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Die Gartenlaube (1861)/Heft 15

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[225]

Am Scheidewege.

Von Th. Mügge.
(Fortsetzung.)


2.

Frau von Colombier bewohnte ein Landhaus von einem Garten umgeben, in dessen Nähe die Rhone vorüberrauschte und welcher die prächtigsten Blicke auf die Stadt und die Umgegend bot.

Der Garten war mit Blumen reich geschmückt. Fruchtbäume der verschiedensten Art besetzten die Gänge, und Weingehege füllten die Terrassen an dem dahinterliegenden Hügel. Das Landhaus war in dem schwerfälligen Styl gebaut, der im Anfange des Jahrhunderts üblich geworden. Einige Stufen führten zu einer Vorhalle, die von geschnörkelten Säulen getragen wurde, und vor ihr befand sich ein Rasenplatz, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte, von schadhaften Amoretten und Najaden aus Sandstein umgeben und von niedrigen, glattgeschorenen Taxus- und Rosenhecken eingefaßt.

Unter der Halle hatte eine Gesellschaft von Herren und Damen Platz genommen, zu beiden Seiten eines Tisches, auf welchem verschiedene Erfrischungen standen, die ein alter Diener in Livrée mit hochstehendem Kragen, über welchen ein dickgepuderter Zopf fiel, in anstandsvoller Steifheit umherreichte. Frau von Colombier hatte ein feines, vornehmes Gesicht, weiße Hände mit langen Fingern, an denen viele Ringe steckten, scharfblickende Augen und ein angenehmes Lächeln für ihre Gäste. Sie mochte einige vierzig Jahre alt sein, aber sie überwachte ihren Anzug noch immer auf’s Sorgfältigste, wohl darauf bedacht, durch ihre Erscheinung den vortheilhaften Eindruck zu vermehren, den ihre geistige Gewandtheit und ihre feinen Sitten hervorriefen. Die ältere Dame an ihrer Seite war die Frau Vicomtesse von Halincourt, Wittwe des Gouverneurs der Provinz, und der verbindliche Herr mit dem Ludwigskreuz und toupirter Perrücke der Baron Salingré, ein alter Cavalier vom Hofe Ludwigs XV., der die schönsten Tage der Madame Pompadour und ihrer Nachfolgerin, der himmlischen Du Barri, gesehen hatte.

Der Baron unterhielt die beiden Damen mit allerlei geheimen und interessanten Nachrichten, welche er aus Paris erhalten hatte, über die Lage des Königs und der Königin und über die Erwartungen der Hofpartei, daß Se. Majestät nahe daran sei, endlich die Geduld zu verlieren und diese immer frecher werdende Nationalversammlung nächstens in ihr Nichts zurückzuschleudern. Paris war eben damals von mehr als dreißigtausend Soldaten umringt, ihr General, der Herzog von Broglie, zu allem bereit. Der König durfte nur befehlen, seine Unentschlossenheit blieb allein zu beklagen. Aber lange konnte diese nicht mehr dauern, denn die Königin war gewonnen, Necker hatte allen Einfluß verloren, der Schlag konnte jeden Tag erfolgen. Der Baron hatte noch immer einige bedeutende Verbindungen mit dem Herrn von Liancourt und anderen Personen von Ansehen, er wußte somit Manches und theilte es seinen Freundinnen mit zuversichtlichen und spöttischen Mienen, aber mit vertraulich gedämpfter Stimme mit. Weit lauter ging es dagegen an der anderen Seite des Tisches her, denn dort hatte sich der Lieutenant Demarris zwischen einigen jungen Damen und Herren festgesetzt und er unterhielt diese so eben mit den Abenteuern einer Reise, welche er im Frühjahr in Begleitung seines Freundes Bonaparte nach Savoyen gemacht hatte, wobei dieser auf dem Mont-Cenis beinahe um’s Leben gekommen wäre ohne seine Geistesgegenwart.

Er hatte diese Geschichte allerdings schon mehr als einmal erzählt, sie fiel ihm jedoch jetzt wieder ein, als von seinem Freunde die Rede war, der damals eben so wie heute bald nachzukommen versprochen hätte, dennoch aber ausblieb und erst in der Nacht zwischen entsetzlichen Abgründen aufgefunden wurde, als Demarris Leute aufbot, mit denen er ihn aufsuchte und in Sicherheit brachte.

„Wir wollen hoffen, Herr Demarris,“ sagte eine der jungen Damen, indem sie allerliebst lachte und die schönsten Zähne zeigte, „daß der Lieutenant Bonaparte nicht etwa wiederum zwischen Abgründen sich verirrt hat, da Sie nicht bei ihm sind, um ihn zu retten.“

Die Gesellschaft stimmte ihr bei, aber Demarris machte ein bedenkliches Gesicht und erklärte, daß er nicht dafür stehen wolle, ob Bonaparte nicht heute in noch größerer Gefahr schwebe, als damals auf dem Mont-Cenis.

„Wie sollte das möglich sein’?“ fragten Mehrere zugleich.

„Es ist so ein Gedanke, der mich überkommt,“ sagte der junge Officier, „aber – ein Wunder wäre es nicht, wenn meine Ahnung zuträfe.“

„Um des Himmels willen! welcher Gedanke? welche Ahnung? Wo ist der Lieutenant Bonaparte? Ist er krank? Reden Sie doch!“ schrie der ganze Kreis, und Demarris kreuzte seine Arme und lächelte geheimnißvoll. „Bonaparte ist zu Hause,“ sagte er, „wie immer bei seinen Arbeiten. Aber ich erzählte Ihnen schon, daß er Besuch von einem Landsmann erhalten hat, den ich selbst zu ihm gewiesen habe.“

„Dabei ist doch nichts Gefährliches, wenn ein Landsmann uns besucht?“ wurde er von dem schönen Fräulein unterbrochen.

„Nein, Fräulein Beatrice, man freut sich darüber, obendrein wenn man ihn von Jugend an kennt, wie Bonaparte diesen Herrn Pozzo di Borgo.“

[226] „Nun, so wird der Lieutenant Bonaparte sich sicherlich auch gefreut haben,“ lachte die junge Dame.

„Das bezweifle ich eben,“ erwiderte Demarris den Kopf schüttelnd. „Ja, wenn es kein Corse wäre, aber diese Corsen sind schreckliche Menschen.“

„Sieht der Fremde denn so entsetzlich aus?“ fragte Fräulein Beatrice.

„Er sieht gar nicht entsetzlich aus, sondern besitzt sogar ein ziemlich angenehmes Aeußeres, aber große schwarze Augen und Haare wie ein Neger.“

„Bitte, Herr Demarris,“ sagte das Fräulein, „steht es naturgeschichtlich fest, daß Menschen mit schwarzen Haaren und großen Augen gefährlich sind?“ Es entstand ein muthwilliges Gelächter, in welches der Lieutenant einstimmen mußte; dann aber erwiderte er hartnäckig: „Sie wissen nicht, was Bonaparte mir erzählt hat. Sie wissen nicht, daß er mit diesem Pozzo di Borgo von Jugend auf in beständigem Zank und Streit lebte und daß dieser junge Mensch ein wilder Republikaner war, auch wahrscheinlich noch ist, der Oden auf den General Paoli dichtete und eine Compagnie republikanischer Jungen zusammenbrachte, mit denen er gegen die Compagnie Bonaparte’s kämpfte, welcher die französische Partei commandirte.“

„Dann nehme ich es dem Lieutenant Bonaparte gar nicht übel, wenn er diesen unangenehmen Freund nicht gern sieht,“ sagte die alte Vicomtesse Halincourt beifällig nickend zu Frau von Colombier. „Diese Corsen sind ein verrätherisches und undankbares Volk, das sogar gewagt hat, sich den Befehlen Seiner Majestät zu widersetzen, als er ihnen die Gnade erzeigte, sie zu seinen Unterthanen zu machen. Ist es nicht wahr, lieber Baron Salingré?“

„Sehr wahr!“ erwiderte der Baron. „Es sind Barbaren, und ich erinnere mich, wie empört der gesammte Hof darüber war, daß alle Versuche nichts fruchteten, sie von der unsinnigen Einbildung zu heilen, daß sie das Recht besäßen, ein freies Volk zu bleiben, obwohl man ihren Anführern die gnädigsten Versprechungen machte.“

„Sehen Sie wohl, Fräulein Beatrice!“ rief Demarris auf der anderen Seite, „darin liegt meine Besorgniß. Diese Corsen sind fanatische Menschen, die nicht die kleinste Beleidigung vergessen. Sie suchen sich zu rächen, mögen auch viele Jahre darüber vergehen, und man hat Beispiele, daß manche, die in ihrer Jugend sich verfeindeten, über einander herfielen, als sie als Greise sich wiedersahen. Es ist daher gar nicht so unwahrscheinlich, daß dieser Herr Pozzo di Borgo, als er Bonaparte erblickte, in Wuth gerieth, und was ich vorher von Gefahren sagte –“

Bei seinem letzten Worte erhob sich das Gelächter so laut, daß Demarris verwirrt umhersah und alsbald auch die Ursache entdeckte. Denn an der Gartenthür erschien so eben der Lieutenant Bonaparte Arm in Arm mit dem gefährlichen Freunde und so fröhlichen Gesichts, daß ihm gewiß kein Leid widerfahren sein konnte. Einige Minuten darauf standen die beiden jungen Männer an den Stufen zur Halle, und die Munterkeit der Gesellschaft wurde nicht dadurch vermindert, daß Bonaparte befremdet den Kopf aufwarf und fragend von Einem zum Anderen blickte. Seine reizbare Gemüthsart regte sich bei diesem sonderbaren Empfang, und sein Mund zog sich spöttisch zusammen, während seine Augen blitzend umherflogen, bis sie auf Fräulein Beatrice haften blieben, die aufgestanden war und sich ihm näherte. Er machte ihr eine rasche, kurze Verbeugung. „Ich bin entzückt über einen so freudigen Empfang, Fräulein von Colombier!“ sagte er dabei, aber er sah durchaus nicht entzückt aus.

„Wir freuen uns, daß Sie noch leben, Herr Bonaparte,“ antwortete die junge Dame mit ihrem lieblichen Lächeln.

„Daß ich noch lebe? Ich kann versichern, daß ich durchaus keine Lust zum Sterben habe!“ antwortete er milder gestimmt.

„Eine schöne Beruhigung,“ fuhr Beatrice fort, „nachdem wir fürchten mußten Sie kaum jemals wieder zu sehen!“

„Nicht wieder zu sehen!“ rief Napoleon, indem seine Augen feurig glänzten. „Dann müßte ich wirklich nicht mehr leben. Aber was soll das bedeuten?“

„Dem Himmel sei Dank,“ lachte das Fräulein, „daß alle Gefahr vorüber ist und Sie bei uns sind. Herr Demarris –“

„Ich bin schon da,“ fiel Demarris ein. „Ich erzählte den Damen, daß Herr Pozzo di Borgo ein Corse sei und, wenn zwei Corsen zusammen kommen, Niemand wissen könne, wie sie sich trennen würden, also –“

Die Fröhlichkeit begann von Neuem, aber auf den Lieutenant Bonaparte schienen diese Worte einen überraschenden Eindruck zu machen. Statt zu lachen, wie alle Anderen, preßte er seine schmalen Lippen dicht zusammen, und sein Gesicht verfinsterte sich. Dies dauerte jedoch nur eine Secunde, denn in der nächsten wandte er sich zu Frau von Colombier, die er vor sich erblickte.

„Verzeihung, Madame, daß ich mich aufhalten ließ, Ihnen meinen Freund, den Herrn Pozzo di Borgo vorzustellen,“ sagte er artig lächelnd. „Wir sind Jugendcameraden, und nichts konnte mir heut größere Freude bereiten, als ihn unerwartet wiederzusehen.“

Frau von Colombier empfing den jungen Rechtsgelehrten auf’s Gütigste, führte ihn zu einem Platze neben dem ihrigen, und nach dem üblichen Ceremoniell der Einführung in die Gesellschaft war er bald in der Lage nach allen Seiten hin Fragen zu beantworten und zu beweisen, weß Geistes Kind er sei. Demarris’ Scherze hatten ungünstige Vorstellungen über ihn angeregt, allein er widerlegte diese in sehr kurzer Zeit, denn seine Erscheinung und sein Benehmen machten einen ganz entgegengesetzten, vortheilhaften Eindruck. Die einnehmenden Züge seines Gesichts wurden durch deren männlichen und ruhigen Ausdruck bedeutsam unterstützt. Seine Bewegungen waren voll Anstand und seine Höflichkeit mit so viel Selbstbewußtsein verbunden, daß sie nicht demüthig erschien. Alles, was er sagte, bewies Verstand und Urtheil, und manche seiner Bemerkungen waren so fein und scharf und mit dem glänzenden Schimmer versehen, den die Franzosen besonders lieben, daß der Beifall nicht ausbleiben konnte.

Der junge Carlo Andrea bewies aber auch, daß er die Kunst verstand, Jedem in seiner Weise zu gefallen und schnell dahinter zu kommen, wie dies am besten geschehen konnte. Er sagte Frau von Colombier die schönsten Artigkeiten über Alles, was sie betraf, und pries seinen Freund Napoleon glücklich, oft in ihrer Nähe verweilen zu dürfen. Die alte Vicomtesse versöhnte er mit der Nachricht, daß die Familie Pozzo di Borgo zu den ältesten Adelsgeschlechtern Corsica’s gehöre, worüber Urkunden aus dem zwölften Jahrhundert vorhanden seien, und er befestigte ihr Vertrauen durch seine Mittheilung über einen Auflauf, welcher am Tage vorher in Grenoble stattgefunden, als er durch diese Stadt reiste, wo, wie er äußerte, die Obrigkeit ihr Ansehen besser hätte behaupten sollen, um das übermüthige Gesindel mit Strenge im Zaum zu halten. Den Baron endlich erfreute er mit einigen verbindlich beistimmenden Worten, daß der Glanz des alten ritterlichen Frankreich verloren gegangen sei in diesen Zeiten des rechnungssüchtigen Krämergeistes, und als er endlich mit einer untadelhaften Verbeugung aufstand, um sich zu dem jüngeren Theile der Gesellschaft zu begeben, welcher übereingekommen war, ein Spiel im Garten zu beginnen, ließ er in jenen angesehenen Personen wohlgeneigte Beurtheiler zurück.

Es vergingen nun mehrere sehr angenehme Stunden, die mit allen Vergnüglichkeiten ausgefüllt wurden, welche ein solches Zusammensein im fröhlichen Kreise jungen Leuten darbot, die sich gegenseitig zu gefallen und zu unterhalten strebten. Man spielte und ging spazieren, gab Räthsel auf und löste Pfänder ein, bis der Abend kam und nun in dem Saale ein Abendessen bereit stand, das die Munterkeit weiter beleben half. Die Damen und Herren saßen in bunter Reihe, jeder hatte seine Wahl getroffen, und der Lieutenant Bonaparte, der seinen Platz bei dem schönen Fräulein von Colombier genommen, war so gesprächig und galant, wie man ihn noch niemals gesehen hatte. Die zurückhaltende, kalte Höflichkeit, welche ihm gewöhnlich eigen, wurde heut durch eine Theilnahme verdrängt, die nicht unbeachtet bleiben konnte. Es war etwas Neues, ihn so heiter gelaunt und artig zu sehen mitten unter den jungen Damen, mit denen er scherzte und sich liebenswürdig zu machen suchte. Schon seit einiger Zeit hatten beobachtende Blicke bemerkt, daß er sich Fräulein von Colombier zu nähern suchte und ihr Aufmerksamkeiten erwies, deren sich keine Andere rühmen konnte; allein Viele thaten dies noch weit mehr und vor Allen der galante Demarris, während Bonaparte meist die Gesellschaft älterer Personen und ernsthafte Gespräche vorzog. Heute jedoch hatte er von Anfang an sich nur mit der Jugend eingelassen, und Fräulein Beatrice wurde von ihm ersichtlich begünstigt. Er suchte sie bei den Spielen, wählte sie, wenn er unter den Damen zu wählen hatte, bot ihr seinen Arm, als man spazieren ging, und führte sie zu Tische, allen anderen Bewerbern, auch dem [227] armen Demarris, der sich vergebens darum bemüht hatte, den Rang ablaufend.

