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Die Gartenlaube (1861)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[321]

Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

„Nicht wahr, sie sind über Dich gekommen, wie das Rudel Wölfe über den Hirsch?“ begann Harriet, indem sie Reichardt’s Hände kräftig umschloß, während ihr Ton vor der innern Erregung bebte. „Ich ahnte es bei den ersten Worten, die mir in die Ohren fielen, als ich unser Haus betrat, und ich durfte doch nicht an Deiner Seite stehen. Ich konnte nicht schlafen, und als der Kies an die Scheiben rasselte, als ich die fliehenden Tritte auf der Treppe hörte, da wußte ich, daß es retten galt. Aber laß es nur,“ fuhr sie rascher fort, mit aufleuchtenden Augen den Kopf emporschnellend, „das ganze Gethier ist Deiner nicht werth, und Niemand soll Dich haben als Harriet, die Dich mit ihren Armen aufgefangen. Ich bin ja selbständig, ich kann verfügen über mich und was mein ist, und morgen will Harriet Dich ihren Mann nennen, will mit Dir alle die Niggers, Schlangen und Eidechsen hinter sich lassen – !“

„Harriet!“ rief Reichardt in fast erschrockenem Tone, aus seiner liegenden Stellung aufschnellend.

„Nun, und was ist es denn?“ erwiderte sie mit glücklichem Lächeln seine beiden Hände in den ihren vereinend.

„Harriet,“ erwiderte er, während sich ein Kampf der verschiedensten Gefühle auf seinem Gesichte abzuzeichnen begann, „das – das – geht nicht!“

„Geht nicht?“ erwiderte sie noch immer lächelnd; plötzlich aber schien ein fremder Gedanke in ihr aufzusteigen, etwas Ungeahntes, Schreckliches mit sich führend; ihr Gesicht begann einen Ausdruck von Angst anzunehmen, ihr Auge ward größer und sonderbar starr, ihre Hände lösten sich von den seinen. „Geht nicht?“ wiederholte sie, „und warum nicht?“

„Harriet!“ sagte Reichardt in bittendem Tone, sich langsam aufrichtend.

Eine Secunde lang schien ihr Blick bis auf den Grund seiner Seele dringen zu wollen. „Mein Gott,“ rief sie, während es in ihren Zügen wie Entsetzen zitterte, „mein Gott, er liebt mich nicht!“ und wie überwältigt von der hereinbrechenden Erkenntniß schlug sie die Hände gegen das Gesicht und fiel in sich selbst zusammen.

„Um Gotteswillen, Harriet!“ wollte Reichardt, von den peinlichsten Gefühlen bestürmt, wieder beginnen, während er eine Bewegung machte, ihre Hand zu ergreifen; sie aber schnellte in die Höhe. „Bleib’! rühr mich nicht an!“ rief sie den Arm abwehrend gegen ihn ausstreckend – „mein Gott, er liebt mich nicht!“ fuhr sie, klagend wie in bitterster Verzweiflung, fort, und jetzt erst schien plötzlich das Bewußtsein ihres äußern Zustandes über sie zu kommen. Wie in sich selbst zurückziehend deckte sie mit beiden Armen ihre Brust und warf einen hastig suchenden Blick um sich – von einem nahen Lehnstuhl riß sie einen weiten Shawl, der sie im nächsten Augenblicke schon vom Halse bis zu den Füßen dicht verhüllte – dann aber fiel sie mit einem leise jammernden „mein Gott, mein Gott!“ in die Polster des Stuhls.

Reichardt fühlte in diesem Augenblick, als habe er nur unter dem Einflusse des kältesten, undankbarsten Egoismus gehandelt, als habe er mit der warmen Hingebung des Mädchens nur für seine Zwecke gespielt; er hatte sich ihr zu Füßen stürzen, hätte wieder gut machen mögen, was seine Kälte gesündigt, und doch war es ihm zugleich, als würde er damit nur einen Betrug an ihr und an sich selbst begehen, als habe er doch kaum anders handeln können, als er gethan. Aber so wie jetzt konnten sie sich nicht einander gegenüber bleiben, ein Verständniß mußte angebahnt werden, um die eigenthümliche Lage, in welche sie Beide gerathen waren, zu beseitigen.

„Harriet, Sie haben mir noch nicht ein Wort erlaubt!“ begann er; sie hatte das Kinn auf die Brust gesenkt und schien ihn kaum zu hören. „Harriet, soll ich nicht reden?“ fuhr er fort.

Da hob sie langsam den Kopf. „Gehen Sie, Sir!“ sagte sie in einem Tone, der nichts mehr von dem Metallklang ihrer frühern Stimme verrieth, „zeigen Sie mir wenigstens so viel Achtung, daß Sie mich jetzt verlassen!“

Der Deutsche erhob sich traurig, er fühlte, daß er nichts mehr zu sagen habe; langsam, mit geneigtem Kopfe ging er nach der Thür; als er aber das Schloß in die Hand nahm, schien es wie ein Schauer über das Mädchen zu kommen. „Warten Sie an der Balkonthür,“ sprach sie mit hörbarer Anstrengung, „ich werde Jemand senden, der Sie sicher unterbringt!“

Eine Minute später stand Reichardt an der angegebenen Stelle – hinter sich ein verschmähtes, nun verschlossenes Paradies; vor sich eine Zukunft so dunkel, wie die Nacht um ihn. Er hätte sich am liebsten sofort losgerissen und den neuen Abschnitt seines Lebens, wie er sich ihm bot, begonnen, wenn er nur die geringste Nachricht über den Stand der Dinge in der Stadt gehabt hätte. Das Hotel war sicherlich bewacht, um ihn noch abzufangen, wenn er spät in der Nacht heimzukehren versuchte, und ohne sich muthwillig in Gefahr zu begeben, durfte er es nicht wagen, seinen augenblicklichen Zufluchtsort zu verlassen. Er hatte noch kaum lange seine unfreundlichen Gedanken verfolgt, als hinter ihm in dem Corridor, an dessen Ausgang er stand, eine Thür [322] klappte und gleich darauf eine Schwarze seinen Arm berührend an ihm vorüberstrich. „Kommen Sie, Sir!“ sagte sie halblaut, ihm die Treppe hinab vorangehend. Der Deutsche folgte, und nach kurzem Gange durch die Gartenanlagen war ein von Schlinggewächsen überwucherter Pavillon erreicht. „Ich werde Sie führen,“ zischelte die Negerin, die Thür öffnend und seinen Arm fassend, „ich habe kein Licht mitnehmen dürfen!“ Sorgsam leitete sie ihn vorwärts und legte endlich seine Hand auf ein weiches Polster.

„Hier können Sie ruhig schlafen!“ schloß sie und war im nächsten Augenblick schon von seiner Seite verschwunden. Reichardt hörte nur noch, wie sich der Schlüssel im Schlosse drehte, und fand sich dann in einer Stille, welcher nur die totale Dunkelheit in dem Raume gleichkam. Prüfend ließ er seine Hand über das als Lager bezeichnete Polster gleiten – es schien ein breiter „Lounge“ zu sein, und ohne weiteres Bedenken nahm er darauf Platz. Seine Gedanken eilten nach der eben durchlebten Scene zurück, bald aber wurden sie durchkreuzt von der Erinnerung an den vorhergegangenen Schrecken, wirre Bilder von seiner nächsten Zukunft tauchten dazwischen in ihm auf; bald aber schmolzen die einzelnen Vorstellungen in einander und der tiefe Schlaf der Uebermüdung senkte sich über den Daliegenden.


Reichardt hätte wohl, von den geschlossenen Fensterladen getäuscht, bis weit in den nächsten Tag hineingeschlafen, wenn ihn nicht ein geräuschvolles Oeffnen der Tür geweckt hätte. Er fuhr rasch von seinem Lager auf, als er das einströmende Sonnenlicht gewahrte und in dem Oeffnenden den alten Mr. Burton erkannte.

„Haben Sie geschlafen bis jetzt?“ rief dieser. „Desto bester, so haben Sie das Frühstück nicht vermißt und können’s jetzt in Ruhe nehmen. Das war ja eine Teufelsgeschichte, Sir, wie ich höre. – Hier ist Ihr Hut, den ich an der Umzäunung aufgehoben habe; wünsche nur, daß Sie eben so gut als er aus der Affaire gelangt sind. Können sich übrigens beruhigen, der Nigger ist wieder da und war nur wegen irgend einer Geschichte seinem Herrn aus dem Wege gegangen – Sie thun aber dennoch wohl am besten, mit der nächsten Stage sich den Leuten hier aus den Augen zu machen – es giebt zu Viele darunter, die selbst Ihre unschuldig gemeinten Worte Ihnen zum Verbrechen anrechnen.

Wenn ich noch irgend etwas für Sie thun kann, so sagen Sie es gerade heraus, es wird mir eine Freude machen, Sir, da wir Sie doch einmal nicht hier behalten können. Ich werde Sie nach dem Hotel bringen, woher ich soeben komme, und in einer Stunde sollen Sie heil und ohne jede Beleidigung die Stadt im Rücken haben.“

Der Mann hatte die Worte in so eigenthümlich rascher Weise gesprochen, als habe er gewünscht ihrer so geschwind als möglich los zu werden. Reichardt neigte nur mit einem: „Very well, Sir“, ich habe nichts Anderes als meine Entfernung erwartet!“ den Kopf, brachte dann seinen Anzug in die nöthigste Ordnung, nahm seinen Hut und sagte: „Ich bin bereit, Sir!“

„Thut mir verdammt leid, Sir, kann’s Ihnen sagen,“ begann Burton, als Beide in die Straße getreten waren, „hätte Ihnen gern Harriet’s Wort gehalten, und dem Mädchen scheint der gestrige Spectakel noch mehr in die Nerven gefahren zu sein als Ihnen selbst – sieht heute Morgen aus, daß ich mich um sie geängstigt hätte, wenn ich ihre Natur nicht kennte. Ist zu lange im Osten gewesen und kann sich noch nicht recht in unser hiesiges Leben finden.“

Reichardt schritt, wortlos in’s Weite blickend, neben dem Amerikaner her, ohne den Begegnenden, die ihnen theils aus dem Wege zu gehen schienen, theils den Deutschen mit neugierigen Blicken musterten, Beachtung zu schenken, und sprang endlich mit einem Gefühle der Erleichterung die Stufen nach dem Hotel hinauf, wo der Wirth auf sie zutrat. Reichardt streckte ihm die Hand entgegen. „Ich habe Ihnen noch nicht für Ihre gestrige Hülfe danken können, und muß wohl auch für immer Ihr Schuldner bleiben,“ sagte er; „jetzt als letzten Liebesdienst schaffen Sie mir etwas zu essen, denn ich bin seit gestern Mittag noch ohne einen Bissen, und ziehen mir dann meine Rechnung aus!“

„Ist schon abgemacht mit der Rechnung!“ fiel Morton ein, „es versteht sich, daß Sie für diese kurze Zeit unser Gast hier waren!“

Fast hätte der Deutsche eine bittere Bemerkung über die ihm gewordene Gastfreundschaft gemacht; noch zeitig genug aber fiel ihm ein, daß er nicht in der Lage war, eine gut gemeinte Freundlichkeit zurückstoßen zu dürfen, daß jeder ersparte Dollar bei seinen geringen Mitteln von Wichtigkeit war, und so stammelte er etwas von Güte und Dank, drückte seinem Begleiter die Hand und ließ sich dann von dem Wirthe hinwegführen.

Eine Stunde später bestieg Reichardt die angelangte Postkutsche. Burton hatte, als Jener beim Frühstück war, sich jedem weitern Abschiede entzogen, und so war es nur der Händedruck des Hotelbesitzers, welcher den Deutschen nach dem Wagen geleitete.

„Halten Sie sich in Nashville nur so lange als durchaus nothwendig auf,“ flüsterte ihm Jener noch beim Einsteigen in’s Ohr, „jedenfalls wird die Nachricht von dem Geschehenen sammt Ihrem Signalement zugleich mit Ihnen dort ankommen!“ Reichardt nickte nur mit einem dankenden Blick und drückte sich in eine unbesetzte Ecke; er war nicht bange, sich zum zweiten Male durch sein Vertrauen auf die freien Institutionen des Landes in Gefahr zu bringen; aber ein Ekel vor den Zuständen dieses gepriesenen Südens überkam ihn, welcher sich als kräftiger Bundesgenosse dem erhaltenen Rathe beigesellte.

Es war bereits Nacht, als der junge Mann mit schwerem Herzen die Lichter von Nashville vor sich auftauchen sah. Er hatte einen Ueberschlag seines Geldes gemacht, aber trotz aller Pläne, mit welchen er seinen Geist abgequält, wollten seine Mittel nach keiner Seite hin ausreichen, und selbst wenn er sich seiner Habseligkeiten bis aus das Nöthigste hätte entäußern wollen, hätte er unter den obwaltenden Verhältnissen nicht einmal Zeit oder Gelegenheit dafür finden können.

Der Postwagen hielt endlich vor dem „City-Hotel“, Reichardt’s Gepäck ward abgeladen, und sein bisheriger Gefährte auf dem Verdeck führte ihn in das allgemeine Versammlungszimmer, wo er ein paar Worte mit dem Buchhalter sprach und dann den jungen Mann als „bestens empfohlen“ allein ließ. Als Reichardt sich in dem weiten, nur matt erleuchteten Zimmer allein sah, überkam ihm ein Gefühl des Alleinstehens, wie er es in diesem Maße selbst auf amerikanischem Boden noch nicht gekannt. Mit Macht suchte er aber die entmuthigende Empfindung zu unterdrücken und machte sich, um die Zeit bis zu dem versprochenen Abendbrode zu verbringen, an das Studium der Dampfboot-Anzeigen, welche in mächtigen Zetteln an den Wänden des Zimmers aufgehangen waren. Noch wußte er nicht wohin, und seine Aufmerksamkeit richtete sich auch weniger auf den Bestimmungsort der Boote als auf den Preis der Beförderung – mehr als für Zwischendeck konnte er nirgends bezahlen, trotz der heißen Dampfkessel und der unsaubern Gesellschaft, welche er dort zu erwarten hatte, und so wollte er eben über sein nächstes Ziel mit sich zu Rathe gehen, als sein Auge auf einen kleinern, bis jetzt übersehenen Zettel fiel und dort wie gebannt haften blieb. „Parlour-Opera! Third and last Night. Scenes from all the great Italian Operas in the most splendid costumes,“ bildete die ersten hervorstechenden Zeilen; das war es aber nicht, was seinen Blick gefesselt – gleich darunter präsentirte sich:„Matilda Heyer, the great Prima-Donna“, an der Spitze der übrigen Künstlernamen. Konnte es denn wohl zwei Mathilden Heyer geben? Wenn Reichardt sich das verunglückte Concert in New-York, nach welchem das Mädchen verschwunden war, vergegenwärtigte; wenn er daran dachte, daß sie damals noch von einem andern Anerbieten gesprochen, das sie nur ausgeschlagen, weil es Reichardt’s Mitwirken nicht erlaubte, so zweifelte er keinen Augenblick, daß er hier auf eine Spur der verlorenen „Schwester“ getroffen. Sein Auge suchte hastig das Datum der angekündigten letzten Vorstellung – es war bereits fünf Tage alt, und das Gefühl freudiger Ueberraschung, an welches sich unwillkürlich die unbestimmte Hoffnung auf einen augenblicklichen Halt geknüpft, machte einer unangenehmen Täuschung Platz. Noch starrte er auf den Zettel, als der Buchhalter eintrat, um ihn zu dem schnell bereiteten Abendbrod zu rufen.

„Wissen Sie wohl, wo die Truppe hier logirt hat?“ fragte der Deutsche, auf das Programm deutend.

„Sie wohnten hier im Hause, Sir!“

Reichardt’s Gesicht begann sich wieder zu beleben. „Und Sie wissen auch vielleicht, wohin sich die Gesellschaft von hier gewandt hat?“

„Sie wollten ursprünglich nach Memphis und New-Orleans. [323] Da aber der Gesundheitsstand am untern Mississippi noch nicht der beste ist, so haben sie es vorgezogen, erst einen Abstecher nach Louisville zu machen, um dann von dort nach St. Louis zu gehen.“

Der junge Mann überlegte – es konnte ihm jetzt ziemlich gleichgültig sein, wohin er verschlagen wurde – er selbst hatte im Augenblick den wenigsten Einfluß auf seine Zukunft; also vorwärts, wo er am sichersten hoffen durfte, wieder eine befreundete Seele zu treffen.

„Hat man wohl nicht zu lange auf eine Gelegenheit nach St. Louis zu warten?“ fragte er.

„Es geht fast jede Stunde ein Boot, Sir. Wollen Sie rasch fort, so haben Sie um Mitternacht mit der „Mary Brown“ Gelegenheit.“

„Vortrefflich, ich werde mein Heil auf die Lady setzen!“ rief Reichardt, aus dem gefaßten Entschlusse frische Laune schöpfend; „aber,“ fragte er, dem Buchhalter aus dem Zimmer folgend, „könnten Sie mir wohl ein ungefähres Bild von Miß Heyer, der ersten Sängerin der Gesellschaft, geben?“

Der Befragte gab lächelnd die verlangte Auskunft. „Sie hat hier viel Glück gemacht und ist sehr bewundert worden!“ setzte er hinzu.

Reichardt nickte nur – es war die rechte Mathilde, und mit frischerwachter Spannkraft setzte er sich zu seinem Mahle nieder. Ob ihm das Mädchen, selbst wenn er es im glücklichsten Falle traf, nur das Geringste würde helfen können, wußte er nicht, er hatte doch aber für die nächsten Tage wenigstens ein bestimmtes Ziel vor sich. –

Eine Stunde darauf betrat er, einen Neger mit seinem Gepäck hinter sich, den hellerleuchteten Dampfer. Der Schwarze wollte seine Last sogleich nach der Gepäckkammer bringen, Reichardt aber ließ sie auf dem untern Deck niedersetzen, fertigte den verwundert aufschauenden Träger mit einem Trinkgelde ab, welches dessen zweifelnden Ausdruck sofort in eifrige Kratzfüße verwandelte, und setzte sich auf seinem Koffer nieder, bis der Dampfer vom Lande gestoßen war. Dann suchte er die „Office“ auf.

