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Die Gartenlaube (1860)/Heft 32

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 32. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die Geschwister.
Erzählung von Dr. J. D. H. Temme.
1. Eine reiche Frau und eine arme Schwester.

In einem sehr eleganten Boudoir saßen zwei junge Frauen beisammen. Beide waren schön. Die ältere war eine stolze, imposante, blendende Schönheit, in voller Toilette, und mit einer Eleganz gekleidet, die eben so sehr ihrer stolzen Schönheit, wie der eleganten Einrichtung des Salons entsprach. Die jüngere war in Allem ihr voller Gegensatz. Fein und zart gebaut, hatte ihr schönes, etwas blasses Gesicht den Ausdruck ungemeiner Sanftmuth und Weichheit, verbunden mit dem Zuge einer unschuldigen, kindlichen, stillen Fröhlichkeit. Ihre Schönheit konnte nicht durch Reize blenden, mußte aber durch ihre liebliche Anmuth anziehen, und konnte dann das Herz unwiderstehlich fesseln. Sie war sehr einfach, fast ärmlich gekleidet. Freilich schien sie Reisekleidung zu tragen, und auch eine gewisse Unruhe und Erregtheit ihres Aeußeren, wie ihrer Bewegungen deutete an, daß sie so eben erst von einer weiteren Reise angekommen sei.

Trotz jener Verschiedenheiten war in den Gesichtszügen der beiden Frauen eine gewisse Aehnlichkeit nicht zu verkennen. Man hätte sie gar für Schwestern halten können, so ähnlich sahen sie sich plötzlich in einzelnen Momenten. Und in der That, die Beiden waren Schwestern, und auch die eine, die jüngere, war seit wenigen Augenblicken bei der älteren Schwester eingetroffen. Warum und wozu? Die Schicksale auch von Geschwistern gehen oft wunderbar auseinander.

Der Vater der beiden Schwestern war ein armer Subalternbeamter in einer kleinen Stadt gewesen und hatte drei Kinder, außer den beiden Schwestern einen Sohn. Der Sohn war das älteste. Er mußte in dem Bureau des Vaters arbeiten, um sich ebenfalls zum Subalternbeamten auszubilden. Die älteste Tochter dann, Charlotte, hatte schon früh zu blendender Schönheit sich entwickelt. In dieser hatte bei einer Gelegenheit ein alter, reicher Kaufmann aus einer entfernten großen Stadt sie gesehen. Er hatte sich in sie verliebt, und sie hatte dem alten Besitzer von Hunderttausenden, wenn auch nicht ihr Herz, doch ihre Hand gegeben.

Die jüngste Tochter, Henriette, war damals noch ein Kind von zwölf Jahren. Ein Jahr später war der Vater gestorben, an seinen Wunden, die er in den Feldzügen von 1813 bis 1815 erhalten hatte. Er hatte sie als Landwehrunterofficier mitgemacht und nach ihrer Beendigung den Charakter als Lieutenant bekommen. Die Mutter war schon seit mehreren Jahren todt. Vermögen hatten Beide nicht hinterlassen. Zwei Jahre lang nach des Vaters Tode hatte Henriette noch die Schule besucht, bis zu ihrer Einsegnung. Ihr Bruder und ihre Schwester hatten gemeinschaftlich die Kosten ihres Unterhalts und ihrer Erziehung bestritten. Als sie aber eingesegnet war, hörte dies auf. Ihr Bruder war zwar unterdeß selbstständiger Subalternbeamter geworden, aber er hatte sich verheirathet, er hatte Kinder und nur einen geringen Gehalt, und war zudem in eine andere Provinz versetzt worden. So konnte er für die Schwester nichts weiter thun. Die ältere Schwester aber, Charlotte, die Frau des reichen Handelsherrn Rother, war in dem Reichthum geizig geworden, verwendete zwar gern und viel für sich selbst, für ihren Putz, ihre Einrichtung, ihre Equipagen, für große Gesellschaften und dergleichen, sparte jedoch desto mehr in und an allem Anderen, und wollte für die Schwester nichts mehr thun.

So war die arme Henriette Grone, als sie vierzehn Jahre alt war, sich selbst überlassen, und um leben zu können, trat sie bei einer Schneiderin ein, die in dem kleinen Orte zugleich die Putzmacherin war. Sie lernte Beides, Schneidern und Putzmachen, dafür mußte sie sich auf drei Jahre verdingen, und sie bekam in der Zeit nichts als ihren Unterhalt und abgelegte Kleider von ihrer Dienstherrin. Das ist für ein armes Märchen ein schweres und saures Brod, für andere Leute herrliche Kleider und schöne Putzsachen machen zu müssen. Die arme Henriette war zudem gerade in der Zeit ihres Wachsens und war sehr zart gebaut. Ihr Vormund schrieb daher an die reiche Madame Rother, das arme Kind gehe bei der Arbeit zu Grunde, die reiche Schwester möge doch etwas für sie thun, daß sie anderswie und anderswo untergebracht werden könne. Die reiche Schwester aber meinte, den Contract mit der Schneiderin und Putzmacherin müsse das Kind erst aushalten, denn es sei eine Gewissenssache, einen Vertrag zu brechen. Kein Mensch, nebenbei bemerkt, beruft sich mehr auf sein Gewissen, wenn es darauf ankommt, Geld hergeben zu müssen, als reiche Leute.

Indeß versprach sie, nach Ablauf der drei Jahre sich der guten Schwester annehmen zu wollen, und schon gleich setzte sie ihr monatlich einen Thaler aus, wofür sie sich, zur Stärkung ihrer Gesundheit etwas zu Gute thun solle. Wer hätte dafür dankbarer sein können, als die bescheidene, genügsame Henriette? Schon die Freude über die Güte der reichen Schwester stärkte sie, und als ihre dreijährige Dienstzeit ihr Ende erreicht hatte, war sie zur vollen Jungfrau aufgeblüht, wenn auch mit einem blassen Gesicht und zarten Formen. Die Schwester hielt auch jetzt das Versprechen, das sie gegeben hatte. Sie schrieb Henriette, diese solle zu ihr kommen, sie werde dann schon weiter für sie sorgen. Reisegeld schickte sie ihr mit.

[498] Henriette, die arme Schneiderin und Putzmacherin, war bei ihrer Schwester, der Madame Rother, einer der reichsten Frauen in der reichen Handelsstadt, angekommen. Sie war gerade siebzehn Jahre alt. Die ältere Schwester zählte fünfundzwanzig Jahre. Die Madame Rother war Wittwe schon seit anderthalb Jahren. Sie hatte gerade am Tage der Ankunft der jüngeren Schwester das letzte Stück ihrer Wittwentrauer abgelegt und war in reicher und eleganter Toilette. So wollte sie sich heute zum ersten Male wieder zeigen. Sie war im Begriff auszufahren und wartete auf den Wagen.

Da trat das ärmlich gekleidete Mädchen zu ihr in das prunkende Boudoir. Sie trat schüchtern, zitternd, noch blässer als gewöhnlich, in den Reichthum, den Stolz. Aber ihr weiches und dankbares Herz drängte ihr einen Strom von Thränen in die Augen und führte sie an die Brust der Schwester, die ihre Wohlthäterin schon war und noch mehr werden wollte.

„O, meine liebe, liebe Charlotte, wie bin ich Dir dankbar für alles Gute, das Du an mir gethan hast! Ich werde Dir immer gehorsam und treu dafür sein.“

Es waren vielleicht zwanzig Thaler gewesen, die die Besitzerin einer halben Million für die Schwester hergegeben hatte. Die Frau Rother wurde in der That mit gerührt, und in ihrer Rührung hatte sie einen großmüthigen Einfall.

„Du bist ja recht groß und hübsch geworden, mein liebes Jettchen, und man kann sich mit Dir sehen lassen. Ich wollte gerade ausfahren. Eine halbe Stunde von hier ist ein Bad, es ist heute Concert da, und Du sollst mich begleiten. Der Wagen kann eine Viertelstunde warten; unterdeß ziehst Du Dich an.“

Henriette war verlegen geworden. „Du bist sehr gütig, liebe Schwester, aber – aber –“

Die Frau Rother lächelte. „Du hast wohl nichts Anderes anzuziehen?“

„Die Wahrheit zu sagen, nein.“

„Ich habe für Dich gesorgt. Meine Kleider aus der Zeit vor meinem Wittwenstande – ich konnte sie jetzt doch nicht weiter anziehen – ich habe sie für Dich zurückgelegt und so ungefähr für Deine Figur umändern lassen. Die Kammerjungfer wird mit Dir auf Dein Zimmer gehen und Dir helfen, Dich rasch anzuziehen. Sollte etwas nicht passen oder nicht gut sitzen, so – Du kannst ja selbst schneidern und Putz machen – so werdet ihr bald damit fertig werden.“ Sie klingelte ihrer Kammerjungfer und ertheilte dieser die nöthigen Befehle. Als dann die Zofe mit der Schwester das Zimmer verlassen wollte, wurde sie doch auf einmal nachdenklich.