Man war erstaunt, den schweigsamen, sonst so ungeselligen Helden Bonaparte so liebenswürdig beweglich zu sehen, und er verdunkelte mit diesen bisher nicht an ihm entdeckten Eigenschaften selbst seinen Freund Andrea, dem sonst der ungetheilte Beifall zugekommen sein würde. In der That hatte Pozzo di Borgo bei diesen jungen Genossen fast noch mehr Anerkennung gefunden, als bei der ehrbaren Seite der Gesellschaft, denn seine feinen und gefälligen Sitten, seine Artigkeit und seine lebhafte Theilnahme an den vorgeschlagenen Vergnügungen fanden dankbare Anerkennung. Er bewies sich so anregend und gewandt, dabei so voll guter Laune und guter Einfälle, daß er schnell ein Uebergewicht geltend machte und für die gemeinsame Lust den treibenden Mittelpunkt zu bilden begann. Neben ihn stellte sich jedoch Bonaparte und machte ihm diesen Vorzug streitig, indem er mit ihm wetteiferte. Es konnte beinahe scheinen, als sei er eifersüchtig auf das Wohlgefallen geworden, das Pozzo di Borgo so schnell zu Theil wurde, und als habe Demarris doch einiges Recht mit seinen Behauptungen, daß diese beiden jungen Männer nie und nirgend beisammen sein könnten, ohne sich sogleich gegen einander zu versuchen. Auch Carlo Andrea hatte einige Male versucht, Bonaparte bei dem Fräulein von Colombier zuvorzukommen, allein es war ihm nicht besser ergangen, als dem Lieutenant Demarris. Napoleon wurde entschieden vorgezogen und schien sich daran sehr zu ergötzen. Er warf spöttische Blicke auf seinen Freund, der diese mit seinem feinen Lächeln erwiderte, ohne den geringsten Mißmuth zu zeigen. Der junge Advocat hatte dafür die Ehre, daß Frau von Colombier ihn zu ihrem Nachbar machte, und konnte an den Unterhaltungen Theil nehmen, welche am oberen Ende des Tisches geführt wurden. Es war natürlich, daß von den Dingen die Rede war, welche in Frankreich alle Köpfe in Bewegung setzten, und daß er zunächst über die Meinungen befragt wurde, welche in Corsica sich geltend machten.

Er beantwortete diese verfängliche Frage mit vieler Bescheidenheit. „Madame,“ sagte er, „man theilt in Corsica die Hoffnungen, welche man in Frankreich von der Nationalversammlung hegt, daß das Glück der Nation daraus hervorgehen möge; aber man ist weit davon entfernt, dies Glück aus dem Umsturz des Bestehenden zu erwarten.“

„Nun, dahin wird es auch glücklicher Weise nicht kommen,“ lächelte der Baron Salingré. „Man wird die Menschen, welche dies Entsetzliche herbeiführen möchten, schon zur rechten Zeit entfernen und beseitigen.“

„Das wäre sehr zu wünschen,“ sagte Pozzo di Borgo.

„Verlassen Sie sich darauf,“ fuhr der Baron vertraulich fort. „Man wird nächstens mit diesem heillosen Genfer Bankier, diesem Herrn Necker, den Anfang machen und dann die übrige Gesellschaft hinterher schicken.“

„Wenn es noch angeht, kann man gewiß nichts Besseres thun,“ erwiderte Carlo Andrea, „aber ich fürchte –“

„Was fürchten Sie?“

„Daß es dazu zu spät ist.“

„Meinen Sie? Warum soll es zu spät sein?“

„Weil die revolutionairen Ideen sich schon zu weit verbreitet haben.“

„Revolutionaire Ideen!“ lächelte der Baron. „Glauben Sie denn an solche Hirngespinste?“

„Leider glaube ich daran,“ sagte Pszzo di Borgo, „obwohl ich es besser nicht thun möchte.“

„Das sind Einbildungen des Pöbels,“ fiel die alte Vicomtesse ein, indem sie einen mißbilligenden Blick auf den jungen Mann warf. „Kein Edelmann wird diese gelten lassen.“

„Sehr wahr,“ antwortete Andrea noch bescheidener, „aber unglücklicher Weise giebt es nicht wenige Edelleute, welche dies ganz vergessen haben.“

„Für diese, mein Bester,“ lächelte der Baron, „haben wir eine Bastille, in welcher, wie ich hoffe, bald der Herr Marquis Mirabeau und manche andere gut aufgehoben sein werden. Nein, es wird nicht gelingen, dafür sorgen wir, der Adel und die Armee, unsere tapferen Officiere.“

„Gewiß der allerbeste Schutz, allein –“

„Was haben Sie noch für Zweifel?“

„Ich habe gehört, daß selbst den Soldaten nicht mehr zu trauen ist, und manche Officiere –“

„Das sind Verleumdungen!“ rief der Baron. „Ah! wir haben ja auch hier in unserem Kreise Officiere. Da ist Herr Bonaparte, der soll uns sogleich seine Meinung sagen.“

Der Lieutenant Bonaparte war in lebhafter Unterhaltung mit seiner schönen Nachbarin, als er von dem Baron unterbrochen wurde, aber er antwortete sogleich: „Der Officier hat nichts zu thun, als die Befehle seiner Vorgesetzten zu erfüllen.“

„Sehr gut! sehr gut!“ rief der Baron, und die Vicomtesse nickte beifällig. „Diese Befehle werden wahrhaftig nicht ausbleiben, und unsere tapferen Officiere werden diese unnützen Menschen schon zur Ordnung bringen. Nicht wahr, Herr Bonaparte?“

„Sicherlich, Herr Baron. Wir haben die besten Mittel dafür.“

„Was meinen Sie?“

„Pulver und Blei!“

„Vortrefflich! ganz vortrefflich!“ lachte der Baron. „Ihre Gesundheit, mein lieber Herr Bonaparte, Ihre Gesundheit!“

Der Beifall war so allgemein, daß alle Gläser in Bewegung kamen. Der Lieutenant Bonaparte hatte für einen ziemlich wohlfeilen Triumph zu danken; aber seine Lippen zuckten spöttisch dabei und seine schwarzen Augen funkelten nach allen Seiten umher. Er bemerkte sehr wohl, daß sein Freund Andrea ihn lächelnd betrachtete, und wandte sich von ihm ab, wo Fräulein Beatrice ihn mit holdseligen Blicken empfing.

„Das ist ein ausgezeichneter junger Mann,“ sagte die Vicomtesse, „von wahrhaft wohlthuender Gesinnung.“

„Und ein ebenso ausgezeichneter Officier,“ fügte Frau von Colombier hinzu. „Der Lieutenant Demarris versichert, daß der Oberst des Regiments dies öffentlich ausgesprochen hat.“

„Dann verdient er um so mehr, daß man ihn empfiehlt, wo es von Nutzen ist,“ erwiderte der Baron. „Ich will mit Vergnügen an den Prinzen von Lambec darüber schreiben, aber – ist er auch von gutem Adel?“

Er wandte sich mit dieser Frage leiser an Frau von Colombier, die ihrerseits zu ihrem Nachbar mit vieler Freundlichkeit begann: „Sie werden dies am besten beantworten können, Herr Pozzo di Borgo; ich bin jedoch gewiß, daß Herr Bonaparte von gutem Adel ist.“

„So ist es in Wahrheit,“ sagte Andrea. „Die Bonaparte sind eine alte und gute Familie. Der Adel ist allerdings in Corsica derartig allgemein, daß ganze Dörfer und Ortschaften adlig zu sein behaupten konnten. Es erschien daher, als die Insel an Frankreich kam, ein Befehl des Königs, daß künftig nur vierhundert Familien fernerhin den Adel behalten und die Vorrechte desselben genießen sollten. Unter diesen befand sich auch die Familie Bonaparte.“

„Das ist eine anerkennende Auszeichnung,“ sagte der Baron, „auf welche man sich verlassen kann. Mit wahrer Freude will ich diesen trefflichen jungen Officier empfehlen und bin überzeugt, daß dies ihm gute Dienste leisten soll.“

Nach dieser Episode ging das Mahl in freudiger Geselligkeit weiter, und als es sein Ende erreicht hatte, wurde noch in der Halle getanzt, bis endlich spät die Freunde sich empfahlen und nach der Stadt zurückkehrten. Frau von Colombier war ungemein gütig, sowohl gegen Napoleon wie gegen den Fremden, und schärfte jenem ein, den Freund nicht abreisen zu lassen, sondern ihn am nächsten Tage wieder mit in das Landhaus zu bringen.

„Wie dankbar ich auch für so große Huld bin,“ erwiderte Carlo Andrea, „so werde ich doch morgen abreisen müssen, da die Post am Abend nach Lyon geht.“

Die Dame schüttelte jedoch lächelnd den Kopf. „Wir wollen nichts davon hören,“ sagte sie, „und gewiß wird auch Herr Bonaparte es nicht leiden, daß Sie ihn so bald verlassen. Daher nehmen wir keinen Abschied, sondern müssen Sie morgen bei einem kleinen Feste sehen, bei welchem es, wie ich hoffe, noch fröhlicher hergehen soll, als es heute der Fall war.“

Damit verabschiedete sie ihre Gäste, und Bonaparte führte seinen Freund rasch davon, ohne auf Demarris zu warten, dessen Stimme sie bald hinter sich hörten, ohne ihm zu antworten. Bonaparte bog in einen Nebenweg und hielt sich mit Carlo Andrea dort verborgen, bis die Anderen vorüber waren.

„Ich will mit Dir allein sein,“ sagte er, „denn ich habe Dir noch mancherlei zu sagen und Dich zu fragen. Wie hat Dir diese Gesellschaft gefallen?“

„Ich glaube, daß sich nur günstig darüber urtheilen läßt,“ [228] erwiderte Pozzo di Borgo, „obwohl, wo viel Licht ist, auch die Schatten nicht fehlen können.“

„O!“ rief Napoleon mit seinem scharfen Lachen, „die alte Vicomtesse und dieser bepuderte Baron mit dem Riechfläschchen werfen einige schwarze Linien auf Dein Bild, aber was haben wir damit zu schaffen? Diese Welt wird untergehen, ohne daß wir daran rühren; sie ist schon im Untergange begriffen, und diese Reste sind wie Mumien in einem Museum, bei deren Anblick man sich vorzustellen sucht, wie es zu Ramses des Großen Zeiten einst in Aegypten ausgesehen hat.“

„Nun,“ versetzte Andrea ebenfalls lachend, „diese sprechenden Mumien sind jedenfalls nicht geneigt, von dieser Welt zu scheiden, und haben die besten Absichten, Dich den Geheimkämmerern Ramses des Großen bestens zu empfehlen.“

Mit einer ungestümen Bewegung rief Napoleon: „Warum nicht? wenn das so geschehen soll. Mögen sie mich empfehlen, ich werde nicht Nein sagen. Bei großen Ereignissen muß man nicht in dem Winkel sitzen, man muß zusehen, wie man auf das Theater kommt und mitspielt.“

„Du möchtest eine Rolle in dem Stücke übernehmen?“

„Die größte, die zu haben ist, wär’s auch eine Kaiserrolle!“ rief Bonaparte.

„Ja, dafür ist Corsica zu klein,“ lachte Carlo Andrea. „Selbst die Könige sind bei uns schlechte Schauspieler geblieben, unser kleines, armes Volk kann keine größeren Helden brauchen, als die Sampiero, Gastoni oder Paoli, die es frei und gesittet machen wollten.“

„Und was haben sie vollbracht?“ erwiderte Napoleon. „Sie sind ermordet oder verjagt worden, und die Barbarei ist geblieben, wie sie war. Hätten sie Corsica groß machen können, mächtig, die Welt bewegend – aber es blieb der abgelegene, vergessene Winkel, und das Volk – was ist aus dem Volke geworden? Wo ist seine Gleichheit, wo ist seine Freiheit? Die armseligen Ziegenhirten und halbnackten Fischer haben nichts dabei gewonnen, sie sind so wild und roh wie sie gewesen. Nein, Carlo, nein! ich will nicht nach Ajaccio zurück. Ich kann Urlaub haben in jedem Augenblick, er liegt für mich bereit, aber ich will in Frankreich bleiben, denn hier giebt es Ereignisse, Thaten, Raum und Menschen für die Weltgeschichte!“

„Ich kann Dir nicht Unrecht geben,“ erwiderte Pozzo di Borgo.

„Du giebst mir also Recht!“ versetzte der lebhafte Officier mit seinem spöttischen Schärfe. „Wir werden in Corsica nicht wieder um unser Ansehen streiten. Ich überlasse es Dir dort der Erste zu sein. Damit bist Du zufrieden.“

„Vollkommen zufrieden, und wünsche Dir dafür, daß Du in Frankreich der Erste sein magst.“

Bonaparte schüttelte ihm lachend die Hand. „Gut,“ sagte er, „wir wollen diesen Vertrag abschließen, und jeder von uns mag sich Mühe geben. Doch im Ernst gesprochen, Carlo, was sagst Du dazu –“ er hielt plötzlich inne und fragte dann schnell: „Was sprach Frau von Colombier mit Dir?“

„Sie fragte nach Deiner Familie und ob Du von gutem alten Adel seist.“

„Mein Adel! mein Adel!“ rief Bonaparte und er schlug mit der Hand an seinen Degen und fuhr dabei fort: „Damit hoffe ich meinen Adel ihnen allen am besten zu beweisen.“

„Ich habe sie und den Herrn Baron vollständig darüber beruhigt,“ fiel der Freund ein.

„Du? Was sagtest Du ihnen?“

„Daß Deine Familie zu den besten und zu den Vierhundert gehörte.“

„Die Marbeuf adlig machte!“ lachte der Lieutenant. „Alle diese Narrheit wird ein Ende nehmen. Alle Familien in der Welt sind von gleichem Alter, wie könnten sie sonst am Leben sein? und alle haben gleiches Recht, alle sind Wesen einer Art, alle sind Menschen!“

„Doch sehr verschieden begabte,“ sagte Pozzo di Borgo. „Ich rathe Dir doch, mein lieber Napoleon, dies nicht zu vergessen, wenn Du Dich dem Herrn Herzog von Liancourt und dem Prinzen Lambec empfehlen lassen willst.“

„Oho!“ rief Bonaparte, „alle diese Schranzen werden vor der Sonne der Vernunft zerschmelzen, diese große neue Zeit wird bessere Männer an ihren Platz stellen. Der Adel wird eine wahre Vereinigung der Edelsten sein; jeder muß darnach streben, zu denen zu gehören, die zu dieser Erhebung des Menschengeschlechtes beitragen können.“

„Das ist jedenfalls eine edle und hohe Aufgabe.“

„Man darf den Einfluß der Mächtigen dabei gewiß nicht verachten,“ fuhr Napoleon fort, „sondern muß günstige Verhältnisse benutzen, muß auf den Rücken derer steigen, die ihn dazu anbieten. Ist man oben, dann erst vermag man Großes und Gutes zu thun.“

„Vollkommen richtig gedacht,“ antwortete Pozzo di Borgo.

„Sagst Du es?“ rief Bonaparte. „Findest Du, daß ich Recht habe?“

„Wenn Du richtig speculirst, kann es so kommen.“

„Speculirst! speculirst! Was verstehst Du darunter?“

„Nun,“ erwiderte Carlo Andrea, sich vertraulich zu ihm beugend, „ich glaube, daß ich mich damit nicht irre, lieber Napoleon, sondern Dich richtig verstehe. Du hast mir heut schon gesagt, daß, wenn man sein Glück machen will, man mit einer einflußreichen Familie sich verbinden muß, und ohne Zweifel bist Du auf dem besten Wege dazu.“

„Meinst Du das? Meinst Du es aufrichtig?“

„Daran zweifle nicht. Der Schwiegersohn der Frau von Colombier hat gewiß die besten Empfehlungen zu erwarten. Und dies ist ein artiges Fräulein, ein allerliebstes Gesicht, schmachtende blaue Augen. ein süßes, hingebendes Lächeln. Die Speculation hat somit überall angenehme Aussichten.“

„Halt ein!“ rief Bonaparte und preßte seinen Arm. „Es ist keine Speculation, Carlo, denn ich liebe Beatrice!“

„Du liebst sie? Ja, das ist etwas Anderes,“ antwortete Pozzo di Borgo.

„Ich liebe sie!“ fuhr Napoleon mit Heftigkeit fort, „und auch sie – sie würde mich Allen vorziehen – zieht mich vor!“

„Dann habe ich nichts mehr zu sagen,“ versetzte der Freund.

„Es ließen sich Bedenken erheben, doch Deine Liebe rechtfertigt Dich. Ich begreife nun vollkommen Deine Wünsche und warum Du nicht nach Corsica willst. Dein Herz befiehlt Dir hier zu bleiben, und Dein Ehrgeiz verlangt nach Auszeichnung, um einer Braut aus solcher Familie würdig zu sein. Es ist wahr, die Zeit ist in wilder Gährung; wer weiß, wohin diese Stürme noch treiben, wer weiß, ob es gelingt, den Strom in seinem Bette zu halten, und wer weiß, wen er verschlingt. Aber Du wählst, wie Du wählen mußt, weil Du liebst, und ich zweifle nicht daran, daß Du bald nach Paris gerufen sein wirst, denn man braucht dort Officiere, auf welche sich der Hof verlassen kann. Du wirst schnell ein Capitainspatent in der Tasche haben, wohl gar Oberst werden, je nachdem, und dann wird Frau von Colombier freudig ihren Segen geben, und ihre Verwandten werden Dich mit Vergnügen umarmen.“ „Gute Nacht!“ rief Napoleon, indem er ihn losließ. „Dort ist das rothe Haus; gute Nacht!“

„Laß uns noch beisammen bleiben.“

„Nein! morgen mehr. Es ist genug für heute.“

Ohne sich aufzuhalten, ging er weiter. Pozzo di Borgo wandte sich dem Gasthause zu, und als er einige Schritte gethan hatte, lachte er leise vor sich hin.

(Fortsetzung folgt)




Das letzte Pfand.

Es ist der Tag vor Ostern,
Warm treibt der Frühling schon,
Geendet hat nun Sang und Predigt
Von „Kreuz und Dornenkron’“.