„Deckpassage, Sir?“ fragte der Capitain, nach welchem er sich erkundigt, und ließ einen befremdeten Blick über das Aeußere des jungen Mannes laufen; „werden es verdammt heiß und unbequem für die lange Fahrt finden!“

„Kann’s nicht ändern, Capt’n,“ erwiderte Reichardt ruhig, „ich habe in meinem Reisegeld zu kurz gerechnet, und der Mensch muß sich auch einmal in unangenehme Verhältnisse fügen können.“

„Das ist so, Sir, bringt’s aber nicht Jeder mit so leichtem Muthe fertig,“ versetzte der Andere, einen neuen Blick auf seinen Passagier werfend; „wie Sie wollen!“

Reichardt bezahlte den geforderten Fahrpreis – er war geringer, als er für die weite Entfernung gefürchtet – rückte sich dann mit leichtem Herzen seinen Koffer in eine luftige Ecke und machte es sich, seinen Violinenkasten als Pfühl gebrauchend, so bequem als möglich. Die prachtvollste Nacht lag über dem Flusse; bald hatte sich der Deutsche an das Arbeiten und Zischen der Maschine, an das Lärmen der Feuermänner und das Sprühen der Flammen gewöhnt, und konnte sich ungestört seinen Gedanken hingeben; gern hätte er sich ein Bild seiner Zukunft geschaffen, aber ihm fehlte jeder Anknüpfungspunkt dafür, und selbst Mathilde „in the most splendid costume,“ wie es in dem Opernprogramm hieß, war ihm zu einer halbfremden Erscheinung geworden. Dafür aber tauchte die Vorstellung in ihm auf, in wie verschiedener Weise er wohl jetzt reisen würde, wenn er nicht selbst das Glück, welches ihm Harriet geboten, von sich gestoßen, und unwillkürlich begann er zu grübeln, warum er denn das Mädchen nicht hatte lieben können – das einzige Wesen in seinem jetzigen Leben, das sich warm und fest an ihn gehangen, das wohl für ihn hingegeben hätte, was es zu opfern gehabt. Es that ihm wohl, alle Scenen mit ihr, seit ihrem Zusammentreffen in Saratoga, an seinem Geiste vorüberziehen zu lassen, und jetzt, wo er ihre Empfindungen kannte, die Erklärung für so manche damalige Aeußerung ihres eigenthümlichen Wesens zu finden. Er fühlte, daß er nicht so, wie es geschehen, für immer von ihr scheiden durfte; er nahm sich vor, sobald er in St. Louis angekommen, einen langen Brief an sie zu schreiben, ihr zu sagen, daß sie eine tiefere, stärkere Empfindung verdiene, als er ihr habe weihen können, der er sich überhaupt keiner heißen Liebe für fähig halte; daß er zum Betrüger an ihr und zum Gründer ihres künftigen Unglücks hätte werden müssen, wenn er anders gehandelt als er gethan; er begann den Brief im Geiste auszuarbeiten; bald aber verwirrte das eintönige Geräusch um ihn her seine Gedanken, und trotz seines harten Sitzes war er eingeschlafen, ehe er es nur selbst wußte.

Das Boot legte während der Nacht zum Oeftern an, Passagiere kamen und gingen, Güter wurden aus- und eingeladen, Reichardt wurde der Vorgänge kaum anders als im halben Traume gewahr; als ihn aber die aufgehende Sonne weckte und er sich erheben wollte, fühlte er jeden einzelnen Theil seines Körpers wie zerschlagen; kaum daß er im Stande war, sich gerade auf seine Füße zu stellen. Um ihn her, auf jedem leeren Plätzchen, außerhalb des Wegs, welchen die Frachtstücke beim Ein- und Ausladen zu nehmen hatten, lagen unsaubere Gestalten auf Decken oder ähnlichen Unterlagen noch schlafend am Boden, und Reichardt sah jetzt, in welcher Gesellschaft er sein Lager zu nehmen hatte, wenn er mit gesunden Gliedmaßen in St. Louis ankommen wollte. Er beeilte sich, sein Reinigungswerk vorzunehmen, ehe er dadurch, mit den übrigen Deckpassagieren in Berührung kommen mußte, und als er seine Toilette nach bester Möglichkeit gemacht, seine Glieder gedehnt hatte, und er sich nun von der frischen Morgenluft durchstreichen ließ, begannen auch die unangenehmen Eindrücke zu schwinden. Nach zwei oder drei Nächten mehr mußte die Reise ein Ende nehmen, und so lange ließ sich schon manche Unannehmlichkeit ertragen. Er hatte sich nach dem äußersten Vordertheil des Bootes begeben, brannte sich eine Cigarre von dem kleinen Vorrathe, welchen er noch bei sich trug, an und ließ die bald wilden, bald malerisch-besiedelten Ufer an seinem Auge vorüberziehen. Aus dem Salon klang die Glocke zum Frühstück, und der Deutsche machte sich eben Gedanken, auf welche Weise er zu einem Imbiß gelangen werde, als er seinen Arm leicht berührt fühlte. „Der Capitain möchte Sie sprechen, Sir!“ hörte er, und sah beim Umblicken einen Schwarzen, der, als wolle er ihm den Weg zeigen, nach der Treppe zum Salon voranging. Mit einiger Verwunderung folgte ihm Reichardt, wurde aber bald von dem wartenden Capitain leicht unter dem Arm gefaßt. „Nehmen Sie Ihr Frühstück mit uns,“ sagte dieser einfach, „ich denke, Sie werden doch nicht an das Leben dort unten gewöhnt sein!“

Reichardt fühlte, daß er roth ward, er erkannte die Freundlichkeit des Mannes, dennoch war das Anerbieten eine Art Almosen, gegen das sich sein ganzer Stolz sträubte, und er hätte es wohl zurückgewiesen, wenn er nur diesem wohlwollenden Gesichte gegenüber schnell die rechte Weise dazu hätte finden können, wenn nur nicht zugleich der Duft des aufgetragenen Kaffee’s seine Nase berührt und eine unwiderstehliche Sehnsucht nach der gewohnten Labung in ihm erweckt hätte.

„Wenn man einmal auf den Grund gefahren ist, nimmt man jede helfende Hand an, Sir;“ sagte der Capitain, der Reichardt’s Zögern bemerkt zu haben schien, „so lange Sie an Bord bleiben, sind Sie mir als Gast bei Tische willkommen, und damit wollen wir alle Redensarten bei Seite lassen.“

Reichardt sah sich am Ende einer langen vollbesetzten Tafel, deren oberes Ende von einer Anzahl junger Damen in eleganter Morgenkleidung eingenommen war. Er entfernte sich bald und kehrte erst zurück, als die Mittagsglocke ertönte. An der Tafel glänzte Damenflor in neuer Toilette. Bekanntschaften schienen gemacht worden zu sein, und die Unterhaltung pflanzte sich lebhaft auf beiden Seiten des Tisches fort; manches blitzende Auge, das einen Blick nach den untern Reihen der Passagiere sandte, blieb an dem jungen Deutschen hängen, der, angeregt von der eleganten Zwanglosigkeit und dem leichten Tone um sich her, mit drückendem Unbehagen an sein Schicksal während des kommenden Nachmittags zu denken begann. Leidlicher, als Reichardt gefürchtet, verging ihm der Nachmittag. Gegen Abend hatte der sich immer dichter zwischen den Ufern zusammenziehende Nebel die heiße Luft völlig abgekühlt; mit einer noch angenehmern Ueberraschung sah der junge Mann an einem der Landungsplätze die große Menge der Deckpassagiere das Boot verlassen, und leichteren Herzens wandte er sich jetzt nach dem Maschinenraume, um bei Zeiten einen passenden Platz zum Schlafen für sich zu suchen. Dort standen zwei der schwarzen Arbeiter in Betrachtung seines deutschen Violinkastens, und das freundliche Grinsen, mit welchem der Herantretende empfangen wurde, erinnerte diesen lebhaft an Bob. „Sie spielen das Instrument, Sir?“ fragte der Eine mit der angenommenen Verlegenheit, welche den „guten Ton“ unter den Schwarzen [324] bildet und um Entschuldigung über die Aeußerung zu bitten scheint.

Reichardt bejahte und stellte bei den neuen kritischen Blicken, welche den Kasten von allen Seiten trafen, seine Beobachtung über die durchgehende, eigenthümliche Liebe der Neger zur Musik und besonders zur Violine an.

„Ist keine Schale von einer amerikanischen Fiedel,“ bemerkte der Zweite sachkundig, „muß ein feines Instrument sein.“

Reichardt öffnete den Deckel und nahm die Violine heraus.

„O, könnten Sie nicht einmal zeigen, wie sie klingt, Master?“ fragte der Erste schüchtern, als die musternden Blicke das ganze Aeußere überlaufen. Reichardt sah um sich; er sah Niemand als die zum Boote gehörigen Arbeiter, deren Augen aber schon sämmtlich auf ihn gerichtet waren – er hatte in der Gesellschaft dieser Menschen noch Tage zu verbringen, und es konnte nichts schaden, wenn er sie sich freundlich erhielt. Zudem sehnte er sich selbst nach der Langweile des endlosen Nachmittags nach irgend einer Abwechselung. Die Maschine ging ohne bedeutendes Geräusch ihren regelmäßigen Gang, und so setzte er nach kurzem Besinnen die Geige unter das Kinn und begann Vieuxtemps’ Yankee-Doodle, den er sich noch kurz vor seiner Abreise nach Amerika mit allen musikalischen Kunststücken und modernen Effecten eingeübt. Er hatte kaum die kurze Einleitung zu Ende gebracht und das Thema begonnen, als auch schon Alles, was Menschliches im Deck vorhanden war, lautlos in seiner Nähe stand. Kaum aber arbeitete er sich durch die Effectstellen der ersten Variation, so wurde auch ein polterndes Geräusch über dem Haupte des Spielenden laut, und die Passagiere des Salons, wie zusammen aufgescheucht, kamen in langen, behutsamen Sprüngen herabgeeilt. Als Reichardt aufblickte, sah er einen weiten Kreis von Zuhörern mit aufgerissenen Augen, Erstaunen und Interesse in allen Zügen ausgeprägt, um sich – er brach mitten in einer Passage ab und warf einen unzufriedenen Blick auf die ungeladenen Bewunderer. Dieses plötzliche Herzudrängen kam ihm so sehr als Verstoß gegen jede gute Lebensart vor, daß er eben eine Bewegung machte, sein Instrument in den Kasten zu bergen, als ein stürmisches: „Go on! go on!“ von allen Seiten auf ihn hereinbrach.

„Gentlemen, ich habe nicht daran gedacht, mich hier vor Jemand hören zu lassen!“ erwiderte er unmuthig.

„Thut nichts! Weiterspielen!“ klang es.

„Spielen Sie doch, was schadet es Ihnen denn?“ hörte Reichardt des Capitains Stimme an seinen Ohren, „Sie machen sich ein halbes Hundert Freunde auf einmal, das ist Alles!“

Der junge Mann setzte zögernd die Violine wieder an. Schaden konnte es in den Verhältnissen, in welchen er sich befand, allerdings nichts. Er nahm die Pièce vom Anfange wieder auf und führte sie unter dem Todesschweigen seiner Umgebung, das nur bei einzelnen Glanzstellen von einem unterdrückten freudigen Lachen oder einem leisen Gemurmel unterbrochen wurde, mit seiner ganzen Sicherheit zu Ende.

Wüthendes Trampeln und Johlen lohnte ihm, kaum legte sich aber der Spectakel und Reichardt wollte seine Geige wieder wegschließen, als er sich von beiden Seiten gehalten fühlte.

„Sie sind jedenfalls Musiker von Fach,“ sagte einer der eleganten jungen Männer, welche sich an ihn gedrängt, „und sicher werden Sie etwas für unsere Ladies thun, die vor Langweile sterben. Wir arrangiren heute Abend einen kleinen Tanz, wenn Sie nur spielen wollen!“

Reichardt wollte eben eine bestimmt abwehrende Bewegung machen, als er kräftig seine Hand gefaßt fühlte. „Thun Sie es, thun Sie es mir zur Liebe!“ klang wieder des Capitains Stimme halblaut, „ich sage Ihnen, Sie werden’s nicht bereuen!“ und des Deutschen Widerstand erstarb. Er hätte nach der Freundlichkeit, die ihm von dem Manne zu Theil geworden, diesem kaum etwas abschlagen können.

„Ich bin nicht Musiker in dem Sinne Ihrer Worte, Gentlemen,“ sagte er, „und am wenigsten ist Tanzspielen meine Leidenschaft oder meine Beschäftigung. Wenn ich aber Ihrem Wunsche hier genüge, so geschieht es allein der Ladies wegen!“

„Gut, Sir! und wir werden’s zu schätzen wissen!“ rief der frühere Sprecher, „jetzt aber kommen Sie mit uns und lassen Sie uns einen Drink Drink all round nehmen. Das wird doch wirklich der erste vernünftige Abend, den ich seit langer Zeit auf dem alten Cumberland-Flusse gehabt habe!“

Reichardt sah sich in das Schenkzimmer neben der Herren-Cajüte gezogen, und fast wollte es ihm wirklich unter den Händedrücken, welche ihm von allen Seiten zu Theil wurden, scheinen, als habe er mit einem Schlage fünfzig Freunde mehr gewonnen, wenn er auch von keinem nur den Namen kannte. – Das Abendessen war vorüber. Reichardt stand, mit seiner Violine bereit, an einem der offenen Fenster im Salon und beobachtete den Nebel, welcher sich am Abend als dicke, fast undurchsichtige Dunstmasse auf den Fluß gelegt. Selbst die farbige Laterne am Vordertheile des Schiffes war in der geringen Entfernung nur wie ein schwach leuchtender Lichtkreis bemerkbar. Aber die aus der Damencajüte hereinrauschenden Paare unterbrachen seine Beobachtungen. Die Quarrés stellten sich unter Scherzen und Lachen auf, und die „Reels“, welche Reichardt nothgedrungen in Taratoga hatte lernen müssen, kamen ihm jetzt zu Gute. Die Paare flogen wie elektrisirt unter seinem Bogenstrich, und das glückliche, anerkennende Nicken, welches ihm die Tänzer in den Ruhepausen spendeten, ließ ihn immer von Neuem das ermüdende Opfer, welches er brachte, vergessen.

Drei Mal war die Quadrille bereits zu Ende und eine Ruhepause eingetreten, als der Capitain zu ihm trat und ihn bei Seite zog. „Well, Sir,“ sagt er, „die jungen Gentlemen erkennen Ihre Bereitwilligkeit zur Förderung des allgemeinen Vergnügens in hohem Grade an und wünschen sich Ihnen dankbar zu erweisen. Sie haben mich beauftragt, Ihnen die Summe, welche sie zusammengeschossen haben, zu übergeben –“

Reichardt’s Hand zuckte unter der Berührung einer kleinen Rolle Banknoten, welche ihm der Capitain zuschieben wollte.

„Thun Sie mir das nicht an, Sir!“ rief er mit unterdrückter Stimme, „ich bin kein Tanzfiedler für Geld, ich bin Ihrem Wunsche gefolgt, nur um Ihnen erkenntlich zu sein –“

„Weiß es, weiß es!“ winkte der Andere beruhigend, „ehrlich verdientes Geld sollte aber Niemand beleidigen. Ich nehme meinen Frachtbetrag, ob es für Schweine oder für Seidenzeug ist, und bei einem Musiker sehe ich nicht ein, wo der Unterschied liegt, ob er sein Geld beim Concertspielen oder beim Tanzspielen macht.“

„Es ist derselbe Unterschied, Sir,“ erwiderte Reichardt aufgeregt, „wie zwischen einem Niggerfiedler und einem weißen Künstler.“

„Das ist es also? so! mag etwas darin liegen!“ nickte der Capitain, „es soll so sein, wie sie sagen – aber wenn ich Sie heute Abend vom Deck nach dem Salon heraufquartiere, werden Sie hoffentlich nichts dawider haben?“

„Ich würde’s aber nur Ihrer Freundlichkeit anrechnen, Capt’n!“

All right! rechnen Sie es an, wem Sie wollen, ich werde den Gentlemen Bericht erstatten.“ Er ging mit einem launigen Kopfnicken davon, und Reichardt begab sich wieder an seinen Platz, seine Geige ergreifend.

Wieder erklang ein neuer „Reel“, den der Deutsche nach dem Muster der früheren aus dem Stegreife spielte, wieder flogen die Paare lachend durcheinander, als plötzlich ein Stoß, ein Prasseln erfolgte, daß die Kronleuchter klirrend die Seitenschnuren zerrissen, und die Menschen gegen die Wände taumelten. In demselben Augenblicke klang die Dampfpfeife zum Einhalten der Maschine, und wurde dicht neben dem Boote von einem gleichen Signal beantwortet.

(Fortsetzung folgt.)
[325]
Bilder aus dem Kaukasus.
Nr. 2.
Bajazid in Armenien.

Das Fahren war mir herzlich verleidet, weshalb ich von dem freundlichen Anerbieten, die kurze Strecke bis Bajazid, welches am Fuße des Allah-Dag oder Gottesberges in der alten armenischen Provinz Bakewant liegt, auf einem persischen Renner zurückzulegen, gern Gebrauch machte. Aber mein Pferd war ein besserer Renner und Springer, als ich Reiter. Ueber die

Das Schloß in Bajazid.
Nach der Natur aufgenommen von Paul v. Franken.

