festlichkeiten und Bräuchen, welche noch jetzt an vielen Orten Deutschlands begangen werden und deutlich auf die heidnische Feier der Mittsommerwende hinweisen, nicht im engsten Zusammenhange stehen? In Thüringen, Böhmen und anderen Gegenden leuchten am Abend vor dem Johannistage Feuer auf allen Höhen, heitere Volksgebräuche knüpfen sich daran, welche unverkennbar auf das Götterfest und die verschiedenen Opfergaben der alten Deutschen hindeuten; auf dem Harze wird der Johannistag heiter begangen, Jung und Alt tanzen um einen mit Bändern und Tüchern geschmückten Tannenbaum – einst galt diese Feier den Göttern der deutschen Eichenhaine, das Christenthum hat dem Volke diese liebgewordenen Gebräuche gelassen, nur ihnen einen anderen Sinn untergeschoben und einen anderen Namen gegeben. Johannes dem Täufer zu Ehren wird das Fest jetzt begangen, in Leipzig hat es sich zur schönen Todtenfeier gestaltet.
Die Glocken haben am Morgen das Fest eingeläutet, von den Thürmen flattern Fahnen; eine eigenthümlich wehmüthig-freudige Stimmung hat sich fast der ganzen Stadt bemächtigt. Wohin wir das Auge wenden, erblicken wir Blumen und Blüthenkränze und unwillkürlich folgen wir dem Zuge der Menschen, die zum Friedhofe gehen.
Blumen und Grün erfüllen den ganzen geräumigen Platz vor dem Gottesacker in der Stadt rings um die Johanniskirche. Tausende der schönsten Blumen werden dort feil geboten, um sie alle einem Zwecke zu weihen, dem Andenken der Geschiedenen und dem Schmucke ihrer Grabhügel, denn heute ist der 24. Juni, der Tag der Johannisfeier.
In der Nähe des Kirchhofes drängen sich die Menschen. Eine mit Guirlanden verzierte Pforte nimmt alle auf. Schon stehen wir an Gellert’s einfachem Grabe, dicht vor dem Gottesacker. Die sechs Cypressen an demselben grünen wie jeden Jahr, wie an jedem Johannistage sind einfache Kränze aus einfachem Grün um dieselben gewunden.
Unwillkürlich bleiben wir hier stehen und lassen die Menschen, welche zum Friedhofe gehen, an uns vorüberziehen. Kein Stand, kein Alter, kein Geschlecht ist ausgeschlossen. Einen tiefen Blick kann man hier in manchen stillen Schmerz und manche Seelentrauer werfen. Der Schmerz, der aus manchem so jugendlich frischen Gesichte spricht, schneidet in’s Herz.
Dort kommt ein altes Mütterchen, mit einem ärmlichen Tuche umhüllt, langsam daher. In dem Arme trägt sie einen einfachen Blumenstock und preßt ihn fest an die Brust, als wäre er ein Kleinod. Er ist es für sie, denn für ihn hat sie vielleicht ihre letzten wenigen Groschen hingegeben oder hat ihn in ihrer ärmlichen Stube seit Wochen und Monden gepflegt, ihr Auge hat oft mit Trauer darauf geruht und doch hat sie sich wieder auf die Stunde gefreut, in der sie ihn hinaustragen könne auf den Friedhof, um ihn dort auf einem schmucklosen Grabhügel niederzusetzen. Jetzt ist die Stunde gekommen. Es liegt in ihren alten Zügen ungeduldiges Eilen und traurige wehmüthige Erinnerung zugleich. Wir brauchen nicht zu fragen, für wen sie den Topf bestimmt hat. Wir sehen ihr an, daß sie allein und verlassen im Leben dasteht. Es ist ihr Lebensgefährte, dem sie das Andenken bestimmt hat. Hätte sie Kinder – sie würde nicht allein gehen, sie würde dieselben mitnehmen zum Grabe ihres Vaters; sie hätte dann noch eine Zuflucht, und irgend eine frohe Lebenshoffnung würde sich in ihrem Gesichte aussprechen. Sie steht allein.
Dicht hinter der Alten gehen zwei noch junge, ganz in Schwarz gekleidete junge Mädchen. Das eine hat zwei frisch gewundene Kränze über dem Arm hängen, das andre trägt zwei Blumenstöcke. Beide Kränze und Stöcke sind einander gleich. Die Augen der Mädchen sind geröthet – sie müssen viel geweint haben an diesem Tage, der den Verlust ihrer Eltern ihnen in ganzer Frische in die Erinnerung zurückgerufen. In ihren Zügen spricht sich nur eine tiefe, schmerzvolle Trauer aus, die unbekümmert ist um das Treiben ringsum und keinen freudigen Gedanken aufkommen läßt. Der Tod hat eine unausfüllbare Kluft in ihr Leben gerissen, und vielleicht zählte einst ihr Leben in dem Elternhause zu den glücklichsten.