Im Auferstehn zur Freude
Regt Alles draußen sich hold,
Still breitet auf Berge und Thäler
Das Leben sein Ostergold.

[229]

Da beugt sich die Wittwe zur Truhe
Im dürft’gen Kämmerlein,
Ihr ist’s nicht wie Ostern und Freude,
Sie weint in die Truhe hinein.

Mit zitternder Hand dann hebt sie
Ein Kreuzlein mit Kette hervor,
Das einst als Braut sie empfangen
Vom Manne, den sie verlor.

Dann küßt sie das Kreuz und herzet
Zugleich ihr fieberndes Kind, –
Geht hin zum Pfänderverleiher,
Der forscht und bietet geschwind.

Und draußen klingen die Glocken,
Der Tag vor Ostern ist’s ja, –
Und tief in der Seele der Wittwe
Sind „Kreuz und Dornen“ noch da.

Und Kreuz und Dornen, sie bleiben,
Ob Ostern kommt oder geht,
Doch hat sie – ist Alles verpfändet –
Ihr Kindlein und Ostergebet.

Ludw. Würkert.
[230]
Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 2.
(Schluß.)

Die Elster und die sächsische Diakonissen-Anstalt – Die Bussards und die Eulen – Die Eule als fliegende Katze – Insectenfresser – Die Arbeit eines Spechts – Schwalben – Der Kuckuk und sein Ruf.

Als zweiten schädlichen Vogel habe ich die Elster genannt, und werde meine Behauptung aufrecht erhalten, selbst denjenigen Mitgliedern des sächsischen Herrenhauses gegenüber, welche der Welt einen handgreiflichen Beweis des in unserer Zeit noch herrschenden Aberglaubens gaben, indem sie eine öffentliche Aufforderung ergehen ließen, in einer gewissen „heiligen Zeit“ (wenn ich nicht irre, zwischen dem 20. December und 8. Januar) Elstern für die Diakonissen-Anstalt in Dresden zu schießen. Aus den in der „heiligen Zeit“ geschossenen Elstern brennen dann die frommen Frauen ein Pulver zurecht, das unfehlbar von der Epilepsie heilt und schon Tausende von Menschen geheilt hat. Heilige Einfalt! Ich kannte einen Apotheker in Val de Travers, der sich jährlich ein schönes Sümmchen mit einem Fallsuchtpulver aus Maulwürfen zusammenröstete; aber der Mann machte doch nicht religiösen Hokuspokus dabei, sondern nahm die Maulwürfe, wie er sie eben bekam, und wenn bei vorkommendem Mangel an Maulwürfen und starker Nachfrage dann und wann auch einige Mäuse und Ratten in seinen Brenner geriethen, so that das der Wirksamkeit der Pulver nicht den mindesten Eintrag. Denn wenn etwas Wirksames darin ist, so kommt das weder von den Diakonissen, noch von der „heiligen Zeit“, noch von den Gebeten, sondern einzig und allein von dem brenzlichen Oele, welches sich beim Verbrennen thierischer Stoffe überhaupt in geschlossenen Räumen entwickelt. Vielleicht gehört es aber auch zu den „Zeichen unserer Zeit“, daß gerade von der erwähnten Seite aus eine solche Aufforderung kommen mußte.

Wenn aber die Mitglieder der ersten sächsischen Kammer für die leidende Menschheit gearbeitet zu haben glauben, indem sie für die Diakonissen recht viele Elstern auf ihren Gütern wegschießen ließen, so haben sie dabei sicher sich selbst den größten Dienst geleistet. Denn die Elster ist nicht nur diebisch, wie dies schon längst Rossini durch seine Oper bewiesen hat, indem sie namentlich glänzende Dinge in ihrem Neste zusammenträgt, sondern auch ein abscheulicher, mordsüchtiger Vogel, der den jungen Hühnern und Enten mehr Schaden thut, als die Raubvögel, und unablässig alle kleinen Vögel verfolgt, welche sich in der Nähe seines Standortes zeigen. In den Obstgärten und Gebüschen, wo sich die Elstern gerne aufhalten, kommt kein Singvogel fort, und doch ist auf der anderen Seite die Elster nicht im Stande, die Dienste der Sänger in Vertilgung des kleinen Ungeziefers zu ersetzen. Um so unbegreiflicher ist es, wie die Elster in vielen Gegenden und namentlich bei der allemannischen Race durch die Scheu eines Vorurtheils geschützt wird. In dem schweizerischen Dialekt werden die Hühneraugen an den Füßen „Elsternaugen“ genannt, und das Volk hat die feste Ueberzeugung, daß demjenigen, der eine Elster tödtet, großes Unglück geschehen müsse. Jeremias Gotthelf hat eine seiner ersten Geschichten auf diesen Aberglauben gegründet, und in vielen Gegenden des Cantons Bern sieht man unbedingt nur Elstern in der Nähe der Dörfer und einzeln stehenden Höfe, die mit zänkischem Geschwätze auf den Bäumen sich umhertreiben.

Zu den unbedingt nützlichen Vögeln gehören vor allen Dingen die schwerfälligen Tagraubvögel, deren kürzere Schwingen ihnen nicht gestatten, Vögel im Fluge zu verfolgen und zu haschen. Diese sind eben durch ihre Natur auf kleinere Säugethiere, wie Mäuse, Hamster, Ratten und Maulwürfe, und größere Insecten, Maikäfer, Heuschrecken etc. angewiesen, freilich läuft ihnen auch zuweilen ein Häslein oder Rebhuhn mit unter, obgleich dies verhältnißmäßig doch nur seltener geschieht. Die Rohr- und Kornweihe, der Wespenbussard, besonders aber die eigentlichen Bussarde sind in dieser Hinsicht ausgezeichnet nützliche Vögel. Stundenlang sitzt der plumpe Vogel, den sein dichtes Gefieder schon gegen einen tüchtigen, von vorne auftreffenden Schrotschuß schützt, auf einem vorspringenden dürren Aste eines Waldrandes, einem hohen Feldsteine, einem Baumstumpfen regungslos wie eine Bildsäule, während das Auge das Feld durchmustert. Ergiebt der Standort keine Beute, so streicht er tief am Boden mit langsam trägem Flügelschlage nach einer anderen Warte, wo er auf’s Neue seinen stillen Beobachtungen obliegt. Plötzlich aber stürzt er, halb springend, halb fliegend auf den Boden, dringt zuweilen mit Schnabel und Krallen tief in die Erde ein und zieht einen Maulwurf oder eine Maus hervor, die er mit einigen Schnabelhieben tödtet und selbst verzehrt oder seinen gefräßigen, ewig schreienden, plumpen und großen Jungen zuführt, die man schon häufig mit jungen Adlern verwechselt hat. Für solche Dienste nagelt ihn dann der Bauer mit großer Befriedigung an’s Scheunenthor, und der Herr Amtmann zahlt nach Verificirung der Fänge als derjenigen eines großen Raubvogels mit angemessener Selbstbewunderung der für die Landwirthschaft väterlich besorgten Regierung das festgesetzte Schußgeld.

Die Eulen haben, wie alle Nachtthiere, das ungetheilte Vorurtheil gegen sich. Der geisterähnliche, leise Flug, die großen runden, glühenden Augen, vor Allem aber das unheimliche Geschrei, das sich bei den großen Arten bis zu dem Toben des wilden Jägers steigern kann, haben von jeher das Eulengeschlecht in den übelsten Ruf gebracht. Den Griechen war die Eule freilich das Symbol der Weisheit, und Pallas Athene erscheint nicht ohne Begleitung des philosophischen Vogels, der in hohlen Bäumen, Steinbrüchen und Mauerritzen über die höchsten Probleme der Wissenschaft nachdenkt. Aber außerdem waren die Eulen dennoch schon bei den Griechen Vögel übler Vorbedeutung, und bei den abergläubischen Römern erregten sie gar ein wahres Entsetzen. „Alle Nachtvögel mit Krallen an den Fängen,“ sagt Plinius, „wie die Eulen, Kauze und vor allen der Uhu sind höchst schlimme Vorbedeutungen für die öffentlichen Angelegenheiten. Der Uhu namentlich liebt nicht nur einsame Gegenden, sondern auch fürchterliche und schwer zugängliche Standorte. Er ist ein ungeheuerliches Thier, das weder singt, noch schreit, sondern nur fortwährend seufzt und wehklagt. Sieht man ihn bei Tag in einer Stadt oder sonst wo, so bedeutet dies unsägliches Unglück;“ doch fügt Plinius gewissermaßen zum Troste bei, daß er mehrere Häuser kenne, auf die ein Uhu sich gesetzt habe, ohne daß ein nennenswerthes Unglück darauf erfolgt sei. „Unter dem Consulat von Sextus Papilius Ister und Lucius Pedanius verirrte sich gar ein Uhu bis in das innerste Heiligthum des Jupitertempels, was einen unsäglichen Schrecken in der ganzen Bevölkerung verursachte, so daß man allgemeine Processionen und Opferzüge veranstaltete, um die erzürnten Götter zu besänftigen.“

Auch bei uns gelten noch immer dieselben Vorurtheile, und bei Aufzählung verschiedener Schreckensvorzeichcn sagt Hieronymus Jobs:

„Auch hat eine Eule um Mitternacht
Auf dem Kirchthurm ein kläglich Geschrei gemacht.“

Der Kauz und das Käuzchen sind die Todtenvögel; sie zeigen durch ihren kläglichen Ruf in der Nähe des Hauses an, daß der Kranke bald sterben werde, freilich nur auf dem Lande, denn in den Städten hat die allgemeine Gasbeleuchtung dem unglücklichen Unterscheidungsvermögen der Eulen einigen Abbruch gethan. So wie nach Heines Versicherung ein rechtschaffenes Gespenst sich in Paris gar nicht umtreiben kann, weil es dort in der Gespensterstunde noch so lebendig ist, als in Deutschland am hellen Tage, ebenso gut kann der Todtenprophete nur in Dörfern und einsamen Höfen seine Kunst üben, wo er, wie alle übrigen Nachtthiere, durch das ungewohnte Licht angezogen wird. Denn es muß schon hart kommen und der Bauer gefährlich krank sein, wenn zur Nachtwache Licht gebrannt wird; in der Wetterau wenigstens erzählt man die charakteristische Anekdote, daß die Frau den Mann mit den Worten angestoßen habe: „Zünde einmal ein Licht an; ich glaube, ich sterbe,“ worauf der Mann verdrießlich geantwortet habe: „Man sollte meinen, Du könntest nicht im Dunkeln sterben.“ Ist es da zu verwundern, wenn Eulen und Fledermäuse der ungewöhnlichen Lichterscheinung zufliegen, erstere ihr klägliches Geheul in der Nähe erschallen lassen und der Kranke, dessen Nachtlampe sie, wie alle Nachtthiere, anlockt, auch wirklich in Lebensgefahr schwebt? Man sehe doch einmal zu, was Alles noch an einem solchen erleuchteten [231] Fenster krabbelt: Schnaken und Mücken, kleine und große Nachtfalter und hie und da ein Hirsch- oder Mistkäfer, der mit gewaltigem Anprall wider die Scheiben fährt, als wolle er sie zertrümmern.

Nichts desto weniger sind die Eulen ohne Vergleich die nützlichsten Vögel und ein wahrer Segen für die Gegenden, wo sie sich niederlassen. Denn durch ihre Flugzeit sind sie ja gerade auf das nächtliche Ungeziefer als Beute angewiesen, und wenn sie auch hie und da ein Vöglein erhaschen, so sind doch Mäuse und große Nachtinsecten ihre wesentliche Beute. Wenn Tschudi erzählt, daß ein Eulenpaar an einem einzigen Juniabende seinen Nestjungen elf Mäuse brachte und daß man in dem Magen eines Waldkauzes 75 Raupen des schädlichen Fichtenschwärmers fand, so charakterisirt er damit vollständig die Thätigkeit der Eulen im Allgemeinen. Nicht nur schonen sollte man diese Thiere, sondern sogar hegen und sie veranlassen, in der Nähe der Dörfer und Wohnungen ihr Standquartier aufzuschlagen. Die meisten Eulen lassen sich sogar zähmen und sind dann durch ihre seltsamen Bewegungen und Gebehrden nicht unangenehme Gesellen. Ein französischer Beobachter erzählt, daß er ein Steinkäuzchen im Hause hatte, welches ein liebenswürdiger Vogel war; er ließ sich gerne streicheln, selbst bei Tage, und obgleich er mit jedem Futter vorlieb nahm, so zog er doch rohes Fleisch vor, das er mit Hartnäckigkeit vertheidigte, sobald man es ihm abnehmen wollte. Täglich ging das Thier in den Garten auf die Insectenjagd, und selbst im Winter, wo man kaum noch Insecten findet, warf es täglich noch zwei Mal ein nußgroßes Gewölle von unverdaulichen Flügeln und Beinen aus. Kleine Vögel verfolgte der Waldkauz freilich auch und rupfte sogar die ausgestopften, in der Meinung, sie verzehren zu können.

Zu derselben Zeit lebte in dem Hause eine Dohle, die mit einem Hunde gute Cameradschaft pflog, während der Kauz mit einer jungen Katze so befreundet war, daß sie Beide oft zusammen in demselben Korbe schliefen. Dohle und Kauz waren grimmige Feinde; da sie aber Beide ungefähr gleich stark waren, so mieden sie sich nach einigen hitzigen Kämpfen und hatten sich den Garten so abgetheilt, daß keines das Gebiet des anderen berührte. Nachts aber war der Kauz allein Meister und trippelte dann so eifrig in dem Garten umher, daß man ihn hätte für eine Ratte halten können.

Mit einem Worte: Jede Eule ist eine fliegende Katze in Bezug auf Gewohnheit, Nahrung und Jagd, und den Dienst, den die Katze in geschlossenen Räumen leisten kann, thut sie in Feld und Geschäft. Das Miauen der Katzen zur Brunstzeit ist aber wahrlich auch kein Gesang – und Vögel, junge Hasen und Fleisch läßt sich die Katze auch schmecken ohne Gewissensbisse! Die Katze aber pflegt man als Hausthier, wenn sie vier Beine hat, fürchtet und verfolgt sie dagegen, wenn sie fliegen kann.

Unter den kleineren Vögeln sind, wie ich schon zu bemerken Gelegenheit hatte, die reinen Insectenfresser die nützlichsten von allen, obgleich unter diesen auch einige sind, welche sich gänzlicher Verkennung zu erfreuen haben. Die Würger und Neuntödter, welche die größeren Insecten auf Dornen spießen und sich manchmal auch an jungen Vögelchen und Mäusen vergreifen; alle die niedlichen Sänger, wie die Grasmücken, Rothkehlchen, Rothschwänzchen, Nachtigallen und Bachstelzen, welche letztere namentlich auf der Erde, am Rande des Wassers und in frischgestürztem Felde ihre Nahrung suchen; die zänkischen Meisen, die Baumläufer, Zaunkönige und Spechtmeisen, welche auf Bäumen und Gesträuchen fleißig die Insectenlarven ablesen und zum Theile selbst mit hartem Schnabel unter der Rinde heraushacken; die hämmernden Spechte, die Wendehälse, die breitmäuligen Dünnschnäbler, welche die Insecten im Fluge fangen, wie Fliegenschnäpper, Schwalben, Mauerschwalben und Ziegenmelker oder Nachtschwalben; endlich die ganze Rabenfamilie, die in einfach schwärzlichem Kleide einhergeht, wie Stahre, Dohlen, Krähen, Kolkraben, welche hauptsächlich von Würmern, Larven, Maden und Aas leben, sind in unseren Augen durchaus nützliche Vögel, die man hegen und pflegen soll. Streiten kann man freilich über die eigentlichen Drosseln, die Finken und Kernbeißer, welche unter Umständen nützlich oder schädlich sein können. Gewiß thun in unseren Gegenden die beerenfressenden Drosseln, wie Krammetsvogel, Singdrossel und Amsel, nicht den mindesten Schaden, indem sie sich vorzugsweise an Wachholder- und Vogelbeeren halten, die man ohnedem kaum zu benutzen weiß. Ebenso verfolgt man mit Unrecht die Weindrossel, indem man sie des Naschens von Weinbeeren in den Rebenbergen beschuldigt, wo sie doch nur Gewürm und nackte Schnecken sucht. Ein äußerst schädlicher Vogel ist aber ohne Zweifel die Misteldrossel, die größte aller einheimischen Arten, die den ganzen Sommer über bei uns sich aufhält und eine ganz besondere Vorliebe für jenen schmarotzenden Strauch hegt, der in der nordischen Götterlehre eine so bedeutende Rolle spielt. Die Mistelbeeren sind die Hauptnahrung dieser Drosselart im Spätherbst, und da die Kerne unverdaut durch ihren Darm durchgehen und noch obenein in Saft eingehüllt bleiben, wodurch sie überall leicht anhaften, so säet die Misteldrossel fast überall den verderblichen Schmarotzersamen auf die Bäume, auf welche sie sich niederläßt.