Steine und Untiefen des Weges setzte er ohne Zweifel mit der graziösesten Leichtigkeit hinweg, aber man hatte ihm einen Kosakensattel aufgelegt, in dem ich anfänglich stolz wie ein Kosake paradirte, bald genug aber gar erbärmlich situirt war. Bald glaubte ich in eine Pfütze versinken, bald zwischen Felsgestein meine armen Knochen zerbrechen zu müssen. So gelangte ich endlich vor den Terrassen an, auf denen die türkisch-armenische Festung bis zu dem Schlosse auf der Höhe malerisch emporsteigt. Da meine Reisegefährten ein Bild von diesem prachtvollen Punkte wünschten, so stieg ich um so lieber von meinem Gaule und zeichnete zuerst die Jahrhunderte alte sogenannte weiße Festung, die sich weit in die Steppe vorschiebt, dann die Stadt und zuletzt das erst in neuester Zeit mit verschwenderischem Perserluxus erbaute Schloß. Dasselbe erhebt sich auf einem Felsen, überragt die Stadt und besteht aus einem hohen und viereckigen, mit zahlreichen Fenstern und reichen Verzierungen versehenen Gebäude. Noch gut erhaltene Mauern schließen es ein und legen hinlängliches Zeugniß von ihrer Festigkeit ab. Mitten darin ragt ein Minaret hervor, neben welchem sich wahrscheinlich auch eine Moschee befindet. Gleich allen Städten des Orientes täuscht auch Bajazid aus der Ferne. Man erwartet eine wunderschöne Stadt vor sich zu haben, kommt man jedoch näher, so schwindet eine Illusion nach der andern.

Von einer Promenade in den Straßen ist gar keine Rede; denn Straßen, besonders gepflasterte, sind hier ein unbekannter Luxus. Man klettert bald über schlecht angelegte Treppen, voltigirt bald über Löcher, steht bald auf einem Lehmhaufen, bald aber befindet man sich oben auf einem Dache, denn die meisten Wohnungen sind halb oder ganz in die Erde hineingebaut, und das Dach des einen Hauses vertritt deshalb sehr oft den Hofraum und Unrathplatz des Nachbarhauses.

Man sieht nur elende Hütten, die mit der schönen, obwohl wilden und romantischen Umgebung einen keineswegs angenehmen Contrast bilden. Felsen in den mannigfachsten Formen und verschiedenen Farben wechselten mit grünen Matten ab. Hinter uns breitete sich die Ebene weiter aus, begrenzt von Bergen, über denen der schneebedeckte Ararat majestätisch emporragte. Der Gesammteindruck ist großartig, sobald freundlicher Sonnenschein die Umgegend beleuchtet und mächtige, mit Lichtpunkten abwechselnde Schattenstreifen sich über die Landschaft ausbreiten. Das Schloß ist das einzige Gebäude von Bedeutung, das noch erhalten ist, alles Uebrige ist unbedeutend und zum Theil verwüstet. Die arme Stadt zählt gegenwärtig etwa noch 18,000 Menschen, meist räuberische Kurden und Armenier, und im ganzen Paschalik, welchem die Stadt den Namen gegeben, kommen durchschnittlich kaum 30 Seelen auf die Quadratmeile. – Meine Reisegefährten hatten nicht auf mich gewartet. [326] Als ich in der Stadt anlangte, waren alle schon in das Schloß voraus, wohin ich ihnen ohne Zeitverlust folgte. Durch ein prächtiges, im saracenischen Style erbautes Thor eingetreten, erinnerte Alles an die prachtvolle Bauart der Perser. Allenthalben reiche und erhabene Arabesken mit dem Löwen, den man hier wie in anderen Bauwerken der benachbarten vormaligen Prachtstädte antrifft. Schon die Gebäude im Schloßhofe waren schön, allenthalben überraschte mich die wahrhaft kühne Höhe der Bogen, sowie die Vorrichtungen, die man angewendet hatte, um den in den Gegenden einer südlicheren Sonne so nothwendigen Schatten hervorzubringen. Und doch war jede kleinste Einzelheit so schmählich zertrümmert, obwohl von einer Kunst und Pietät gearbeitet, die alle Anerkennung und Bewunderung verdiente. Weder in Moskau noch in Constantinopel habe ich etwas so Schönes wiedergefunden von Reichthum und Wechsel der phantasievollsten Ornamentik. Und was sind die Nachbildungen, die unsere geistlosen Nabobs meist für schweres Geld in ihren viereckigen Stadthäusern angeblich im Charakter dieser Alhambren aufführen lassen, gegen diese Originale! Nicht ihre Schatten! Man hatte fast Alles, was irgendwie von unersetzbarem Werthe geschienen, zerstört und teilweise weggeschleppt. Nur der herrliche Anblick, den das mit seinen grandiosen Formen wunderbare Bauwerk bot, hatte nicht vernichtet werden können. Selbst während ich in den unteren Schloßräumen umherpilgerte und Einzelheiten zeichnete, waren einige lumpige Türken und Armenier eben noch beschäftigt, die zierlich und reich gearbeiteten Eisengitter, welche bis auf wenige Cabinete in allen Räumen die Stelle von Glasfenstern vertraten, mit scharfen Instrumenten loszubrechen. Das Goldgetäfel und die kleinen Spiegel, die in drei-, vier- und achteckiger Gestalt verschiedentlich eingefügt gewesen waren, existirten nur noch in einigen Winkeln, und, was das Schmachvollste, den Orient vollständig Kennzeichnende war: das Geraubte hatte für die Räuber von kaum nennenswertem Gewinn sein können. Und wie viel Zeit, Mühe und wirkliche Kunst mußte es gekostet haben, alle diese Prachtbordüren und Ornanente der mannigfachsten Art in den zahlreichen Sälen, Cabrneten und Corridoren herzustellen!

Um in das Innere zu gelangen, mußten wir über eine wahre Barrikade von Trümmern klimmen, mit denen Zufall oder Absicht die weiteren Zugänge versperrt hatte. Dabei stürzte mir ein über vier Kubikfuß großer Stein entgegen und drohte mich zu zerschmettern, als ich ihn noch glücklich mit der Hand aufhielt. Ueberrascht, daß dies bei der Höhe, von der er herunterstürzte, möglich sein konnte, untersuchte ich das Trümmerstück genauer und fand, daß es aus den Ornamenten der oberen Gesimse stammte und aus einer Felsart leichter als Tuffstein bestand. Bei späterer näherer Prüfung ermittelte ich, daß fast das ganze Schloß aus diesem vorzüglichen, bald gelben, bald rothen Baumateriale errichtet war, das außer seiner Leichtigkeit noch die zwei sehr schätzbaren Eigenschaften hat, nicht an der Luft zu verwittern und doch so weich zu sein, daß es mit bloßen Messern zu den feinsten Bildwerken verarbeitet werden kann.

Mein Weg führte mich durch tiefe, halbverschüttete Mauergange, über elegant gewesene Treppen, in Kellerräume und dann wieder in die zierlichsten Boudoirs, in denen mich besonders die unbeschreiblich schöne Aussicht aus den Fensteröffnungen reizte. Ueberall fand ich Dinge, werthvoll genug, um wenigstens skizzirt zu werden. Um aber noch eine möglichst freie Uebersicht über das Ganze zu erhalten, stieg ich mit einiger Lebensgefahr auf eine Plattform, von der aus ich die Gegend zeichnete. Die Leser dieser Blätter müssen eben ihre Phantasie zu Hülfe nehmen, um eine Vorstellung dessen zu erhalten, was ich das Glück hatte mit leiblichen Augen zu sehen.

Es war ein herrlicher Herbsttag, die Luft war wie der klarste Aether, der Himmel tiefblau, und so konnte ich mich getrost dem rein künstlerischen Genusse des unvergleichlichen Blickes in die braune Steppenfläche hingeben. Vor mir lag Bajazid mit seinen kühngeschwungenen Berglinien, zur Linken erhob sich in meilenweiter Entfernung ein schroffes Felsengebirge, von der Rechten her grüßten mich der große und kleine Ararat, von denen aus sich leichtere Höhenzüge bis nach Bajazid hinzuziehen schienen. Aber nur die beiden Ararat reichten bis in die reine Höhe des ewigen Schnees, der mir niemals schimmernder und blendender erschienen war, als heute. Wahrscheinlich war die Beleuchtung Ursache, daß die untere Hälfte ähnlich braun nur zarter gefärbt als die Steppe erschien. Ein duftiges Blau floß in den Bergschluchten nieder und verzog sich in die tieferen Felsausbuchtungen unten in der Steppe. Die Großartigkeit der Natur dieser herrlichen Gegend, deren Genusse ich mich so ungestört hingeben konnte, die Majestät der Berge, die Tiefe und Stille der braunen Fläche, Alles, wohin ich den Blick schweifen ließ, wirkte wie ein magischer Zauber auf mein Gemüth. Welcher historische Schauplatz lag vor meinen Blicken ausgebreitet, und jetzt inmitten dieser großen Vergangenheit, dieser reichsten Staffage – der Mensch in seinem Elende! Die Stadt Bajazid wurde im Laufe der Zeit von russischen, persischen und türkischen Truppen verwüstet, und ihren Feenpalast, einst das Residenzschloß der erblichen Pascha’s den gleichnamigen Paschaliks, hat der Vandalismus zerstört. Zwanzig Jahre hatte sein Bau gewährt, die Steinmetzen waren aus Wan und die Baumeister und Maler aus Ispahan gekommen – fünfzig Jahre genügten, das Bauwerk in Trümmer zu legen.




Aus der Mappe eines Heimgekehrten.

Von H. Beta.[1]
Nr. 1.

Es war ein schöner, schmerzlicher Abend, der letzte in meinem Hause zu London. Alle Habe, die es mitzunehmen galt, stand schon in mächtigen Kisten gepackt auf dem engen Flure, so daß sich nur dünne Beine dazwischen hindurchdrängen konnten. Meubles, Küchengeräthe und tausenderlei sonst gleichgültige Dinge, für den Hammer des Auctionators zurecht gerückt und numerirt, gewannen plötzlich Werth und Physiognomieen, mit denen sie uns in stummem Schmerze über die bevorstehende Trennung von allen Seiten und Winkeln her anzustarren schienen. Wir hatten sie sauer erworben. Sie waren uns Jahre lang treue, anspruchslose, nützliche, zum Theil zierliche Genien der Häuslichkeit gewesen. Nun standen sie da, verurtheilt, an den Meistbietenden verkauft und unter allerlei fremde Herrschaften vertheilt, zerstreut zu werden, um sich, um uns nie wieder zu sehen. Frau und Kinder brachten noch allerhand Gnadengesuche für verurtheilte Günstlinge ein, mein Töchterchen sogar für die Hauskatze, aber es half nichts. Haus und Heimath in der Fremde waren einmal abgebrochen, um den zur Fremde gewordenen vaterländischen Boden wieder aufzusuchen. „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen,“ am wenigsten unter einem englischen Himmel, am wenigsten in London. Das verhaßte Ungeheuer, die Sirene, das „Herz der Welt“ ohne Herz, die unselige dreimillionenfachbeseelte dichteste Verdichtung aller Herrlichkeit [327] und alles Elends moderner Civilisation hat uns doppelt gestraft. Wir haßten London gründlich, so lange es uns festhielt, ohne uns die Heimath zu ersetzen, und lieben es nun wie eine verkannte, verlorene Geliebte, nachdem uns die alte Heimath in Gnaden als Fremde aufgenommen.

Doch Geduld! Das eingeborene Heimathsrecht wird wieder aufleben und sich geltend machen, namentlich wenn wir endlich die alte Frage: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ sich anständig beantworten sehen.

Ein schöner, schmerzlicher Abend, der letzte in meinem Hause zu London, sagte ich. Freund Kinkel kam über die große Kiste auf dem Hausflure gestiegen und setzte sich zum letzten Male um den runden Tisch, den Abend zu verplaudern, über tausenderlei Sorgen und Fragen und Befürchtungen mit klarem Blick und seiner anmuthigen Herzlichkeit hinweg zu helfen, über seine eigene ungelöste Verbannung sich und uns zu trösten und endlich mit dem Vortrag einer Dichtung zu schließen. Wer Kinkel je reden oder vortragen hörte, sei’s der bitterste Feind, wird sich unbedingt vor ihm beugen. Solche Vereinigung angeborener, natürlicher Vorzüge mit der höchsten Ausbildung oratorischer Kunst wird sich selten wieder so harmonisch und edel zusammenfinden. Der deutsche Dichter und Redemeister ist uns verloren. Kinkel ist zum gefeierten Redner und Lehrer in englischer Sprache geworden und ward von der englischen Regierung auf die ehrenvollste Rednerbühne gerufen, just als durch alle deutschen Zeitungen in trockenster Aufzählung und im Nachdruck aus einer in die andere wie eine Tagesneuigkeit gemeldet ward, daß Die und Die zu den Amnestirten gehörten, Kinkel aber ausgeschlossen sei. Klinger, Seume, Forster, Kleist, Kinkel – lauter Namen in der deutschen Literatur, die nicht sterben werden; aber Die, welche ihnen den deutschen Boden entzogen, die Gewalten, die sie zu Feinden des Vaterlandes stempelten, werden keinen unparteiischen Historiker vermögen, ihnen solche Ehrenplätze in der vaterländischen Geschichte einzuräumen. Erstere sind längst als wahre Patrioten erkannt und anerkannt worden, und die Geschichte hat wenigstens bereits zum Theil den Beweis mit Blut geschrieben, daß Die, welche sie verbannten, es nicht waren. Weitere Beweise ist sie, fürcht’ ich, eben im Begriff zu liefern.

Wir schieden spät in der Nacht. Die Stunden, die wir zuletzt mit einander genossen, gehören zu den geweihten und ewigen in unserer Erinnerung.

Und wie so manche Beweise der Liebe und Freundschaft häuften sich noch auf unsere Abschiedstage in dem kalten, verhaßten London! Dem von dem glühenden, enthusiastischen Redacteur und Freunde Juch vorbereiteten Festessen und Ehrenandenken, dessen collectivischer Charakter mich schon als Aussicht in Verlegenheit setzte, entging ich nur durch Kürze und Kostbarkeit der Zeit und die ungeheueren räumlichen Ausdehnungen Londons. Für die Kinder stellten sich allerhand Bücher, Bänder, Spielzeuge und dergl. als Andenken ein, und als wir am 18. März früh vor der andrängenden Auction aus dem Hause flohen, wurde meine Tochter auf dem Wege durch unsere Straße von Apfelsinen, Kuchen, seidenen und sonst niedlichen letzten Liebeszeichen und „Keepsakes“, zum Theil aus mir ganz unbekannten englischen Häusern, wahrhaft bepackt. Hübsche, liebe, rothbäckige Kinder eilten herbei und drückten ihre unschuldigen Lippen auf die der kleinen deutschen Freundin, die ihnen in unermüdlicher Plauderhaftigkeit und Erfindungsgabe bei Spielen so lieb und als ein oft verschriebenes und abgeholtes Mittel gegen Langeweile fast unentbehrlich geworden war. Eltern und Angehörige der Kinder, mir zum Theil wildfremd geblieben, nickten aus den Fenstern. Wir waren Jahre lang vor einander vorbei gegangen, ohne uns nur anzusehen. Das hätte sich damals nicht geschickt. Jetzt war „Abschied“ und keine Zeit zu verlieren. Da galt’s denn zu zeigen, daß wir gute, getreue Nachbarn gewesen, daß man ein Herz im Leibe habe für die heimkehrende deutsche Familie. Ich glaube, so sind wir Menschen auch sonst vielfach gegen einander; man verschiebt und vernachlässigt tausenderlei gute Gedanken und Regungen des Herzens, weil es im gemeinen Laufe der Lebensstunden als zu schwärmerisch oder ungewöhnlich uns genirt oder man Andere damit zu incommodiren fürchtet, weil man denkfaul, gefühlsträge, etikettenängstlich über Art, Ort und Zeit nicht in’s Klare kommen will, weil es ja ohnehin „noch Zeit habe“. Und wenn wir dann endlich – den Meisten zu frühzeitig – den letzten Abschied überhaupt nehmen, fallen uns gewiß allerlei dumme Dinge ein, die wir hätten vermeiden, allerhand gute, die wir füglich hätten thun sollen. Und dann will man noch herzlich sein, wenn das Herz nicht mehr schlagen will, und läßt vielleicht sogar arge, alte Feinde bitten, daß sie uns durch Versöhnung das Sterben erleichtern und uns nicht hindern mögen, das Auge ruhiger zum letzten Schlummer zu schließen.

Da kam uns auf unserm letzten Wege aus unserm Hause die liebe M. M., die freundliche, englische, junge Dame entgegen, um uns die Kinder, die uns etwa bei dem Wirrwarr der Auction im Wege sein könnten, einstweilen zu sich zu nehmen. Sie war zu diesem Zwecke weit her mit der Eisenbahn gekommen, dieselbe die den Abend vorher meinem blühenden Jungen halb gewaltsam den dicksten, wärmsten Ueberzieher für die Seereise angezogen hatte, so daß er nach Hause kam dick wie ein Bürgermeister. Wir hatten uns während der zehn Jahre in London wohl kaum zehn Mal gesehen. Man sieht sich in London überhaupt selten. Mitten unter den drei Millionen Menschen sieht man selten Menschen, aus demselben Grunde, wie der Köhler mitten im Walde denselben vor Bäumen nicht sehen kann. Ja, die Kunst des Sehens ist schwer, am schwersten unter lauter Sehenswürdigkeiten, an welchen die Welt im Allgemeinen fast ebenso reich ist, wie – London.

Wie wir uns dieses verhaßte Riesenwunder, vor dessen unaufhörlich geschüttelten Kaleidoskopen wir oft absichtlich die Augen geschlossen, zum letzten Male ansahen, was hatten wir Alles nicht erblickt oder übersehen! Es hatte ja immer noch Zeit, oder es fehlte uns daran. Nun war es für tausenderlei aufgeschobene Pflichten oder Wünsche zu spät. Selbst viele befreundete Seelen, die vor uns aus einem zehnjährigen Leben und Leiden, Tumult und Taumel auftauchten, mußten ohne Abschiedsgruß zurückgelassen werden. Die neue Welt drüben in der alten griff mächtig in unser Herz und zog uns gewaltsam los und trieb uns umher, allerlei hübsche Sachen aufzugabeln, um neue Freunde und Verwandte, die wir zum ersten Male sehen sollten, kinderreiche Familienmütter, die wir zuletzt in kurzen Röckchen und Kinderlocken gesehen, unbekannte Schwager und Schwägerinnen, ganz funkelnagelneue Tanten und Onkels, nur aus Briefen bekannte, fabelhafte Neffen und Nichten, grau, weiß oder kahl oder dick und fett gewordene Jugendfreunde damit zu beschenken. Kränze und Blumen für die Gräber Derer, die wir in Glück und Gesundheit verlassen hatten, kauften wir erst in dem lieben Deutschland, wo Alles billiger sein sollte, was wir aber durchaus nicht fanden. – Ich will hier nicht sagen, was Alles hier theurer oder gar nicht zu haben ist.