„Mache Dich aber recht hübsch,“ rief sie der Schwester nach. „Wir sehen im Bade sehr vornehme Gesellschaft.“

Dann aber war es auf einmal, als wenn sie wieder einen andern Stich in das Herz bekommen habe. „Sie ist hübsch,“ sagte sie für sich, der feinen, anmuthigen Gestalt nachblickend, die gerade das Zimmer verließ und im Hinausschreiten ihr noch einen freundlichen, dankbaren Blick aus den frommen blauen Augen zuwarf.

„Sie ist wirklich hübsch, und sie soll gerade das blaue Kleid tragen, in dem er mich zum ersten Male sah. Aber –“

Sie trat vor einen Spiegel und sah darin voll ihre schöne, hohe, üppige Gestalt, ihr noch in frischester Schönheit blühendes Gesicht. „Aber sie wird mir nicht gefährlich werden!“ Sie blieb triumphirend vor dem Spiegel stehen. Plötzlich erschrak sie und wurde blaß; die Thür hatte sich langsam und leise hinter ihr geöffnet, dies hatte sie im Spiegel gesehen.

Ein junger Mann war eingetreten; ein blasser, junger Mann, abgehärmt, in diesem Augenblicke nur Angst in dem hageren Gesichte. Dem Schreck der Dame war der Zorn gefolgt. Mit diesem wandte sie sich hastig nach dem Eintretenden um. „Mein Gott, wo kommst Du her? Was hast Du schon wieder?“

Der junge Mann hatte die Thür hinter sich verschlossen, dann war er auf sie zugestürzt und warf sich vor ihr nieder. Die Angst hatte ihn aufgeregt. „Charlotte, Schwester, rette mich noch einmal!“

Er war der Bruder der schönen und reichen Wittwe, Theodor Grone, Rendant bei einem kleinen Gerichte in der Provinz. Von der Schwester war der Schreck völlig gewichen, desto mehr steigerte sich ihr Zorn. „Schon wieder?“ rief sie. „Du wagst es? Nie mehr, ich habe es Dir geschworen.“

„Nur noch einmal, Charlotte, Schwester!“

„Nein, nein!“

„Ich bin entehrt, ich bin ein Bettler, wenn Du mir nicht hilfst!“

„Nein, sage ich Dir!“

„Um meiner armen Kinder, um meines unglücklichen Weibes willen!“

„Du hättest vorher an sie denken sollen.“

„O Charlotte, Du hast, Du hattest keine Kinder. Aber um unserer Eltern willen, des braven Vaters, der auch für Dich arbeitete und entbehrte, der Mutter, deren letzte Sorge wir Kinder waren, auch Du; – Charlotte, habe Erbarmen –“

„Du bittest vergebens. Du bist eine Schande unserer armen Eltern geworden. Du bist eine Schande für mich.“

„Diesmal ist es ohne meine Schuld –“

„Das sagst Du immer. Du vernachlässigst Dein Amt, Du bist ein Spieler, Du bist unverbesserlich.“

Die Angst des jungen Mannes war immer größer geworden.

Er bat in ihr weiter, trotz der Härte, der Kälte der Schwester, die immer härter und immer schneidender wurde.

„Schwester, nur um dreihundert Thaler bitte ich Dich.“

„Du bekommst keine drei Groschen von mir.“

„Es ist ja eine Kleinigkeit für Dich, eine so unendliche Kleinigkeit. Du hast so viele Tausende in diesem Secretair –“

„Und wenn ich so viele Hunderttausende hätte, Du bekämst nichts von mir. Ich habe Dich zwei Mal gerettet. Es hat nicht geholfen. Und das letzte Mal habe ich geschworen, es solle das letzte Mal sein. Meinen Schwur halte ich, muß ich halten. Es ist eine Gewissenssache für mich.“

Es hat Alles sein Maß und sein Ziel; selbst das Flehen der Todesangst um das Leben. Der Bruder der reichen Dame erhob sich.

„Der Herr hat doch Recht,“ sagte er. „Gott und die Bibel und das Gewissen sind Euer drittes Wort. Ja, der Herr hat es gesagt: Eher wird ein Kameel durch ein Nadelöhr gehen, als daß ein Reicher in den Himmel kommt. Lebe wohl, Schwester. Möge der Himmel Dir gnädiger sein.“ Er verließ das Zimmer.

Die schöne, reiche Dame stand einen Augenblick wie gedrückt. Dann sagte sie: „Es war wirklich eine Gewissenssache für mich.“ Damit hatte sie den Druck von sich abgeschüttelt. Sie trat wieder vor den Spiegel, ob ihr Anzug während der kleinen Episode nicht gelitten habe. Es hatte sich nur eine Locke verschoben. Sie brachte sie wieder in Ordnung.

Die Viertelstunde war verflossen. Henriette kehrte zurück, in der abgelegten Kleidung ihrer Schwester, aber doch beklommen von der Pracht und dem Reichthum dieser Kleidung. Und das einfache Mädchen konnte diesen Druck nicht von sich abschütteln. Machte aber doch auch das Erröthen der Bescheidenheit, und freilich zugleich des Glücks, sie doppelt schön!

„Ich bin doch noch schöner!“ sagte sich die reiche Wittwe.

Der Wagen war vorgefahren. Die beiden Schwestern stiegen ein, um nach dem benachbarten Bade zu fahren.


2. Ein alter Invalide und ein vornehmer General.

Der Wagen erreichte das Bad. Es lag reizend in der Nachbarschaft der reichen Stadt. Eine elegante Gesellschaft bewegte sich jedes Jahr während der Saison darin, aus der Stadt, aus der Gegend, aus weiterer Ferne. Bei besonderen Gelegenheiten waren Gesellschaftsräume und Plätze des nicht großen Bades überfüllt. Heute war eine besondere Gelegenheit. Die große Nachbarstadt war nicht blos eine reiche Handelsstadt, sie war namentlich auch eine bedeutende Garnisonstadt. Die Musikcorps der sämmtlichen Regimenter der Garnison hatten in dem Badeorte ein großes Concert veranstaltet. Was an vornehmer und eleganter Welt in Stadt und Umgegend war, hatte sich von allen Seiten zusammengefunden.

„Du wirst auch einen sehr vornehmen Adel hier finden,“ sagte die ältere Schwester mit einer gewissen Beziehung zu der jüngeren.

„So?“ erwiderte das junge Mädchen sehr gleichgültig.

„Aber auch einen sehr stolzen.“

Das Gesicht des Mädchens antwortete, daß ihr in der Welt nichts gleichgültiger sein könne. Den Worten der reichen Dame folgte ein Seufzer. Das Mädchen legte ihnen darum nicht mehr Gewicht bei. Die Dame mußte dennoch fortfahren.

[499] „Du wirst aber auch sehr liebenswürdige Menschen darunter finden.“

„Ich glaube es, Schwester.“

„Namentlich einen jungen Grafen Hochstadt.“

„Er ist noch jung, Charlotte?“

„Und der liebenswürdigste Mensch von der Welt. Und – ach, Henriette, ich muß es Dir sagen – er liebt mich, und ich –“

„Du liebst ihn wieder?“

„Ich liebe ihn.“

Den Worten folgte wieder ein Seufzer. Diesmal achtete Henriette darauf.

„Und Du bist dennoch nicht glücklich, Charlotte?“

„Es gibt so viele Verhältnisse in der Welt!“

„Der vornehme, stolze Graf kann sich wohl nicht entschließen, Dir seine Hand zu reichen?“

„O, er wohl. Aber –“

„Seine stolzen Eltern wollen ihm die Einwilligung nicht geben?“

„Er hat keine Eltern mehr, er ist unabhängig.“

„So begreife ich in der That nicht.“

„Er hat kein Vermögen.“

„Du bist desto reicher, Schwester.“

„Er ist viel zu stolz, ohne eigenes Vermögen eine reiche Frau zu heirathen.“

„Höre, Schwester, das gefällt mir an dem jungen Grafen Hochstadt.“

„Er hat freilich ein bedeutendes Vermögen zu erwarten, von einem alten Onkel, der große Güter besitzt und keine Kinder hat.“

„Dann ist er ja eigentlich nicht arm.“

„Wie man will. Aber der Alte ist sehr adelstolz, und hat seinem Neffen rundweg erklärt, sein Erbe könne er nur unter der Bedingung werden, daß er ebenbürtig, also eine Dame von altem Adel heirathe.“

„Das ist garstig von dem alten Manne. Aber der junge Graf?“

„Was soll er thun, Henriette?“

„Er zieht die Erbschaft seines Oheims Dir vor?“

Die frommen Augen des jungen Mädchens blitzten bei der Frage. Die reiche Wittwe schlug ihre Augen nieder. Der Wagen hatte das Curhaus erreicht. Er hielt. Vor dem Hause breitete sich ein weiter, runder Platz aus. Ein Kranz schattiger Bäume umgab ihn. Schattige Bäume und bunte Zeltdächer bedeckten ihn. Hier wurde das Concert gegeben. In der Mitte war die Tribüne für die Musiker aufgerichtet. Rund umher, wo ein Schatten in der heiteren Nachmittagssonne sich abzeichnete, saß an kleineren und größeren Tischen die zahlreichste und eleganteste Gesellschaft. Die Musik rauschte, die Gesellschaft hörte mit Entzücken den melodiereichen und mit der wundervollsten Präcision vorgetragenen Tönen zu. Das Entzücken hinderte die Unterhaltung nicht.