Menschen auf Menschen ziehen an uns vorüber. Der Tod ruft doch manche Thräne hervor. Dort kommt ein noch junger Mann. An seiner Rechten hält er ein Mädchen von ungefähr acht Jahren, an der Linken einen sechsjährigen Knaben. Die Kinder blicken heiter um sich. Die Menschen und Blumen ringsum zerstreuen sie, und sie freuen sich, daß auch sie ihrer Mutter Blumen auf das Grab tragen dürfen. Sie wissen nicht, was „todt“ heißt. Unbefangen bestürmen sie ihren Vater mit Fragen, und der Knabe wirft ungeduldig ein, ob das Grab der Mutter denn noch nicht bald erreicht sei. Der Mann vermag nicht zu antworten. In seinen Augen schimmert eine Thräne. Gewaltsam preßt er die Lippen auf einander, um den in ihm stürmenden Schmerz zurückzudrängen. Die Fragen der Kinder schneiden ihm tief in’s Herz, und doch vermag er ihnen nicht zu zürnen, denn – es sind ihre und seine Kinder.
Eine reiche Equipage rollt in diesem Augenblicke schnell daher, und wir haben kaum Zeit, zur Seite zu springen, um von den Rädern nicht erfaßt zu werden. Dicht vor dem Eingange zum Friedhofe hält sie an. Ein Bedienter springt herab und öffnet die Thür. Eine schwarzgekleidete bleiche Frau und ein Mann steigen aus. Sie stützt sich hinfällig auf seinen Arm. Beide sind in den mittleren Jahren. Der Diener nimmt eine Fülle der kostbarsten Blumen und Kränze und folgt ihnen, während sie ziemlich schnell und theilnahmlos durch die Menge auf den Friedhof schreiten. Umsonst fragen wir uns, wen dieses Paar dort bestattet haben mag. Aus den Zügen der Frau vermögen wir es nicht zu erkennen; es lag Gram, zerknickte Hoffnungen und ein ungebeugter Stolz darin. Nicht für eine halbe Welt schienen ihre Augen vor all den Menschen weinen zu mögen, und doch hatte der Tod tief in ihr Glück und ihre Brust eingeschnitten. „Sie hat ihr einziges Kind verloren,“ hören wir neben uns flüstern.
Wir treten auf den Friedhof. Wie lieblich der Tod unter dieser Blumen- und Blüthenfülle, welche die grünen Hügel schmückt, aussieht! Der erschütternde Eindruck, den fast jeder Gottesacker macht, ist verschwunden, ruhig, friedlich blickt uns Alles entgegen. Es ist uns, als ob wir die Todten unter den Hügeln lächeln sähen. Heute ist ihr Feiertag, und sie werden gefeiert. Einen Garten der Todten möchten wir an diesem Tage den Friedhof nennen. Blume reiht sich an Blume. Rosen sind wie in Kränzen rings um die grünen Hügel gesteckt, manche sind ganz davon bedeckt. Vergebens lassen wir unsern Blick umherschweifen, um ein Grab zu finden, welches kein Zeichen der Johannisfeier trägt. Selbst der Aermste trägt einen einfachen Blumenstock hierher oder streut wenige Blüthen auf die Stätte, wo er einen Todten ruhen hat.
Dort hinten in der Ecke erblicken wir eine Grabstätte, an die heute Niemand denkt. Sie macht inmitten der Blumen einen erschütternden Eindruck. Das eiserne Gitter, welches sie umschließt, ist noch erhalten – sonst nichts. Selbst der Name der Familie, der diese Stätte gehört, ist auf der Platte, in der er eingegraben war, verwachsen, verwittert, vergessen. Keine Hand hat diese Stätte gepflegt, aber einst war sie in Ordnung gehalten, das zeigen die vertrockneten Cypressen, welche neben den eingefallenen Hügeln stehen, und die Traueresche, welche einst diesen kleinen Raum beschattet hat, jetzt aber auch verdorrt ist. Jetzt treibt das Unkraut sein Spiel auf dieser Stätte und es wuchert so üppig, hoch und dreist, wie es eben nur Unkraut zu thun vermag.
Und eine Menge bekannter Namen blickt uns von den Grabsteinen entgegen. Dort liegt der Dichter Herloßsohn. Wer hat ihn in Leipzig nicht gekannt, wer nicht schon manche seiner Gedichte
[461][462] gelesen? Er hat gesungen, geliebt und gelebt. Und er ist nicht vergessen, das zeigen die Blumen und Kränze auf seinem Hügel. Dort lesen wir Tzschirner’s Namen, und die Erinnerung an seinen freien Geist thut uns wohl in einer Zeit, wo die beschränkte Orthodoxie und heuchelnde Frömmelei in vielen Kreisen die Oberhand zu gewinnen droht, bis ein frischer, gesunder Hauch diese Unnatur des Geistes wieder verweht. Auf demselben Friedhofe ruht auch der bekannte, erst kürzlich verstorbene Rector der Thomasschule, Stallbaum. Und könnten wir in diesem Augenblicke hintreten auf den neuen Friedhof vor dem Thore, der in gleichem Johannisfeierschmucke prangt, so würde uns ein Grab vor allen in die Augen fallen – es ist das Carl Zöllner’s. Reich ist es mit Blumen geschmückt, und der Tod scheint dem Sänger so vieler herrlicher Lieder freundlicher gesinnt zu sein als sein einfaches Leben. Wir wissen nicht, wessen Hand seinen Hügel geschmückt – aber Wenige, die hier ruhen, haben so viele Freunde hinterlassen, wie Zöllner.