Wir fuhren spät Abends durch beinahe die halbe Ausdehnung Londons hinunter in die Tower-Gegend, in dessen Nähe die Dampfer für den Continent liegen, und sahen noch einmal – jetzt wieder mit geöffneten Augen, wie beim ersten Anblick – in das Gewühl und Gewirre von Menschen, Wagen, Pferden und Lichtern, Straßen und Läden, Verkäufern und Käufern, Betrunkenen und Nüchternen, Jubelnden und Weinenden, Hungrigen und Übersättigten, Lumpen und Juwelen – in diese riesige, alltägliche, allnächtliche Zauberei der Freiheit, der souverainsten Anarchie von drei Millionen Menschen, von denen gesetzlich keiner verhungern darf, da sich Jeder nähren kann und soll, wie er eben Lust hat. Außerdem soll sich auch Niemand ersäufen oder sonst selbst das Leben nehmen. Wenigstens lesen die Herren auf dem Richterstuhle jedem Unglücklichen die Moral, der wegen versuchten, aber nicht vollendeten Selbstmords vor sie gestellt wird; gelingt aber das Ersäufen, Hängen oder Vergiften, so hat das Gesetz nichts weiter dagegen. Allerdings giebt’s auch viele Policemen, aber diese sind im Ganzen froh, wenn man ihnen nichts thut, und machen sich gern da unsichtbar, wo Gesetze, Köpfe und Knochen gebrochen werden. Außerdem schaffen sie die Betrunkenen bei Seite, wenn sie im Wege liegen und nicht mehr gehen können. Auch nehmen sie ertappte Spitzbuben geschickt am Arme und schieben sie mit classischer Geschicklichkeit und Anmuth immer einen halben Schritt vor sich her. In allem Uebrigen aber stören sie nicht. Drei Millionen Menschen dicht beisammen in solcher Freiheit des Denkens, Thuns, Sprechens, Schreibens, Handelns, Erwerbens und Verderbens – diese großartige Harmonie und Vollkommenheit, mit der sich alle Folgen und Früchte der Freiheit, mit allen ihren Auswüchsen, ausgewuchert haben und mit zunehmender Geschwindigkeit immer gewaltiger ausbreiten – das ist unter der Oberfläche der eigentliche Reiz und Zauber, womit das „Herz der Welt“ Jeden ergreift und abstößt und immer wieder fesselt, sobald man [328] erst angefangen, es schlagen zu sehen und zu hören. Genug. Leb wohl, Du geliebtes Asyl, das wir nur haßten, weil wir nie klug aus ihm werden konnten, weil es so unerschöpflich schön ist in seiner Häßlichkeit und häßlich in Allem, was wir als schön gelten lassen sollen.

Ein paar Dutzend Ruderschläge auf der Themse, und wir sind plötzlich mitten im geliebteren Deutschland, im Hamburger Dampfer „Castor“, der mit seinem Zwillingsbruder „Pollux“ alle Wochen um die Wette von London nach Hamburg, von Hamburg nach London läuft. Man kann alle Donnerstage Abend an Bord gehen, entweder drüben oder hier, und ist Sonntags Vormittags entweder in London oder in Hamburg. Auch Freitags früh ist’s noch Zeit genug. Nicht blos aus meiner, sondern aus vieler Anderer Erfahrung und Zeugniß möcht’ ich den Deutschen für deutsch-englische Reisen diese beiden Dampfer empfehlen. Die Preise sind dieselben, wie die der „General-Steam-Navigation-Company“, die alle Dampfschiffverbindungen zwischen England, Deutschland, Belgien, Holland und Frankreich beherrscht und als Monopol ausbeutet. Die Hamburger werden nur unter der Bedingung geduldet, daß sie keine billigeren Preise stellen.

Schon dieser eine Umstand könnte ein Empfehlungsgrund sein. Aber auf den englischen Dampfschiffen findet man auch nur englische Köche, englische Sprache, englische Behandlung. Es ist ihnen noch nicht eingefallen, aus Rücksicht für deutsche Reisende, die kein Englisch verstehen, jemals nur einen deutschen Diener oder Dolmetscher zu beschäftigen. Die Mannschaften der Hamburger sprachen alle Deutsch und Englisch mit gleicher Geläufigkeit und zeigten sich auf dem „Castor“ als Deutsche in den besten Tugenden und Vorzügen vor den Engländern. Wenn der Capitain Schade sich nicht durchweg als ein unerschütterlich freundlicher und liebevoller, bescheidener und väterlicher König und Freund des Schiffes, der Passagiere, der ganzen Fahrt und Führung gezeigt hätte, würd’ ich ihn loben. Aber eine so liebenswürdige Vereinigung von heroischer Männlichkeit und Güte, von Einfachheit und stiller, auf den ersten Anblick Vertrauen einflößender Würde bedarf nicht des Lobes Anderer. Auch der Steward und die hübsche Stewardin haben nie andere, als freundliche, dienstwillige Gesichter getragen. Auf der ganzen Reise habe ich kein böses Gesicht gesehen; selbst Die, welche dem Neptun opfern mußten, machten sogar dies mit Grazie ab – eine starke Behauptung, aber wahr – und dann gleich wieder freundliche Gesichter, weil’s eben unter diesen Umständen kaum anders möglich war. Die erste Cajüte ist ungemein schön und bequem. Die Zimmerchen zum Schlafen und – Neptunisiren sind im engsten Raume auf das Bequemste ausgestattet: weiche Betten mit Springfeder-Matratzen, kleine Sammet-Sopha’s, Spiegel, Apparate zur Toilette, selbst Bequemlichkeit in den Becken, die der grimmige Schaukelgott des Meeres unerbittlich Allen hinstellt, die nicht „seefest“ sind, um sich so Tribut und Opfer einzusammeln. Diesmal war er ziemlich gnädig. Nur einmal beim Frühstück wollten die Tassen und Teller auf der Tafel sich nicht ruhig verhalten und machten allerhand nur durch rasches Zugreifen und Sicherheitsmaßregeln vereitelte Versuche, sich tanzend und kollernd vor unsere Füße zu werfen. Im Uebrigen schnaubte der Castor uns so leicht und sicher aus der Themse in die Elbe-Mündung, daß man den Geist des Meeres nur durch das eigenthümlich neptunisirende Gefühl im Magen, dem man auch ohne eigentliche Seekrankheit selten entgeht, gewahr ward. Dies schneidet sich mit den Flußmündungen ziemlich scharf ab. Ehe man etwas vom Ufer oder Land entdecken kann, sowie das Schiff in süßes Fahrwasser kommt, verläßt Neptun Jeden, der ihn „im Magen hatte“. Dies that er schon Sonnabend Nacht. Mit anbrechendem Sonntage begrüßten wir hier die bald hügelig und malerisch werdenden holsteinschen, dort die flachen hannöverschen Ufer.

Wie hatte ich mich gefreut, wieder einmal einen deutschen Fluß hinauf zu fahren! Aber zwischen Hannover und Holstein vorsichtig in der versandeten Mündung des herrlichen, deutschen Stromes hinaufzukriechen – zwischen Holstein und Hannover, Hannover und Holstein – da freue sich wer kann im Frühlinge des Jahres 1861 – mir war’s nicht möglich, Anderen ging’s auch so. Niemand hatte bisher ein böses Gesicht gemacht. Jetzt sah man sie und geballte Fäuste dazu, bald gegen dieses, bald gegen jenes Ufer. Rechts drüben tauchte eine hübsche Stadt aus den Hügeln hervor: Stade. Das Schiff fuhr noch langsamer als ein mitleidiger Herr, der von einem Bettler angesprochen in die Tasche greift, um einen Silbergroschen herauszuholen. Es kam Einer in einem abgeschabten, rothen Rocke herangefahren, dem der Capitain etwas hinunterwarf: den Stader Zoll. Das ist eine hannöversche Staatseinnahme, wie ich hörte, so ne alte Gerechtigkeit, die man Hannover bisher nicht streitig machen durfte, wahrscheinlich, weil es der Elbe gestattete, sich mit der Zeit ein weiches Bett von Sand anzuschaffen, um von ihrem Wege aus Deutschland auszuruhen, ehe sie die Reise in’s Meer fortsetzt. Staatsgelehrte wissen vielleicht andere Gründe. Sie dürfen aber nicht vergessen, besagten Sand darauf zu streuen. Endlich Blankenese, die Wonne und Wallfahrt der Hamburger, stattliche, fürstliche Paläste und Villen, und zuletzt Hamburg selbst, die große Kaffee-, Zucker- und Colonialwaaren-Besorgerin für Deutschland mit einem den ganzen Londoner Handel an Geldwerth bedeutend übertreffenden Umsatze.

Wir traten mit eigenthümlicher Andacht und Bewegung zum ersten Male wieder auf deutschen Boden, noch dazu republikanischen, unter Menschen, die alle Deutsch sprachen und so auffallend höflich und freundlich und reinlich aussahen in der hellen Frühlings-, Früh- und Sonntagssonne, daß ich ordentlich erschrak, als ich vergleichend an London zurückdachte und mir einfiel, daß ich’s zehn Jahre dort ausgehalten. Welcher Contrast! Damals hatte man mich um Mitternacht verbrecherisch als räudiges Schaf auf ein englisches Schiff geschmuggelt und als blinden Deckpassagier zwischen exportirte Schafheerden versteckt. Jetzt lauter Sonne und Frühling und ein Kofferträger, der mit 182 Pfund Last auf dem Rücken sich auf der Hoteltreppe nach mir höflichst umkehrte, tief gebückt unter der Last an die Mütze griff und tausendmal um Entschuldigung bat, daß er mir vorangehe. Welche Höflichkeit! Und welche Huldigung! Ich muß doch gleich sehr respektabel ausgesehen haben und gar nicht mehr steckbrieflich!




Vom Czaren Nikolaus von Rußland.

Von K. v. B.
I.

Ich wünschte einmal in Petersburg den Thurm der Admiralität, der ungefähr in der Mitte der Stadt liegt, zu besteigen, um von seiner Spitze aus die ganze Residenz mit einem Blicke übersehen zu können, und wandte mich an den commandirenden Officier.

Derselbe gab mir auf französisch die freundliche Versicherung, daß er mich herzlich gern hinauflassen würde, wenn es nicht verboten wäre, „und ich habe Furcht, daß Er uns sehe.“ – „Aber wer denn, mein Herr?“ – „Er, der Kaiser! Sie wissen, das Auge des Herrn sieht Alles.“ – „Aber ich bitte Sie, glauben Sie wirklich, daß der Kaiser mich auf der Spitze jenes hohen Thurmes, wo ich etwa wie ein Punkt erscheinen werde, entdecken könnte? Wie höchst unwahrscheinlich, daß sein Auge gerade jetzt auf diejenige Thurmöffnung fallen wird, durch die ich einige Secunden lang zu blicken wünsche! Und selbst wenn er auch zufällig gerade dorthin schauen sollte, wird er mich gleich als einen Fremden erkennen? Wird er nicht denken können, es sei ein Arbeiter oder sonst Jemand, der da etwas zu thun habe? Und wird er denn gleich herschicken oder selbst vorfahren, um sich zu erkundigen, wer es gewesen sei?“ – „Nun, so gehen Sie denn meinetwegen hinauf. Ich will es Ihnen von Herzen gern gestatten. Aber für mich ist viel Gefahr dabei, ich habe immer Furcht vor Ihm.

Ich muß sagen, dieser Vorfall frappirte mich in hohem Grade und blieb mir unvergeßlich, als ein Beweis der unermüdlichen Suspectionsthätigkeit des Kaisers sowohl, als der Größe der Furcht seiner Petersburger Beamten, die seiner überall und in jedem Augenblicke gewärtig waren.

[329] In der That, man hätte diesem Kaiser von Rußland fast Allgegenwart in seinem Reiche zuschreiben mögen, und so weit als ein Mensch diese Eigenschaft besitzen kann, so weit besaß er sie in der That. Es war keine Anstalt, keine Behörde, kein Institut in Petersburg, das nicht in jedem Augenblicke sein beobachtendes Auge zu fürchten gehabt hätte. Niemand war dort vor seinen Blicken sicher. Es gab Institute, zu denen er innerhalb Jahresfrist nicht kam. Allein die Möglichkeit, daß seine Droschke doch einmal unangemeldet vorfahren könne, hielt die Leute stets in Spannung.

Der Kaiser hat sich selbst mehrere Male darüber beklagt, daß er auf seinem Throne so allein stehe, daß er keine redlichen Gehülfen habe. Es war dies die natürliche Folge seines Vielregierens. In einem Lande, in welchem kein Gemeingeist existirt, wo Alles nur kaiserlich ist und für des Kaisers Rechnung und auf des Kaisers Impuls geschieht, ist auch Niemand für das Gemeinwesen interessirt. Der Kaiser mußte Alles selbst thun, und es lastete daher ein enormes Gewicht von Geschäften auf seinen Schultern. Wohin er mit seinem Auge und seiner Hand nicht kam, da schlummerte und feierte die Staatsmaschinerie.

Mir sagte einmal ein hochgestellter russischer Staatsbeamter, den ich über einen Punkt der russischen Statistik befragte, er könne mir auf meine Frage keine Antwort geben, auch kenne er nur Einen in ganz Rußland, der diese Antwort zu geben im Stande sei: das wäre der Kaiser; der Kaiser allein wisse genau über alle russischen Angelegenheiten die Wahrheit, oder wenigstens er allein könne genau die Wahrheit wissen, da in ihm sich alle Fäden concentrirten, und da bei ihm allein alle die Quellen, aus denen man die Statistik Rußlands schöpfen müsse, zusammen flössen.

Kaiser Nikolaus nannte sich mit vollem Recht einen Selbstherrscher, ein Name, auf den er stolz war, der ihm zugleich aber auch erstaunlich viel Sorge und Last aufbürdete.

Nichts ging in Rußland von selbst. Der Kaiser war die riesenmäßige Triebfeder, die jedes Rad in Schwung setzte. So wie diese Triebfeder an Energie verlor, so gerieth auch das Uebrige in Stocken. Er mußte jeden Tag die Uhr aufziehen und mußte selbst alle seine Staatshausgeräthe stündlich putzen und ausstäuben. Daher diese täglichen und nie endenden Revuen seiner Truppen, daher diese fortwährenden Inspektionen aller Staats-Anstalten. Daher diese unermüdlichen Fahrten auf einspännigem Schlitten oder auf einer kleinen Droschke, mit der er wie ein Blitz durch die Straßen seiner Residenz eilte, und bald dieses, bald jenes Etablissement, bald diesen, bald jenen Privatmann oder Beamten mit seinem Besuche überraschte. – Daher sein stets waches Auge, mit dem er unterwegs Alles, selbst das Geringfügigste beachtete, den Officier, der seinen Hut nicht vorschriftsmäßig sitzen hatte, und der einen Knopf zu wenig an seiner Uniform zuknöpfte, den Professor, der gegen die Gesetze an einem Festtage der Universität sich öffentlich in gewöhnlicher Civilkleidung statt in seiner vorgeschriebenen Beamten-Uniform zeigte, und den der Kaiser wohl gar selbst auf seine Droschke nahm, um ihn auf die Hauptwache zu bringen, oder der doch auf seinen persönlich gegebenen Befehl arretirt wurde.

Wie der Kaiser alle seine Untergebenen stets im Auge behielt, so umgekehrt hatten freilich auch alle seine Beamten ihn fortwährend im Auge und blickten und horchten mit gespannter Aufmerksamkeit nach ihm hinüber, um seine Bewegungen und Pläne auszuspähen und zu erfahren, was er von ihnen wohl denken und was er in Bezug auf sie etwa vorhaben möchte.

Dem Kaiser Nikolaus war jenes Ueberraschungssystem am Ende ganz und gar zur Gewohnheit geworden, und er wendete es dann selbst auf seine Reisen in’s Ausland an, wo er auch oft eben so unerwartet erschienen und wieder verschwunden ist. Er setzte sich plötzlich in ein kleines Schiff, fuhr nach Schweden hinüber und umarmte den alten König dieses Nachbarlandes, der eher den Einsturz des Himmels als den Besuch des Kaisers von Rußland erwartet hätte. In ein paar Mal 24 Stunden war er wieder in seiner Residenz zurück. So unerwartet wie in Stockholm erschien er in Wien, wohin er von Böhmen aus in wenigen Stunden eilte, um dort einige fürstliche Personen zu besuchen.

Ich saß einst in Berlin in einem freundlichen Kaffeehause unter den Linden, westeuropäische Zeitungen lesend. Ich las von Guizot und Thiers und dachte nicht mit einem Gedanken an den Beherrscher des Nordens. Ich blickte vom Blatte auf, und welche imposante Figur rauschte ganz dicht neben mir vorüber? Es war der Kaiser Nikolaus von Rußland, der allmächtige Czar, der zu Fuß aus seinem Hotel kam, um einen preußischen Prinzen zu besuchen, dann auf der Eisenbahn auf einige Augenblicke zum Könige, einem Schwager, zu fahren, und von da auf Windesflügeln nach England zu eilen. In England war man in der gespanntesten Erwartung, ob er kommen würde oder nicht. Niemand war darüber im Klaren, die Königin und Prinz Albert in der peinlichsten Ungewißheit. Und als er wirklich erschienen, war er auch bald so rasch wieder fort, daß John Bull kaum Zeit genug hatte, sich zu besinnen, wie er den großen Potentaten aufnehmen solle. Derselbe hatte bereits Holland und Deutschland durchflogen, und war schon in seiner nordischen Residenz wieder angelangt, während manche langsame deutsche Journale sich noch darüber stritten, auf welchem Wege „Er“ wohl wieder in sein Reich zurückkehren möchte.