In der Nähe des Curhauses saßen an einem kleineren Tische zwei Herren. Der eine trug eine Officiersuniform; der andere war in bürgerlicher Kleidung. Beide waren jung. Der in bürgerlicher Kleidung schien Jemanden zu erwarten. Er blickte fast unaufhörlich angelegentlich nach jener Seite des Curhauses hin, an der die neuankommenden Wagen vorführen. Als die elegante Equipage der reichen Wittwe ankam, glänzte sein Gesicht in hoher Freude. Er sprang auf, dem Wagen entgegen zu eilen. Er wurde aufgehalten. Von einem Nachbartische kam ihm eilig ein junger Officier entgegen.

„Weißt Du, daß Dein Onkel hier ist, Hochstadt?“

Der Gefragte stutzte. „Wo?“ fragte er.

„Hinter dem Flieder dort. Er muß wissen, daß Du da bist; er richtet durch das Gebüsch Blicke nach Deinem Tisch.“

„Gut.“

Der junge Graf Hochstadt setzte seinen Weg zu dem Wagen fort. Er konnte doch nicht umhin, einen flüchtigen Blick zurückzuwerfen. Etwa zwanzig Schritte von dem kleinen Tische entfernt, an dem er gesessen hatte, erhoben sich ein paar vollblühende Kugelakazien. Unter ihnen stand ein dichtes Gebüsch spät blühenden Flieders. Dorthin, auf den rothblauen Flieder, warf der junge Mann seinen Blick. Ein spähender Blick mußte ihn dort verfolgen. Aber er kümmerte sich nicht darum. Um was kümmert sich die heiße Liebe in einem glühenden Herzen von fünfundzwanzig Jahren? Um etwas doch!

Es war ein hochgewachsener, schöner junger Mann, der Graf Ottomar von Hochstadt. Muth, Kraft, Adel traten aus jedem Zuge seines aristokratischen Gesichts, aus jeder Bewegung seiner edlen Gestalt hervor. Jede Frau hätte ihn lieben mögen. Er liebte nur Eine, und die Liebe zu ihr verklärte ihn. So stand er an dem Wagen der reichen Wittwe. Er sah nur die schöne Frau. Die schöne Frau, die es sah, glich einer Göttin des Glückes und der Freude. Der sanften, weichen Henriette aber, die das ebenfalls sah und von ihm nicht gesehen wurde, schien es auf einmal zu sein, als wenn ihr ein tiefer Stich durch das Herz fahre.

„Meine Schwester Henriette,“ sagte die Wittwe zu dem Grafen. „Ich habe Ihnen von ihr erzählt. Sie ist heute angekommen, und ich wollte die Arme nicht allein lassen.“

„Sie sind ein Engel voll Güte,“ sagte der Graf und drückte ihr die Hand.

Er wandte sich zu der kleinen Schwester, und als der Blick der glänzenden und glücklichen Augen so gleichgültig auf sie fiel, da schien dem siebzehnjährigen Mädchen gar das Herz sich zuschnüren zu wollen.

Der Officier, der mit dem Grafen zusammengesessen hatte, war, als er die zweite Dame im Wagen sah, dem Freunde nachgeeilt. Er hob das Mädchen aus dem Wagen, und der Graf freute sich, daß er es nicht brauchte, denn er hätte den Arm der Geliebten loslassen müssen, und die kleine Henriette – ach, das sanfteste und weichste Mädchenherz muß unter gewissen Umständen schmollen, trotz allem Unglück, gerade im Unglück.

„Mein Freund, der Baron Althof,“ stellte der Graf den Officier vor.

Die Herren führten die Damen zu dem Tische, an dem sie gesessen hatten. Die schöne Wittwe ging an dem Arm des Grafen stolz, wie eine Königin. Sie konnte stolz sein. Der schönste, der vornehmste, der angesehenste junge Mann der Provinz führte sie. Und nach dem Tode seines Oheims wurde er der reichste. Sie war aber auch eine bildschöne Frau, und reich war sie, wie nur der Graf es werden konnte. Mancher Blick der Bewunderung folgte dem schönen Paare. Der schönen Frau aber auch mancher Blick des Neides. Sie kümmerte sich nicht darum. Dachte sie ja nicht einmal ihres armen, unglücklichen Bruders, den sie in Verzweiflung hatte von sich gehen lassen! Um etwas sollte sie sich doch bekümmern, auch sie.

„Mein Onkel ist hier,“ flüsterte der Graf ihr zu. „Er hat sich mir nicht gezeigt. Er weiß nicht, daß ich seine Anwesenheit kenne. Er will uns beobachten.“

Das war es nicht, was sie bekümmern sollte. Im ersten Momente hatte sie ebenfalls gestutzt. Dann aber leuchteten ihre Augen zufrieden. Sie wußte, wie schön sie war, und wie liebenswürdig sie sein konnte.

„Hoffen wir, daß es ein Glück für uns werde,“ sagte sie.

Ein Anderes sollte sich nicht freundlich in ihre Hoffnung mischen. Und es war doch so freundlich. Die Musik hatte einen brillanten Walzer von Strauß beendet. Man hatte diesmal mit einem stillen Entzücken zugehört. Niemand hatte einen Ton verlieren wollen, und die fünfzig bis sechzig Instrumente spielten wahrhaftig laut genug. Die Stille auf dem weiten Platze hielt noch an; man lauschte den verschwundenen Tönen noch nach.

Da kam um eine Ecke neben dem Curhause herum in langsamem, schwankendem Schritt ein alter Mann. Er war sehr alt; das spärliche Haar auf seinem Kopfe war schneeweiß. Das Gesicht war bleich und eingefallen. Seine Kleidung war alt, durchlöchert. Und diese Kleidung war eine alte Militairuniform. Auf der Brust der alten, abgeschabten Uniform trug er die Kriegsdenkmünze der Jahre 1813 bis 1815, das eiserne Kreuz und einen russischen Orden. Auf dem Rücken trug er einen Kasten, in der Hand ein Gestell zu dessen Aufrichtung. Er trug schwer daran, der alte, schwache Greis. Er sah sich etwas schüchtern um, als er auf den weiten, von der buntesten, elegantesten und fröhlichsten Welt belebten Platz trat. Dann faßte er sich ein Herz, aber mit Wehmut und Trauer in den Augen, als wenn es ihm schwer genug werde, und er doch nicht anders könne. So schritt er weiter, zwischen die Tische, in die Gesellschaft. Alle die verwunderten Blicke, die ihm begegneten, achtete er nicht.

An einer etwas freien, schattigen Stelle machte er Halt. Es war in der Nähe des Tisches, an welchem der junge Graf Hochstadt mit seiner Gesellschaft saß. Er stellte das Gestell zu seinem [500] Kasten auf. Dann wollte er den Kasten von seinen Schultern nehmen. Er konnte nicht recht damit fertig werden, er war zu steif und zu schwach, der alte Mann. Anderswo halfen ihm die Leute wohl dabei. Hier, unter allen den vornehmen, reichen, geputzten, stolzen Menschen, konnte er nicht einmal wagen, sich nach Hülfe umzusehen.

„Was mag der Mensch hier wollen?“ fragten sich hundert Augen, die ihn hatten ankommen sehen.

Als er das Gestell aufstellte, als er den Kasten von seinen Schultern nehmen wollte, wußten sie es.

„Mein Gott, das ist ein Leierkasten!“

„Nach jener köstlichen Musik ein Leierkasten, das ist empörend!“ riefen Herren und Damen, die Kunstkenner waren.

„Nach einem so entzückenden Straußischen Walzer!“ setzten entrüstet einige jüngere Damen hinzu.