Von den Todten wird unsere Aufmerksamkeit zu den Lebenden zurückgerufen. So viele rührende Bilder drängen sich uns auf. Hier der Schmerz in still zurückgedrängter Verschlossenheit, dort die unaufhaltsam und rücksichtslos rinnenden Thränen, und zwischen beiden der gleichgültige Blick eines Zuschauers, den nur die Neugierde an diesem Tage hierhergerufen.
Unsere Illustration selbst stellt eine solche ergreifende Scene dar. Sie bedarf kaum einer Erklärung. Eine Mutter steht mit ihren Kindern an dem Grabe des Mannes und Vaters. Mit banger Innigkeit preßt sie den Kopf des einen heftig weinenden Kindes an ihre Brust, sie selbst vermag die Thränen nicht zurück zu halten. Sie selbst bedarf des Trostes und soll Trost geben!
In diesem kleinen Bilde liegt der ganze Lebenslauf einer Familie ausgedrückt. Tage und Jahre voll Glück und Frieden, bis der Tod erbarmungslos in dieselben hineingreift. Nun Wochen und Monde voll Thränen und Trauer und Jahre voll wehmüthig schmerzvoller Erinnerungen.
Diese Scene ist zu erschütternd, wir dürfen den aufrichtigen Schmerz nicht länger belauschen. Es treibt uns weiter.
Ein glänzendes Familienbegräbniß zieht unsern Blick auf sich. Ein prachtvolles Eisengitter umgiebt es. Wie ein kleiner sauberer Garten lacht es uns entgegen. Die seltensten Blumen blühen in ihm. Mehrere hohe Orangenbäume bilden eine kleine Laube, darin steht eine sauber aus Eisen gearbeitete Bank. Ein Mann und eine Frau sitzen darauf. Wir erkennen sie – es sind dieselben, welche in der reichen Equipage zum Friedhofe gefahren kamen. Dort stehen die frischen Blumen, welche der Diener hieher trug.
„Sie hat ihr einziges Kind verloren,“ tönt es in uns wieder. Wir sehen ihren Blick und jetzt erst verstehen wir den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie ist reich, sie hat Alles gehabt, was sie sich wünschte; nun hat ihr der Tod ihr theuerstes Gut geraubt. Was hat sie nun noch vor dem Armen voraus, der zum wenigsten in seiner Familie sich glücklich fühlt? In einer Erde ruht ihr Kind mit dem Kinde des Niedrigsten – der Tod macht Alle gleich. Sie könnte alle Blumen, welche die Stadt birgt, auf dieser Stätte zusammenhäufen, es würde kaum ein Opfer für sie sein, ihr Kind vermag sie dadurch nicht zurück zu erkaufen. In ihren Schmerz mischt sich eine stolze Erbitterung, daß der Tod kein Ansehen der Person kennt. Sie kann nicht weinen, aber ihre Wangen werden bleicher und bleicher. Arme Frau!
Nicht weit davon stehen die beiden jungen Mädchen neben zwei gleichen Hügeln. Blumen und Kränze liegen darauf. Wie sorgsam der Rasen gepflegt ist! Sie geben sich ganz ihrem Schmerze hin, kein anderes Gefühl kommt in ihnen auf. Welcher Unterschied zwischen ihrer Trauer und der der reichen Frau!
Stoßen uns all die, welche wir bereits gesehen haben, hier wieder auf? – Dort in einer Ecke neben einem ganz einfachen Hügel sitzt die Alte. Ein zufriedener, genugthuender Zug ruht auf ihrem Gesichte. Der Blumenstock steht zu Häupten des Hügels. Ja, dort unten ruht ihr Lebensgefährte, mit dem sie manches Jahr Arbeit und Sorgen getheilt. Er war alt und schwach geworden – und jetzt hat er es gut! Eine Blume auch auf seinem Grabe, und die Traueresche eines nahen Grabes breitet ihre Aeste auch über dieses mit. Wie ruhig und schattig er hier liegt! Durch das Gitter eines Begräbnisses dicht daneben hat sich ein Epheuzweig gerankt, den hat die Alte sorgsam um den Hügel ihres Mannes gezogen. Der Tod hat es doch gut mit ihm gemeint, und das ist ein Trost für sie. – Genug mit diesen Bildern, wir können sie doch nicht alle erschöpfen. –
Das Geräusch eines heranrollenden Wagens unterbrach den Redefluß des warm gewordenen Veteranen. Durch die Fenster sah man den Durnerbauer ankommen, in städtischer Chaise, von einem Knechte im Sonntagsstaate kutschirt, und Vesi neben sich auf dem weich gepolsterten Rücksitz, ebenfalls in tiefe Trauer gekleidet. Sie sah in dem dunkeln Anzug und mit der leidenden Blässe des Gesichts ungemein lieblich aus, denn es war dadurch etwas Weicheres in ihre sonst etwas finster gewordenen Züge gekommen. Auf dem Antlitz des Holzgrafen dagegen lagerte es desto finsterer.