Ich sage, zum Theil mochten diese blitzschnellen Ueberraschungsreisen nur eine Gewohnheit sein, die der Kaiser als Autokrat in seinem eigenen Lande angenommen hatte, und die er dann auf’s Ausland übertrug. Zum Theil aber war auch dabei Berechnung und Politik. Der Kaiser hatte manche persönliche Feinde im Auslande, und es war nicht immer gut, daß sie, sowie auch das ganze Publicum, zu genau von der Zeit und Stunde, zu welcher er auf jeder Station einzutreffen gedachte, unterrichtet seien.

Die vielseitige Thätigkeit des Kaisers Nikolaus ist mir immer ein wahres Wunder gewesen. Er war seiner Zeit der beschäftigtste aller Potentaten von Europa. Der hundertste Theil von seinen Verrichtungen, so scheint es, wäre hinreichend gewesen, einem gewöhnlichen Menschen vollauf zu thun zu geben.

Es mußte eine eiserne Constitution, ein stählerner Wille, eine unerschöpfliche Kraft dazu gehören, um den mannigfaltigen Ansprüchen zu genügen, welche man an ihn machte, oder die er sich selber auflud. Die beste Idee wird man davon bekommen, wenn man bedenkt, wie viel das Wort, das Ludwig XIV. aussprach, und das in vollem Maße auf den Beherrscher Rußlands paßte, sagen will, das berühmte Wort: „L’état c’est moi.“

Nach einer in Rußland selbst angefertigten Aufzählung hat der Kaiser Nikolaus blos in den ersten 6½ Jahren seiner Regierung nicht weniger als 5073 Gesetze (Ukase, Manifeste, Instructionen) erlassen. Dies giebt also für jedes Jahr beinahe tausend Erlasse, oder für jeden Tag drei, und unter diesen Erlassen waren viele äußerst paragraphenreich.[2] Bedenkt man nun, daß jedes Gesetz eine Reihe von Bestimmungen enthielt, durch welche Tausende von Fällen entschieden und regulirt, Millionen von Menschen gebunden werden sollten, so kann man ermessen, welche Masse von Vorarbeiten dazu erforderlich war. Man lese nur einmal die Verhandlungen des englischen Parlaments und die Discussionen, Interpretationen und Commentationen der englischen Journale zu den vorgeschlagenen Gesetzen, um zu begreifen, wie vielseitig solche Gesetze sind, in denen jedes Wörtchen erwogen werden muß, und man wundere sich nun über die Thätigkeit eines Selbstherrschers, in dessen Kopfe und Cabinete Alles das vor sich gehen soll, was dort im Parlamente, in zahllosen Vereinen und den Journalen vor sich geht.

[330] Allerdings ging der Impuls und die Idee zu solchen Gesetzen nicht immer vom Kaiser selber aus. Sie wurden ihm oft schon fertig von seinen Ministern vorgelegt, und er hatte sie nur durchzugehen und zu bestätigen. Allein schon dies war eine sehr mühevolle Arbeit. Und daß der Kaiser Nikolaus diese Arbeit in der Regel wirklich über sich nahm, geht daraus hervor, daß am Rande vieler Ukase sich seine eigenhändigen Bemerkungen und Rothstift-Correcturen befinden.

Wie die ganze Gesetzgebung, so ruhten auch alle Geschäfte der Regierung und Verwaltung in seinen Händen. Er bedurfte dazu einer Menge von Gehülfen: Minister, Generalgouverneure, Gouverneure, Hofbeamte, Gesandte und unzählige andere Beamte, deren Posten unmittelbar durch ihn besetzt wurden, und zu denen er sich bald dieses, bald jenes Individuum ausersah. Man hörte oft in Petersburg Aeußerungen wie diese: „Auf diesen Mann hat der Kaiser ein Auge geworfen, er hat ihn längst im Stillen zu seinem Minister des Innern bestimmt.“ – Zuweilen versicherte man: „Jenen Mann zieht sich der Kaiser zu seinem zukünftigen Kriegsminister heran.“ – Solche zu hohen Posten im voraus designirte Männer fand man dort immer mehrere. Wenn man gerade nicht des Kaisers Namen nennen wollte, so sagte man dann von solchen Personen: „Der wird noch einmal hoch gehen. Er ist zu großen Dingen bestimmt.“ Ja, der Kaiser Nikolaus sprach selbst oft zu solchen Leuten folgendermaßen: „Peter Alexejewitsch, ich glaube, Du wirst rasch avanciren, Du wirst, wie mir es scheint, noch einmal eine bedeutende Carriere machen,“ – indem es dabei den Anschein hatte, als wolle er selber zur Beförderung dieser Carriere nichts beitragen, als steige vielmehr jener Mann durch eigenes Verdienst. Oft hatte er schon ganz junge Leute, die ihm besonders tüchtig erschienen, im Kopfe und machte sich einen Lebensplan oder eine Carriere für sie. Er ließ sie dann durch eine Art von Schule gehen, um sie zu diesem oder jenem hohen Posten, den er für sie reservirte, zu befähigen. Er ließ sie von unten auf dienen, ließ sie, wenn sie sich gelegentlich im polnischen oder kaukasischen Kriege oder auf der Parade auszeichneten, zu Obersten und Generalen avanciren, führte sie dann, wenn sie z. B. Minister des Innern oder des Unterrichts werden sollten, zum Civildienst über, machte sie zu Gehülfen oder Adjuncten in dem einen oder andern Ministerium, und schickte sie dann „mit außerordentlichen Aufträgen“ in verschiedene Provinzen des Reichs, damit er erfahre, „quid valeant humeri“.

Bewährten sie sich, so übertrug er ihnen dann wohl auf ein oder zwei Jahre die Verwaltung eines Gouvernements oder eines Generalgouvernements, bald in diesem, bald in jenem Theile des Reichs, damit sie das ganze Land in seinen Theilen kennen lernten und sich zu ihrem Posten befähigten. – Darauf stellte er einen solchen Mann dem bisherigen Minister als Viceminister zur Seite und nach einiger Zeit schrieb er an diesen einen Brief: „Mein lieber Dimitri P…witsch. Da die lange Reihe von Jahren, die Ihr mir dient, eine Ruhe heischt, die Ihr Euch schon lange wünscht, so – seid Ihr hiermit in Gnaden entlassen etc. etc.“ – und der neue nun fertige Minister trat an des Verabschiedeten Stelle. –

Suchte der Kaiser einen Erzieher für einen seiner Prinzen, so sagte er Niemandem etwas davon, wen er wohl wählen dürfte, auch fragte Niemand darnach. „Ne iswestno!“ (Es ist noch nicht bekannt) hieß es in Petersburg. Es lag noch ein tiefes Geheimniß darüber. Im Herzen des Kaisers hatte aber vielleicht bereits schon ein Funke Feuer gefangen. Er kannte längst einen Officier in seiner Umgebung, den er redlich und pünktlich seine Pflicht erfüllen sah. Diesem gab er dann zu Zeiten einige bedeutungsvolle Winke, indem er ihn mit kurzen Worten lobte und encouragirte: „Gut gemacht, Capitain!“ – „Bravo!“ –„Ich bin zufrieden!“ – „Fahre so fort, und Du wirst höher steigen!“

Wenn der Kaiser seine Beobachtungen und Einleitungen beendigt hatte, ging es dann oft sehr rasch. Plötzlich wurde der Capitain zum Obersten oder General avancirt und nicht lange nachher zum Leidwesen aller älteren Officiere zum Prinzen-Erzieher berufen. Der Mann erschrak selbst darüber und erklärte offenherzig, daß er zu einem so wichtigen Amte gar nicht die Kräfte in sich fühle. „Ich kenne Dich besser,“ antwortete der Kaiser. „Ich weiß, Du bist tauglich. Ueberlaß Dich mir.“

Nicht nur seine Minister und hohen Reichsbeamten, sondern auch alle, selbst die niedrigsten Officiersgrade in seiner Armee empfingen unmittelbar vom Kaiser ihre Bestallung und Beförderung. Bei uns drehen sich vielfache secundäre und tertiäre Gewalten zwischen der im Mittelpunkte stehenden Sonne und den niederen Beamtengraden. In Rußland fallen die Strahlen jener Sonne überall viel directer in die Behausung selbst der kleinsten Beamten. Daher rühmen sich denn auch dort alle immer einer besonderen Freundschaft mit dem Urquell aller Gewalt, als ob sie in ganz naher Vertraulichkeit mit dem Kaiser ständen. Der Schulmeister einer entlegenen Gouvernementsstadt sogar spricht, sich brüstend und sehr selbstgefällig: „Der Kaiser hat die Gnade gehabt, meinen Sohn zum Major zu machen,“ – als hätte der Kaiser es blos aus besonderer Dienstfertigkeit für ihn, den alten Papaschulmeister, gethan.

Sogar die Hofsänger seiner Capelle erwählte der Kaiser Nikolaus nicht selten selbst. Die beständige Selbstthätigkeit der russischen Autokraten bewirkt es, daß Andere um so lasser sind, und daß sich ihnen nichts von selbst darbietet. Wer weiß, wie viele hundert Male schon der erste Bassist der kaiserlichen Hofcapelle, als er noch gemeiner Uhlan war, seinem Officier mit einer erschütternden Baßstimme sein „Hurrah“ zugerufen haben mochte, ohne daß es deswegen diesem Officiere eingefallen wäre, ihn für etwas Anderes als für die Pike tauglich zu halten. Der Kaiser Nikolaus mußte ihn erst selbst eines Tages in dem Garten von Zarskoje-Selo auffinden und ihn fragen: „Sdarów, Ulan?“, (Bist Du wohl, Uhlan?) und dieser ihm mit tiefer, volltönender und ergreifender Baßstimme zurückdonnern: „Sdarów, Wasche Welitschestwo“ (Wohl, Eure Majestät). Der Kaiser mußte erst selbst von diesem tiefen Basse frappirt werden, den Mann des Soldatendienstes entheben, ihn in die Musikschule schicken und sich den besten Bassisten seiner Capelle aus ihm bilden.

Man erwäge, sage ich, diese Facta, denke sich tausend ähnliche Facta, und stelle sich nun vor, welche außerordentliche Geschäftigkeit und unaufhörliche Spannung und Anstrengung ein solches Verfolgen aller Carrieren, ein solches Beobachten aller Beamten und Unterthanen, ihrer Anlagen, ihrer Tauglichkeit etc. voraussetzt. Der russische Kaiser mußte jeden seiner Diener suchen, während sich andern Königen, z. B. der Majestät von England, fast jeder Minister und Diener aufdrängt, oft selbst freilich ganz wider ihren Willen aufdrängt.

So wie der Kaiser seine Diener sich gewissermaßen alle selbst erzog und schulte und sie, so zu sagen, jeden Schritt auf ihrer Carriere an seiner eigenen Hand oder an seinem Gängelbande machen ließ, so controlirte er sie auch später noch, wenn sie an ihrem Posten standen, mit eigenen Augen. Neben der officiellen geheimen Polizei, die sein dazu bestelltes Polizeiministerium ausübte, leitete der Kaiser auch noch in eigener Person ein System geheimer Polizei, von der er selbst das Haupt oder der Mittelpunkt war. Er fuhr nicht nur, wie ich schon erwähnte, inspicirend und beobachtend in seiner Residenz herum, um nachzusehen, ob die Trottoirs rein gehalten wären, ob die Leute auf den Straßen nach Vorschrift gekleidet wären, ob auch Jemand gegen den Ukas auf dem Admiralitätsthurme stände, ob die Schildwachen nicht an ihrem Posten schliefen, – sondern er sandte auch oft aus seiner Privatkanzlei außerordentliche Emissäre in verschiedene Theile des Reichs aus, damit sie ihm über dieses oder jenes Individuum einen Augenzeugenbericht abstatten möchten. So gab es denn erstlich die gewöhnliche ordinäre Polizei, dann die extraordinäre Geheimpolizei, und endlich noch, um diese zu controliren, des Kaisers ganz versteckte Privat- und Cabinet-Polizei.

Unsere Könige geben als Regenten und Gesetzgeber nur die großen Impulse und verlassen sich darauf, daß diese Impulse dann, von anderen Zwischengewalten getragen, im Detail von selbst weiter wirken. Kaiser Nikolaus mußte nicht nur die großen Impulse geben, sondern auch noch bei jedem einzelnen Rädchen der Maschinerie selbst nachsehen, ob es seine Pflicht thue. Er war wie ein Anführer, der in jeder Schlacht die Pflichten eines Feldherrn und Taktikers mit denen eines Unterofficiers und einer Schildwache vereinigen soll. Es war mit dem Kaiser Nikolaus noch fast ebenso, wie zur Zeit Peter’s des Großen, der nicht nur selbst die Führung der Axt, des Bohrers und Hobels erlernte, sondern auch in Person den Richter und Bestrafer der Verbrecher spielte. –

[331] Da das Militärwesen des Kaisers Lieblingsfach war, so conferirte er natürlich mit keinem Minister so viel, wie mit dem Kriegsminister, und bei keiner Angelegenheit ging er so in alle Details ein, als in dieser. – Sein Auge – „l’oeil du Maître!“ – war hier auf eine bewundernswürdige Weise eingeübt, und man sagte in Petersburg, bei einer Parade entgehe dem Kaiser Nikolaus kein Knopf eines Soldaten. Fast täglich hielt er selbst die Revue einer Partie seiner Lieblings-Regimenter ab, und häufig stellte er im Laufe des Jahres ganz große Revuen an, bei denen er oft ganze Armeen an seinen scharf kritisirenden Blicken vorüberziehen ließ. Die Könige von Preußen haben sich zwar zuweilen eben so viel mit ihren Landtruppen zu thun gemacht, wie die Kaiser von Rußland mit den ihrigen. Allein sie haben dann doch wenigstens von Seiten des Meeres Ruhe gehabt. Nicht so der Kaiser Nikolaus, bei dem die Bildung einer großen Flotte eine Lieblingsidee war. Er hatte daher auf den salzigen Wogen eben so viel zu inspiciren und zu revidiren, wie auf dem Festlande, und er überwand häufig Sturm und Seekrankheit, um nachzusehen, wie die Sachen auf dem Wasser ständen.

Auch die Kirche, mit deren Angelegenheiten sich so viele andere Fürsten nicht befassen, haben die russischen Kaiser auf ihre eigenen Schultern genommen, indem sie sich auch auf diesem Gebiete zu Autokraten machten. Sogar jeder Pope wird daher von dem Kaiser an seinen Posten gestellt, und so wie alle Ukase, so muß er auch alle Bullen selbst durchdenken und unterschreiben, was man in andern Ländern doch den Päpsten, Synoden und Consistorien überläßt.

Die russischen Beamten verstehen sich in der Regel nur auf das Detail-Regiment. Sie haben nicht das Talent zu generalisiren und die leitenden Ideen und den Geist einer Maßregel zu ergreifen und bei der Ausführung zu wahren. Diese nationale Eigenheit seiner russischen Rathgeber vermehrte die Geschäfte des Kaisers Nikolaus noch in hohem Grade, so daß er sich oft nicht zu retten wußte vor allen den kleinen minutiösen Angelegenheiten und Fällen, die seine Minister ihm zur Entscheidung vorbrachten. Ein russischer Herr, der den Kaiser Alexander kannte, sagte mir in dieser Beziehung, daß dieser Kaiser von der Conferenz mit seinen russischen Ministern immer höchst mißgestimmt zurückgehrt sei, weil sie ihm eine zahllose Menge von Kleinigkeiten und eine solche Masse von Details und einzelnen Fällen vorgelegt hätten, daß er des Stoffs zuweilen nicht hätte mächtig werden können. Die polnischen Minister dagegen hätten es viel besser verstanden mit ihm zu arbeiten. Sie hätten seine Meinung und Idee leichter gefaßt, wären überhaupt politisch durchgebildeter gewesen und hätten den Kaiser nicht mit so vielen Bagatellen behelligt. Daher sei Alexander auch immer heiter und vergnügt aus den Conferenzen mit den Polen hervorgegangen.

Außer diesem Allen hatte nun der Kaiser Nikolaus noch das Haus voll von Kindern, Söhnen, Töchtern und Schwiegersöhnen, Brüdern, Schwägerinnen und Nichten. Da er in weit höherem Grade das Haupt seiner Familie war, als ein simpler Privatmann, so gaben ihm auch schon die Angelegenheiten seines Hauses, die er, wie die Staatsaffairen, in allen ihren Details selbst lenkte und leitete, mehr zu thun. Er hat im Innern seines Hauses Alles verrichtet, was die gewöhnlichsten Familienvater zu thun pflegen. Er hat seine Kinder in Person gestraft, er hat sich bei Nacht selbst wie eine sorgsame Mutter vom Lager erhoben und ihren Schlaf belauscht. Er hat seine Söhne selbst spät Abends besucht, um nachzusehen, ob sie zur festgesetzten Zeit zu Bette gegangen waren, und ob ihre Gouverneure vorschriftsmäßig bei ihnen schliefen.