„Die Idee ist unbezahlbar!“ lachten blasirte junge Herren, und sie lachten seit langer Zeit zum ersten Male wieder laut.

Sie hatten Recht. Indeß waren ihrer nur wenige, und die energische künstlerische Entrüstung blieb vorherrschend, freilich unter dem Hinzutreten einer tiefen moralischen.

„Wie schmutzig der Mensch aussieht,“ riefen die geputzten Damen und die Herren in Glacehandschuhen wieder.

„Es ist ein alter Soldat,“ riefen entrüstet ältere reiche Kaufleute. „Es ist eine Schande, daß man solchen Leuten ein Bettelprivilegium gibt.“

Am zornigsten waren die Officiere der Garnison der benachbarten Stadt.

„Er ist von der Landwehr! Diese Landwehr compromittirt immer die Armee. Sie ist die wahrhafte militairische Schattenseite. Wie lange man den Unfug noch dulden mag!“

Ja, die Landwehr ist vielen Leuten ein Unfug. Sie war es schon lange. Jetzt wollen sie ihn ausrotten. Der alte Invalide war ein alter Landwehrmann. Die abgeschabte, zerrissene Litewka zeigte es. Das Landwehrkreuz an der Mütze, die sein weißes Haupt bedeckte, zeigte es. Zeigten es nicht auch das eiserne Kreuz und die anderen Zeichen der Tapferkeit, die seine Brust schmückten? Und unter diesen Zeichen manche breite und tiefe Narbe von den Kugeln, Säbeln und Bajonneten der Franzosen?

Ihr, die Ihr jetzt der Landwehr das Todesurtheil sprecht, möchtet Ihr statt dessen Euch danach drängen, dem übermüthigen, frechen Franken, der Euch nächstens wieder in das Land hineinkommen will, Mann gegen Mann Brust und Stirn zu zeigen, und zur Ehre Eures deutschen Vaterlandes ihn mit Säbel, Bajonnet und Kugel niederzuwerfen oder, wenn ein gutes Geschick Euch das nicht gewähren will, Stirn und Brust zum breit und tief benarbten Walle gegen das Hereinstürmen jenes frechen Uebermuthes zu machen, wie der alte Landwehr-Invalide mit dem Leierkasten es gethan hatte!

Es wollte ihm nicht gelingen, den Leierkasten von den Schultern wegzubringen. „Der linke Arm ist mir zerschossen,“ sagte er zu einem Herrn neben ihm – „und mit dem rechten allein will es nicht recht mehr gehen; man wird alt.“

Der Herr neben ihm sah nach einer anderen Seite. In dem jungen Grafen Hochstadt zuckte etwas, und er schien aufspringen zu wollen. Die schöne Wittwe an seiner Seite warf ihm gerade einen zärtlichen Blick zu. Und über den Blick vergaß er den Invaliden; er hätte die Welt über ihn vergessen können. Aber Jemand anders erhob sich von dem Tische des Grafen.

Henriette Grone, die Schwester der schönen Wittwe, hatte nur Augen für den alten, schwachen Invaliden gehabt. Sie war unruhig geworden und kämpfte mit sich über etwas. Sie sah sich verlegen um nach allen den reichen, vornehmen, geputzten Leuten. Auf einmal hatte sie einen Entschluß gefaßt. Sie sah nur den alten, schwachen Invaliden, der mit seinem Leierkasten nicht fertig werden konnte, sprang von dem Sitze auf und war bei dem alten Manne, vielleicht wußte sie selbst nicht, wie sie zu ihm gekommen war. Ihr Gesicht war hochglühend. Aber sie hatte nicht anders gekonnt. Mit leichter Hand hob sie den Kasten von den Schultern des Greises und stellte ihn auf das Gestell, das vor ihm stand. Dann wollte sie zurückkehren, blaß im Gesicht geworden, zitternd vor Verlegenheit und Scham. Aber sie wurde aufgehalten.

Ein alter Herr war plötzlich unter blühenden Kugelakazien hinter einem Gebüsche von Flieder hervorgetreten. Es war eine hohe, stolze Gestalt. Er trug bürgerliche Kleidung, aber auf dem einfachen schwarzen Rocke schimmerte das weiße Johanniterkreuz, und an silberdurchwirkter Schleife hing das eiserne Kreuz erster Classe auf die Brust herunter. Auf wie viele andere Orden mußte man schließen, die der stolze Mann nicht tragen mochte, vielleicht weil so viele Andere sie trugen! Er ging auf den Invaliden und das Mädchen zu und stutzte nicht, als er sie sah; er hatte sie wohl Beide schon durch das Gebüsch gesehen.

„Ach, Alter,“ sagte er zu dem Invaliden, „ich wollte Dir helfen, ein alter Kamerad von der Landwehr. Da kam eine bessere Hand mir zuvor. Spiele Du jetzt, ich sammle unterdeß für Dich. „Zwei Stücke spiele. Hast Du des Arndt’s Husarenlied auf Deinem Kasten?“

„Zu Befehl, mein General.“

„Und „Noch ist Polen nicht verloren“?“

„Auch, zu Befehl.“

„So spiele auch das, alter Kamerad. Noch ist auch unsere Landwehr nicht verloren, obwohl sie genug davon reißen und theilen und sie ganz zerreißen möchten. Fange an.“

Dann wandte er sich an Henrietten. Er sah das schöne, bescheidene, einfache Kind mit freundlichem Wohlgefallen an. „Und Sie, mein liebes, braves Fräulein – wie kann ich Ihnen danken für das, was Sie an diesem alten Manne mir gethan haben? Ich kann es nur durch eine Bitte: Geben Sie mir Ihren Arm, und wir sammeln Beide für den armen Leierkastenmann.“

Er hatte ihre Hand schon gefaßt und drückte sie herzlich. Dann legte er ihren Arm in den seinigen. Sie konnte nicht widerstreben und weinte nur; sie mußte es, und wußte selbst nicht, warum.

„Mein Onkel!“ hatte an dem Tische zehn Schritt davon der Graf Ottomar von Hochstadt überrascht ausgerufen.

„Ihr Onkel?“ hatte erschrocken die schöne Wittwe an seiner Seite wiederholt.

Der alte Herr war der Onkel des Grafen Ottomar, der Graf Gotthard von Hochstadt, der reichste und adelstolzeste Edelmann des Landes. Er war in seinen jüngeren Jahren, nach der Sitte des reicheren Adels und zu seinem Vergnügen, einige Zeit Officier in der Garde gewesen und hatte nach der Schlacht bei Jena den Abschied genommen.

(Fortsetzung folgt.)




Messina.

Diese Jahrtausende alte Sichelstadt „Zankle“, so genannt wegen des sichelförmigen Hafens, eines der schönsten und größten in der Welt, das Messana der alten Römer, später nacheinander von muhamedanischen Saracenen, christlich-ritterräuberischen Normannen, unglücklichen Hohenstaufen Deutschlands, spanischen und zuletzt bourbonischen Tyrannen beherrscht, zieht jetzt als letzter Halt der neapolitanischen Bourbonen die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Nachdem Garibaldi Palermo und das übrige Sicilien wie auf einen Zauberschlag erlöst hatte, blieb es wochenlang die wichtigste Frage in dieser weltgeschichtlichen Angelegenheit: Wird er es auch erlösen können, und wie stehen die Bedingungen dazu? Dies drängt uns sofort zu der Frage: Wie liegt Messina strategisch, und welche Kraft hat es als Festung?

Messina ist als wichtigste Hafen- und Handelsstadt Siciliens und wegen ihrer Lage dem Festlande gegenüber, von welchem es blos durch die Straße von Messina getrennt ist, der neuen Regierung Garibaldi’s unentbehrlich. Sie ist Hauptstadt der 14 geographische Meilen langen und etwa halb so breiten Provinz gleiches Namens. Diese wird im Innern von der großen Felsenkette ziemlich ausgefüllt, die von Osten nach Westen ganz Sicilien durchschneidet und südwestlich von der Stadt, unweit Catania, den Aetna enthält. Zwischen den Kämmen und Kanten der Gebirgszüge, an

[501]

Messina.

[502] den Abhängen und in den Thälern ist die Provinz ganz besonders fruchtbar an Wein und Oel, großen und kleinen Rosinen, Mandeln, Citronen, Sumach, Süßholz, Lakritzen, den verschiedensten Früchten und an Seide, die in der Stadt mit besonderm Kunstfleiße verarbeitet wird. Der Hafen von Messina führt diese Produkte aus und dafür europäische Industrie- und Luxusartikel für beinahe das ganze Inselland ein.