Während Beide in den Hausgang traten, machte sich der Knecht daran die Pferde auszuschirren. Er streichelte die schönen Thiere, indem er ihnen behutsam die Stränge über’m Rücken zusammenknüpfte, und brummte dazu unwillig vor sich hin. Eine Dirne, die unter die Thür des Kuhstalls getreten war, um das stattliche Gespann und Vesi’s reichen Anzug zu bewundern, rief ihm zu. „Was hast denn, Matthies?“ sagte sie, „Du thust ja mit Deine Gäul’, als wenn Du sie das letzte Mal ausschirren thätst!“
„Es wird auch bald das letzte Mal sein,“ erwiderte der Knecht. „Zu Michaeli sag ich dem Bauern auf, ich mag nit mehr bleiben in dem unchristlichen Haus!“
„Wie Du so reden magst,“ rief die Magd, „und kommst justament aus der Kirchen zurück!“
„Ja, ich komm’ schön aus der Kirchen,“ war die Antwort. „Wir sind hingefahren bis an die Gottesackerthür, und die Vesi ist hinein in die Kirchen; der Bauer aber ist sitzen geblieben, und wie drin die Orgel angegangen ist, sind wir wieder weiter gefahren, als wenn der böse Feind hinter uns wär’ …“
„Aber das ist doch merkwürdig – und wohin denn?“
„Es ist zum Lachen! Nach Unterammergau hinüber. „Ich hab’ ein wichtiges Geschäft dort beim Hunterwirth, das kein’ Aufschub hat,“ hat er gesagt … und was war das wichtige Geschäft? Er hat sich eine Flasche Wein geben lassen, und ist dahinter gesessen und hat kein Wort geredt, sondern immer vor sich hin geschaut auf Einen Fleck … und zuletzt hat er den Wirth gefragt, er möcht’ ein neues schönes Pferdgeschirr haben, ob er ihm keins verrathen könnt … Da hab’ ich mir’s vorgenommen, so gern ich die Prachtgäul’ hab – ich bleibe nit länger mehr in dem Haus, als ich bleiben muß …“ Damit verschwand er sammt den Pferden in der Stallthüre.
Der Bauer war indeß mit Vesi in die Stube getreten, von dem Wachtmeister und der Bäuerin begrüßt, welche ihm den Grund mittheilte, weßhalb dieser auf dem Durnerhof eingesprochen hatte. Er erwiderte nur kurz, und die Bäuerin, welche ihn zu gut kannte, um nicht zu sehn, daß ihm etwas Unangenehmes begegnet sein mußte, hielt es für das Gerathenste, wenn er Anlaß bekäme, sich auszusprechen. Sie fragte nach der Ursache seines Unmuths.
„Ach was!“ rief er, „es ist nicht der Mühe werth, aber ich habe mich doch geärgert über den miserabeln Kerl, den Friedl von Eschenlohe. Kommt auf mich zu mit dem Weinglas und will mit mir anstoßen und lobt meinen schönen Hof, und wenn er mir feil wär’, wollt’ er mir gleich dreißigtausend Gulden dafür auf den Tisch hinlegen! Himmelsacrament – Ein solches Schandgebot für einen schuldenfreien Hof, wie der meinige, der unter Brüdern seine fünfzig werth ist …“
[463] „Du mußt Dich darüber nit ärgern,“ begütigte die Bäuerin, „der Mann muß nit nüchtern gewesen sein … aber wie bist Du denn mit ihm beim Wein zusammengekommen? Bist Du denn nicht in der Kirche gewesen, im Seelengottesdienst?“
„Ich hab’ ein dringendes Geschäft gehabt, drüben in Unterammergau,“ war die Antwort, „und wie ich zurückgekommen bin, war’s schon zu spät …“ Dabei hatte er sich mit dem Gesichte gegen die Wand gewendet und nahm den dort hängenden Doppelstutzen mit Jagdranzen herab.