Hört man bei aller dieser ganzen Masse von Geschäften, die auf den Schultern des Kaisers lasteten, nun noch von neuen Erfindungen in Petersburg, deren Urheber daraus hofften, daß der Kaiser einmal zu ihnen kommen würde, um von ihren Kunstprodukten Notiz zu nehmen, – hört man ferner, daß der Kaiser sich zuletzt entschloß, sogar auch noch die Pässe seiner Unterthanen in’s Ausland selbst auszustellen und zu unterschreiben, – bedenkt man, daß er es nicht selten für seine Pflicht hielt, einige seiner vornehmen Unterthanen mit Artigkeitsbesuchen zu beehren, – daß er oft bei alten kranken Damen vorfuhr, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, – daß er um Ostern sogar die Schildwachen seines Palastes um ihr Wohlsein befragte und ein paar Dutzend von ihnen, einem alten Herkommen gemäß, abküßte, – erinnert man sich endlich, wie viele Pflichten ihm neben der Regierung und Leitung seines Staates auch das bloße leere Hofceremoniell auferlegte, wie viele Gesandten europäischer und asiatischer Fürsten er beständig zu empfangen hatte, – erinnert man sich, daß er sehr oft von den in seinem Lande anwesenden „Fremden von Distinction“ Notiz nahm und sie zuweilen selbst auf das Eigenthümliche seines Volks und Reichs aufmerksam machte, – ja, daß er mitunter sogar aus fernen Gegenden seines Reichs herangereiste Bauern in den Zimmern seines Palastes herumgeführt hat, – erwägt man, daß er sich auch von allen Ereignissen in entfernten Ländern und Welttheilen unterrichtete, daß er mit aufmerksamem Auge die Politik aller Könige und Fürsten Europa’s, Asiens und Afrika’s überwachte, und daß er einige Beamte in seiner Nähe hatte, welche ihm über die Tagesereignisse aus den Zeitungen berichten mußten, ja, daß er sogar von einzelnen Journalartikeln oft selbst specielle Kenntniß nahm, – vergißt man endlich nicht, daß er nicht nur selbst zuweilen brillante Hoffeste veranstaltete, an denen er den lebhaftesten persönlichen Antheil nahm, und bei denen immer die wichtigste und schwierigste Rolle ihm, dem Wirthe, zufiel, – daß er auf diesen Hoffesten selbst eifrig tanzte, – daß er, wenn es Maskenbälle waren, sich auch einen Domino anlegte, daß er auch oft die Tanz- und Freudenfeste seiner Großen und seines Volks besuchte, daß er häufiger als irgend ein anderer europäischer Fürst Einladungen zu den Bällen bei seinen reichen Unterthanen annahm, – daß er nicht versäumte, sich bei den „Gulanien“ (Spazierfahrten), welche um Ostern und bei andern Gelegenheiten in den russischen Städten statt zu finden pflegen, öffentlich zu zeigen und unter die Leute zu mischen, – daß er nicht vergaß, bei allen großen Nationalfesten und öffentlichen Gelegenheiten aus allen Ständen und Volksclassen Einige auszusuchen, um an sie ein freundliches Wort zu richten; – überschaut man, sage ich, dies Alles: so bekommt man in der That das Bild von einer riesenhaften Thätigkeit, die kaum irgendwo wieder ihres Gleichen zu finden scheint; – und man fragt erstaunt, wie es möglich war, daß Jemand dreißig Jahre hindurch ein solches physische wie moralische Kräfte auf gleiche Weise aufreibendes Leben ertragen konnte.

Hätte Kaiser Nikolaus auf seine Autokratenwürde verzichten wollen oder können, so hätte er ein viel sorgenloseres, genußreicheres und bequemeres Leben führen mögen, als er es auf seiner schwindelnden Höhe konnte, wo er, um sich auf dem Platze zu behaupten, in ein Meer von rastloser Arbeit, Unruhe und Sorgen gestürzt war.

Er gewährte das Schauspiel eines Schiffers, der in jedem Augenblicke wachen mußte, der das Ruder nicht einen Moment aus der Hand geben durfte, der alle Segel und Taue stets in Bereitschaft und in Spannung erhalten mußte, weil in jeder Minute der Fahrlässigkeit der Sturm losbrechen konnte.

Zum Theil, sage ich, liegt die Ueberspannung der Thätigkeit der Czaren in der Natur ihrer autokratischen Gewalt und ist aus dieser von selbst hervorgegangen. Zum Theil aber ist ihnen der Impuls dazu von jenem großen Muster und Beispiele der Czaren, von Peter dem Großen, in dessen Bahnen sich Alles in Rußland bewegt, und in dessen Fußstapfen noch jetzt, selbst ohne daß sie es wollen und wissen, die Nikolaus und Alexander und Paul wandeln, gegeben worden. [3]



[332]

Deutsche Männer.

Tyrol hat stets an den Kämpfen Deutschlands gegen seine Feinde einen thätigen Antheil genommen; vor dem Ruhme des Jahres 1809 treten jedoch alle früheren Ereignisse in den Hintergrund, und auch in diesem Jahre fällt der Glanz hauptsächlich auf Hofer’s Waffengefährten, welche mit ihm bei Sterzing und auf dem Berge Isel kämpften. Und doch giebt es noch viele Stätten, wo Heldenblut floß, noch manche Männer, deren mächtige Gestalten, welche ein langer fauler Friede vergaß, wieder vor das deutsche Volk hintreten sollten, denn auch jetzt droht ein Feind gleicher Art, gleichen Namens, noch gefährlicher durch seine List als sein Genie.

Der Leser lehnt es vielleicht nicht ab, mir in das schöne Unterinnthal zu folgen, dorthin, wo an der Grenze gegen Salzburg die Felsen näher zusammenrücken und den berühmten Paß Strub bilden. Zuerst trinken wir zu Waidring auf der Post einen Schoppen rothen Tyrolerwein; auf dem Hausflur hängt ein Oelgemälde, mit mehr Fleiß als Kunst entworfen stellt es die Gefechte dar, in welchen die Bauern, während die österreichischen Generäle Böcke schossen, ihren heimathlichen Boden mit einem Muthe vertheidigten, der ihnen gewiß einen Ehrenplatz neben den bewunderten Heroen Griechenlands anweist. Schon zu Waidring ist das Thal enger, rechts und links erheben sich waldige Berge, deren unersteigliche Felsengrate wie Mauerkronen emporragen. Einer derselben ist die Kammerkar, berühmt durch ihre Fernsicht und den Reichthum an Versteinerungen, welche in einem schönen rothen Marmor eingeschlossen sind, der für alle Kirchen der Umgebung das Material zu Säulen und Nischen lieferte. Folgt man dem Bache, so schließen sich die Kalkberge immer enger wie Coulissen einer ungeheuren Bühne, man kann von einem Abhang zum andern leicht mit einem Steine werfen, das Wasser überspringt schäumend die haushohen Felsblöcke, und nur die Straße hat noch spärlichen Raum gefunden. Dort, wo sie am engsten ist, steht ein Kirchlein, nebenan ein alter morscher Thurm, von dem eine zerbröckelnde Mauer den Berg hinaufläuft. Das ist die Thalsperre von Strub. Noch eine kleine Strecke vorwärts, und es erhebt sich eine steinerne Säule, rechts mit dem Adler von Tyrol, links mit dem Wappen von Salzburg. Von hier kann man in einer halben Stunde den Markt Lofer erreichen; auf dem Wege aber, den wir plaudernd zurückgelegt, stürmten die Franzosen unter Lefèbvre und Wrede tagelang vergeblich gegen die Tyroler, deren lautes Jauchzen von den Felsen wiederklang, ein kühner Jubelgesang der Freiheit, welche den wackern Männern auch später nicht blühen sollte. Damals waren die Zeiten des Rheinbundes, der tiefsten Schmach und Erniedrigung, und unsere Bauern dichteten das wilde Trutzlied:

Schämt euch, Baiern und Niederland
Und ihr Deutschlands falsche Bürger,
Man heißt euch nur Menschenwürger,
Euch bleibt ewig eure Schand’!

Man schießt nicht mit sanften Rosen
Auf euch her und die Franzosen,
Denn man nimmt das grobe Blei
Und bleibt wie das Gold getreu.

Es war am 1. November 1805. Gewöhnlich sind die Herbsttage im Hochgebirge weit schöner als der Frühling, wo das Wetter unbeständig wechselt und oft wochenlang der Regen niederströmt. Mit voller Klarheit spannte sich der Himmel von Berg zu Berg, sein tiefes dunkles Blau deutete bereits den Eintritt des Scirocco an, dessen Stürme stets den Schneemantel über die Alpen breiten. Im Passe Strub herrschte reges Leben, durch das Fallgitter des Thurmes lugten zwei Kanonen, etwas rückwärts waren Pferde an den Bäumen angebunden, die Dragoner hielten ihnen entweder in den Körben das Futter vor oder putzten das Riemzeug; weiter rückwärts, wo das Thal etwas breiter wurde, waren lässig einige Bataillone österreichische Infanterie aufgestellt, man mochte etwa 1500 Soldaten zählen. An den Abhängen des Berges lungerten Schützengruppen, theilweise in Hemdärmeln, die Pfeife im Munde oder erzählend von dem und jenem, denn es waren hier durch den Waffenruf Bekannte versammelt, welche sich oft jahrelang nicht gesehen. In die Schützencompagnien wurden damals nur solche Männer aufgenommen, welche beim Scheibenschießen mehrmals im Tage das Schwarze trafen, die anderen dienten als Landsturm, der mit Morgensternen drein schlagen mußte, wenn es zum Handgemenge kam. Eine solche Waffe wurde vor einigen Jahren im Strubpasse gefunden, sie wird jetzt im Museum zu Innsbruck aufbewahrt; es gehörte ein starker Arm dazu, sie zu handhaben. Jetzt ist es mit den sogenannten Tyroler Schützencompagnien anders, da wird jeder, der sich oft nur des hohen Soldes wegen meldet, eingereiht, gleichviel ob er schießen kann oder nicht, und so läuft Alles kunterbunt durcheinander. Die Scheibenschützen sind meistens wohlhabende Leute, welche ihren gutgenährten Leib weder den Strapatzen, noch auch feindlichen Kugeln aussetzen mögen und daher lieber Geld zahlen als ausmarschiren. Minister Bach hat das letzte Flämmchen des Patriotismus ausgelöscht, und so ist es ein Glück, daß unsere Compagnien mit den Schaaren Garibaldi’s nicht in Kampf geriethen, der rothe Tyroler Adler wäre schändlich gerupft worden, wie mir Schützen selbst vor zwei Jahren am Gardasee sagten. Wenden wir uns zu einer bessern ruhmvollen Vergangenheit.

Auf einem Platze, wo man ein gutes Stück Weg übersehen konnte, stand der österreichische General Julien und Hager, der Wirth von Kirchdorf, ein Mann im kräftigsten Alter, der Zeit Anführer der Schützen seines Bezirkes. Er schnallte am Säbelgurt, man sah es ihm an, daß er diesen Schmuck nicht gewohnt war und viel lieber nach Art der Bauern die breite Lederkatze mit den weißen Stickereien über dem Bauche trüge. Plötzlich rannte athemlos ein Schütz des Weges daher und rief: „Was thut’s denn da? Die Oesterreicher sind z’Lofer davong’laufen, und die Boarn rucken an, daß all’s blau ist wie Flachsfeld, wenn’s blüht.“ Einige flüchtige Soldaten bestätigten die Sache, und so galt es, sich für den nächsten Morgen vorzubereiten. Das kaiserliche Militär wurde auf die Straße gestellt, die Schützen vertheilten sich rechts und links zwischen Felsen und Bäumen. Als der Morgen graute, eröffneten zwölf Kanonen das Feuer gegen den Paß, schadeten jedoch den Vertheidigern nichts, denn die Kartätschen erreichten denselben kaum und die Vollkugeln gingen zu hoch und rissen nur Bäume ab. Bald rückten auch die leichten Truppen des Feindes vor, und nun begannen die Schützen das Concert, so daß alle Artilleristen fielen und die Soldaten in der Eile die Kanonen zurückziehen mußten. Da ritt General Deroi daher, um den Paß zu beobachten; der Schütze Empl aus St. Johann erblickte ihn, sein Stutzen krachte aus dem Wald, und jener sank schwer verwundet vom Rosse.

Nun wollten die Baiern nicht mehr vorwärts; da die Schützen bei Tage zu scharf zielten, so beschloß man nach Anbruch der Dämmerung einen Angriff zu versuchen. Die Tyroler merkten das, fällten quer über die Straße Bäume als Verhau, während der Landsturm rechts und links an den Felsenwänden Steinblöcke und Holzprügel in Bereitschaft hielt, um sie auf den Feind zu rollen. Die Baiern stürmten gegen beide Flügel und suchten die Tyroler zu umgehen, denn hoch im Gebirge führt ein Fußsteig in den Rücken des Passes Strub, wo nur ein Mensch nach dem andern fortkommen kann. Hager hatte ihn jedoch vorsichtig durch einen Schwarm Sturmmänner verlegt, so daß die Baiern unvermuthet über die Felsen geschleudert wurden. Aus dem Thale donnerten indeß die Kanonen, krachten die Gewehrsalven der Infanterie, von welchen sich die Stutzenschüsse scharf unterschieden; die Berge entlang rollte der Wiederhall, doch plötzlich schien es, als sollten auch sie mit kämpfen, die Felsentrümmer stürzten nieder und das Geheul aus der Tiefe bewies, daß sie getroffen hatten.

Der Feind floh, ermannte sich jedoch noch einmal zu einem Hauptsturm. Da wendeten Tyrolerschützen und österreichische Soldaten, weil sie keine Steinbatterien mehr hatten, eine List an; sie ließen in verstellter Flucht die Straße bis zum Thurme frei, wo die zwei Kanonen standen, und vertheilten sich auf den Abhängen. Der Feind ging wirklich in die Falle und rückte im Sturmschritt vor. [333] Als er vor der Mündung der Kanonen stand, wetterten diese mit Kartätschen in die dicht gedrängte Masse, das Militär und die Schützen entluden ihre Gewehre. Als der Feind sich zur Flucht wendete, hieben die Dragoner ein, so daß die Bedrängten in größter Verwirrung dem Bache zusprangen, um durch sein steiniges Bett, welches einige Deckung vor den Reitern gewährte, zu entrinnen. Dieses war der letzte ernstliche Angriff; denn schon während des Gefechtes fing es stark zu regnen und zu schneien an, daß die Gewehre nicht mehr losgehen konnten, und vor Finsterniß vermochte man auch nicht mehr zu sehen, man schoß daher nur dorthin, wo man Feuer aufblitzen sah und den Feind vermuthete. Die Nacht verging ruhig, denn der Feind, welcher über 2000 Mann todt und verwundet auf dem Platze gelassen hatte, begann sich über Lofer zurückzuziehen.

Zu Mittag kam der Feldmarschall-Lieutenant Chasteler, welcher unthätig mit 5000 Mann, während eine kleine Heldenschaar den Paß vertheidigte, zu St. Johann, nur drei Stunden rückwärts, sich aufgehalten hatte, und belobte – die Schützen, die ihm jedoch über sein spätes Eintreffen nicht viel Schmeichelhaftes sagten. Wir haben hier eine geschichtliche Unwahrheit, welche wohl nicht ohne Absicht verbreitet wurde, berichtiget; Chasteler, der angebliche Held vom Strubpasse, hat bei der Behauptung desselben nicht mehr Verdienst, als die Bauernweiber, welche gleichzeitig die Kühe molken; der Ruhm gebührt Julien, Hager und den Schützenhauptleuten, welche, obwohl sie großen Verlust erlitten, standhaft ausharrten.

Tyrol wurde vom Kaiser Franz an die Krone Baiern abgetreten. Dem hohen Herrn ging die Trennung von den braven Tyrolern gewiß nicht so zu Herzen als diesen von ihm; so mancher verließ, um nicht unter dem verhaßten Feinde zu leben, die Heimath und wanderte nach Oesterreich aus. Hager empfand den Schmerz so tief, daß man ihn von der Zeit an, als er die Abtretung Tyrols erfuhr, weder lachen noch irgend eine Lustbarkeit mitmachen sah; er versank in Trübsinn und starb den 8. Juni 1808 am gebrochenen Herzen. Hätte er doch noch 1809 erlebt! Sein Name würde unter den berühmtesten glänzen, aber freilich blieb ihm auf diese Weise auch die bittere Enttäuschung erspart, welche das treue Tyrol erfahren mußte.

Es war damals eine[WS 1] böse erbärmliche Zeit. Deutsche kämpften gegen Deutsche, Brüder eines Landes mordeten sich unter einander. Das Volk trug nicht die Schuld dieser Nichtswürdigkeiten.

Der Bergpaß Strub bei Waidring

Im Jahre 1809 widerhallten auch diese Berge von Krieg und Kampfgetöse, und es gelang Oppacher, dem Wirth von Jochberg, seinen Namen für immer zu verherrlichen. Er hatte bereits 1805 am Passe Strub gefochten und war hier von einer Musketenkugel verwundet worden; jetzt wählten ihn die Schützen zu ihrem Hauptmann. In den ersten Tagen des Mai verbreitete sich die Nachricht, daß die Franzosen unter Marschall Lefèbvre mit den Baiern, welche Wrede befehligte, die Ostgrenze Tyrols angreifen würden.

Da sie bereits einmal am Passe Strub Schläge geholt hatten, so erwartete man, sie würden die leichter zu überwindenden Stellungen bei Kössen zu erobern trachten, und sandte die meisten Schützen unter dem trefflichen Rupert Wintersteller dahin. Chasteler zog es vor, diesesmal mit seinen 8 Bataillonen Soldaten noch weiter zurückzubleiben als 1805, und stellte sich zu Wörgl am Inn auf. So bestand die ganze Besatzung des wichtigen Passes Strub aus 275 Schützen unter Oppacher, 90 Soldaten, welche ein Lieutenant commandirte, und zwei sechspfündigen Kanonen.

Kaum hatte dieses Häuflein die von den Baiern schon früher zerstörten Befestigungswerke des Passes besetzt und etwa hundert Schritte davon einen Verhau über die Straße gelegt, als auch schon die Nachricht anlangte, daß der Feind in einer Stärke von 15,000 Mann anrücke. Oppacher traf eiligst alle Anstalten zur Vertheidigung und schickte die schnellsten Läufer nach Kössen um Hülfe; Wintersteller beharrte jedoch auf seinem Irrthum, daß die Hauptmacht nicht gegen Strub vordringe. So brach der verhängnißvolle 12. Mai an. Schon um 6 Uhr Morgens rückte Wrede zum Sturm vor und ließ die Stellung der Tyroler mit 12 Kanonen beschießen. Kein Schuß antwortete, denn Oppacher hatte befohlen, daß jeder Schütz nur dann losbrennen dürfe, wenn er völlig sicher sei, seinen Mann zu treffen. Um 8 Uhr waren die baierischen Colonnen formirt und drangen vor. Jetzt krachte es von allen Seiten. „Eine Freud’ ist’s g’wesen“, erzählte mir ein alter Schütz. „Hat man eine Minute auf einen Baiern zielt, so ist es schon zu spät g’wesen, ein Anderer hat ihn derweil schon wegg’schossen. Ganze Reihen sind g’fallen und nachher die andern davon g’loffen.“ So waren bereits zwei Stürme abgeschlagen, aber auch die österreichischen Kanonen verstummten. Der tapfere baierische Artillerielieutenant Gouthy fuhr nämlich so schnell als möglich mit einer Kanone in den Paß, protzte ab und richtete sie selbst so geschickt, daß sogleich eine Haubitze die kaiserlichen Kanoniere tödtete. Deßungeachtet hielten die Schützen aus. Wohl schauten sie sich oft um, ob keine Hülfe komme, da klang helles Jauchzen durch das Thal, und auf einem Wagen stürmte der verwegene Empl mit 20 auserlesenen Schützen daher, jeder so viel werth als 20 Franzosen.