Die Spechte sind gerade nicht die Lieblinge der Forstleute, welche sie beschuldigen, den Waldbäumen durch ihr Hämmern bedeutenden Schaden zuzufügen. Tschudi hat indessen vollkommen Recht, wenn er die herzhaften, stämmigen Bursche trotz ihrer unermüdlichen Zimmerarbeit in seinen Schutz nimmt und ihre Pflege empfiehlt. Ihr Pochen und Hämmern hat zweierlei Ursachen. Einerseits hacken sie Rinden und Splint bis zum Holze in großen Splittern los, um die darunter bohrenden Insecten und Larven unmittelbar mit der spitzen, widerborstigen, einer Stahlfeder gleich hervorgeschnellten Zunge anzuspießen. Andererseits klopfen sie aber auch nur, um die Insecten auf der anderen Baumseite aus ihren Schlupfwinkeln hervorzulocken. Deshalb sieht man sie nach einigem Klopfen mit äußerster Geschwindigkeit auf die andere Seite des Stammes rutschen und dort die Risse der Rinde aufmerksam untersuchen. Der Volkswitz behauptet freilich, der Specht durchbohre den Stamm und renne nur deshalb so eifrig auf die andere Seite, um dort die durchdringende Spitze seines eigenen Schnabels zu sehen. Allein obgleich ihm in diesem Falle eine bedeutende Dosis von Dummheit zugeschrieben wird, so spielt doch andererseits der Schwarzspecht durch die kluge Weise, womit er die geheimnißvolle Springwurzel, welche alle Schlösser öffnet, zu finden versteht, in den deutschen Sagen eine nicht unbedeutende Rolle.

So nützlich die Spechte auch sein mögen, so können sie doch im gegebenen Falle außerordentliche Unannehmlichkeiten mit sich führen. Einer meiner Oheime hatte sich in einem ihm zugehörigen Walde auf einem freien Plätze ein Häuschen gebaut, das im Sommer das Ziel seiner Spaziergänge war. Ein herrliches Plätzchen, von prächtigen Fichten und Lärchen beschattet, mit einem murmelnden Bächlein in der Nähe, in dem wir krebsten, während der Oheim seine Mittagspfeife rauchte! Die ganze Idylle wurde durch einen Specht gestört, der mit satanischer Hartnäckigkeit das Innere des Häuschens sich zum Ruheplatze auserkoren hatte. Er war durch das niedrige Kamin hereingeflogen und hatte in der inneren Holzverkleidung, die allerdings von Würmern etwas heimgesucht war, arge Zerstörungen angerichtet. Der Oheim ließ eine Klappe auf das Kamin machen. Tags darauf hatte der Specht ein faustgroßes Loch durch die hölzerne Klappe gebohrt und war wieder im Häuschen. Die Klappe wurde mit Blech beschlagen. Als der Oheim das nächste Mal die Thüre öffnete, flog ihm der Specht fast in’s Gesicht und schnurrte mit sausendem Flügelschlag davon. Er hatte ein Loch durch den Fensterladen und durch die Fensterbrüstung gebohrt. Neue Ausgabe an den Klempner, der den einzigen Fensterladen beschlagen mußte. Als der Onkel nach einigen Tagen wiederkam, gähnte ihm ein großes Loch in der dicken Bohlenthüre entgegen, die bis jetzt allen Versuchen des in der Gegend häufigen Gesindels Widerstand geleistet hatte. Nun kannte aber der Zorn des Eigenthümers keine Grenzen mehr. Ein Netz wurde angefertigt und der Eindringling richtig in demselben gefangen. Der Onkel aber war ein gutmüthiger Steuerbeamter, der die Steuerpflichtigen wohl bis auf den letzten Pfennig auspressen, einem Thiere aber kein Leids zufügen konnte. Als ihn der Vogel, den er mit starker Faust gepackt hatte, fast kläglich bittend ansah, überkam ihn Mitleid. Er gab einem Erdbeeren suchenden Bettelbuben den Vogel und drei Batzen, damit dieser dem Spechte an einem verborgenen Orte den Hals umdrehen solle. Am andern Tage war der Specht wieder im Häuschen; der „Lausbube“ hatte die drei Batzen eingesteckt, den Vogel aber fliegen lassen. Der Onkel gab den Kampf auf. Das Häuschen verfiel, denn er besuchte es nicht weiter. Der Specht aber befand sich wohl darin und zerhackte die letzten Trümmer zu Spähnen, mit denen wir im Herbste des folgenden Jahres uns ein Feuer anzündeten und Kartoffeln brieten.

Seit Prokne’s Zeiten heftet sich an das leicht segelnde Schwalbenvolk mancher schöne Glaube und Aberglaube. Tobias hatte [232] seinen Unfall gewiß einer Schwalbe zu verdanken, und den Fisch, den der Engel damals so leicht fand und dessen Galle den Doctor Gräfe mit seinen sämmtlichen Nachfolgern entbehrlich machen würde, suchen die Naturforscher bis heute vergebens. Ganz gewiß bedeuten die Hausschwalben unter dem Gesimse noch heute Glück, nur wenn auch eine Schwalbe keinen Sommer macht, so lauscht doch der Landmann wie der Städter dem fröhlichen Gezwitscher, womit sie ihre Ankunft ankündigen, und prophezeit aus frühem oder spätem Wegzuge die Wahrzeichen des bevorstehenden Winters. Im Mittelalter trugen die Schwalben die Panacee für alle Krankheiten mit sich im Leibe herum; jeder Körpertheil hatte eine andere wunderbare Heilkraft: die zerquetschten Brustmuskeln waren das beste Gegengift gegen Schlangenbiß und Scorpionenstich; der Koth, mit Wasser angerührt und als Trank genommen, bewahrte vor Hundswuth und Tobsucht. Die jungen Schwalben wurden im Mörser zerstoßen und das ekle Gemisch mit Bibergeil und Essig bei mäßigem Feuer destillirt; das gab dann das berühmte Schwalbenwasser, das, wie der Schneeberger echte und gerechte Schnupftabak, alle Flüsse vom Haupt nicht nur, sondern alle Gebrechen ohne Ausnahme radical heilte, aber nur in den schrecklichsten Fällen gebraucht wurde, weil es unmittelbar beim Gebrauche die Haare ausfallen machte. Damals aber galt es noch nicht als eine Empfehlungskarte für einen Gelehrten oder Staatsmann, kahlköpfig zu sein, wie dies später in Frankreich zu Guizot’s Zeilen der Fall war, und man opferte nur in der dringendsten Gefahr die Zierde des Hauptes, um das Leben zu retten.

Die Milde der toscanischen Gesetzgebung ist bekannt. Nichts desto weniger gehören die Schwalben dort zu den übelbeleumdeten Vögeln, werden den Raubvögeln, den Raben und Spatzen gleichgestellt und für vogelfrei erklärt. Für die übrigen kleinen Vögel hat das Gesetz wenigstens schützende Bestimmungen, die freilich nirgends beobachtet und gehalten werden – für die Schwalben aber spricht kein Buchstabe. Man kann sich denken, mit welcher Energie man über die armen Thiere in denjenigen Zeiten herfällt, wo die Jagd geschlossen, das Tragen von Gewehren bestraft und das Legen von Fallen und Schlingen für andere Vögel verboten ist. Ueberall hängen die feinen, grünen Seidennetze, welche die armen Schwalben in ihren hastigen Wendungen nicht sehen: überall flattern an Fischangeln die lebendig gespießten Käfer und Heuschrecken, die sie mit hastiger Gier verschlingen, um nun selbst an der Angel zu zappeln!

Zu den Schwalben verhält sich die Nachtschwalbe oder der Ziegenmelker etwa wie die Eule zu den Falken. Der kurze dicke Kopf mit den großen, runden Augen, das weiche Gefieder, der leise schwebende Flug, das unheimliche Geschrei, das Schlafen bei Tag und an versteckten Orten – Alles das ist vollkommen eulenartig und gehört zum Charakter des Nachtvogels, der mit der Dämmerung sein Leben beginnt und beschließt. Der außerordentlich dünne, biegsame Schnabel mit dem weiten Rachen hingegen ist durchaus schwalbenartig, und in der That stehen auch hinsichtlich ihrer inneren Organisation die Ziegenmelker den Mauerschwalben oder Seglern am nächsten. Von den alten Griechen her stammt schon die Ungunst, welche die Ziegenmelker mit allen übrigen Nachtthieren theilen. Sie sollen in den Ställen die Euter der Ziegen so sehr aussaugen, daß diese selbst vertrocknen. Das Fächeln ihres Flügelschlages soll das Vieh blind machen, und ihr kläglicher Schrei, der demjenigen des Käuzchens ähnlich ist, aber noch etwas Schnarrendes dazu hat, soll ebenso wie der Eulenschrei alles mögliche Unglück anzeigen. Eine nordamerikanische Art hat sogar bei den dortigen Ansiedlern nicht minderen Ruf erlangt, als der Kauz in Europa, und wer Cooper’s Romane gelesen hat, erinnert sich wohl der öfter wiederholten Scenen, wo das Geschrei des Whip-poor-Will, das unheimlich durch die Nacht ertönt, den bevorstehenden Ueberfall der Indianer oder sonst ein Unglück zum Voraus anzeigt.

Aber auch hier gilt es, dem Vorurtheile des Volkes ebenso kräftig entgegenzuarbeiten, als bei den Eulen. Denn die Nachtschwalben gehören, wie ihre Verwandten des Tages, zu den nützlichsten Vögeln, die überhaupt existiren; sie melken nicht und blenden nicht, sie fressen weder Körner noch Fleisch, schnappen aber mit unsäglicher Freßgier alle jene Nachtinsecten weg, unter denen wir unsere hauptsächlichsten Feinde finden. Die großen Käfer, die in der Dämmerung umherschnurren und deren Larven Wurzeln oder Holz nagen; die dicken Nachtfalter, deren Raupen unsere Bäume und Gemüse verwüsten; all’ das kleine Geschmeiß von Motten und Mücken, Bremsen und Schnaken findet sein Grab in dem weiten Rachen der Nachtschwalbe, die nur deshalb in Ställen und Gehöften umherstreicht, weil eben dort auch das Geschmeiß sich ansammelt. Lasse man sie also ruhig gewähren; sie stört Niemandes Schlaf und arbeitet in der Nacht für den Menschen, der sie zum Danke verleumdet und verfolgt.

Ich komme in letzter Linie zu dem Kuckuk, dem beschrieensten aller Vögel und dem nützlichsten vielleicht, den wir kennen, dem unermüdlichen Glöckner des Frühjahrs und Vorsommers, der mit Hunderten von Sagen in Beziehung steht und der Fabel nach im Wettgesange mit der Nachtigall den Preis davon trug, weil er gut Choral sang und der Esel Schiedsrichter war. Alle haben ihn gehört und nur wenige haben ihn gesehen, den schönen, scheuen Vogel, der nur selten zum Schuß kommt, äußerst schlau ist, kein Nest baut, sondern als Freund der Grasmücken, Bachstelzen und Lerchen sein Ei in das Nest dieser kleinen Vögel legt, die den jungen Kuckuk besser pflegen, als ihre eigenen Jungen, welche sie sogar verkümmern lassen aus Sorge für den Eindringling. War es vielleicht aus moralischem Unwillen über das schlechte Beispiel, welches der Kuckuk durch sein Benehmen dem Menschengeschlecht giebt, daß der Kanton Uri bis in die jüngste Zeit ein Schußgeld auf jeden Kuckuk gesetzt und die Vertilgung dieses Vogels zum Range einer Staatsaction erhoben hatte? Oder stammte diese Verfolgung weit her aus alter, grauer Zeit, und war sie vielleicht in den Verhältnissen irgend eines der höheren Magistrate der altehrwürdigen Republik begründet, der den Ruf des Kuckuks nicht hören konnte, ohne darin eine Anspielung zu finden? Wie dem auch sein mag, so viel ist gewiß, daß der Kuckuk bis in die jüngste Zeit im erleuchteten Staate Uri verboten und jetzt erst in seine waldursprünglichen Rechte wieder eingesetzt worden ist.

Der Kuckuk spielt aber auch keine geringe Rolle im Aberglauben. Sein Name ersetzt den Teufel, wo man diesen nicht auszusprechen wagt: „Hol’ Dich der Kuckuk!“ „Geh’ zum Kuckuk!“ sind landläufige Redensarten, und sein Ruf gilt ebensowohl als Bezeichnung von Jahren und Jahreszeiten, wie als Vorbedeutung für eine Menge zukünftiger Dinge. Der Schwindsüchtige hört den Kuckuk nimmer rufen, und den verliebten Mädchen zeigt er ebensowohl die Zahl der Jahre an, während deren sie noch auf den Freier harren müssen, als den Kindern die Zahl der Sommer, die sie noch zu leben haben. Hat man viel Geld in der Tasche, wenn man zum ersten Male den Kuckuk rufen hört, so bleibt man reich das ganze Jahr hindurch; schade nur, daß dies meist, für die Städter wenigstens, bei Waldpartien begegnet, wo man gerade nicht die Gewohnheit hat, sich übermäßig mit Geld zu versehen. Die alten Weiber, sagt ein französischer Schriftsteller, die weder Anspruch auf heiße Liebe, noch auf eine fabelhafte Lebensdauer machen können, begnügen sich bescheidener Weise, ein wenig von der Erde zu nehmen, auf welcher der Kuckuk in dem Augenblicke saß, wo sie ihn zum ersten Male hörten, und halten sie für ein gutes Mittel gegen die Flöhe. Saß der Kuckuk auf einem Baume, so hat das bischen Erde, auf welchem man mit dem rechten Fuße stand, dieselbe Tugend.

Unter Förstern und Landleuten gehen noch andere Dinge um. Im Herbste wird er Sperber und im Frühjahr Kuckuk; andere lassen ihn sogar im Winter zur Kröte werden, die sich in einen hohlen Baum setzt; noch andere wissen etwas von seinen Wanderungen; aber sowie die Grasmücke seine Jungen ernähren muß, so muß die Gabelweihe ihn auf ihrem Rücken aus dem Lande und wieder herein tragen.

Und der Kern von allem diesen? Daß der Kuckuk der Raupenvertilger des Hochwaldes ist. Andere Insecten speist er nebenbei. Aber die stacheligen Bärenraupen, die haarigen Processionsraupen, die sogar giftige Eigenschaften haben, die sind es gerade, welche er zur täglichen Mahlzeit vorzieht und womit er sich die innere Magenwand so spickt, daß man früher glaubte, dieselbe sei behaart, während es doch nur die stacheligen Raupenhaare sind, die sich in den Magenwänden einhaken und durch die Drehungen derselben eine wirbelähnliche Stellung erhalten. Unglaubliches kann der Kuckuk in dieser Beziehung durch seine Gefräßigkeit leisten. Ich wunderte mich nicht mehr, erzählt Ratzeburg, der berühmte Beobachter der Forstinsecten, daß unser Raupenzwinger sich so schnell entvölkerte, seitdem ich wußte, daß sich ein Kuckuk in der Nähe angesiedelt hatte.



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Aus den Zeiten der schweren Noth.

Nr. 2.
Nur ein Schafhirt.

Die Vorbereitungen zu der Schlacht, welche auf Jena’s Höhen einen für ganz Deutschland so unheilvollen Ausgang nehmen sollte, wurden getroffen. Es war am 12. October. Das preußische Corps unter Hohenlohe, das mit allen Verstärkungen, die ihm Rüchel zugeführt hatte, nicht 40,000 Mann überstieg, standen in dichten Massen auf einer nördlich sich hinziehenden Höhenkette, rechts von der Straße von Jena nach Weimar, zwischen der Ilm und der Saale. Seine Vorposten standen auf dem Landgrafenberge, einem steilen Berge zwischen seiner Stellung und der Stadt Jena, von dessen Gipfel das preußische Heer völlig übersehen werden konnte, und über welchen der einzige Weg führte, um seine Stellung von vorne anzugreifen.

Die Armee des Königs von Preußen, unter dem unmittelbaren Befehle des Herzogs von Braunschweig, war über 65,000 Mann stark, etwas über eine Stunde weit im Rücken von Hohenlohe, in der Nähe von Weimar aufgestellt. So befand sich die ganze preußische Armee, aus etwas mehr denn 100,000 Mann bestehend, mit 18,000 trefflichen Reitern und 300 Kanonen, auf einem Schlachtfelde, wo ihre berühmte Taktik vollkommenen Spielraum zur Entwicklung hatte. Trotz ihrer Unglücksfälle beim Beginn des Feldzuges konnte sie immer noch mit dem Schwert in der Hand das Glück wiedergewinnen, und eine muthige, begeisterte Zuversicht erfüllte die Herzen der preußischen Krieger. Außerdem war ihre Stellung eine gute und trefflich concentrirte, und wollte Napoleon sie in derselben angreifen, so hatte er mit außerordentlichen örtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die die Entwicklung seiner besten Kräfte, der Reiterei und Artillerie, fast ganz verhinderten. Zwar war die Armee des Herzogs von Braunschweig von all ihren Magazinen abgeschnitten, und der Mangel stellte sich schon in ihr ein, allein ein einziger Tag des Glücks konnte alles Verlorene und noch mehr wiedergeben.