Messina die Stadt biegt sich sichelförmig um den zwei englische Meilen langen Hafen und steigt nach dem Lande zu etwas bergaufwärts. Die Mauern hier haben keine strategische Bedeutung und sind blos aus Zollrücksichten gegen Schmuggler etwas hoch gebaut. Oberhalb der Stadt erheben sich auf steilen Hügeln die Festungswerke Gonzaga und Castellaccio, aber ohne großen militairischen Werth, da sie von höheren Bergrücken dahinter leicht beherrscht werden können. Freilich würde es keine leichte Arbeit sein, Artillerie auf diesen Höhen aufzupflanzen. Die Citadelle liegt in der Ebene unten, da, wo eine hervorspringende Landzunge dem eigentlichen Festlande ziemlich nahe kommt. Nach letzterem hin ist sie stark und hat in dem detachirten Fort Blasco, das durch Minenwege mit der Citadelle in Verbindung steht, ein respektables Außenwerk. Die Seefront ist strategisch unbedeutend mit ihrem Fort Salvatori. Daraus läßt sich leicht ersehen, daß Messina nicht nachdrücklich vertheidigt werden kann, wenn die hinter den Werken Gonzaga und Castellaccio aufsteigenden Felsenrücken nicht stark besetzt werden. Wegen Mangel an Truppen, zumal zuverlässigen, ist daran jetzt kaum zu denken. Man wird sich deshalb, wie 1848, hauptsächlich auf die starke Citadelle beschränken. Damals hielten sich die königlichen Truppen bis zum September in der Citadelle, aber die Revolutionstruppen hatten keine Kanonen, und die Schweizer-Regimenter waren nicht, wie jetzt, in Auflösung und Anarchie begriffen. Anfangs Juli hatte Messina 10,000 Mann Garnison, die allerdings verstärkt werden sollte; aber schwerlich sind die nöthigen 30,000 Mann zur Besetzung aller Posten herbeigeschafft worden, obwohl man es neuerdings behauptet. In der Citadelle selbst ist blos Raum für höchstens 4000 Mann. Wenn Garibaldi, wie seine Absicht war und er vorbereitet hatte, von Catania her angreifen sollte, werden ihm die ausgetrockneten Felsenflußbetten zwischen den Bergen und dem Meere zu Gute kommen. Die königlichen Truppen in Messina wird er wohl nicht zu fürchten brauchen. Deren Seele waren immer die Schweizer, welchen 1848–49 „Bomba“ allein die siegreiche Contre-Revolution verdankte. Von „Bombino“, dem 21jährigen Nachfolger, sind sie bereits theils in aller Form, theils moralisch abgefallen.

Die neapolitanische Flotte ist dem Namen und den Zahlen nach sehr bedeutend: 115 Kriegsfahrzeuge, bestehend aus zwei Fregatten zu 48 und zwei zu 60 Kanonen, drei Corvetten zu 44 und einer zu 32, fünf Brigantinen zu 20, zwei Schooners zu 14 Kanonen, vierzehn Dampf-Fregatten, vier Dampf-Corvetten, siebzig Kanonenbooten und im Uebrigen Transport-Fahrzeugen. Solch eine Flotte, gut bemannt und patriotisch wirksam gemacht, würde zehn Garibaldi’s das Landen unmöglich gemacht haben, – der Geist ist von ihr gewichen, wie von den Landtruppen. Sie wird von den Geistern der Tausende, die in Kerkern vermoderten, bemannt, welche die Glieder der „Treugebliebenen“ lahmen und den Schiffen wehren, Mannschaften und Munition nach bedrohten Punkten zu schaffen und Garibaldi’s armselige zehn Dampfer anzugreifen.

Was Garibaldi betrifft, so hat er allerdings höchstens 25,000 Mann, darunter 5000 Mann durchgeschulte Kerntruppen, die mit ihm kamen, sahen, siegten, und zum Theil schon 1848–49 mit ihm stritten. Von diesen hat denn aber auch gelegentlich wohl Jeder „eine Armee in seiner Faust“. Die Begeisterung für ihn, die Nemesis, erzeugt Furcht, Schrecken und Feigheit im Lager der Feinde. Die stark zuströmenden Freiwilligen, die im Innern des Landes Rekrutirten sind vorläufig von keinem taktischen oder strategischen Werthe, da sie erst eingeübt werden müssen. Letzteres hilft übrigens bei den eigentlichen Siciliern wenig oder nichts, man kann keine ordentlichen Krieger aus ihnen machen, wiewohl man annehmen darf, daß Begeisterung für den wundergleich gekommenen Befreier und Eruption des lange im Innern kochenden heiligsten Ingrimmes dieser oft ätnaähnlichen Seelen Militairschule und Exercirplatz ersetzen mag. Mitte Juli waren Garibaldi’sche Vorposten von Catania her schon mit königlichen Truppen von Messina zusammengestoßen. Vielleicht ist inzwischen das Schicksal Messina’s schon entschieden worden. Sicilien gehört dem Dictator Garibaldi. Er wird es für den König von Sardinien zu halten suchen, aber schwerlich zwischen den doppelten Gefahren der Scylla und Charybdis in der Meerenge (zwischen dem Festlande und Sicilien) in das nun plötzlich wieder „constitutionelle“ Neapel eindringen. Der bourbonische Thron muß ja gerettet werden! Ist doch bereits wieder einmal „Freiheit“ von ihm aus verkündigt worden, wie 1848. Frankreich und Rußland müssen das nun glückselig constitutionelle Königreich Neapel erhalten. Auch fordert dies das „europäische Gleichgewicht“. Der deutsche Bund und alle „Gutgesinnten“ Europa's würden ebenfalls für den legitimen Herrscher gegen den „Räuberhauptmann“ Garibaldi (wie ihn die gute Presse nannte) Partei nehmen. Wenn nicht ein grimmiger Ruck der Geschichte diese Pläne für die Erhaltung des ganz besonders gottseligen Bourbonenthrones stört, wird der junge König die Gefängnisse wieder ärger füllen und neue Tortur-Instrumente erfinden, eh’ er einen Bart bekommt.

Wie zauberisch spiegeln sich die prächtigen, mit buntem südlichen, halbnackten, braunen Leben erfüllten sicilischen Hauptstädte in den blendenden Wassern des Meeres! Wie märchenhaft leuchten die Säulen und Ruinen und Balcons Messina’s aus dem oft spiegelblanken Hafenwasser auf! Von drüben blinken die calabrischen Berge und Dörfer herüber durch die klare, weiche Luft. Das Stadt-Panorama selbst ist wunderprächtig. Himmel und Erde scheinen sich oft zu vereinigen, um hier ein Paradies für die Menschen zu sichern. Aber nirgends in der Welt haben Schergen und Bomben des wahnsinnigsten Despotismus seit Jahrhunderten ärger gewüthet, als in diesen himmlischen Häfen und Städten.




Der Blitzableiter.

Von Dr. F. M.

Es war im Jahre 1708, als Dr. Wall die wichtige Bemerkung machte, daß das Licht und das Knistern des geriebenen Bernsteins eine ähnliche Erscheinung sei wie Blitz und Donner, ohne daß er jedoch der gegenseitigen Vergleichung dieser Erscheinungen weiter nachging. Späterhin sprach sich ein anderer Physiker, der Abt Rollet, über diese Aehnlichkeit deutlicher aus, indem er erklärte, „wenn Jemand durch Vergleichung der Erscheinungen darthun würde, daß der Donner in den Händen der Natur eben das sei, was die Elektricität in den unserigen ist, und daß die Wolke dabei die Stelle des Hauptconductors der Elektrisirmaschine vertrete, so würde ihm diese Erscheinung sehr gefallen.“ In der That mußten ihn die Experimente mit der Leydener Flasche, die Helligkeit des elektrischen Funkens, die Raschheit, mit der er übersprang, seine Fähigkeit, beim Entladen durch den menschlichen Körper heftige Erschütterungen zu bewirken und Thiere selbst zu tödten (er war der Erste, der diesen Versuch anstellte), auf jenen Gedanken leiten und in ihm die Hoffnung erwecken, daß durch die gehörige Anwendung der Elektricitätserscheinungen auf den Blitz und Donner diese letzteren Erscheinungen eine richtigere Auffassung und Erklärung als bisher finden würden.