Die Bäuerin sah ihm entsetzt, der Wachtmeister befremdet zu. „Also Du bist nit in der Kirche gewesen!“ jammerte sie. „Und was hast jetzt mit dem Gewehr im Sinn? Wirst doch nit auf die Jagd gehn wollen an dem Tag, wo sie Dein’ einzigen Sohn in’s Grab gesegnet haben? Aber freilich, warum soll’st Du nicht! Hast nit einmal Zeit gefunden zu ein’ armseligen Vaterunser für Dein eignes Kind!“
„Mach’ mir den Kopf nit warm,“ entgegnete der Bauer, das Gewehrschloß putzend und prüfend. „Ich muß mir’s aus dem Sinn schlagen, und wenn wir uns alle Zwei hinter den Tisch hinsetzen und flennen, machen wir den Buben doch nimmer lebendig.“
„Wenn Ihr mir’s nicht übel nehmen wollt, daß ich ein Wort darein rede,“ begann der Wachtmeister, „so möcht’ ich wohl rathen, das Jagdgehen heute bleiben zu lassen. Es ist der Leute wegen, und ein vernünftiger Mann wie Ihr, Durnerbauer, giebt den müßigen Zungen nicht gern etwas zu thun.“
Der Bauer hatte die Ladung der beiden Läufe untersucht; jetzt stieß er den Ladestock darauf und ließ ihn sich in die Hände springen. „Na, weil der Herr Wachtmeister so meint,“ sagte er dann mit einem spöttischen Seitenblick auf denselben, „und weil er doch ein so guter Freund von uns ist, will ich thun, was er haben will, und will daheim bleiben. Dann will ich aber auch gleich Ordnung machen in meinem Haus, und da ist es mir gerade recht, daß ein Zeug’ und Beiständer dabei ist, wie der Herr Wachtmeister!“
Das Gewehr in den Händen behaltend, trat er an die Thüre und rief laut nach Vesi. Nach einigen Secunden trat sie ein; sie war unmittelbar nach der Ankunft in ihre Kammer gegangen, hatte den Trauerstaat abgelegt und kam nun wieder in der gewöhnlichen Kleidung, wie man sie Tags über und zur Arbeit trägt.
„Seit Ihr wieder daheim seid, Du und die Mutter,“ begann der Bauer, „geht Ihr alle Beide herum, als wie verlassen und verloren; das vertrag’ ich nit, das muß anders werden …“
„Du wirst nit klagen können, Vater,“ sagte Vesi, „daß etwas im Haus und im Feld nit richtig geschieht. Ich thu’ meine Schuldigkeit …“
„Schuldigkeit?“ höhnte der Bauer, „die thut mir jede Dienstmagd für Kost und Lohn – dazu brauch’ ich keine Tochter… aber die schiefen, verdrossenen Gesichter sind mir zuwider, und ich will ein End’ machen, soll’s biegen oder brechen!… Ich hab’ nichts mehr zu Dir gesagt, Vesi, wegen Deiner dummen Bekanntschaft; ich hab’ gemeint, Du sollst selber zur Einsicht kommen – jetzt ist die Sach’ anders ’worden, jetzt hab’ ich kein’ Sohn mehr, dem ich den Hof geben könnt’ – jetzt muß es auch mit Dir anders werden! Kurz und gut also – ich hab’ das Bauernleben satt, ich zieh’ nach München in die Stadt und will nur noch meinen Holzhandel treiben; drum will ich Dir den Durnerhof übergeben, Vesi, und hab’ Dir einen prächtigen Hochzeiter ausgesucht …“
Vesi sah schweigend vor sich hin. „Nun,“ schrie er, „hast Du gar keine Antwort für mich?“
„Was soll ich sagen?“ erwiderte das Mädchen. „Meine Antwort kennst Du lang’! – Du kannst und sollst nit sagen, daß ich ungehorsam bin … ich hab’ Dir den Willen gethan und hab’ seit dem letzten Abend in Ammergau mit dem Domini kein Wort mehr gered’t – ich hab’ ihn mit keinem Aug’ mehr gesehn, als wenn ich’s nit hab’ vermeiden können, daß er mir in den Weg ’kommen ist – so will ich’s auch für die Zukunft machen, ich will nicht verlangen, daß Du mir den Domini geben sollst – aber das muß Dir auch genug sein, Vater, und Du mußt nit von mir verlangen, daß ich ihn vergessen und mein Wort brechen sollt’ …“
„So?“ sagte der Bauer, vor innerer Erregung bebend. „Du willst also den Durnerhof gar nicht? Und was soll ich denn damit anfangen, meinst?“
„Ich mein’ Du sollst ihn behalten, Vater, und sollst wirthschaften wie bis jetzt, nur sollst lieber den leidigen Holzhandel aufgeben! – Wenn Du aber bardu (partout) in die Stadt willst, so wirst Du wohl einen ordentlichen Käufer finden – ich mein’ es ist doch kein rechter Segen mehr auf dem Durnerhof!“