Sie nahmen sogleich am Kampf Theil. Ein Schütz hatte den Einschlag vergessen. Soll nämlich das Blei sicher treffen, so muß es fest im Laufe des Stutzen liegen; es wird daher zu diesem Zwecke in ein Stück Leinwand gewickelt, das man Einschlag nennt, und mit einem hölzernen Schlegel in die Mündung getrieben. Der Schütz zog ohne [334] Weiteres das Hemd aus, riß es in Fetzen und pflasterte damit seine Kugeln. Als er es aufgebraucht, zog er dem neben ihm stehenden kaiserlichen Officier das Hemd aus der Hose und schnitt ohne Umstände ein Stück herab. Die Baiern stürmten noch zweimal, wurden jedoch wieder mit großem Verluste zurückgeworfen. Da machte sich der Jäger Stefl von Reichenhall anheischig, dem General Wrede einen Weg, welcher über die Loferer Alm in den Rücken der Tyroler führte, zu zeigen. Der General brach mit Militär auf, überzeugte sich jedoch bald, daß für Truppen aus dem Flachlande im tiefen Schnee des Hochgebirges nicht fortzukommen sei, und befahl umzukehren. Er zog von der erklommenen Höhe den Vortheil, daß er die Gegend ganz überblicken konnte, wobei er bemerkte, wie schwach der Paß besetzt sei. Auf dem Wege von Waidring nahte nirgends Unterstützung. Da faßte er den Plan, rasch Colonne auf Colonne in den Paß zu werfen und die Tyroler, welche die Seiten nur schwach decken konnten, durch den Stoß der Uebermacht zurückzudrängen. Der Oberst Graf Berchen trat an die Spitze der stürmenden Infanterie, Lieutenant Weigard erstieg mit einigen Soldaten eine Anhöhe rechts vom Thurm, sie beobachteten hier ein unbesetztes Fenster, kletterten hinauf und öffneten von innen das Thor. Die schnellen Schützen schlugen sich im wüthenden Handgemenge durch, erreichten die Berge und entrannen; die österreichischen Soldaten, welche ihnen nicht folgen konnten, wurden gefangen. Der Feind hatte den Besitz des Passes mit einem Verlust von nahezu 2000 Mann erkauft.

Nach einer Reihe von Jahren traf Oppacher mit Wrede auf dem Markt zu Mondsee zusammen, und es entspann sich ein Gespräch, welches der alte Held gern erzählte und Peternader aufzeichnete. Es ist so charakteristisch für den Mann und die Verhältnisse, daß wir es hier wiedergeben.

„Woher seid Ihr?“ fragte Wrede Oppacher.

„Von Jochberg,“ antwortete Oppacher.

„Lebt der dortige Wirth noch?“

„Der bin ich selbst.“

„Also wart Ihr es, der mich 1809 am Passe Strub um so viel Leute brachte?“

„Damals waren halt schwere Zeiten; wir thaten, was wir konnten.“

„Hätte ich gewußt, daß der Paß so gering besetzt war, schnell hätte ich ihn forcirt. Wie konntet Ihr es wagen, mit so wenig Mannschaft solchen Widerstand zu leisten?“

„Wir hatten gute Schützen, hofften von Minute zu Minute auf Verstärkung, die aber ausblieb, und so mußten wir den Paß verlassen, weil wir schon Mangel an Munition hatten und durch Ihre Geschicklichkeit in der Art umgangen waren, daß ich mich nur über die höchsten Gebirge retten konnte.“

„Hätte ich Euch und den Hauptmann von Kitzbüchl damals bekommen, ihr wäret des Todes gewesen.“

„Auf den Tod waren wir schon gefaßt, wir vertrauten auf Gott.“

„Ich wollte schon von St. Johann aus eine Abtheilung Cavallerie nach Kitzbüchl und Jochberg schicken, Eure Auslieferung verlangen und, wenn sie nicht erfolgen sollte, beide Orte plündern und vernichten lassen. Allein der Dechant von St. Johann schilderte Euch so vortheilhaft und bat so rührend um Gnade, daß ich meine Rache aufgab. Später erfuhr ich, daß der Dechant von Euch die Wahrheit gesprochen hatte, daß Ihr mit den Gefangenen gut umgegangen seid und die Verwundeten wie Freunde verpflegt habt. Darum ließ ich meine Rache ganz fahren, sonst wäre es Euch nicht besser gegangen als den Kirchdörfern, wo der tollkühne Wintersteller durch seinen Widerstand das Unglück des Ortes herbeiführte. Jetzt ist Alles vorbei und vergessen, jetzt sehe ich auch ganz anders, als ich 1809 gesehen habe. Ueberhaupt hatte ich die Tyroler immer lieb und sah sie beim baierischen Militär gerne, denn es waren immer so muthvolle und brave Leute.“

Schließlich lud Wrede den Oppacher ein, wenn er wieder nach Mondsee komme, ihn zu besuchen und bei ihm zu essen.

(Schluß folgt.)




Der Zwölfte.

Kleine Bilder aus großer Zeit.
Von Georg Hesekiel.
(Fortsetzung.)

„Doch reden wir von dem Bilde der hübschen Frau, mein Herr,“ fuhr Wedell voll männlicher Fassung fort. „Das Bild erinnerte mich an meine Heimath, mein Vaterland, an schöne Tage, welche ich in Berlin verlebt habe. Dort wohnte ich bei der Großtante eines meiner lieben Cameraden, die Ihr Kaiser jüngst zu Wesel füsiliren ließ; die alte Dame war die Wittwe eines reichen Seidenhändlers, bewohnte ein schönes Haus in der Friedrichsstraße, und in ihrem Wohnzimmer hing ein Bild in ovalem Goldrahmen, welches entweder das Original Ihres Bildes ist, mein Herr, oder eine Copie desselben, jedenfalls stellt es ganz dieselbe Dame dar, ich kann mich darüber nicht täuschen! Jetzt werden Sie begreifen, warum der Galeerensträfling auf das offene Fenster Ihres Hauses schaute und sehnsüchtig nach dem Bilde blickte, das ihn an vergangene schöne Tage erinnerte!“

„Dürfen Sie mir den Namen der Wittwe in Berlin sagen, welcher jenes Bild gehörte, mein Herr?“ fragte der alte Employé, der mit jedem Wort, welches er aus Wedell’s Munde vernahm, artiger und höflicher wurde.

„Ich habe keinen Grund, ein Geheimniß aus dem Namen der guten Madame Gabain zu machen!“ erwiderte Wedell.

„Gabain?“ rief de Lachétardie sichtlich auf’s Höchste überrascht, „Gabain, höre ich recht, Gabain? Wissen Sie, mein Herr, daß meine Urgroßmutter eine Gabain war, die ganz allein von ihrer ganzen Familie im Lande geblieben, während alle übrigen Glieder derselben nach Holland und Brandenburg auswanderten einige Jahre nach der Revocation des Nanteser Edictes. Die Gabain waren Hugenotten, mein Herr; wir de Lachétardie sind auch von der Religion; sehen Sie, mein Herr, Sie haben in Berlin weder die Copie noch das Original meines Bildes gesehen; das, was Sie zu Berlin sahen, ist sicherlich das Portrait meiner eigenen Urgroßmutter. Das Bild aber, das in meinem Hause hängt, ist das Portrait meiner Urgroßtante, der Mademoiselle Esther Marie Gabain, welche sich mit ihren Eltern und Verwandten nach Brandenburg flüchtete, aber ihrer an meinen Urgroßvater, den Commandeur Franz Anton Nogaret de Lachétardie, verheiratheten Schwester ihr Bild hier ließ, während sie das Bild meiner Großmutter mit in die Verbannung nahm. Also giebt es noch Gabain’s in Preußen? hier habe ich lange den Namen nicht mehr vernommen – wissen Sie nichts weiter von der Familie, mein Herr?“

„Wenig, mein Herr,“ erwiderte Wedell, „außer der alten trefflichen Dame, die, wie ich wohl weiß, zu der sogenannten französischen Colonie gehört, kannte ich nur meinen theuern Waffenbruder, den Lieutenant von Gabain, der unter den Elfen zu Wesel war, doch erinnere ich mich, daß in Berlin noch eine berühmte Seidenhandlung unter dem Namen Gabain besteht!“

Nur wenige Worte wechselte der Employé noch mit den Preußen, oder vielmehr mit Wedell, denn der tapfere Unterofficier Friedrich Kühns, ehemals beim leichten Bataillon von Schill, bediente sich in allen Fällen des preußischen Säbels besser, als der französischen Sprache. Die beiden Schillianer wurden zurückgeführt, und de Lachétardie blieb allein mit dem Arsenalofficier.

Von diesem Tage an wurden Wedell und sein Gefährte von allen Aufsehern mit auffallender Nachsicht behandelt, sie erhielten von unbekannter Hand bessere und reichlichere Nahrung, auch für ihre Bekleidung wurde gesorgt. Jetzt waren sie stets das letzte Paar bei der Rückkehr vom Bassin, und niemals verfehlten sie von nun ab, an dem alterthümlichen Eckhause stehen zu bleiben. Wedell wechselte freundliche Worte mit Herrn de Lachétardie und Madame Noirot; der Unterofficier Kühns plauderte mit den kleinen Damen Florine und Dorine, genoß Butterbrödchen und Bonbons in fabelhafter Anzahl und vervollkommnete sich, wie er selbstgefällig bemerkte, täglich mehr in der französischen Sprache.

Der alte Employé aber that mehr für den hartgeprüften, jungen Mann, er hatte sich mit den Gabain’s zu Berlin in Verbindung gesetzt, durch sie hatte er der Familie von Wedell Nachricht über Heinrich Leopold gegeben, und von da ab fehlte es nicht [335] an gewichtigen Verwendungen für ihn, Napoleon aber hielt den Zwölften fest und gab ihn nicht frei. Unter der Hand erlangte de Lachétardie aber doch, daß der unglückliche Officier, nachdem er etwa acht Monate an die Kette geschmiedet gewesen und Steine gekarrt hatte, von der Kette und der Karre befreit und mit Schreiberei im Bureau des Bagno beschäftigt, auch als Dolmetscher zwischen den französischen Officieren und den zahlreichen deutschen Kriegsgefangenen gebraucht wurde. Aehnliche Vergünstigungen wurden auch seinem Gefährten, dem Unterofficier Kühns, zu Theil. Von dieser Zeit an durften die beiden Preußen auch von Zeit zu Zeit das Haus des Herrn de Lachétardie besuchen und dort einige Stunden verweilen. Es versteht sich von selbst, daß sie dort nicht wie Sträflinge behandelt wurden.


4.

Gewiß erkannte Wedell mit dankbarer Rührung die Mühe an, die sich der ehrliche Lachétardie gab, um ihm sein schweres Loos zu erleichtern, und gewiß würden Viele, die an der Stelle Wedell’s solche Theilnahme gefunden, wenn auch nicht befriedigt, sich doch dadurch getröstet gefühlt haben; die Meisten würden auch den süßern Trost nicht verschmäht haben, den die Augen der schmucken Madame Noirot oft recht ausdrucksvoll verhießen, mit dem Wedell aber wollte es nicht also ausgehen! Er wurde von Tage zu Tage trüber und zorniger in seiner Seele, ja, es kamen Stunden, in denen er sich der Schwäche anklagte, daß er die Erleichterungen seiner Lage angenommen; er verurtheilte sich hart darum, und wirklich, dem Galeerensträfling, der im zerrissenen Linnen an die Kette geschmiedet Steine karrte und hungerte, dem war leichter im Gemüth gewesen, als dem, der warm gekleidet und genährt am Schreibtisch des Gefängnißwärters Dienste thun und so gewissermaßen doch den Helfer der bonapartischen Schergen gegen seine preußischen und deutschen Landsleute machen mußte. Die geistigen Leiden des jungen Officiers waren jetzt größer, als ehedem die leiblichen!

Im Jahre 1810 erfuhr Wedell, daß sein älterer Bruder Carl, sein Spielkamerad von Halle, sein Schulgenosse von Kloster-Bergen bei Magdeburg, der mit ihm gewesen auf Reisen und im Schlachtgetümmel, der ihn treu begleitet von Magdeburg nach Kopenhagen und von dort zur See nach Memel; kurz, daß sein Bruder Carl, der Hauptmann im Leib-Grenadier-Bataillon war, der preußischen Gesandtschaft in Paris attachirt worden sei. Der unglückliche Galeerensträfling wußte, daß jetzt das Aeußerste geschehen werde, um seine Befreiung zu erwirken.

Er kannte die gewaltige Energie und Geschicklichkeit seines Bruders, er durfte hoffen und er hoffte in peinlichster Spannung!

Carl von Wedell war 1806 Adjutant seines Vaters, des Generals von Wedell, der früher in Halle an der Saale, wo seine Söhne geboren wurden, bei dem berühmten Regimente des alten Dessauers (Anhalt-Dessau, später von Thadden, 1806 von Renouard) stand. General von Wedell setzte sich bei Auerstädt an die Spitze dieses alten berühmten Regiments; zum letzten Male als Marsch schmetterten die schrillen Töne des Marsches von Cassano, den der alte Schnurrbart von Dessau „unseres lieben Herrgotts Dragonermarsch“ nannte, den aber die Welt als den „Dessauer Marsch“ kennt, zur Attaque, siegreich drang das Regiment vor, der General von Wedell wurde erschossen, sein Sohn und Adjutant blessirt, aber das glorreiche Regiment des alten Dessauers zog auch vom Auerstädter Schlachtfelde mit Ehren ab; es marschirte in guter Ordnung nach Magdeburg und brachte auch dahin die von ihm gemachten französischen Gefangenen, unter denen sich 18 Officiere befanden. Ein solcher Zug thut wohl neben dem ekeln Wust von Schwäche, Feigheit, Verrath und Erbärmlichkeit in jenen Tagen. Wie Carl von Wedell mit seinem schwerverwundeten Bruder von Magdeburg über Kopenhagen nach Preußen kam, ist bereits erwähnt. Er wurde dem General von Benningsen beigegeben, zeichnete sich sehr aus, erhielt neben preußischen und russischen Orden die Erlaubniß, einer Campagne gegen die Türken beiwohnen zu dürfen.[4]

Dieser Wedell war jetzt in Paris, in einflußreicher Stellung, und sein Bruder auf der Galeere hoffte von Tag zu Tag mit größter Spannung, aber er hoffte vergebens. Carl von Wedell verließ Paris im Jahre 1811, ohne seines Bruders Freilassung erwirkt zu haben. Er hatte es nicht an Bemühungen fehlen lassen, er hatte alle Mittel erschöpft, die sich mit der Ehre vertrugen; zuletzt hatte der Unglückliche aus dem Bagno selbst noch eine Bittschrift eingesendet, in welcher er den französischen Gewalthaber geradezu bat, ihn doch, wie seine Cameraden, wie die andern Elf, erschießen zu lassen. Es war Alles umsonst gewesen.

Napoleon hielt den Zwölften fest.

Als Carl von Wedell Paris verlassen hatte, fiel sein Bruder Heinrich Leopold in eine tiefe Schwermuth, jedoch nur für kurze Zeit, dann raffte er sich auf und trug sein schweres Schicksal mit Ernst, ja, mit einer Würde, die ihn zu einer geachteten Person im Bagno machte. Er hatte die Sträflingsjacke geadelt!

Uebrigens hatte der Bruder seiner nicht vergessen in der Heimath, er setzte dort Alles in Bewegung für den Gefangenen, und Napoleon staunte nicht wenig, als plötzlich sogar vom kaiserlich russischen Hofe Verwendungen für den „Zwölften“ eingingen; doch beharrte er mit dem rücksichtslosen Eigensinn seines Wesens darauf, jede Bitte abzuschlagen, bis er endlich im Jahre 1812, als König Friedrich Wilhelm III. abermals eine neue Verwendung für den unglücklichen Officier eintreten ließ, in dessen Entlassung willigte, weil er damals sich dem Könige gefällig erzeigen wollte, welchen er zum Bundesgenossen gegen Rußland wünschte.

So wurde der „Zwölfte“ frei und er kehrte heim in sein Vaterland, krank und arm, denn sein Vermögen war völlig geopfert und er selbst fast ein Fremdling geworden in der Heimath. Aber er war frei und kehrte heim! das war genug für ihn, sein Auge leuchtete und fest drückte er die Hand auf das pochende Herz. Einen herzlichen Abschied nahm er von dem alten Herrn de Lachétardie und dessen Familie, Madame Noirot selbst war in sehr weicher Stimmung, und ihre Töchter Florine und Dorine schluchzten laut, denn auch ihr Freund, der bärtige Unterofficier Friedrich Kühns, war in gleicher Weise frei geworden und hatte Erlaubniß erhalten, seinen Offizier zu geleiten.