In Jena stand Lannes; Rey und Augereau hatten sich bei Roda und Kahla in seiner unmittelbaren Nähe aufgestellt, und Soult rückte mit einem starken Corps gleichfalls gegen Jena vor, während Davoust und Murat nach Naumburg rückten, um sich in den Besitz der dortigen großen Magazine zu setzen. Noch ließ sich der Ausgang der folgenden Tage nicht voraussehen; dem Anschein nach neigte sich die Wagschale des Glücks sogar den Preußen zu, denn sie hatten unbestreitbar die bei Weitem bevorzugtere Stellung inne, obschon ihnen ein kampfgeübtes Heer von über 100,000 Mann unter Napoleon selbst gegenüber stand. Daß eine gewaltige, entscheidende Schlacht bevorstand, ahnte ein Jeder. Schwer, drückend lag dies Gefühl auf der ganzen Gegend. Gleichviel auf welche Seite sich das Glück neigte, der weite Kampfplatz selbst war einem sicheren Verderben geweiht, und wer konnte ermessen, wie weit dieses sich ausdehnte? Noch wurden erst die Vorbereitungen zur Schlacht getroffen, und doch waren die Dörfer dieser Gegend schon so gut wie geplündert. Viele von den Einwohnern hatten sich mit einem Theile ihrer Habe und ihres Viehes auf die bewaldeten Höhen jenseit der Saale geflüchtet, die meisten hatten indeß zurückbleiben müssen.

Schon jetzt sah es in Jena’s Umgebung wie auf einem Schlachtfelds aus. In Unordnung hatten die Preußen diese Gegend geräumt, in unglückseligem Zerwürfniß zwischen Preußen und Sachsen hatten sie sich gegenseitig geplündert. Gepäck und Munitionswagen waren von ihren Führern verlassen und lagen zerstreut umher. Auf den Wegen und Feldern erblickte man Wagen, Waffen und Cuirasse. In die kaum frei gewordenen Stellungen rückten die Franzosen sogleich wieder ein und nahmen mit frechem Uebermuthe, was die Preußen und Sachsen übrig gelassen hatten.

An einem Bergabhange des linken Saalufers stand am Nachmittage dieses Tages ein Mann, den Kopf auf einen Stab gestützt und hinabschauend in das Thal, wo die Straße von Jena nach Naumburg sich hinzieht. Es war ein buntes, wirres Leben auf ihr. Soldaten, Pferde, Wagen drängten einander. Starr, gedankenvoll ruhte sein Auge auf diesem Treiben. Neben ihm weideten wenige Schafe. Die Kleidung des Mannes, ein einfach blauer langer Rock, ein großer, breitkrämpiger schwarzer Hut und eine lange Weste – seine ganze Erscheinung verriethen auf den ersten Blick, daß er ein Schafhirt war. Nur zuweilen warf er einen Blick auf die vier oder fünf Schafe neben ihm, und ein trauriges Lächeln zuckte um seinen Mund. Noch vor kurzer Zeit hatte er für seinen Herrn eine große und zahlreiche Heerde hier geweidet – diese wenigen Thiere waren Alles, was ihm davon geblieben war. Sie waren sein Eigenthum, hieher hatte er sich geflüchtet. Der Abhang war steil, und er durfte hoffen, daß hieher die Soldaten nicht dringen würden. Unten im Thale in dem Dorfe besaß er ein Haus. Aber in ihm hatten sich die Franzosen einquartiert und hatten ihn selbst daraus vertrieben. Die Wintervorräthe für seine Familie und seine Thiere hatte man gewaltsam genommen – was sollte er noch im Dorfe? Das Treiben des Feindes in der Nähe ansehen – er konnte es nicht! Er war allein, aber dann und wann ballten sich unwillkürlich seine Hände zusammen, und er stieß den Schäferstab fest auf die Erde. Er dachte an den Uebermuth und die Frechheit der Feinde – da schwoll ihm das Herz vor Unmuth, und seine dunklen Augen blickten unter den buschigen, aber bereits ergrauten Brauen wild und leuchtend hervor. Wär’ er zwanzig Jahre jünger gewesen, er würde nicht dort gestanden haben, aber seine Haare waren zu weiß für die Soldatenmütze.

Zwei Söhne von ihm standen droben auf der Hochebene in dem Heere, und auch zu ihnen eilten seine Gedanken. Ein Mann kam schräg an dem Bergabhange daher und eilte auf ihn zu. Er hörte ihn nicht, bis der neben ihm sitzende Hund anschlug. Schnell wandte der Hirt den Kopf, kaum hatte er den Kommenden indeß erblickt, so zogen sich seine Brauen noch finsterer zusammen.

„Nun, Born!“ rief der Herankommende, ein Mann von ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, dessen kleine stechende Augen und scharf hervorstehende Backenknochen seinem Gesichte einen unangenehmen Ausdruck gaben. „Nun, Ihr steht hier so ruhig, als ob nichts im Werke wäre! Das ist ein Leben und Treiben ringsum, daß man Gott danken sollte, man wär’ mit heiler Haut daraus.“

„Wer hindert Euch daran?“ warf der Schäfer ein.

„Eure Söhne stehen dort oben unter den Preußen?“ fragte der Fremde.

Born nickte bejahend.

„Und Eure Frau und Tochter?“

„Sie sind drüben,“ erwiderte der Hirt, mit der Hand auf die Berge jenseit der Saale zeigend.

„Und denkt Ihr, daß sie dort in Sicherheit sind? Dorthin wird der Feind auch dringen.“

„Es kommt vielleicht nur noch auf einen Tag an, und die Fremden müssen wieder zum Lande hinaus, wie sie hereingekommen sind!“

„Ha, ha!“ lachte Sielert, so hieß der Mann, „denkt Ihr denn, daß die Preußen siegen werden? Ich komme heute von Kahla und Jena und habe gesehen, wie zahlreich die Franzosen sind; es sollen viel über 100,000 Mann sein, die lassen sich nicht so leicht zum Lande hinausjagen!“

Born blickte ihn scharf und finster an. „Ihr scheint Euch auf die Seite des Feindes geworfen zu haben,“ sprach er langsam.

„Nein – nein! Aber Napoleon versteht den Krieg!“

„Und seine Reiter und Kanonen wird er doch nicht an diesen Bergen in die Höhe schaffen!“ erwiderte Born. „Es giebt nur einen Weg, auf dem es möglich wäre, und den kennt er nicht und wird er auch nicht finden.“

„Und Ihr kennt ihn?“ fragte Sielert fast hastig.

„Ich kenne ihn,“ erwiderte Born ruhig. „Doch wohin führt Euch Euer Weg?“

„Nach Naumburg wollt’ ich,“ erwiderte Sielert. „Auf der Heerstraße ist nicht durchzukommen vor allen Soldaten, Pferden und Wagen – ich muß deshalb Nebenwege einschlagen! Lebt wohl!“

Lange blickte der Schafhirt ihm nach, und in seinem Auge lag ein finsterer Ausdruck. Langsam trieb er seine Thiere auf ein kleines Gehölz zu, welches in geringer Entfernung sich an dem Bergabhange hinzog. Dort sollten sie die Nacht über bleiben, und [234] er selbst wollte in dem Gehölze die Nacht zubringen. Wohl waren die Nächte schon kalt und feucht, an Wind und Wetter von Jugend auf gewöhnt, fürchtete er sie nicht, denn schon in kälterer Zeit hatte er manche Nacht im Freien zugebracht. Je mehr der Abend hereinbrach und je stiller es wurde, um so lauter schallte das Geräusch von dem Treiben im Thale zu ihm herauf, das dumpfe schwere Rollen der Kanonen und Proviantwagen, der Hufschlag der Pferde, dazwischen laute Stimmen, Trommelschlag und Musik. Schon dies Geräusch schreckte ihn ab, in das Thal zurückzukehren, und lange hielt es ihn wach, bis er endlich sitzend, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, dicht neben sich seinen Hund und seine wenigen Thiere, entschlief. –

Der 13. October brach heran, einer der wichtigsten Tage in Deutschlands Geschichte, denn an ihm und nicht am folgenden Tage wurde das Geschick der Schlacht im Voraus entschieden. Der Herzog von Braunschweig, besorgt um die für sein Heer so nothwendigen Vorräthe in Naumburg, welche von Davoust, Bernadotte und Murat bedroht wurden, und hoffend, daß Napoleon nicht sogleich und zumal nicht auf diesem für ihn so ungünstigen Terrain eine Schlacht liefern werde, hatte seine Armee getheilt, und der Haupttheil derselben zog mit dem Könige an der Spitze mit Tagesanbruch nach Sulza und kam am Abende dieses Tages auf den Höhen von Auerstädt an. Hohenlohe blieb als Nachhut auf den Berghöhen zwischen Jena und Weimar zurück. Er selbst gab die Vortheile seiner Stellung, die ihn mächtig machten, unbegreiflicher Weise auf. Statt sein Corps nach dem Abzuge des Herzogs von Braunschweig noch mehr zu concentriren, um die Hauptpunkte dieser Stellung gehörig besetzen und vertheidigen zu können, dehnte er dasselbe über einen Raum von sechs Stunden aus, ohne in dieser langen, schwachen Linie wirklich bedeutende Stützpunkt zu haben. Und den wichtigsten und höchsten Punkt der ganzen Stellung, den Landgrafenberg, gab er ganz auf.

Kaum hatte Napoleon diesen Fehler bemerkt, so bestieg er selbst den Berg, und bald darauf war er von Lannes’ ganzem Corps besetzt. Zu spät sah jetzt Hohenlohe seinen Fehler ein, er wollte den Hügel wiedernehmen, wurde indeß zurückgeworfen. Von diesem Hügel aus konnte Napoleon die ganze Stellung des preußischen Heeres beobachten, und die weite Ausdehnung der feindlichen Linie ließ dasselbe größer erscheinen als es war. Für den folgenden Tag hatte er einen Schlachtplan entworfen. Lannes’ ganzes Corps hatte er bereits auf der Anhöhe, noch fehlte ihm aber die Reiterei und die Artillerie, und ohne Beide konnte er keine Schlacht wagen. Vergebens war Alles aufgeboten, sie an den hohen und steilen Abhängen des Landgrafenberges hinaufzuschaffen; es war unmöglich, ohne die Zeit von einigen Tagen zu verlieren. Hatte doch selbst die Infanterie die größte Mühe, auf den schmalen, den Berg hinanführenden Pfaden hinaufzuklimmen.

Der Morgennebel hatte sich verzogen, und erst jetzt wurde Hohenlohe gewahr, was für eine bedeutende Macht des Feindes, die während der Nacht auf die Anhöhe gebracht war, ihm gegen über stand. – Um dieselbe Zeit stand auch der Schafhirt wieder an dem Bergabhange, seine Thiere zu weiden. Sein erster Blick war in das Thal hinab gewesen, und aus seinen Augen glühte ein begeistert freudiges Feuer, als er die zahlreichen Geschütze und Munitionswagen im Thale aufgefahren sah und aus den großen Massen Reiterei erkannte, daß es noch nicht gelungen war, diese den Berg hinauszuschaffen.

„Teufel!“ rief es unwillkürlich in ihm. „Wenn er den Weg wüßte, der auf jene Höhe führt! Er selbst wird ihn nimmer finden, es kennen ihn überhaupt nur Wenige und vielleicht Niemand so genau als ich. Er sieht nicht aus, als ob es möglich wäre, ihn zu passiren, und doch bin ich selbst früher mehr als einmal auf ihm geritten.“

Wieder kam der Mann, der ihn am Tage zuvor überrascht hatte, vom Berge herab zu ihm.

„Ihr sagtet gestern, daß Ihr nach Naumburg wolltet? “ fragte Born.

„Das war allerdings meine Absicht, alle Wege sind indeß so gut wie versperrt, es ist fast unmöglich hindurch zu kommen. Ich habe übrigens gestern noch ein gutes Geschäft gemacht, von dem ich schon eine Zeit lang leben kann. Schaut!“ fügte er hinzu, indem er einen Geldbeutel empor hielt, in welchem mehrere Goldstücke glänzten. „Seht, es sind jetzt schlechte Zeiten, Handel und Arbeit stocken, es hält schwer, Geld zu verdienen, und man weiß noch nicht, welche Schicksale uns bevorstehen. Mit diesem Gelde will ich wieder einen kleinen Handel beginnen. Hört, wie ich mir das ausgesonnen habe.“

„Ich versteh’ von Euerem Handel nichts, und es geht mich auch nichts an,“ unterbrach ihn der Hirt, der mit diesem Menschen nicht länger Etwas zu schaffen haben mochte.

„Nun, was habt Ihr?“ fragte Sielert beruhigend. „Ich habe Euch dazu nöthig – hört mich ruhig an. Seht, den Landgrafenberg und die ganze Höhe dort haben die französischen Fußvölker besetzt, wie Katzen sind sie den Berg hinaufgeklettert. Da oben giebt’s wenig, wie Ihr wißt, es traut sich auch Niemand zu den Franzosen; ich fürchte sie nicht. Nun möchte ich gern mit einem kleinen Wagen Wein und Bier dorthinauf schaffen, man wird es mir gut bezahlen, aber wie soll’s hinaufkommen? Seht, Born, ich schenke Euch eins von diesen Goldstücken, wenn Ihr mir den Weg zeigt, von dem Ihr gestern spracht. Wollt Ihr?“

Mit steigender Spannung hatte Born ihm zugehört, forschend ruhte sein Auge auf seinem Gesichte.

„Ich soll Euch den Weg zeigen?“ rief er. „An die Feinde wollt Ihr ihn verrathen!“

Sielert lächelte verschmitzt. „Seid kein Thor, Born! Und wenn dies nun wirklich meine Absicht wäre? He! Kommt, wir wollen das Geschäft zusammen machen, ich unterhandle mit den Franzosen, ich stelle eine Forderung und ich verspreche Euch, daß sie uns soviel geben sollen, daß Keiner von uns Beiden in seinem Leben wieder zu arbeiten braucht.“

Des Hirten Wangen hatten sich geröthet, die Adern auf seiner Stirn waren angeschwollen, in seinem Innern gährte ein Unwetter, aber noch brach es nicht los.

„Nun sprecht, Born,“ drängte Sielert.

„Ich – ich soll den verd – Franzosen den Weg verrathen?“ rief Born, der noch immer nicht Luft für seinen Zorn bekommen konnte.

„Nun weshalb nicht, wenn es gut bezahlt wird? und dafür sich’ ich!“

„Schuft!“ unterbrach ihn der Hirt heftig, indem er ihn an der Brust erfaßte. „Schuft Du! Mein eigenes Vaterland, das Leben meiner Söhne soll ich für Geld verrathen? Da, fahr hin!“ und mit überlegener Kraft, trotz seines Alters, stieß er ihn den Abhang hinab.

Mehrere Male stürzte der Verräther kopflings über, dann raffte er sich auf und drang wuthschäumend auf den Alten ein. Dieser hatte seinen Schäferstab erhoben und sah nicht aus, als ob er zögern werde zuzuschlagen. Sielert wagte sich nicht an ihn heran. „Das sollt Ihr büßen!“ rief er wüthend und eilte den Berg hinab.

„Denk an Dein eigen Leben, das endet am Galgen!“ rief ihm der Alte nach.

Sein einfach schlichter Sinn vermochte solche Schändlichkeit nicht zu fassen. Er setzte sich nieder und stützte das Haupt auf die Hand. Wie war es möglich, daß Jemand an seinem eigenen Vaterlande zum Verräther werden konnte? Er dachte seiner Söhne, seiner Tochter und Frau. Seit langer Zeit hatte er sie nicht gesehen. Noch waren sie ungefährdet, denn jenseits der Saale erblickte er noch keine Feinde, die dortigen Höhen waren noch frei. Aber was sollte aus ihnen Allen werden, wenn die Franzosen wirklich siegten? Es konnte und durfte nicht sein!

Länger denn eine Stunde hatte er sinnend dagesessen. Nahende Schritte schreckten ihn auf. Mehrere französische Soldaten näherten sich ihm. Da erblickte er auch Sielert in einiger Entfernung. Eine bange Ahnung stieg in ihm auf. Erschreckt sprang er auf. Sollte er fliehen? Seine alten Beine würden ihn nicht weit getragen haben. Sollte er sich zur Wehr setzen? Fest, fast krampfhaft erfaßte er seinen Stab – auch dies wäre Thorheit gewesen! Scheinbar ruhig blieb er stehen. Die Soldaten traten heran, und einer von ihnen forderte ihn in gebrochenem Deutsch auf, ihnen zu folgen.

„Wohin?“ fragte Born, dessen Ruhe und Fassung zum großen Theile zurückgekehrt waren.

„Zum Marschall,“ lautete die Antwort.

[235] Born zögerte. Was wollte man von ihm? Sollte seine Befürchtung wirklich wahr sein?“

„Hat Euch Der hieher geführt?“ fragte er weiter, auf Sielert zeigend. Seine Frage wurde bejaht. Jetzt war kein Zweifel mehr – er sollte den geheimen Weg verrathen. Ihm schwindelte fast. Sollte er sich weigern zu folgen? Sein Arm war noch kräftig! – Es war Thorheit! – Schweigend mit ahnungsvoll bangem Herzen folgte er den Soldaten. Rasch schritten sie die Anhöhe hinauf. Sielert wartete auf sie, bis sie ihn eingeholt, dann ging er mit ihnen.