„Wo soll der Segen herkommen, wenn man mit solchen Kindern geschlagen ist!“
„O Vater, Du solltest das nit sagen – von mir ist eh’ nit die Red’ – aber Du solltest es um den Martin nit sagen, der noch kaum eingesegnet ist in seinem Grab … Was willst denn noch, Vater? Du hast den Martin verstoßen wie den Verlornen Sohn … Du hast mir die Herzblätter aus’brochen aus mein’ jungen Leben, daß die Freud’ und die Lust dahin ist für alle Zeit – Vater, was willst denn noch?“
Der Bauer saß unbeweglich, er war todtenbleich bis in die Lippen hinein. „Ich hab’ den Burschen verstoßen?“ würgte er heraus. „Hat er nit die Hand aufgehoben gegen seinen Vater?“
„Vater,“ entgegnete Vesi, indem sie ihn fest anblickte, „ich bin damals noch ein kleines halbgewachsenes Mädel gewesen, aber ich weiß noch Alles, als wenn’s heut gewesen wäre! Du hast ihn einen Dieb geheißen, Vater, weil er dem abgebrannten Niedergütler ein Schäffel Korn gegeben hat ohne Dein Wissen… da – es ist wahr – da hat er gethan, als wenn er die Hand aufheben wollt’ gegen Dich; aber er hat’s nit vollführt – er hat die Hand wieder sinken lassen im Augenblick und ist fort – und ist seit der Stund mit keinem Fuß mehr in sein Elternhaus gekommen!“
„O Korby, Korby,“ jammerte die Bäuerin, „giebt’s denn gar kein Mittel, Dein hartes Herz weich zu machen? …“
„Nein, Mutter, nein,“ rief Vesi, „ich hab’s heut gesehn, wie der Vater nit einmal heut hinein ist in die Kirch’ – wer sein Herz nit einmal vor unserm lieben Herrgott demüthigen will, der kann auch mit keinem Menschen Erbarmniß haben!“
Der Bauer bebte vor Wuth. „So was unterstehst Du Dich Deinem Vater zu sagen?“ keuchte er mühsam.
„Ja, Vater,“ erwiderte Vesi, indem sie ruhig aufstand und sich fortzugehen anschickte. „Ich will geh’n, denn auf die Weis’ kommen wir nit in’s Reine – aber ich untersteh’ mich doch, Dir das zu sagen – von Deinem Kind, das Dich gern hat, wenn Du’s auch nicht glaubst, kann’s Dich am wenigsten kränken … Ich sag’s noch einmal, ich bitt’ Dich, Vater – bet’! Zwing Dich, daß Du beten kannst, und wenn’s nur ein einzig Vaterunuser ist … dann wollen wir weiter reden!“
„Beten soll ich?“ brüllte der Bauer losbrechend. „Bet’ Du selber Dein Stoßgebet, Rabenkind von einer Tochter … das ist Dein Letztes!“
Außer sich vor Zorn fuhr er mit dem Gewehre empor und spannte den Hahn. Der Wachtmeister, welcher ruhig seitwärts gestanden und längst einen solchen Ausbruch befürchtet haben mochte, fiel ihm in den Arm. Von der andern Seite hängte sich die Bäuerin an ihn, welche schon mehr einer Todten als einer Lebenden glich.
„Um Gotteswillen, Korby, was willst Du thun?“ kreischte sie voll Entsetzen. „Willst Du zum Mörder werden an Deinem eigenen Kind?“
Der Bauer war anzusehen wie ein gefangenes Raubthier, das sich wuthschnaubend seiner Feinde zu entledigen sucht; der Schaum trat ihm vor den Mund. Vesi allein erwartete ruhig und festen Blicks, was kommen werde.
„Denk’ an den Andreastag!“ rief die Bäuerin wieder und ängstlicher als zuvor.
„Soll ich mich mein’ Lebtag von Euch meistern lassen, wie ein Schulbub?“ tobte der Bauer. In der nächsten Secunde hatte er mit einem riesenkräftigen Ruck das Weib von sich geschleudert und den Wachtmeister von sich gedrängt … und der Schuß dröhnte durch das stille Haus. – –
Ein Schrei folgte ihm; dann war tiefes Schweigen.
Vesi stand aufrecht und unverletzt; im entscheidenden Momente hatte der Wachtmeister den Gewehrlauf in die Höhe geschlagen, daß der Schuß in die Decke fuhr.
Die Bäuerin lag am Boden hingestreckt, einige Blutstropfen auf den bläulichen Lippen – die ungeheuere Aufregung hatte das zerstörte schwache Leben mit einem Ruck entwurzelt. Sie war todt.
Vesi sah es zuerst; mit einem wilden Schrei stürzte sie neben der Leiche auf die Kniee, warf sich mit Küssen und zärtlicken Worten darüber hin, und die Thränen, die ihr schon so lange in den heißen, trockenen Augen gebrannt hatten, strömten unaufhaltsam hervor.