Es hatte jedoch die Richtigkeit dieser Anschauungsweise nur eine große Wahrscheinlichkeit für sich, und um diese zur Wahrheit zu erheben, mußten nothwendig mit Wolkenelektricität Versuche angestellt werden, um die hierbei auftretenden Erscheinungen mit den bereits bekannten vergleichen zu können. Diesen großen Fortschritt verdankt die Wissenschaft dem Amerikaner Dr. Benjamin Franklin, der hierdurch sowohl, wie namentlich durch die weitere praktische Anwendung seiner Entdeckungen unsterblich geworden ist. Dieser scharfsinnige Naturforscher hatte zu Philadelphia eine große Reihe von Versuchen über Elekiricität angestellt, und seine Beobachtung, daß spitzige Körper die Elektricität weit mehr und aus größerer Entfernung anzögen als stumpfe, brachte ihn auf den so folgereichen [503] Gedanken, durch solche spitzige Körper die Elektricität von den Wolken nach der Erde zu locken. Er machte deshalb den Vorschlag, man solle auf einem Thurm oder sonst einem hochgelegenen Orte ein Schilderhäuschen errichten, woraus sich ein spitzer Eisendraht durch einen Harzkuchen isolirt erhebe. Wenn darüber Gewitterwolken hinzögen, so müßten sie, meinte er, dem Eisendrahte einen Theil ihrer Elektricität mittheilen, welches den Sinnen durch Funken wahrnehmbar werden könnte, wenn man einen Schlüssel, einen Knöchel oder sonst einen Leiter in die Nähe brächte. Da ihm jedoch in Amerika zur Anstellung dieser Versuche die nöthigen Hülfsmittel fehlten, so forderte er hierzu die Physiker Europa’s auf, welcher Aufforderung zunächst in Frankreich Dalibard zu Marly la Ville und Delor zu Paris folgten. Der Erstere ließ eine Hütte bauen, über welche eine am unteren Theile isolirte Eisenstange von 40 Fuß Länge aufgerichtet war. Als eine Gewitterwolke über das Zenith dieser Stange hinzog, gab sie bei Annäherung eines Fingers Funken und zeigte alle anderen Erscheinungen, welche die durch unsere gewöhnlichen Maschinen elektrisirten Conductoren darbieten. Dieser in der Geschichte der Wissenschaft denkwürdige Tag war der 10. Mai 1752. Zu Paris wurden diese Versuche wiederholt und erregten das höchste Interesse der Bevölkerung.

Was Franklin jedoch nicht auf diese Weise erreichte, gelang ihm auf eine andere, die um so bemerkenswerther ist, als sie den Beweis liefert, wie ein gewöhnliches Spielzeug der Kinder in den Händen eines wissenschaftlichen Forschers hochwichtige Entdeckungen machen hilft. Er kam nämlich auf den Gedanken, die Elektricität nicht durch eine Eisenstange, sondern durch einen in die Höhe steigenden Drachen, an dessen unterem Ende eine Schnur angeknüpft war, längs dieser herabzulocken. Mit diesem Instrumente begab sich Franklin im Juni 1752, von seinem Sohne begleitet, in’s Freie zur Zeit als ein Gewitter aufstieg. Eine blitzschwangere Wolke zog über dem Drachen hin, ohne daß eine Wirkung sichtbar wurde, und schon schien es, als sollten die Erwartungen getäuscht werden. Da auf einmal entstand ein leichter Regen, welcher die Schnur etwas befeuchtete und so besser leitend machte; die Fasern am untern Ende der Schnur fingen an sich zu sträuben, es ließ sich ein kleines Geräusch hören, und als nun ein Finger der Schnur genähert wurde, sprang ein Funke über, dem bald noch mehrere folgten.

So waren die Erwartungen eingetroffen, der Versuch vollkommen gelungen, aber zugleich mit einem bedeutenden Glück für den Experimentirenden. War nämlich der Regen stark genug, um die Schnur vollständig zu durchnässen und so vollständig leitend zu machen, so konnten die überspringenden Funken so heftig werden, daß Franklin sein Leben einbüßte, mit dem zugleich Alles verloren ging, was dieser große Mann noch in der Wissenschaft und für die Freiheit seines Volkes geleistet hat.

Sehr merkwürdig ist es, daß dieses Experiment ganz mit denselben Hülfsmitteln von dem französischen Physiker de Romas zu Nerac im Jahre 1753 angestellt wurde, ohne daß die Kenntniß der Franklin’schen Resultate schon dorthin gedrungen war. Um die Schnur von vornherein besser leitend zu machen, hatte er in dieselbe einen dünnen Metalldraht eingeflochten. Die Freude und das Erstaunen theilte er Rollet in den Worten mit: „Stellen Sie sich den Anblick von Feuerstreifen vor von 9 bis 10 Fuß Länge und einem Zoll Dicke, die ebenso viel oder noch mehr Geräusch machten, als Pistolenschüsse. In noch weniger als einer Stunde erhielt ich gewiß 30 Streifen von diesen Dimensionen, ungerechnet tausend andere von 7 Fuß und darunter. Was aber meine Zufriedenheit bei diesem neuen Schauspiele vorzüglich erweckte, war, daß die größten Feuerstreifen von selbst hervorbrachen und ungeachtet der großen Masse Feuers, aus der sie bestanden, stets auf den zunächst befindlichen Leiter fielen. Da ich dies immer ohne Ausnahme erfolgen sah, ward ich so sicher, daß ich mich nicht scheute, das Feuer bei ziemlich lebhaftem Gewitter mit meinem Auslader hervorzulocken, und wenn die Glasarme nur zwei Fuß Länge hatten, so vermochte ich mittelst derselben, ohne die geringste Erschütterung in meiner Hand zu spüren, Feuerstreifen von 6 bis 7 Fuß ebenso leicht, wohin ich wollte, zu leiten, als Streifen von blos 7 bis 8 Zoll.“ Man begreift leicht, mit welcher Vorsicht derartige Versuche angestellt werden müssen, und wie sehr es darauf ankommt, die hierzu nöthigen Apparate auf das Geeignetste einzurichten.

Franklin hatte somit erkannt und nachgewiesen, daß der Blitz ein eben solcher Entladungsstrom sei, als die sind, welche wir mittelst der geladenen elektrischen Batterien hervorbringen können. Seine früheren Untersuchungen über das Ausströmen der Elektricität aus Spitzen machten in ihm den weiteren Gedanken rege, daß man mit einer in die Luft ragenden und oben mit einer Spitze versehenen Eisenstange die Wolkenelektricität neutralisiren könne und somit ein gegen den Blitz schützendes Mittel in den Händen habe. Er hatte somit die Erfindung des Blitzableiters gemacht, eine Erfindung, welche als eine der wichtigsten und wohlthätigsten für die Menschen betrachtet werden muß.

Wie sehr ein spitzer, die Elektricität leitender Körper, der einem andern mit Elektricität geladenen Körper nahe kommt, diesen zu entladen vermag, kann folgender leicht anzustellende Versuch beweisen. Man hänge an einem Seidenfaden einen Baumwollenflocken (der ziemlich groß sein kann) auf und lade denselben etwa mit positiver Elektricität, welche Ladung man an der Aufrichtung der Fasern des Flockens, noch besser aber an dem Auseinandertreten zweier an ihm angehängter Korkkügelchen erkennen kann. Nähert man diesem Flocken einen Metalldraht, der vorn in eine feine Spitze ausläuft, so werden die Korkkügelchen rasch zusammenfallen, wodurch die Entladung angezeigt ist. Diese Erscheinung ist leicht zu erklären, zugleich mit der Anwendung auf die Wirkung des Blitzableiters, denn der Baumwollenflocken kann recht gut eine mit positiver Elektricität geladene Wolke, die demselben genäherte Spitze den Blitzableiter vorstellen. Nähert sich nun eine mit positiver Elektricität geladene Wolke dem Blitzableiter, so werden in diesem die bis dahin vereinigten Elektricitäten getrennt. Die negative wird nach der Spitze gezogen, die positive dagegen strömt nach dem Erdboden. In diesem Trennungszustand erhält sich jedoch das Ganze nicht, sondern die negative Elektricität strömt aus der Spitze aus, begibt sich nach der Wolke, um hier einen Theil der positiven Elektricität zu neutralisiren. Eine neue Menge negativer Elektricität wird wieder nach der Spitze gezogen, strömt von hier aus und neutralisirt wiederum einen Theil der hier noch angehäuften positiven. Dieser Vorgang wiederholt sich so oft, bis die positive Elektricität der Wolke durch die aus der Spitze strömende negative neutralisirt ist, oder mit andern Worten, bis die Wolke entladen ist.

Die hauptsächlichste Wirkung des Blitzableiters besteht also darin, daß durch ihn die Wolken neutralisirt werden. In unserer Erklärungsweise wurde angenommen, die Wolke sei mit positiver Elektricität geladen, was natürlich nicht immer der Fall ist. Nach den Versuchen, welche Crosse über die elektrische Beschaffenheit der Wolken angestellt hat, ergab sich, daß sogar ein und dieselbe Wolke aus verschiedenen Zonen besteht, die bald positiv, bald negativ geladen sind. Hierdurch ändert sich jedoch nichts in der obigen Erklärungsweise.