„Ich habe versprochen, daß ich Euch heimzahlen will,“ sprach er zu Born. „Man wird Euch den Mund schon öffnen, um den Weg zu erfahren!“

Der Alte schwieg, er hörte diese Worte kaum. Eine innere Stimme rief ihm zu: „Dies ist ein schwerer Gang für Dich! Nenne den Weg, oder Du stürzest Dich und die Deinen in’s Unglück! Nenne ihn, ehe man Dich durch Gewalt und Härte dazu zwingt!“ – Und er selbst sagte sich dann wieder: „Man kann Dich nicht zwingen! Die Gewalt kann Dir den Mund öffnen, aber nicht das Geheimniß aus Deiner Brust herausholen!“

Als er den Landgrafenberg erstiegen, führten ihn die Soldaten in das Hauptquartier vor den Marschall Lannes selbst. Dieser ließ einen Augenblick sein Auge forschend auf ihm ruhen und fragte ihn dann, ob er, wie er zu Sielert gesagt, einen Weg auf diese Anhöhe wisse, auf dem Pferde und Geschütze hinaufgeschafft werden könnten.

„Ja,“ sprach Born ruhig.

„So zeigt ihn uns, und Ihr sollt eine reichere Belohnung haben, als Ihr ahnt.“

Born schwieg. In ihm stürmte und wogte es. Er durfte nicht zum Verräther werden!

„Wollt Ihr uns den Weg zeigen?“

„Nein!“ erwiderte der Hirt bestimmt. „Ich würde schlecht gegen meine Landsleute handeln!“

„Ihr wollt also nicht?“ rief der Marschall. „Glaubt Ihr, daß wir nicht auch ohne Euch den Weg finden werden? Es liegt mir nur daran, ihn heute noch zu erfahren.“

„Ich verrathe ihn nicht,“ entgegnete Born.

„Ihr wollt nicht?“ fuhr der Franzose auf. „Ihr wagt mir zu trotzen? Glaubt Ihr, daß ich Euch nicht zwingen kann?“

„Mich kann Niemand dazu zwingen.“

„Nicht? Ich werde Dir’s zeigen! Nicht von Deinem Willen soll der Ausgang einer ganzen Schlacht abhängen! Du erhältst eine reiche Belohnung, wenn Du uns den Weg zeigst – weigerst Du Dich – so stirbst Du! Nun entscheide Dich!“

Born schwieg.

„Es ist mein Ernst! Du stirbst, wenn Du mir zu trotzen wagst!“

Das Gesicht des Alten war merklich blässer geworden. Er zitterte leise, und einen Augenblick lang drohten seine Kniee zusammen zu brechen – er dachte an sein Weib und seine Kinder – dann erlangte er seine volle Fassung wieder und sprach fest: „Ich bin kein Verräther!“

„Du willst nicht?“ rief der Marschall heftig.

„Nein!“

„Führt ihn fort!“ befahl der Marschall in heftigster Aufregung einem Officier. „Führt ihn fort! Gebt ihm noch eine halbe Stunde Zeit zum Besinnen, und wenn er dann noch zu trotzen wagt, so laßt ihn erschießen!“

Er wandte sich ab, und Born wurde fortgeführt. Vergebens trat Sielert, dem durch des Alten Tod ein Gewinn entging, zu ihm und suchte ihn zu bewegen, den Weg zu zeigen, nur seine Richtung zu bezeichnen. Vergebens suchte auch der Officier ihn zu bereden, Born schwieg. Mit gefesselten Händen wurde er an den Abhang der Anhöhe geführt. Vor seinen Augen luden drei Soldaten ihre Gewehre, er wandte sich ab. Eine halbe Stunde Zeit war ihm noch vergönnt, sich zu besinnen. Schweigend setzte er sich nieder und richtete den Blick starr in das Thal und auf die fernen Berghöhen. Seine Wangen waren bleich. Welche Gefühle mußten in ihm vorgehen! – Eine Thräne trat in sein Auge – er drängte sie zurück.

Die gegebene Frist war beendet. Der Officier trat zu ihm und fragte, ob er den Weg zeigen wolle. Er antwortete nur mit einem Schütteln seines Kopfes. – Die Augen wurden ihm verbunden, er wurde an einen Baum gestellt, und die Soldaten traten zum Schusse an. Nochmals wiederholte der Officier die Frage, ja zum dritten Male, als der Hirt aber auch jetzt noch verneinend das Haupt schüttelte, erschallte das Commando: „Feuer!“ Drei Schüsse hallten zugleich an den gegenüberliegenden Bergen wider, und ohne einen Laut sank der Hirt zusammen. Er war gut getroffen, keine Muskel seines Gesichtes zuckte mehr. Die Soldaten ließen den Leichnam liegen, es war ja Krieg, bis er zwei Tage später mit Hunderten von Preußen und Franzosen gemeinsam in die Erde gebettet wurde. Kein Geschichtsbuch enthält diesen Heldentod eines einfach schlichten Schafhirten! – – nur einzelne Landleute in der Gegend von Jena wissen noch davon zu erzählen.

Napoleon erschien selbst wieder auf dem Gipfel des Landgrafenberges, unwillig über die unüberwindlichen Schwierigkeiten, welche diese steilen Bergabhänge für seine Reiterei und Geschütze darboten. Da trat ein Officier zu ihm und meldete ihm, daß in einem Wirthshause in Jena, in dem an der Saale gelegenen Geleitshause, ein Prediger aus Wenigen-Jena die Aeußerung gethan habe, es gebe einen Weg, um Pferde und Geschütze auf die Anhöhe zu schaffen, er selbst kenne ihn. Sofort gab der Kaiser Befehl, den Prediger zu verhaften und zu ihm zu führen, und nicht eine Stunde war vergangen, so stand der erschrockene Prediger vor ihm. Unvorsichtig hatte er gegen einen Bekannten die Aeußerung gethan, welche der Officier zufällig gehört hatte.

Er war bleich, zitterte und vermochte vor Angst kaum ein Wort hervorzubringen, als der Kaiser ihn aufforderte, den Weg zu zeigen. Er besaß nicht den Muth und die Kraft, sich zu weigern. Von einem Officier geführt, von dem Kaiser selbst und einigen höheren Officieren begleitet, zeigte er ihnen den Weg, der durch das von einem Gießbache durchströmte, von Felsen beengte und mit Wald bewachsene Rauthal führt. Das Bett des Baches bildete den Weg, und mit scharfem Auge erkannte Napoleon die Möglichkeit, auf ihm seine Geschütze auf die Anhöhe zu führen. Zwar mußten hier und dort Bäume gefällt und den Weg allzusehr beengende Felsen gesprengt werden, allein diese Schwierigkeiten ließen sich überwinden, und sofort ertheilte er den Befehl, das Werk mit allen Kräften zu beginnen, um den Weg fahrbar herzustellen.

Der Prediger, der ohne bösen Willen und durch Unvorsichtigkeit und Schwachheit diesen Weg verrathen, wurde bis zum folgenden Morgen auf dem Landgrafenberge zurückgehalten. Eine als Belohnung angebotene Geldsumme schlug er aus. Mit unendlichen Mühen wurde der einzig mögliche Weg durch dieses Thal fahrbar gemacht. Um acht Uhr Abends war er fertig, und mit denselben Mühen wurden nun die Pferde und Kanonen auf ihm hinausgeschafft. Napoleon selbst führte die Aufsicht und legte mit Hand an, um seine Soldaten anzufeuern. Halb getragen, halb gezogen, waren gegen Morgen die meisten der Geschütze auf die Anhöhe gebracht. Nun erst legte sich der Kaiser, in seinen Mantel gehüllt, für kurze Zeit auf dem Gipfel des Landgrafenberges nieder.

Der Morgen des 14. October war neblig und naßkalt. Ehe der Nebel verschwand, stand das französische Heer zum Kampfe geordnet da, während die Preußen in der festen Zuversicht, daß dieser Tag ein Ruhetag sein werde, und durch einen Brief Napoleons an den König von Preußen im Glauben eines Waffenstillstandes befestigt, sich der größten Ruhe überließen. Erst als die Sonnenstrahlen den Nebel scheuchten, als ihre angegriffenen und zurückgeworfenen Vorposten Alarm schlugen, wurden sie gewahr, daß Napoleon ihnen eine Schlacht bot. – Die Schlacht von Jena war in diesem Augenblicke fast schon entschieden. – Wie mag dem Manne, der den Weg durch das Rauthal verrathen, das Herz geschlagen haben, als die erste Kunde von der verlorenen Schlacht sein Ohr traf!

Nun – auch er ist längst todt wie der Schafhirt. Ob auch er so ruhig wie dieser gestorben, wer weiß es? So schön war sein Tod sicher nicht! – –

Fr. Fr.
[236]

Jagddaguerreotypen.[1]

Von Ludwig Beckmann.
III.
Das Schwarzwild und seine Jagd in alter und neuester Zeit.

Weniger prunkhaft und anmaßend im Aeußern, als die Parforcejagd, aber ungleich großartiger in seiner Anlage und seinen Erfolgen ist das eingestellte oder eingerichtete Jagen, welches auch wohl, im Gegensatz zur französischen Parforcejagd, einfach deutsches Jagen genannt wird.

Das „deutsche Jagen“ stammt aus uralter Zeit und besteht wesentlich darin, daß man einen ganzen Walddistrict mit Jagdtüchern und Netzen umspannt (einstellt, einrichtet) und das eingeschlossene Wild später durch Anwendung der Waffen, Hunde oder Fallgarne erlegt oder fängt. Das Arrangement und die Leitung eines solchen Jagens erfordert nicht geringe Sachkenntniß und Umsicht von Seiten des Dirigenten und wurde daher in der Blüthezeit des Jagdwesens als eine Art Probe – oder Meisterstück betrachtet, bei welchem der angehende Jäger sich die Sporen verdienen oder – sich gründlich blamiren konnte. – Die kostspielige Herstellung und Erhaltung des erforderlichen Jagdzeuges, die unvermeidliche Beschädigung der Holzbestände und vor Allem die Abnahme des Hochwildstandes im Freien sind Ursache, daß diese großartigen, echt deutschen Jagden bereits so ziemlich einer vergangenen Zeit angehören. Unsers Wissens wurden die letzten eingestellten Jagden im Hannoverschen gegen das Ende der Regierung Ernst Augusts abgehalten und zwar in einer so vollendeten Weise, daß sie mit den besten Jagden früherer Zeit rivalisiren konnten. Gegenwärtig dürfte an keinem Hofe das zu einem Hauptjagen erforderliche Zeug mehr vorhanden sein, wenigstens nicht in brauchbarem Zustande sich befinden.

Hohe Tücher mit Prellnetzen doublirt.

Bei dem Jagdzeug unterscheidet man zunächst die Feder- und Tuchlappen, d. i. lange Schnüre, an welchen Federbündel oder viereckige Stücke weißer Leinwand in Zwischenräumen befestigt sind. Diese Schnüre dienen zur vorläufigen Einschließung (Verlappung) des Jagens, um das Wild am Ausbrechen zu hindern, während das eigentliche Zeug herangefahren und gerichtet wird. – Letzteres besteht in den aus starker, weißer Leinwand angefertigten Tüchern (finsteres Zeug) und den Netzen oder Garnen (lichtes Zeug). Der Höhe nach unterscheidet man bei ersteren hohe (von 9 –10 Fuß) und halbe (von 6–7 Fuß) Tücher; bei den Garnen aber hohe, mittlere und niedere. – Die Garne werden entweder, wie die Tücher, straff ausgespannt, um das Jagen einzuschließen, oder im Innern des Jagens locker (mit Busen) aufgehängt, um das Wild darin zu fangen (Fanggarn). Werden Hirsche und Sauen zugleich gejagt, so spannt man die mittlern Garne innerhalb der Tücher, um die Sauen von letztern abzuhalten (mit Prellnetzen doubliren). Die Länge der einzelnen Zeuge und Garne beträgt circa 150 Schritt; daher machen 3 Stück hoher Tücher mit ihren Stellstangen und sonstigem Zubehör schon ein starkes sechsspänniges Fuder aus; von den Saunetzen (lichtes Mittelzeug) rechnet man etwa 8 Stück auf ein vierspänniges Fuder. Die Zeugwagen haben die bei den Militär-Rüstwagen gebräuchliche Form – ringsum geschlossen, mit gewölbtem Deckel.

Die Hirschjagden beginnen mit der Feistzeit des Hirsches, etwa um Mariä Himmelfahrt, und währen bis St. Egidii – die Saujagden währen von S. Gallen bis heil. 3 Könige. Doch wurden nicht selten Hirsch- und Saujagden vereinigt, wie auch einzelne gut jagdbare Hirsche und grobe Sauen außer jener Zeit gejagt. – Unter den mancherlei Abarten des eingestellten Jagens erwähnen wir: das Kesseljagen, Contrajagen, Bestätigungs-, Haupt- und Festin-, Wasser-, Hatz- und Fangjagen. – Die einfachste und ursprünglichste Form ist das Kesseljagen, wobei man einen Walddistrict, in welchem man mit Bestimmtheit Wild vermuthet, mit dem Zeuge einstellt und ohne weitere Arrangements das eingeschlossene Wild treiben läßt, welches dann an den Wechseln oder auf breiten Schneißen und Wegen geschossen oder behetzt wird. – Um keine Fehljagden zu machen, pflegte man auch wohl das Wild vor dem Einstellen mit dem Leithunde zu bestätigen [2], woraus [237] die Bestätigungsjagen entstanden, welche vorzugsweise auf einzelne extragute Stücke Wild angewendet wurden, letztere wurden später bedeutend vervollkommnet, indem man das Jagen, sobald es im Ganzen stand, durch Nachrücken der Zeuge allmählich bis zu dem sogenannten Zwangtreiben verengte. Vor dem Zwangtreiben aber richtete man einen freien Platz ein – den Lauf, auf welchem das Wild nach Niederlassung des Falltuches erschien und erlegt wurde. Der Lauf ist etwa 250 Schritt lang und 150 breit – in der Mitte werden die Schirme für den Jagdherrn und die Jagdgäste placirt. – Sollte das Wild auf dem Lauf mit Hunden behetzt werden, so erhielt der Lauf eine kreisrunde Form (Hatzlauf), und außer dem im Centrum befindlichen, herrschaftlichen Schirme wurden rings an den Wänden die einfachen Hatzschirme errichtet, hinter denen die Jäger mit den Hatzhunden hielten. – Zur Abwechslung brachte man auch dem Zwangtreiben gegenüber am andern Ende des Laufes eine zweite Kammer an, in welche das nicht erlegte Wild sich zurückzog, bis es wieder zurück über den Lauf getrieben wurde (Contra-Lauf).

Jäger aus dem 16. Jahrhundert, eine Sau auf das Fangeisen fordernd.
Nach einem alten Holzschnitte.

Bei den sogenannten Hauptjagden wurde das Wild oft aus meilenweiter Entfernung durch viele Hunderte von Menschen in den zuvor mit dem Zeuge eingestellten Walddistrict getrieben. Um diese Wildmassen am Durchbrechen der Tücher und Garne zu hindern, mußte das Jagen die ganze Nacht hindurch verfeuert werden. Es wurden nämlich in je 100 Schritt Entfernung Wachtfeuer angezündet, und man ließ, um eine fortwährende Patrouille zu unterhalten, einen Hirschfänger die ganze Nacht hindurch von einem Feuer zum andern tragen. – Nachdem das Jagen bis auf das Zwangtreiben verengt war, suchte man das Wild nach Art, Alter und Geschlecht zu separiren, denn man setzte eine Ehre darein, nur gleiche Wildarten, z. B. das eine Mal nur jagbare Hirsche, ein andermal nur dreijährige Keiler etc. am Tage des Abjagens auf den Laufplatz zu bringen, und unterschied darnach ein reines oder gemengtes Jagen. Diese Separation bewirkte man durch nochmaliges Durchstellen des Zwangtreibens mit Jagdzeug, welches so weit vom Boden gehoben wurde, daß das geringere Wild durchkriechen konnte, theils durch Eintreiben und selbst durch Einfangen einzelner Stücke. So wurden z. B. einzelne Sauen, welche sich im Zwangtreiben gelagert hatten, mit einem Fanggarn im Cirkel umstellt und die aufgeschreckte Sau hineingejagt (tyrassiren). – Die Abtheilungen, in welche das separirte Wild gebracht wurde, hießen die Kammern und standen durch ein Falltuch mit dem Zwangtreiben oder direct mit dem Lauf in Verbindung. Hauptsache war hierbei, das innere Arrangement so zu treffen, daß das Wild Wasser und Nahrung fand, andererseits mußten oft künstliche Futterplätze und Tränken eingerichtet werden.