[464] Der Wachtmeister trat hinzu und befühlte Hände und Brust der Frau. „Da ist nicht mehr zu retten und zu helfen,“ sagte er, „die arme Frau hat’s überstanden … aber kommt, Vesi, Euch kann noch geholfen werden! – Macht’s mit Euch selber aus, Durnerbauer, was Ihr gethan habt,“ fuhr er, zu diesem gewendet, fort, „vor der weltlichen Obrigkeit werdet Ihr es nicht zu verantworten haben, denn Eure Tochter wird Euch nicht anklagen, und ich will schweigen, ihretwegen und wegen Eures braven Martin, der mein Kriegscamerad gewesen ist!“ – Damit trat er zu Vesi, suchte sie emporzuziehen und sagte: „Kommt, Vesi, Ihr seid in dem Hause nicht mehr sicher; folgt mir, ich will Euch an einen Ort bringen, wo Ihr gut aufgehoben sein sollt.“
Vesi verharrte in ihrer Stellung und schüttelte mit dem Kopf. „Ich dank’ schön, Herr Wachtmeister,“ rief sie unter Thränen, – „aber ich geh’ nit fort. In das Haus gehör’ ich, und da muß ich aushalten … Die Mutter ist todt, der Vater wär’ jetzt ganz allein… Geht nur in Gott’s Namen, Herr Wachtmeister… wenn ihn auch der Zorn übergangen hat … es hat keine Gefahr für mich bei meinem Vater!“
„Hört Ihr das?“ sagte der Wachtmeister zu dem Bauer, der mit dem Fallen des Schusses todtenblaß, aber unbeweglich dagestanden war und die Büchse fest in den Händen hielt. „Könnt Ihr das hören, und es rührt Euch nicht?“
In das Angesicht des Bauers kehrte Leben und Röthe zurück, mit ihnen aber auch der Hohn und die alte Wildheit.
„Oho,“ lachte er grimmig, „mich macht man so leicht nicht kleinmüthig! Sie meint wohl, sie zwingt mich zuletzt doch noch mit ihrem Gewinsel … Hat sie mich denn schon gefragt, ob ich sie behalte, wenn sie bleiben will? Wenn sich Eins von uns demüthigen und zum Kreuz kriechen muß, ist sie’s! – In meinem Haus ist kein Platz für Leut’, die nit thun was ich will, und hab’ ich heut meinen Sohn verloren und mein Weib dazu, was frag’ ich darnach, wenn ich auch noch die Tochter verlier’!…“
Vesi wendete sich auf den Knieen und blickte nach dem Vater hin, die Thränen stockten in ihren starr aufgerissenen Augen.
„Rede,“ schrie er sie mit steigender Bewegung an, „gieb mir eine klare Antwort. Entweder Du bleibst bei mir und thust, was ich von Dir verlang’, oder Du bist mein Kind nit mehr und marschirst mir aus dem Haus noch in der Viertelstund’ … Red’, sag ich – ich hab’ noch eine zweite Kugel im Lauf…“
„Fort, Vesi,“ rief der Wachtmeister dazwischen springend, als er wirklich wieder eine Bewegung mit dem Stutzen machte. „Kommt mit mir – Ihr seht, daß er von Sinnen ist!“
– – „So will ich wenigstens noch Abschied nehmen – von meiner todten Mutter,“ erwiderte Vesi und drückte noch einen langen, innigen Kuß auf die fühllosen, erstarrenden Lippen der Leiche. Dann blickte sie ihr noch einen Augenblick mit verschwimmenden Augen in das entseelte Gesicht, auf welchem jetzt ein Friede lag, der ihm seit langer Zeit fremd gewesen im Leben. Rasch sich erhebend schritt sie dann der Thüre zu.
An dieser brach die gewaltsam angespannte Kraft, sie schwankte und wäre zusammengesunken, wenn nicht der Wachtmeister sie unterstützt hätte. An seinem Arme wankte sie über die Schwelle des väterlichen Hauses auf den zierlichen Wegen die Anhöhe hinab.
Als sie einige Schritte gegangen war, flog ihr aus der Thüre ein Bündel nach. Der Bauer hatte, als er sie gehen sah, den Kasten aufgerissen und, was ihm von ihren Kleidern zuerst in die Hände kam, in einen Pack zusammengebunden und schleuderte ihn der Scheidenden nach.
Schweigend hob sie ihn auf und schritt weiter, während die Thüre des Hauses schwer zufiel und der von innen vorgestoßene Riegel rasselte. – –
– – – Einige Tage später fand für dieses Jahr die letzte Aufführung der Passionsvorstellung statt. Dieselbe wurde damals nicht so oft wiederholt, als es seither üblich geworden; auch war der Besuch von Zuschauern um Vieles geringer, so daß häufig die Mühe der wackern Ammergauer unvergolten blieb und der Gemeindeseckel statt des jetzt sich ergebenden ansehnlichen Gewinns nicht selten ein beträchtliches Sümmchen auf die Kosten zu zahlen bekam. Diesmal war der Zudrang ungewöhnlich, denn das Spiel war lange verboten gewesen und jetzt in noch ungesehener Pracht und Schönheit der Anzüge wie der ganzen Ausstellung wieder hergestellt worden.