Der Blitzableiter ist jedoch auch noch in einer anderen Beziehung von großer Wichtigkeit. Wenn nämlich die Elektricität in den darüber streichenden Wolken eine solche Spannung besitzt, daß das Ausströmen der entgegengesetzten Elektricität aus der Spitze des Blitzableiters nicht hinreicht, um sie zu neutralisiren, so wird ein Blitzstrahl erfolgen und aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Punkt fallen, wo die meiste Elektricität aufgehäuft ist, nämlich die Spitze des Blitzableiters, um von hier durch die Blitzableiterstange nach dem Boden hin seine Richtung zu nehmen. Zwei Bestimmungen muß also der Blitzableiter erfüllen: erstens die Unschädlichmachung der blitzschwangeren Wolken durch das Ausströmen der Elektricität aus seiner Spitze, zweitens die Unschädlichmachung eines wirklich erfolgten Blitzstrahls, insofern er diesen nach dem Boden ableiten muß.

Die wesentlichen Bedingungen eines gut eingerichteten Blitzableiters sind zunächst folgende drei: erstens muß die Spitze desselben hinlänglich fein sein, zweitens muß er seiner ganzen Länge nach sowohl über dem Boden, wie in dem Boden vollständig leiten, drittens muß er die gehörigen Dimensionen besitzen. Die erste Bedingung muß deshalb erfüllt sein, damit die Ausströmung der Elektricität so stark wie möglich ist. Man befestigt zu dem Ende oben nach der vortrefflichen Instruction, welche Gay-Lussac über die Einrichtung der Blitzableiter gegeben hat, eine 5 Centimeter lange Platinspitze, welche zunächst mit ihrem untern Ende in eine Messinghülse gefaßt ist und mit dieser auf der eigentlichen Blitzableiterstange aufsitzt. Zu Deutschland, wo sich hauptsächlich Reimarus um diese Gegenstände verdient gemacht hat, läßt man die Eisenstange [504] selbst oben in eine feine Spitze ausgehen und vergoldet diese, um sie vor Rost zu bewahren. Was die zweite Bedingung betrifft, so leuchtet ein, daß, wenn die Leitung an einer Stelle des Blitzableiters mangelhaft oder gar vollständig unterbrochen ist und ein Blitz in denselben einschlägt, dieser an der betreffenden Stelle leicht auf seitliche Gegenstände überspringen kann. Ein solcher Blitzableiter würde mehr schaden, als nützen können. Um die Leitung nach dem Boden hin möglichst vollständig zu machen, leitet man das untere Ende der Stange in einen Behälter, der mit Wasser sich gefüllt erhält, oder, falls dies unmöglich ist, wenigstens an einen feuchten Ort; auch theilt man gern das untere Ende in mehrere Arme und umgibt diese mit gestoßener Kohle, welche ein guter Leiter der Elektricität ist. Ist drittens die Dicke der Blitzableiterstange zu gering, so kann leicht der Fall eintreten, daß der Blitzstrahl nicht rasch genug nach dem Boden abströmen kann und in Folge dessen sich auf seitliche Gegenstände wirft. Dem seitlichen Ueberspringen des Blitzes werden hauptsächlich metallische Gegenstände ausgesetzt sein, wie etwa Metalldächer, und es ist von großer Wichtigkeit, daß derartige Gegenstände in hinlängliche Leitung mit dem Blitzableiter gesetzt werden und nicht etwa von diesem isolirt sind, wie Einige für gut befanden.

Ein nach solchen Principien eingerichteter Blitzableiter schützt nicht nur das Gebäude, woran er angebracht wird, sondern auch die nächste Umgebung, und zwar, wie man annimmt, in einer Entfernung vom Blitzableiter, welche doppelt so groß ist als die Höhe der Stange. An directen Beispielen des Nutzens, den ein gut eingerichteter Blitzableiter gewährt, fehlt es nicht; es möge hier von den zahlreichen nur eines angeführt werden. Der Thurm des Freiburger Münsters ist wiederholt von Blitzstrahlen getroffen worden, die das herrliche Kunstgebäude mehr oder weniger beschädigten. Ein Strahl, welcher am 28. April 1561 die Pyramide traf, richtete so bedeutenden Schaden an, daß die Kosten der Reparatur auf die benachbarten Stifte vertheilt werden mußten. Ebenso verherend wirkten, wenngleich in geringerem Grade, zwei andere Blitzschläge am 2. Januar 1819 und am 10. Januar 1843, worauf im Jahre 1844 der Thurm nach der Angabe Frick’s mit einem sehr zweckmäßigen Blitzableiter versehen wurde, dessen Einrichtung sich so trefflich bewährte, daß ein Blitzstrahl, der am 28. April 1847 den Thurm traf, dem Blitzableiter folgte, ohne auch nur den geringsten Schaden anzurichten.

Die prächtige Naturerscheinung des Gewitters bietet noch eine Menge Verhältnisse dar, welche von Seiten der Physik ihre Aufklärung finden müssen und die wir wohl nächstens noch näher besprechen.



Aus Garibaldi’s Leben.

Nr. 2.


Wohl selten hat die Geschichte von einem Leben zu melden, das wechselvoller und vielbewegter sich gestaltete, wie das jenes Mannes, welcher als das gefeierte Haupt des demokratischen Italiens, aus nationalen Rücksichten die monarchische Fahne Victor Emanuels entrollend und von Sieg zu Siege tragend, die Blicke der Welt in so reichem Maße auf sich gezogen hat und vielleicht noch lange nicht am Ziele seines hochfliegenden Strebens steht. Reich an Abenteuern und Gegensätzen, bietet dieses Leben eine solche Fülle des Interessanten, daß wir gern bei ihm verweilen und staunend die große Ausdauer bewundern, die den kühnen, thatendurstigen Mann unter den verschiedenartigsten Verhältnissen zur Verwirklichung seiner idealen Pläne antrieb und leitete.

Giuseppe Garibaldi, der Vielgeschmähte und Hochgepriesene, wurde, wie er selbst erzählt, am 22. Juli 1807 zu Nizza in demselben Hause und demselben Zimmer geboren, in welchem auch Frankreichs berühmter Marschall Massena das Licht der Welt erblickte. Mit großer Hochachtung und tiefer Zärtlichkeit gedenkt er seiner Eltern, seines aus Chiavari gebürtigen Vaters, Dominico Garibaldi, und namentlich seiner Mutter, Rosa Ragiundo, in welcher er das Musterbild aller Frauen verehrt. Der Sohn eines Seemanns und selbst Seemann, gedachte ihn sein Vater zu einem gleichen Berufe zu erziehen, und da er eben nicht sehr mit Glücksgütern gesegnet war, so sah er sich auch nicht im Stande, dem Sohne irgend eine aristokratische Bildung angedeihen zu lassen. „Mein Vater,“ so erzählt er, „ließ mich weder in der Gymnastik, noch in der Fechtkunst oder im Reiten unterrichten. Allein ich erlernte doch eine Art Gymnastik, indem ich in den Wandtauen herumkletterte und im Seilwerk herabglitt, die Fechtkunst, indem ich mein Haupt vertheidigte und das meiner Feinde zu spalten suchte, das Reiten aber, indem ich mir die ersten Reiter der Welt, ich meine die Gauchos, zum Muster nahm.“ – Dagegen war der junge Giuseppe einer der verwegensten Schwimmer, dem kein Strom zu breit und zu reißend dünkte, und der sich im Meere so heimisch fühlte, daß er glaubte, er habe von Kindesgebeinen an schwimmen gekonnt und sei als „Amphibie“ geboren. Uebrigens befand sich in jener traurigen Zeit das Amt der Jugenderziehung zu Piemont in den Handen fauler, nichtsnutziger Mönche, die nur dahin strebten, aus den jungen Leuten ihres Gleichen heranzubilden.