Zur festgesetzten Stunde erscheinen endlich, am Tage des Abjagens, die herrschaftlichen Wagen auf dem Lauf, die hohen, höchsten und allerhöchsten Herrschaften steigen aus und nehmen unter den schmetternden Fanfaren der Jäger ihre Plätze in den Jagdschirmen ein. Die Equipagen verlassen den Laufplatz, das hohe Portaltuch schließt sich hinter ihnen. Das Zeichen zur Eröffnung der Jagd wird gegeben, und die Jägerei zieht mit Treibern oder leichten Jagdhunden zu Holz mit dem üblichen Wald- oder Jagdschrei: Jo, hoho! Ridoh, Ridoh! haho! (Werden außer den Sauen auch Hirsche gejagt, so ist der Ruf: Jo, haho! ho, ho, ho!) Wo das Terrain eine Uebersicht des ganzen Ganges der Jagd gestattet, bieten sich jetzt dem Auge des Beschauers die malerischsten Scenen, wie sie ein späterer Dichter[3] bei Gelegenheit eines gemengten Jagens beschreibt: „Den größten und imposantesten Anblick des Jagdfestes boten unstreitig die enormen Wildmassen dar, welche wie Katarakten, wovon Keiler, Bachen, Hirsche, Rehe und anderes Gethier gleichsam nur die Tropfen bildeten, hernieder an der schroffen Abdachung des Gebirgsrückens ihrem unwiderruflich geworfenen Todesloose zustürzten.“

Das Falltuch wird abgeworfen, und bald verkünden die lustigen Hörner die Ankunft des Wildes auf dem Laufplatz, dessen Wände, mit Tannenzweigen dicht verblendet, hohen, grünenden Hecken gleichen. Den Anfang macht bei reinem Jagen in der Regel das Schwarzwild, wo möglich einige starke Keiler oder Hauptschweine, welche vom Schirme aus geschossen und, falls sie nicht gleich verenden, von dem fortwährend thätigen Jagdpersonal abgefangen werden. Sobald das erlegte Schwarzwild durch die Wildträger beseitigt ist, verkündet eine schmetternde Fanfare die Ankunft der jagdbaren Hirsche. Auch sie verenden und färben mit ihrem Schweiß den Sand des Laufplatzes. Hierauf folgen die geringern Hirsche und dann die Bachen. Zuletzt auch wohl ein gemengtes Jagen, worunter auch Rehböcke, Füchse, Hasen zur Abwechselung auftreten. Alles Wild, welches nicht erlegt werden soll, wird, nachdem es den Lauf passirt hat, durch das Schnapptuch wieder in Freiheit gesetzt. Das erlegte Wild aber wird nun reihenweise vor den Jagdschirmen gestreckt und zwar so, daß die stärksten Hirsche und Sauen vor – das geringere Wild hinter jedem Schirm placirt wird, aus welchem es erlegt wurde.

Ist das Jagen in dieser Weise ausgeschossen, so findet in der Regel ein Dejeuner statt, worauf man in frühern Zeiten zum Abfangen der Sauen auf dem Hatzlauf überging. Auf dem Hatzlauf erschienen vom Schwarzwild nur die stärksten Keiler und Hauptschweine, welche hier mit den schweren Fang- und Kammerhunden behetzt wurden. Man verwendete hierzu hauptsächlich eine Art großer englischer Doggen und die leichtern dänischen Blendlinge. Um diese oft sehr kostbaren Hunde vor den Schlägen der Sauen zu schützen, wurden sie oft gepanzert oder gejackt, indem man sie mit einer Art Camisol von starker, doppelt wattirter Leinwand mit eingenähten Fischbeinstäbchen versah. Indessen erfüllten derartige Panzer ihren Zweck höchst unvollkommen, und die gejackten Hunde wurden wegen ihrer Unbehülflichkeit in der Regel am meisten beschädigt. Sobald die Hunde eine Sau gepackt und gedeckt hatten, wurde dieselbe mit dem Hirschfänger oder Fangeisen (der sogenannten Saufeder) abgefangen. – Man forderte sie auch wohl auf das Fangeisen, indem man der Sau das bekannte: „Hu Sau!“ zurief, auf welchen Ruf die Sau den Jäger bekanntlich angreift und sich das vorgehaltene Eisen selbst in die Herzgrube, zwischen Hals und Bugbein, treibt. Ein Jagdschriftsteller jener Zeit sagt hierüber: [238] „Es muß aber ein Jäger, der ein Schwein fangen und stechen will, also stehen, daß er mit der linken Hand den Spieß regiere, und mit der rechten nachdrucke; so muß er die Füße auch also setzen, daß der linke Schenkel unter der linken Hand und der rechte unter der rechten Hand fest und unbeweglich stehe. Man muß fein nach der linken Hand zum Schweine gehen und dann nach Gelegenheit, wann es die Noth erfordert, wiederum ein wenig zurücke treten und gute Achtung auf des Schweines Kopff oder Stirne geben, wie es denselbigen wendet, und ein vorsichtig Treffen mit dem Thier thun, daß man es nicht auf den Kopfs treffe, sonst schlägt es einem den Spieß aus, und wann dies geschieht, so muß der Jäger vor sich mit dem Bauch und Angesicht auf die Erde fallen, so kann ihme der Hauer keinen Schaden zufügen. Wann er aber stehen bliebe, so thäte es ihm gewißlich einen großen Schaden. – Eine Bache aber, obwohl sie mit ihren Zähnen nicht sehr schaden kann, so beißet sie ihn doch und machet ihme auf dem Rucken ein Hoff-Recht mit den Füßen, daß ihme nicht wohlgefällt. Darum soll ein Jäger allezeit Gesellschaft bei ihme haben, die ihn im Nothfall entsetzen können, dann da muß einer balden dem Schwein einen andern Spieß für die Nasen halten.“

Ziemlich verbreitet ist die Annahme, daß man in früherer Zeit die Hatzhunde dahin dressirt habe, die Sauen kreuzweise bei den Gehören zu packen, sodaß der links gehende Hund das rechte Gehör, der rechte Hund aber das linke Gehör ergreift. – Referent hat sich vergebens bei den ältesten Jägern nach einer Bestätigung dieser Fangmethode umgesehen. Es mag vorkommen, daß ein einzelner großer Hund eine Sau über Kreuz packt, allein es ist nicht abzusehen, wie alsdann der zweite Hund über den ersten hinweg zu dem andern Gehör gelangen soll. Im Naturtrieb der Hunde liegt dies sonderbare Experiment durchaus nicht, denn auf der Streifhatze z. B. sieht man die Hunde rings um die gedeckte Sau stehen, die Köpfe niedrig und die Ruthen hoch – sie haben zunächst die Hinter- und Vorderläufe, als die bewegenden Theile, ferner besonders den Bart unter den Kinnbacken und das lange borstige Haar an den Bauchseiten gefaßt. Erst die später ankommenden Hunde ergreifen die Gehöre und zwar von derselben Seite, von welcher sie herankommen, sodaß eine derartig gedeckte Sau unten kranzförmig von den Hunden umgeben ist, während der ganze obere Körper frei ist.




Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Als Harriet Reichardt auf der Piazza von Congreßhall verlassen, hatte er wie in einem halben Rausche die nöthigen Schritte für seine Umwandlung zum Gentleman gethan. Schwer war ihm dies aber geworden, als er, aus der „Office“ tretend, den kleinen Dirigenten mit rothem Gesichte auf sich zukommen sah. „Der Donner, wo stecken Sie denn? es geht los! rasch!“ – Reichardt mochte den treuherzigen Alten nicht mit der Lüge narren, daß er nur „aus einer tollen Laune“ mit hierhergegangen sei. Er sagte ihm, daß er hier plötzlich Bekannte gefunden, die ihm helfen wollten, aber sein ferneres Zumtanzespielen nicht dulden möchten, und daß die Musiker sich jetzt ohne ihn behelfen müßten. Das erschrockene Gesicht des Mannes, der so etwas für „absolut unmöglich“ erklärte, wenn er nicht halb ruinirt sein solle, that ihm fast weh – zum Glück aber erschien einer der Aufwärter, welcher „den Gentleman nach seinem Zimmer führen wollte“, und so hatte Reichardt kurzen Abschied genommen und den Alten mit aufgerissenen Augen und halboffenem Munde stehen lassen.

Als er aber in dem ihm angewiesenen Zimmer eine Viertelstunde lang auf- und abgeschritten und das erregte Blut zur Ruhe gekommen war, hatten sich unangenehm nüchterne Betrachtungen eingestellt, denen er selbst dann kaum begegnen konnte, wenn er sich auf’s Neue Harriet’s ganzes Wesen, dessen eigenthümliche Energie ihn zu seinem jetzigen Entschlusse getrieben, wieder vor die Augen stellte. Sie hatte ihm die Aussicht zu einer Existenz in Tennessee eröffnet – wo aber sollte er das Geld zu der Reise hernehmen? Das war der Gedanke, der jeden andern zu verdrängen begann. Was er besaß, reichte wohl nicht zum dritten Theile hin, und sie, wenn sie ihn nach seinem Aeußern beurtheilt hatte, konnte kaum vermuthen, daß er so arm sei, als er wirklich war.

Er begriff fast nicht, wie er seine eigenen Verhältnisse so hatte vergessen können, und erst als Harriet’s leuchtender Blick und der warme Ton, mit welchem sie ihm entgegengetreten war, vor ihm wieder auftauchten, fand er eine Erklärung. „Abwarten!“ sagte er vor sich hin, „abwarten, bis man Näheres erfährt; im schlimmsten Falle ist nur ein augenblicklicher Verdienst verloren!“ Er entkleidete sich halb, warf sich auf das Bett und ließ die letzten Scenen des Abends noch einmal an sich vorüberziehen. Er konnte die Aufregung, welche ihn überkommen gehabt, verstehen. Dennoch trieb jetzt die Erinnerung seinen Puls nicht um einen Schlag rascher, und als er endlich einschlief, waren es Margaret’s blaue Augen, die zuletzt noch vor ihm standen, er wußte nicht, wann, noch wie sie gekommen.

Als er am andern Morgen zeitig nach dem Frühstück hinabging, nahm er sich vor, in möglichster Schnelle die Entscheidung seines nächsten Schicksals herbeizuführen. Er war nicht in der Lage, lange den Badegast zu spielen. Als er aber die Office des Hotels betrat, reichte ihm der Buchhalter einen sorgfältig geschlossenen Brief über das Schreibepult. Reichardt las etwas überrascht seine correcte Adresse in feinen Schriftzügen, und mit einer halben Ahnung von der Person des Absenders zog er sich nach einem Fenster zurück, dort das Couvert öffnend. Eine Banknote von hundert Dollars fiel in seine Hand, als er die Zuschrift entfaltete, und mit sonderbar gemischten Gefühlen las er:
„Max Reichardt, Esq.

Jetzt ist es doch wenigstens möglich, Ihnen einige Zeilen zugehen zu lassen. Sie sehen, ich kann bereits Ihren Namen richtig schreiben und werde ihn auch bald aussprechen lernen. Margaret hat mir versprochen, ihn mir jeden Tag zwei Dutzend Mal vorzusagen. Eitel brauchen Sie indessen nicht darauf zu werden, denn es ist nur die Nothwendigkeit, welche die Maßregel veranlaßt. Da es verabredet ist, daß ich mit Margaret und ihrem Vater einen längeren Ausflug unternehme, um dann in New-York mit meinem Vater, der sich bereits dort befindet, zusammenzutreffen, so werden wir uns in der ersten Zeit nicht wiedersehen, und da Ihnen das langweilige Saratoga jetzt kaum viel bieten kann, so nehme ich jetzt Ihr Versprechen, meinem Rathe zu folgen, in Anspruch. Untenstehend finden Sie die genaue Bezeichnung unserer Tennessee-Heimath, welche Sie auch zu der Ihrigen machen sollen, mit der Angabe des Weges, den Sie am besten wählen, und da ich mir denken kann, daß Ihr heutiges Nigger-Debut nicht stattgefunden hätte, wenn Sie Ueberfluß an Mitteln besaßen, so lege ich Ihnen das Reisegeld bei, das ich mir, sobald Ihre Existenz gesichert ist, an der betreffenden Stelle zurückerstatten lassen werde. Sie nehmen also nichts von mir geliehen, sondern ich mache den Vorschuß für Leute, die mir dadurch auf’s Aeußerste verbunden sein werden, und Ihr Zartgefühl oder Stolz hat wenigstens nichts mit mir zu thun.

Sobald Sie in unserm Städtchen ankommen, fragen Sie nach Rev. Mr. Ellis, dem Prediger der Episkopalkirche. Unsere schöne, neue Orgel ist bereits zwei Monate fertig, noch immer aber ist kein Organist da, und Jeder pfuscht darauf herum, der ein Bischen Piano klimpern kann. Ebenso ist es ein Jammer um unser Chor, und wenn die Methodisten nicht noch um die Hälfte schlechter sängen, hätten wir uns schon längst schämen müssen. Ich habe soeben an Mr. Ellis geschrieben, und da Sie sich der Ordnung Ihrer Angelegenheiten halber doch wohl noch einen oder zwei Tage in New-York auszuhalten haben, so werden Sie jedenfalls erst nach Ankunft meines Briefes bei ihm eintreffen. Wegen Ihres Gehalts, das von der Gemeinde bestritten werden muß, erwähnen Sie nichts, das macht sich Alles besser, wenn ich selbst wieder da [239] bin, aber beginnen Sie gleich und zeigen Sie den Menschen, was Sie können.

Jetzt aber sind mir die Finger lahm, und die Augen fallen mir zu. Gehen Sie vorwärts; zur Ermuthigung will ich Ihnen noch sagen, daß es bei uns keine Krokodile giebt und die übrigen zweibeinigen reißenden Thiere nur beißen, wenn sie böse gemacht werden; von Schlangen aber kommt in unserer Stadt nur eine einzige gefährliche Art vor, von deren Naturgeschichte ich Ihnen das Weitere mündlich mittheilen werde.

A revoir im sonnigen, schönen Süden!
Ihre Harriet Burton.“ 

Reichardt wandte den Blick durch’s Fenster, und zehnerlei verschiedene Gedanken durchkreuzten seine Seele. Was war die eigentliche Ursache, welche das reiche, schöne Mädchen ein so reges Interesse an ihm nehmen ließ? War es nur die südliche Lebendigkeit, verbunden mit einem Gefühle, das seine augenblickliche Lage würdigte und ihn daraus befreien wollte? – oder war wirklich die Organistennoth so groß, daß sie bei Erkennung seiner Verhältnisse sofort auf ihn speculirt hatte? Aber Orgelspielen! – Wenn er auch mit dem Pedal fertig werden konnte, was verstand er von Registratur, von dem Gottesdienst der Episkopalen? – Er begann von Neuem den Brief zu durchlesen – er hätte das Mädchen lieben können, wenn er allen seinen Erfahrungen nach überhaupt nur mehr als einer augenblicklichen, schnell vorübergehenden Empfindung fähig gewesen wäre – wie schonend, trotz ihrer Sarkasmen, bot sie ihm das Geld, daß von einer Zurückweisung garnicht die Rede sein konnte; mit dem Gedanken an die Reise, an eine geachtete Stellung im „sonnigen, schönen Süden“ aber stieg eine Empfindung von Glück in ihm auf, die Alles, was noch als halber Zweifel, als unklares Verhältniß in ihm stand, durchleuchtete und verscheuchte.

Schon am Nachmittage war er nach New-York aufgebrochen, hatte sich eine der kurzgefaßten „Anweisungen zum Orgelspiel“ – die ganze Wissenschaft in nuce, wie in dergleichen Lehrbüchern die deutsche Gründlichkeit es der amerikanischen Praxis nie nachthun wird – nebst einem „Prayer-Book“ der Episkopalen mit der ausführlichen Vorschrift für den Gottesdienst gekauft – hatte den Sonnabend über studirt und wiederholt, bis er das Nöthigste inne zu haben glaubte, und hatte am Sonntag früh, Nachmittags und Abends eine Episkopalkirche besucht. Am Nachmittag hatte ihm eine Banknote an den Kirchendiener die Erlaubniß ausgewirkt, eine Stunde nach beendigtem Gottesdienste üben zu dürfen, und am Abend gestattete ihm der Organist, dem er seine Aussichten mitgetheilt, den Chor zu begleiten. Reichardt fühlte zwar aller Orten den Mangel der nöthigen Routine, aber er wußte jetzt, daß er schnell im Stande sein werde, seinen Posten auszufüllen, und schon am Montag Nachmittag führte ihn der Dampfer „Northerner“ den südlichen Gestaden zu.

Die kurze Seefahrt in der eleganten Cajüte bis Charleston, der Flug auf der Eisenbahn durch Urwald, malerische Gebirgspartien und mit reichen Plantagen besetzte Gegenden hatten dem jungen Deutschen so viel Neues geboten, daß er sich wenig mehr Gedanken als über die allernächste Gegenwart gemacht hatte. Als ihn aber am Tennesseeflusse die Postkutsche aufgenommen und der Schneckengang derselben sich ohne Unterbrechung durch eintönigen, wilden Wald fortzog; als er sich tagelang als den einzigen Passagier fand, da begannen einzelne Bedenken, die schon in Saratoga dunkel in seiner Seele gelegen, sich in den Vordergrund zu drängen und ihm in seiner Einsamkeit unangenehme Gesellschaft zu leisten. Er ging, um eine Kirchenstelle zu übernehmen, und hatte als Empfehlung nichts als das Wort eines jungen muthwilligen Mädchens, das sich ihm bald weich zugeneigt, bald ihn verspottet. War das Ganze vielleicht nur ein toller Streich, um ihn der Tanzmusik, die sie in seiner Person beleidigt, zu entreißen? Er hatte allerdings das Reisegeld und noch darüber erhalten; aber was sollte er im Süden, wo die „Nigger“ das Geigen zu ihrer Profession gemacht hatten, wo sich für seine übrigen Kenntnisse sicher noch viel weniger als in New-York eine Gelegenheit zur Verwerthung fand, anfangen, wenn die Hoffnung, auf welche er sich jetzt stützte, fehl schlug? Er hatte ja dann nicht einmal die Mittel wieder zurückzukehren! Wohl scheuchte zu einzelnen Zeilen der frische Muth der Jugend seine Besorgnisse hinweg und predigte ihm, daß dem Unternehmendsten das Glück am ersten winkt – je näher er aber endlich seinem Bestimmungsorte gekommen, je bestimmter hatte sich die Sorge vor der nahen Entscheidung in ihm geltend gemacht, und als er endlich vom Verdeck der Postkutsche das im Abendschein glänzende Städtchen vor sich gesehen, war es eher das Gefühl eines stillen Bangens, seinen Leichtsinn bestraft zu sehen, als die Genugthuung bei Erreichung eines Ziels gewesen, welches sich seiner bemächtigt.