Die letzten Töne des Schluß-Hallelujah der Schutzgeister waren verklungen, und erschüttert drängte das Volk nach allen Seiten durch die vielen Ausgänge in’s Freie. Während die Einen zur langentbehrten leiblichen Erholung den verschiedenen Wirthshäusern zueilten, sammelten sich rings die Gruppen der Wallfahrer, welche aus Tyrol und Schwaben herbeigekommen und sich betend zur Rückwanderung anschickten. Bald rasselten Fuhrwerke aller Art zu den beiden Enden des Dorfen hinaus, und durch den anmuthigen Ammergrund hin schlängelten sich die nicht abbrechenden Züge der Fußwanderer.
Unweit des Schauplatzes hielt eine glänzende Equipage, mit vier prachtvollen Rappen bespannt und von reich galonnirter Dienerschaft umgeben. Dahin begleiteten einige Männer ehrfurchtsvoll einen etwas beleibten stattlichen alten Herrn mit einem mächtigen Ordensstern auf dem Oberrock. Es war der damals allmächtige Minister Montgelas, der eigens von München gekommen war, die Bauernkomödie zu sehen, welche er als der Aufklärung der Zeit widersprechend verboten, und die der leutselige Max Joseph gegen seinen Willen gestattet hatte. Er war von der Aufführung sehr befriedigt und nickte noch aus dem Wagen gnädig auf den Pfarrer Albinus Schweiger, Pater Ottmar Weiß und Lehrer Dedler heraus, welche mit entblößten Häuptern denselben umstanden. „Leben Sie recht wohl, meine Herren,“ sagte er, „danken Sie allen Ammergauern von mir für den seltenen Genuß, den sie mir bereitet haben, und sagen Sie ihnen, ich werde es Seiner Majestät dem König genau erzählen und dafür sorgen, daß es ihnen nie mehr verwehrt werden soll, die Passion zu spielen!“ Damit rollte der Wagen hinweg, und die Männer eilten der Bühne zu, den Mitwirkenden diesen neuen und gewichtigen Beweis zu bringen, wie gut sie ihre Sache gemacht hätten.
Es werden uns häufig Manuscripte unter Chiffre gesandt, mit der Bitte, sie im Falle der Nichtverwendung unter jener poste restante zurückgehen lassen. Wir bemerken, daß die Rücksendung auf diese Weise nur in Briefform, also für höheres Porto stattfinden kann, da Packete mit Chiffre ohne bestimmte Adresse von der Post nicht angenommen werden. Man wolle daher in Fällen, wo das Manuscript des niedrigern Porto’s wegen als Packet unter Chiffre zurückgehen soll, mit dieser zugleich eine bestimmte Adresse bezeichnen, damit die Absendung nicht aufgehalten wird.
A. S. in W. Auf unsere an Sie gerichteten Privatanfragen hatten Sie keine Sylbe Antwort, obwohl wir Sie dringend darum ersuchten. Werden Sie es unbillig finden, wenn wir dagegen Ihre „poetischen Lebenszeichen“ unbeachtet lassen?
M. M. in N. Nicht angenommen.
W. in B. Wollen Sie uns mit dem Beitrag für Glarus zwingen, Ihr Buch zu besprechen? Dann ziehen Sie die Gabe der Speculation gefälligst zurück.
G. W. in W. „Gruß an die Heimath“. Gut gemeint, aber schwach.
Der Bekannte aus Hannoverland. Wir haben das Vergnügen, Sie nicht zu kennen, und möchten Sie auch freundlichst ersuchen, Ihrerseits dieses Vergnügen durch Unterlassung aller weiteren Zuschriften zu verlängern. Ihr „Offener Brief an den Nationalverein“ und die aus dem Jahre 1848 stammenden Gedichte enthalten so viel ausgezeichnete Proben des höheren Blödsinns, daß wir mit dieser ersten Sendung vollständig befriedigt sind.
W. in I. Sie werden nächstens Ihren Wunsch erfüllt sehen.
K. in W. Lieber Herr, das ist zu viel verlangt! Wir kennen wirklich die Preise der Londoner Hotels nicht und können Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wo Sie in London am billigsten logiren. Fragen Sie gefälligst Bädeker’s Reisehandbuch, die Redaction der Gartenlaube hat augenblicklich einige nothwendigere Angelegenheiten zu erledigen.
Schm. in St. P. Gesandte Tratte ist längst an das Comité der Arndtstiftung abgegeben.
v. R. in Riga. Wir haben kein Manuscript unter dem angegeben Titel empfangen.
R. O. in Mannheim. Sie haben sich nicht getäuscht. Der Held der Temme’schen Erzählung: „Deutsche Herzen, deutscher Pöbel“ ist allerdings der standrechtlich erschossene A. v. T –r.
Drei Bursche. Enthält viel Schönes, eignet sich aber nicht zur Illustration.
Hfd. in Mühlh. Wir können beim besten Willen nicht überall helfen. Suchen Sie in Ihrer nächsten Nähe die nöthigen Mittel.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Nr. 4.