So kamen diese beiden Schill’schen heim; sie zogen durch Frankreich und hörten, wie die Mütter jammerten und die Väter fluchten in den Hütten über den Welteroberer, der ihnen einen Sohn nach dem andern vom Herzen riß und ihre lieben Kinder achtlos in den Tod jagte, um sich einen hohen Kriegsruhm, seinen Brüdern, Vettern und Genossen aber Königskronen, Fürstenthümer und Herrschaften zu gewinnen; sie zogen über den Rhein, die beiden Schill’schen, sie hörten die liebe deutsche Muttersprache wieder klingen und sie sahen von ferne die Wälle von Wesel, wo die Elf verscharrt wurden, das französische Blei im Leibe; da preßte der Zwölfte die Hand auf’s Herz, und seine Augen sprüheten Feuer. Und da sie nun weiter in’s deutsche Land hineinkamen, die zwei alten Schillianer, da wollte ihnen ganz seltsam zu Muth werden, denn sie erkannten bald, daß ein heimlich Rüsten ging von Haus zu Haus, von Hof zu Hof, ein fein geistig und leiblich Bereiten zum großen Kampfe! Da wurden denen, so von der Karre und aus dem Bagno kamen, die Herzen weit, und sie mußten lächeln über die Blindheit des armen Spottkönigs von Westphalen und seiner Janitscharen, daß die so gar nichts sahen von alledem, was sich um sie gestaltete, obwohl ihr böses Gewissen sie fort und fort mit schlimmen Ahnungen erfüllte und sie wohl das Gefühl eines herannahenden Sturmes hatten.

Endlich erreichte Leopold Heinrich von Wedell die preußische Grenze; an seiner Vaterstadt zog er vorüber, denn das alte Halle hatte westphälisch werden müssen, und die fünf spitzen blauen Thürme mußten an officiellen Feiertagen des Spottkönigs Hieronymi Banner tragen.

So sah Wedell seine Heimath wieder, sein König aber ernannte ihn zum Premier-Lieutenant bei der Garde-Normal-Uhlanen-Escadron!

Es versteht sich wohl von selbst, daß der Premier-Lieutenant von Wedell zunächst das Gabain’sche Haus in Berlin aufsuchte, durch dessen französische Verwandte in Cherbourg ihm so viel Liebes zu Theil geworden, denen er endlich auch eigentlich seine Freiheit verdankte, denn ohne den wackern Herrn de Lachétardie würde es ihm kaum möglich geworden sein, die Nachricht von seinem Aufenthalte in Cherbourg nach Deutschland kommen zu lassen und seinen Bruder zu benachrichtigen, denn seine Familie hatte ihn [336] bereits für todt gehalten. Mit tiefer Rührung sah man Wedell zu Berlin oft das Bild betrachten, welches durch die Aehnlichkeit mit dem in Cherbourg so bedeutungsvoll für ihn geworden war.


5.

Die Stunde hatte geschlagen, der Tag des Zorns und der Vergeltung war da, auf den eisigen Feldern Rußlands lag das ungeheure Heer des Welteroberers. Er flog voraus, der Gewaltige, der Fürsten und Völker niedertrat. Er flog voraus, auf flüchtigem Schlitten das nackte Leben rettend. Als er aber nach Paris glücklich entkommen war, da ließ er wie zum Hohn für die Mütter und Vater der Tausende, die in Rußlands Schnee begraben lagen, der empörten Welt verkünden, daß „Seine Majestät der Kaiser sich niemals wohler befunden hätten!“ Ein dumpfer Schrei der Entrüstung erklang selbst in Frankreich bei diesem giftigen Hohn, und aus Deutschland antwortete gellend der Kampfruf. Hinter dem flüchtigen Kaiserschlitten her aber stob und schnob, hastete sich und keuchte angstvoll allerlei gespenstisch Zeug, schauderhaft und abenteuerlich anzuschauen, mit mangelnden Gliedmaßen, kaum noch Menschen ähnlich – das waren die Trümmer der großen Armee!

Wie der Donnerruf der Posaunen zum Weltgericht schmetterte nun der preußische Kriegsruf über die Lande zwischen Weichsel, Oder und Elbe; fluchend oder betend, je nachdem, riß der Bauer wie der Edelmann, der Bürger wie der Gelehrte, das Schwert des Vaters oder die Büchse von der Wand; zur Fahne! zur Fahne! wie rief die Trommel so laut!

Es braucht wohl kaum der Versicherung, daß der „Zwölfte“ nicht fehlte, wo so viel Tausende kamen auf des Königs Ruf. Mit erhobenem Haupte und leuchtendem Antlitz schritt Leopold Heinrich von Wedell daher in jenen Tagen, die Hand lag ihm wie fest geschmiedet am Säbelgriff, und wenn er die Gedanken abwendete von König und Vaterland in jenen Stunden hoher und heiliger Begeisterung, dann flüsterte seine Lippe leise: „revanche pour Cherbourg

In den ersten Märztagen schon meldete sich der Lieutenant von Wedell und bat um Erlaubniß, ein Freicorps anwerben zu dürfen; er machte sich anheischig, die Marschälle und Generale des fremden Tyrannen auf ihrer Flucht nach Frankreich aufzuheben. Warum ließ man dem alten Schillianer nicht die Zügel schießen damals? Mancher Marschall hätte dann als Geisel dienen mögen für bessere Männer.

Als Rittmeister und Chef der neuerrichteten Garde-Kosaken-Escadron focht Wedell bei Lützen und Bautzen, oder vielmehr bei Groß-Görschen und Wurschen, wie diese beiden Schlachten eigentlich heißen; er that seine Pflicht als guter Officier, aber sein Ehrentag, der große Ehrentag seines Lebens, kam noch. Das war der 26. Mai 1813, Wedell’s neunundzwanzigster Geburtstag – der herrliche Sieges- und Ehrentag der preußischen Cavallerie, der Tag von Haynau, wo Obrist Dolffs, der kühne Reiter, wie das Soldatenlied von ihm klingt, in den Tod ging für seinen König und das liebe Vaterland, aber zweitausend Franzosen vorausschickte, um ihm Quartier zu machen. An diesem Tage fuhr Heinrich von Wedell wie der Blitz in die Feinde, und die preußische Garde-Kosaken-Escadron wie der Donner hinter ihm her; da war kein französisches Viereck, welches dem „Zwölften“ und seinen Reitern vermocht hätte Widerstand zu leisten. Für den Tag von Haynau erhielt Wedell das eiserne Kreuz. Das war der Anfang. Von Haynau ging’s nach Leipzig, und auch nach der dreitägigen Riesenschlacht, da kannte er keine Ruhe, da schmetterte hell seine Trompete hinter dem flüchtigen Imperator her, er folgte seiner blutigen Fährte und hetzte ihn bis zum Rheine, der Wedell und seine Reiter in rastloser Verfolgung.

Das war das Ende vom Anfang.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüthen.

* Deutsches Schützenfest. In den Tagen vom 7. bis zum 11. Juli d. J. (am 7. Empfang der Gäste) soll in Gotha ein „deutsches Schützenfest“ stattfinden, bestehend in geselligem Verkehr, im Schießen nach Scheiben aus 250 und 400 Fuß rhein. Entfernung, und zwar sowohl aus freier Hand als mit Auflegen, und in Berathungen über Gegenstände des Schützenwesens; damit in Verbindung wird am 8. und 9. Juli ein „Thüringer Turnertag“ gefeiert. Alle deutschen Schützen und Schützenfreunde sind dazu eingeladen und deutsche Genossenschaften, deutsche Männer und Frauen sind aufgefordert, Festgaben darzubringen.

Also ein national-deutsches Schützenfest! Nach Jahrhunderten wieder das erste; denn das Schützenfest in Bremen im vorigen Jahre hatte sich nicht gerade das Ziel eines nationalen vorgesetzt, obwohl die Einladungen dazu weithin ergingen, und das in Köln war ein „germanisches“ und mehr ein bloßes Gewinnschießen als ein Lustschießen Es ist eine großartige Idee, die deutsche Nation zu einem solchen Feste zusammenzurufen. Die Schützenfeste des Mittelalters vereinigten oft Tausende von Männern aus weiten Entfernungen; wie viel größere Dimensionen müßte jetzt, bei den gänzlich veränderten, tausendfach erleichterten Verkehrswegen, jetzt, wo das Bedürfniß nationaler Einigung von uns Allen lebhafter als je empfunden wird, eine solche Feier annehmen, wenn der „Schütze“ noch wäre, was er damals war, zugleich Bürger und Soldat! Das freilich ist er nicht mehr, aber wohl drängt die Zeit dahin, daß es wieder ähnlich werde, daß die Büchse des freiwilligen Schützen nicht bloß dem Vergnügen des Einzelnen, sondern auch den gemeinsamen Interessen, der gemeinsamen Vertheidigung diene, und auch nach dieser Seite hin soll das Fest in Gotha wirken; wird ihm nicht daraus eine Bedeutung erwachsen, die es jenen alten Lustschießen gleichstellt? Die Idee ist großartig, die Aufgabe, sie zu realisiren, eine gewaltige. Aber die Zeit rechtfertigt ein solches Unternehmen. Je mehr wir uns als Nation fühlen und nach nationaler Einigung drängen, um so mehr bedürfen wir nationaler Mittelpunkte und nationaler Feste; die örtlichen und provinziellen Feierlichkeiten genügen nicht mehr unseren Bedürfnissen, mit diesen müssen sich unsere Feste erweitern.

Das Fest in Gotha soll vor Allem Fest sein, es ist ein erster Versuch. Deshalb kann man es nur billigen, daß für diesmal, um eine allgemeine Betheiligung zu gewinnen und Viele zur Freude zu versammeln, im Ganzen weder in der Beschaffenheit der Büchsen noch der Art des Schießens eine Beschränkung festgesetzt worden ist; es versteht sich von selbst, daß für die verschiedenen Arten zu schießen (aus freier Hand und mit Auflegen) verschiedene Stände hergestellt werden. – Das Fest soll aber auch ein nationales sein, und dazu kann es nur werden durch die Mitwirkung der Nation. Man ist, wie wir hören, in Gotha ganz dem Grundsatze gefolgt: „Durch das Volk für das Volk!“ Möge alles Volk in Deutschland darauf antworten! Mögen Festtheilnehmer aus allen Gauen, von allen Grenzen des Vaterlandes und aus der Fremde sich einfinden! Mögen Festgaben von allen Seiten Kunde davon geben, daß das deutsche Volk gern Opfer bringt für nationale Zwecke und bei gemeinsamer Noth nach gemeinsamer Freude sucht! In Gotha sind, wie wir hören, schon viele Köpfe und Hände, wie für das Fest selbst, so auch für Festgeschenke thätig; man lasse die kleine Stadt nicht allein stehen in ihrem frohen und dankenswerthen Eifer!

Wir machen zum Schluß darauf aufmerksam, daß der Ausschuß bittet, Festgaben spätestens bis zum 15. Juni anzukündigen und bis zum 30. Juni zu übersenden, und daß diejenigen, welche selbst am Feste Theil nehmen wollen, ersucht werden, sich darüber beim nächsten Schützenvereine oder beim Festausschusse zeitig zu erklären und den planmäßigen Beitrag von 1 Thlr. zur Verfügung zu stellen, auch sich spätestens bis zum 15. Juni anzumelden. Letzteres wird sehr im Interesse aller Besucher sein, da in einer Stadt wie Gotha bei einigermaßen starkem Andrange zur Aufnahme Fremder besondere Vorkehrungen getroffen werden müßten.


Ein englischer Gentleman. Als Beweis, welcher abscheulichen Grausamkeiten gegen Thiere der Mensch fähig ist, theilen wir nachstehende Erzählung eines englischen Gentleman mit, welcher sich dem in den Colonien fashionablen Sport der Elephantenjagd eifrig widmete.

Mr. Gordon Cumming, das ist der Name des Ehrenmannes, verfolgte einen durch seine Kugel im Schulterblatt verwundeten Elephanten. Das Thier hinkte langsam bis zu einem Baume, an den es sich hülflos anlehnte, während sein Verfolger in geringer Entfernung ein Feuer anzündete, um sich Kaffee zu kochen und die Leiden des verwundeten Elephanten mit Muße zu beobachten. „Nachdem ich das Thier so längere Zeit betrachtet und mich von seiner Hülflosigkeit überzeugt hatte,“ fährt Mr. Cumming fort, „beschloß ich Versuche über die Verwundbarkeit verschiedener Theile seines ungeheuern Körpers vorzunehmen und feuerte zu diesem Zwecke aus geringer Entfernung eine Anzahl Kugeln auf ihn ab. Der Elephant empfing meine Schüsse, ohne einen Laut von sich zu geben. Nur eine krampfhafte Bewegung des Rüssels, mit dem er jede neue Wunde berührte, zeigte mir, daß ich getroffen hatte. Da ich endlich fand, daß ich auf viele Weise zu keinem bemerkenswerten Resultat gelangte, so beschloß ich den Tod des Thieres so viel als möglich zu beschleunigen. Ich begab mich also nach der linken Seite und nahm sein Schulterblatt zum Zielpunkte. Nach und nach feuerte ich nun sechs Schüsse mit meiner englischen Doppelflinte auf das Thier ab und nahm dann meine deutsche Büchse zur Hand. Nachdem ich auch dies Gewehr sechs Mal auf den Elephanten abgedrückt hatte, sah ich, wie aus seinen Augen, die er langsam schloß und öffnete, große Thränen hervorquollen. Dann fing der kolossale Körper an zu zittern und endlich fiel er auf die Seite. Eine Minute später war das Thier todt.“ Bedenkt man, daß Mr. Cumming den Leiden des Elephanten mit einer einzigen Kugel in den Kopf augenblicklich ein Ende hätte machen können, so weiß man nicht recht, was man empörender finden soll, die That selbst, oder die Selbstgefälligkeit, mit der sie erzählt wird.


  1. Der Verfasser, allen unsern Lesern als einer der treuesten Mitarbeiter der Gartenlaube seit ihrem Bestehen bekannt, ist in Folge der preußischen Amnestie nach langen Jahren Verbannung nach Deutschland zurückgekehrt. Eilf Jahre lang lag das karge Brod des Flüchtlings auf seinem Tische. Wie er trotz alledem sein Vaterland den englischen Anmaßungen gegenüber in der kräftigsten Weise vertreten, wie er oft den herrschenden Ansichten entgegen deutsches Wesen und deutsche Cultur der englischen Ruhmrederei vis-à-vis in der glänzendsten Weise gerechtfertigt – das wird man erst später recht zu würdigen verstehen, wenn Deutschland selbstständig geworden und sich nicht mehr zum Affen des Auslandes erniedrigt! Ich danke es ihm nachträglich noch herzlich. England ist in der deutschen Presse, namentlich von der Gothaner lange genug geschmeichelt worden, ohne daß damit etwas Anderes als ein erhöhter Uebermuth da drüben über dem Canal erreicht worden wäre. Nur einige wenige Stimmen, darunter die Beta’sche als eine der kräftigsten, riefen den Deutschen stets ihre vielen Vorzüge ins Gedächtniß und mahnten daran auf eigenen Füßen zu stehen, die der Unterstützung nicht bedürfen. Jetzt, wo sich das deutsche Nationalgefühl anfängt etwas zu heben, sehen Viele die Wahrheit dieser Mahnung ein und treten mit Energie und Selbstbewußtsein gegen die höhnischen Auslassungen der englischen Presse auf. Den heimgekehrten Flüchtling aber heiße ich und mit mir Viele im schönen Vaterlande, das er trotz alledem und alledem so sehr geliebt, mit ganzem Herzen willkommen!
  2. So viele Gesetze, wie der Kaiser Nikolaus, hat noch kein russischer Herrscher erlassen, wie aus folgender Tabelle ersichtlich ist, die in Rußland selbst angefertigt wurde und dem „Swod Sakannow“ (Gesetz-Codex) entnommen ist.
    Der Czar Alexei gab während einer Regierung
    von 27 Jahren 648 Ukase, jedes Jahr circa 24.
    Der Czar Feodor
    295      46.
    Die Czaren Iwan und Peter gemeinschaftlich 13¾
    623      39.
    Der Czar Peter I. 29
    3110      100.
    Die Czarin Katharina I. 22/3
    428      160.
    Der Czar Peter II. 21/3
    428      180.
    Die Czarin Anna 10¾
    2767      260.
    Die Czarin Elisabeth 20
    3110      125.
    Der Czar Peter III. ½
    192      384.
    Die Czarin Katharina II. 33½
    5957      180.
    Der Czar Alexander I. 242/3
    11,119      450.
    Der Czar Nikolaus während der ersten 61/2
    5073      850.

    Die Ukasenfluth ist also in einer viel größeren Proportion angeschwollen als die Größe des Reichs und die Zahl seiner Einwohner. Die Zahl der Einwohner wuchs von Alexei’s Zeiten her von 5 auf 60 Millionen oder auf das Zwölffache, die Zahl der jährlich publicirten Ukase von 24 auf 850, oder auf das Fünfunddreißigfache.

  3. Wie Friedrich der Große das Ideal der preußischen Regenten, so ist Peter der Große das Ideal der russischen Kaiser, und mit ihm verglichen zu werden, haben die meisten seiner Nachfolger ambitionirt. Katharina stellte sich immer Petern zur Seite und betrachtete sich als die Vollenderin dessen, was er angefangen hatte. Auch Nikolaus, glaube ich, hielt sich für eine neue Auflage Peter’s des Großen für das Jahrhundert. Deshalb hörte er auch Peter’s Lob gern, besonders wenn es von Anspielungen und Vergleichen mit ihm selber begleitet war. Ich traf im Innern von Rußland einen russischen Historiographen, der sich mit einer Geschichte Peter’s des Großen beschäftigte. Ich weiß nicht, ob er sie publicirt hat, aber ich glaube, das es dabei mehr auf einen Panegyrikus für den jetzt lebenden, als für den längst verstorbenen Kaiser abgesehen war.
  4. Carl von Wedell war bei der Schlacht an der Katzbach im Generalstabe Blücher’s, später war er preußischer Bevollmächtigter im russischen Hauptquartier, nach dem Kriege Chef des Generalstabs des Garde-Corps und vielfach zu diplomatischen Sendungen gebraucht. Im Jahre 1840 nahm er als Generallieutenant den Abschied, und der in vielfacher Beziehung höchst ausgezeichnete Mann lebte noch fast zwanzig Jahre lang in stiller Zurückgezogenheit auf seinem Rittergut Ludwigsdorf bei Oels in Schlesien; er starb erst am 29. October 1858.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ein