Es war zehn Uhr am andern Morgen, als Reichardt in sauberster Kleidung die Wohnung des Rev. Mr. Ellis aufsuchte. Die aus gebrannten Ziegeln erbaute Kirche daneben, welche in goldenen Lettern die Benennung der Gemeinde trug, sah zwar nur wie eine kleine Capelle aus, die Ordnung und Sauberkeit in der ganzen Erscheinung aber heimelte den Deutschen in einer Weise an, daß er eine lange Weile den Blick darauf geheftet hielt und sich die Stellung der Orgel darin zu denken suchte, ehe er den Klingelgriff an dem Predigerhause zog. Eine Schwarze wies ihn in den einfach eingerichteten Parlor, und Reichardt hatte kaum den Blick auf einzelne der umher hängenden Bilder geworfen, als auch der Hausherr, eine schlanke Gestalt in mittleren Jahren mit schlicht gescheiteltem, blondem Haare, eintrat. Reichardt beeilte sich, ihm entgegenzugehen.

„Ich bin an Sie gewiesen, Mr. Ellis,“ begann er, als wisse er kaum recht, wie zu beginnen, „um mich Ihnen für die vacante Organistenstelle an Ihrer Kirche zu empfehlen. Mein Name ist Reichardt!“

Der Geistliche hob den Kopf und schien eine Minute lang jede Einzelnheit in der Erscheinung des jungen Mannes zu mustern. Dann griff er langsam nach einem Stuhle und sagte ernst: „Setzen Sie sich, Sir!“

„Ich habe allerdings eine Notiz über Ihre Reise hierher erhalten,“ fuhr der Prediger fort, als Beide sich niedergelassen hatten und Reichardt sichtlich eines weitern Wortes harrte, „ich selbst aber habe kaum die Befugniß, eine bestimmte Hoffnung zu geben, noch sehe ich überhaupt klar in der Angelegenheit. Sie kommen von Saratoga, wie ich höre – waren Sie längere Zeit dort?“

„Einen Tag, Sir, und hielt mich auch dort nur einiger Geschäfte halber auf.“

„Dann sind Sie also mit der Familie Burton von früher her bekannt?“

„Ich bin erst seit kaum vier Wochen im Lande, Sir, kenne Niemand, und nur mein Pianospiel, wovon Miß Burton zufällig Zeuge war, machte diese auf mich aufmerksam. Ich fand noch keine Gelegenheit, seit ich gelandet bin, mich einem bestimmten Berufe zuzuwenden, und so nahm ich gern die Aufforderung an, mich für die hiesige Organistenstelle zu melden.“ Reichardt begann leichter zu fühlen, als ihm diese einfache Darstellung, die doch kaum von der Wahrheit abwich, gelungen war; der Geistliche aber schüttelte leicht den Kopf.

„Wenn Sie nicht noch irgend andere Pläne hier verfolgen wollen, so weiß ich, selbst im glücklichsten Falle, nicht, ob der Erfolg die weite Reise lohnen kann,“ sagte er nach einer kurzen Pause. „Die Stelle muß doch nur als eine Nebenbeschäftigung betrachtet werden und kann allein ihren Mann nicht nähren. Für Musikunterricht ist auch nur wenig Aussicht hier. Junge Ladies, welche die methodistische Akademie, wo ein angestellter Musiklehrer ist, nicht besuchen, werden meist im Osten erzogen –“ er hielt, wie eine Aufklärung erwartend, inne, und Reichardt fühlte, daß er jetzt seine Armuth am wenigsten zeigen dürfe, wenn er sich die nöthige Beachtung sichern wollte. War hier wirklich keine Existenz für ihn zu erringen, so war zum Zurücktritt noch immer nach Harriet’s Rückkehr Zeit, und wenigstens wollte er bis dahin Gelegenheit schaffen, zu zeigen, was er konnte.

„Ich frage im Augenblick nicht nach der Höhe eines Gehaltes,“ erwiderte er ruhig aufsehend, „es sollte mich aber freuen, in musikalischer Beziehung etwas zur Hebung des Gottesdienstes beitragen zu können. Miß Burton sprach von dem Chor, welcher der Nachhülfe und Besserung bedürfe, und ich gedachte einen vollen Lehrgang mit den Sängern durchzunehmen, der, wenn sich nur die nöthigste Anlage unter ihnen vorfindet, sie mit der Zeit den besten New-Horker Chören gleichstellen würde.“

Der Geistliche nickte nachdenklich. „Es könnte das für Niemand angenehmer sein, als für mich,“ erwiderte er, „nur sehe ich in einzelnen Dingen noch nicht ganz klar – es ist ein tolles Mädchen! Well, Sir,“ setzte er hinzu, als wolle er das Gespräch zu, einem Schlusse bringen, „auf ein oder zwei Tage wird es nicht [240] ankommen, ich dürfte überdies über Ihr Engagement nicht allein bestimmen. Bis dahin aber hoffe ich, Ihnen einen bestimmten Bescheid geben zu können.“

Reichardt erhob sich zögernd – er hatte wenigstens auf eine Einladung gerechnet, bei Gelegenheit seine Fähigkeiten zu zeigen, aber er unterdrückte jedes Zeichen seiner Täuschung. „Sie haben zu bestimmen, Sir!“ erwiderte er, „würden Sie mir aber wohl gestatten, die Orgel einmal zu probiren? Sie ist neu und gut, wie ich höre, und ich habe mich schon während der Reise auf den ersten vollen Griff gefreut!“

Der Prediger setzte, wie uneins mit sich selbst, den Stuhl bei Seite, indessen schien bald eine Art Neugierde seine Bedenklichkeiten zu überwiegen. „Wenn Ihnen etwas daran liegt, werde ich den Kirchendiener rufen,“ sagte er, sich langsam nach der Thür wendend. Nach Kurzem aber schon sah sich Reichardt durch eine Handbewegung eingeladen, ihm zu folgen.

Man sah es dem Innern der kleinen Kirche an, daß die Crème der städtischen Bevölkerung sie in Besitz hatte. Die sämmtlichen Stühle waren mit reichem Polster versehen, weiche Teppiche bedeckten überall den Boden, und Holzwerk wie Wände glänzten in geschmackvollem Oelfarben-Anstrich. Das reichverzierte Orgelgehäuse erschien dem Deutschen fast zu klein für die Zahl der Register, welche es zeigte. Als er aber den mitgekommenen Schwarzen die Bälge anziehen hörte und, um sich einen Begriff von der Gesammtkraft zu verschaffen, das ganze Werk öffnete und voll in die Tasten hineingriff, brauste ihm eine Tonfülle entgegen, die er in allen Nerven zu fühlen meinte und die er niemals in diesem Raume vermuthet. Er setzte sich fester auf die Bank; er begann das Werk in voller Lust durchzuarbeiten; waren doch schon auf dem Piano freie Phantasien im Kirchenstyle seine Lieblingsübung gewesen. Vergaßen auch jetzt die Füße, noch nicht an den Dienst gewöhnt, einmal das Pedal, so hatten sie doch bald, von doppelter Aufmerksamkeit überwacht, den Ausfall zu ersetzen, und Reichardt fühlte, daß es nur weniger Uebung für ihn bedürfen werde, um auch hierin die nöthige Fertigkeit zu erlangen. Als er aber dem ersten Drange, welcher ihn überkommen, genügt, änderte er die Registratur, und in eins der weichen Mendelssohn’schen Lieder übergehend, gab er den sanften Stimmen ihr Recht. Selten noch glaubte der Spielende so viel Süße und Klarheit getroffen zu haben, er begann das Thema mit seinen eigenen Phantasien zu umschlingen, sich ganz dem Zauber hingebend, welchen diese wundersam milde Principalstimme auf ihn übte; er fühlte, daß er besser spielte, als er sich nur selbst zugetraut, und hatte bald, sich in den eigenen Genuß versenkend, alles Uebrige um sich her vergessen. Erst als er nach einem Accordengange, der immer dem Ende zuzustreben und ihm doch stets wieder auszuweichen schien, geschlossen hatte und mit einem tiefen Athemzuge aufsah, bemerkte er, daß er sich in größerer Gesellschaft befand, als er gewußt. Die halbe Barriere des Chors zu seiner Seite war mit Männern, ihrem Aeußern nach zu der besten Classe der Bewohner gehörig, besetzt, welche aufmerksam seinem Spiele gehorcht zu haben schienen. „Fahren Sie fort!“ rief Einer derselben kopfnickend, als Reichardt mit einiger Ueberraschung seinen Sitz verlassen wollte, „oder können Sie nicht etwas spielen, was wir kennen – etwas wie old hundred oder so?“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Berichtigung. Die Nr. 8 Ihres Blattes veröffentlicht die vortreffliche Rede, welche Ad. Stahr bei Anlaß der letzten Lessingfeier in Leipzig gehalten hat. In einer Vorbemerkung nennt Stahr die Stadt Leipzig als diejenige, welche auch mit der Schillerfeier in Deutschland vorangegangen sei. Erlauben Sie, daß dieser Irrthum in Ihrem Blatte berichtigt werde. Es war nicht Leipzig, das, indem es 1840 sein erstes Schillerfest hielt, mit dem Gedanken der Schillerfeier voranging, sondern es ist Stuttgart, das seit dem Jahr 1824 bis jetzt ohne Unterbrechung alljährlich ein öffentliches Schillerfest begangen hat. Das Morgenblatt, die Allgem. Zeitung, der Schwäbische Merkur etc. haben über diese Feste jährlich berichtet und in der Regel auch die Festreden abgedruckt. Schon 1839 aber, also ein Jahr vor dem ersten Leipziger Schillerfeste, ist zu Stuttgart Schiller’s Denkmal, eine Frucht dieser Feste, eingeweiht worden. Wir glaubten diese Bemerkung der Wahrheit und dem Geburtslande Schiller’s schuldig zu sein, umsomehr als man der Inanspruchnahme des ersten Gedankens an eine Schillerfeier für Leipzig immer und immer wieder begegnet.


Helgoland. In Nr. 9. dieses Jahres der „Gartenlaube“ befindet sich eine Notiz über die Insel Helgoland, durch welche zu rechter Zeit aus die große Bedeutung jenes Felseneilandes für Deutschland aufmerksam gemacht wird. Einsender dieser Zeilen, ein großer Freund jener Insel, ihrer eigenthümlichen Natur und ihres originellen Lebens, freute sich, auf den Werth ihres Besitzes hingewiesen zu sehen, bedauerte dabei aber die Wiederholung eines Vorurtheils, welches längst vor der wissenschaftlichen Kritik gefallen ist. Die Insel Helgoland war niemals wesentlich größer, als sie jetzt ist, hatte niemals jene Ausdehnung, jenen Reichthum an Waldungen, Dörfern und Tempeln, jene große Einwohnerzahl u. s. f., wovon in älteren und neueren Schriften, ja sogar auf alten Karten gefabelt wird. Die Wahrheit dieser Behauptung ist unwiderleglich bewiesen und zwar auf doppeltem Wege, historisch und geologisch. Die Abspülungen durch das Meer, welche in der Einbildungskraft furchtsamer Menschen den Felsen in wenigen Jahren vernichten sollen, finden allerdings statt, sind aber so unbedeutend, daß, wenn nicht ungewöhnliche Naturereignisse ganz anderer Art hinzukommen, das Alter und die Geschichte der Insel jedenfalls noch nach Jahrtausenden in die Zukunft hinaus berechnet werden müssen. Wer über diese und ähnliche Resultate der Forschung Belehrung wünscht, den verweisen wir auf folgende Schriften: J. M. Lappenberg, Ueber den ehemaligen Umfang und die alte Geschichte Helgolands. Hamburg 1830, und: K. W. M. Wiebel, Die Insel Helgoland nach ihrer Größe in Vorzeit und Gegenwart. Vom Standpunkte der Geschichte und Geologie.

Hamburg.
Ernst Hallier. 


Schach.

Lösung von Aufgabe Nr. 1.

1. S e 2 – c 3 † K d 5 – e 5. 2. D a 6 – d 6 † S f 5 – d 6. 3. S b 7 – a 5, Schwarz muß nun einen Springer ziehen, worauf der weiße Springer von a 5 aus nach Umständen entweder auf c 4 oder c 6 Matt giebt. Diese Doppelwirkung des Springers kann auch von d 8 aus durch 3. S b 7 – d 8 erzielt werden, und die doppelte Darstellung jener Doppelwirkung in derselben Composition bildet die eigentliche Pointe der letzteren. Gefunden ist die richtige Lösung zunächst von Aarland (Leipzig), Richter (Wildenthal), Voigt (Marienberg), Walther (Zwickau), Luhde (Grimmen), W–z-d (Leipzig), Büchner (Darmstadt), Mattfeldt (Lassrönne), Evans (Geyer), Wehrmeister (Liebenau), Weigt (Liegnitz), welche den Weg des Springers über a 5 nehmen, sodann von Harsonbetten (Cassel), Schwerdfeger (Leipzig), Pinsker (Saaz), Meyer (Herisau), Lindau (Hainsberg), B. in G–e, Bendix (Hamburg), E. A. in M., Posner (Brody), Riedl (Schibowic), H–n (Riga), Möbius (Diedenhein), Eb. D. R. O. (Tharandt), Hempen (Meppen), Tz. in G., Negenborn (Lübeck), Sach (Kesdorf), welche den Weg über d 8 wählen.– Die Pointe der Doppel-Combination ist nur von R. Schaufuß in Leipzig angegeben und gewürdigt worden. Viele haben sich durch die verlockende Spielweise 1. S e 2 – c 3 † K d 5 – e 5. 2. D a 6 – a 5 † d 6 – d 5. 3. D a 5 – c 7 † etc. blenden lassen und das Zwischenopfer 2… S d 4 – b 5, welches dem Könige Luft und ein vierzügiges Matt unmöglich macht, übersehen. Noch Andere versuchen 2. D a 6 – d 3 S f 5 – e 7 † -3. K g 6 – f 7 und lassen den Gegenzug d 6 – d 5 außer Acht. Im Ganzen sind (bis 12. März) 67 Lösungsversuche, darunter 33 richtige, eingegangen.


Bei dem Unterzeichneten gingen in den letzten Wochen an Geldern ein: Für die Henglin-Expedition: 5 Thlr. von Ferd. Thieme in Moskau – Durch E. und C. in Dresden 5 Thlr. von F. A. S. in N. – 1 Thlr. von Th. R. in D. – 1 Thlr. von Ed. G. in D. – 6 Thlr. Einige junge Bergbeflissene und Maschinentechniker in Müsen bei Siegen – 48 Thlr. 26 Ngr. Deutsche Liedertafel in Bukarest, durch deren Vorstand, Präsident Gust. Rietz.


5 Thlr. von P. N. S. F. (Postzeichen Waltershausen) für das Hermanns-Denkmal – 1 Thlr. von Gabr. Meyer für das Arndt-Denkmal – 3 Thlr. M. in Posen, zur freien Verwendung an einen vom Schicksal Heimgesuchten – 10 Thlr. von Laemmert in Rio Janeiro für das Schill-Denkmal – 10 Thlr. von C. A. S. für den Schiller-Fonds (bereits früher quittirt).

Ernst Keil. 

  1. Siehe Nr. 23 und 24, Jahrgang 1860)
  2. Um den Aufenthaltsort des Wildes genau kennen zu lernen, ohne dasselbe in seinem Verstecke zu beunruhigen, zog der Besuchjäger mit seinem Leithunde nach Tagesanbruch rings um den betreffenden Walddistrict und merkte sich alle aus- und eingehenden Wildfährten, welche der Leithund durch Eintupfen mit der Nase (anfallen, eingreifen) anzeigte. – Hatte sich der Jäger durch dieses mehrere Morgen hintereinander wiederholte Besuchen oder Absuchen des Reviers völlig vom Dasein und Standort des Wildes überzeugt, so war dasselbe bestätigt.– Zu größerer Sicherheit mußte der Besuchjäger beim Richten der Zeuge und Garne, mit seinem Hunde vor dem Zeugmeister herziehend, ringsum das Jagen vorsuchen. – Der Leithund wurde stets am Riemen geführt und nur auf Hirsch, Sau und Wolf gearbeitet. – Da das ganze damalige Jagdwesen fast lediglich auf der Leithundsarbeit beruhte, so fand man an manchem Hofe 10-12 Besuchjäger oder Besuchknechte, welche, da sie zur unmittelbaren Umgebung des Fürsten gehörten, verhältnißmäßig am höchsten besoldet wurden.–
  3. Matthison, das Dianenfest bei Bebenhausen.