So verbrachte Giuseppe die ersten Jahre seiner Kindheit, wie sie die meisten Kinder verbringen, unter Lachen und Weinen, mehr dem Vergnügen, als der Arbeit, mehr der Erheiterung, als den Studien hingegeben. Schon frühzeitig entwickelte sich jedoch in ihm der Drang nach Abenteuern. Des Schulzwangs und der sitzenden Lebensweise müde, nahm er sich eines Tages mit dreien seiner Altersgenossen, Cesar Parodi, Raffaello de Andreis und Celestino Bermond, vor, nach Genua zu entfliehen. Gesagt, gethan. Sie suchten sich ein Fischerboot zu verschaffen und machten sich auf den Weg nach der Levante. Kaum hatten sie aber die Höhe von Monaco erreicht, als schon ein Korsarenschiff, das sein trefflicher Vater ihm nachgesendet, sie einholte, gefangen nahm und ganz beschämt wieder nach Hause zurückbrachte. Ein Abbé, der sie beobachtet hatte, verrieth sie, wie sie nachmals erfuhren, „und daher,“ meint Giuseppe, „stammt wahrscheinlich meine geringe Sympathie und mein Groll gegen alle Abbé’s.“

Nachdem seine dürftige Jugenderziehung vollendet war, unternahm er seine erste größere Seereise auf der Brigantine „la Costanza“ nach Odessa, der bald eine zweite auf seiner eigenen Tartane „la Santa Reparata“ nach Rom folgte, die ihn mit der größten Freude erfüllte, denn Rom war für ihn Italien, das geheiligte Symbol der italienischen Einheit. Auf einer Fahrt nach Marseille weihte man ihn in die Plane der patriotischen Partei ein, der er sich mit ganzer Seele hingab. Mazzini, den er in Marseille persönlich kennen lernte, bezauberte ihn; er ging zu jener Zeit damit um, eine neue Schilderhebung für die Sache Italiens zu wagen, zu deren Leitung Ramorino – gegen Mazzini’s Ansicht – herbeigerufen wurde. Sie endete unglücklich. Garibaldi befand sich im Staatsdienst als Matrose erster Classe auf der Fregatte „Eurydice“; hier sollte er Proselyten für die Revolution machen und sich, falls der Handstreich der Insurrection gelingen würde, der Fregatte bemächtigen und dieselbe den Republikanern zur Verfügung stellen. „Ich wollte mich jedoch nicht,“ erzählt er, „bei dem Feuer, das mich durchglühte, zu dieser Rolle hergeben. Dagegen hatte ich vernommen, daß sich eine Bewegung in Genua vorbereitete, und daß man sich dabei der auf dem Sarzana-Platz gelegenen Gensd’armen-Caserne bemächtigen sollte. Ich überließ es daher meinen Cameraden, das Fahrzeug zu nehmen, und landete zur Stunde, in welcher die Bewegung ausbrechen sollte, auf einem Boote an der Douane zu Genua, von wo aus ich mich nach dem genannten Platze begab.

„Hier wartete ich fast eine Stunde lang: allein es bildete sich keine Zusammenrottung, und bald vernahm ich, daß das Unternehmen gescheitert wäre, und die Republikaner sich flüchteten. Man fügte hinzu, daß Verhaftungen vorgenommen würden. Da ich mich jedoch bei der sardinischen Marine engagirt hatte, um der sich vorbereitenden republikanischen Bewegung zu dienen, so hielt ich es für nutzlos, an den Bord der Eurydice zurückzukehren, und dachte ebenfalls an’s Flüchten.

„Im Augenblick, wo ich mich solchen Betrachtungen überließ, begannen Truppen, die ohne Zweifel von dem Plane der Republikaner, [505] sich der Caserne zu bemächtigen, unterrichtet worden waren, den Platz einzuschließen. Ich sah ein, daß jetzt keine Zeit mehr zu verlieren war. Deshalb flüchtete ich zu einer Obsthökerin und gestand ihr meine Lage. Die treffliche Frau besann sich nicht lange; sie verbarg mich in ihrem Hinterladen, verschaffte mir eine Verkleidung als Bauer, und um acht Uhr Abends entwich ich durch das Laternenthor aus Genua und begann auf diese Weise das Leben der Verbannung, des Kampfes und der Verfolgung, das ich aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht ganz hinter mir habe. Dies geschah am 5. Februar 1834.

„Ohne eine gewisse Straße zu verfolgen, wandte ich mich in’s Gebirge. Ich sah mich genöthigt, Gärten zu durchschreiten und Mauern zu überspringen. Zum Glück war ich mit derartigen Uebungen vertraut, und nach einer Stunde gymnastischer Exercitien war ich jenseit des letzten Gartens und hinter der letzten Mauer. Ueber die Berge von Sestri langte ich nach Verlauf von zehn Tagen, oder vielmehr von zehn Nächten, in Nizza an, wo ich das Haus meiner Tante keck aufsuchte, um durch sie meine Mutter vorzubereiten, die sonst zu heftig erschrocken sein würde.

„Nach einer eintägigen Ruhe machte ich mich Nachts, von zwei Freunden begleitet, Joseph Jaun und Ange Gustavimi, wieder auf den Weg. Am Var angekommen, fanden wir denselben von Regengüssen angeschwollen, was jedoch für einen Schwimmer, wie ich, kein Hinderniß war. Ich passirte ihn halb zu Fuße, halb schwimmend, während meine Freunde am andern Ufer zurückblieben. Ich war gerettet, aber noch nicht ganz, wie man gleich sehen wird.

„In diesem Vertrauen ging ich kecken Schritts auf ein Corps Zollwächter zu, denen ich sagte, wer ich wäre und warum ich Genua verlassen hätte. Die Zollwächter erklärten mir, daß ich bis auf weiteren Befehl, den sie in Paris einholen wollten, ihr Gefangener sei. Da ich jedoch dachte, daß sich mir bald eine Gelegenheit zur Flucht darbieten würde, leistete ich keinen Widerstand und ließ mich nach Grasse und von Grasse nach Draguignan abführen.

„Zu Draguignan brachte man mich auf ein Zimmer !m ersten Stock, dessen offenes Fenster in einen Garten ging. Ich näherte mich dem Fenster, als ob ich die Landschaft betrachten wollte. Es waren kaum zehn Fuß bis auf den Boden. – Ich schwang mich hinab, und während die Zollwächter, weniger behend oder weniger auf ihre Füße vertrauend, als ich, den großen Weg zur Treppe herab einschlugen, gewann ich einen Vorsprung und warf mich wieder in’s Gebirge. Ich kannte den Weg nicht, aber ich war Matrose. Wenn mich die Erde verließ, blieb mir der Himmel, dieses große Buch, in welchem ich meinen Weg zu lesen gewöhnt war. Mit Hülfe der Sterne orientirte ich mich und gelangte glücklich nach Marseille.

„Ich trat in ein Gasthaus ein. Ein junger Mann und eine junge Frau wärmten sich nahe an einem Tische, der nur auf das Abendessen zu warten schien. Ich verlangte etwas zu speisen, da ich seit gestern Abend nichts genossen hatte. Der Wirth bot mir an, mich mit an den Tisch zu setzen und mit ihm und seiner Frau zu Nacht zu essen. Dies nahm ich an. Das Essen war gut, der Landwein angenehm, das Feuer erwärmend. Ich empfand einen jener Augenblicke des Wohlseins, wie man sie nach einer überstandenen Gefahr oder wenn man glaubt, nichts mehr befürchten zu müssen, empfindet. Mein Wirth wünschte mir Glück zu meinem guten Appetit und zu meinem munteren Aussehen. Ich erwiderte ihm jedoch, daß dies nichts Verwundernswerthes sei, denn ich hätte seit achtzehn Stunden nichts zu mir genommen. Was aber mein munteres Aussehen anlange, so sei dies noch einfacher, – in meinem Vaterlande wäre ich wahrscheinlich dem Tode entwichen, – in Frankreich dem Gefängniß. Da ich mich so weit herausgelassen, konnte ich aus dem Uebrigen kein Geheimniß machen. – Mein Wirth schien so frei, seine Frau so gut, daß ich ihnen Alles erzählte. Jetzt sah ich aber zu meinem großen Erstaunen das Angesicht meines Wirths sich verfinstern. – „Nun,“ fragte ich ihn, „was haben Sie?“

„Nach dem Geständniß, das Sie mir gemacht haben, halte ich mich mit bestem Gewissen für verpflichtet, Sie in Haft zu nehmen.“

„Ich fing an zu lachen, um mir nicht den Anschein zu geben, als nähme ich diese Eröffnung ernstlich. Ueberdies Einer gegen Einen, gab es auch nichts, was ich hätte fürchten sollen. „Gut!“ sagte ich zu ihm, „verhaften Sie mich; es wird immer noch Zeit sein, mich beim Nachtisch festzunehmen. Lassen Sie mich meine Abendmahlzeit beschließen – ich habe noch Hunger.“ Und ich fuhr fort zu essen, ohne irgend unruhig zu scheinen. Bald jedoch bemerkte ich, daß, wenn mein Wirth Hülfe nöthig hätte, um seinen Plan auszuführen, diese ihm nicht fehlen würde.

„Sein Gasthof war der Sammelplatz der Dorfjugend; allabendlich traf man sich hier, um zu trinken, zu rauchen, Neuigkeiten auszukramen und über Politik zu schwatzen. Die gewöhnliche Gesellschaft versammelte sich nach und nach, und bald waren einige zehn im Gasthause gegenwärtig. – Diese jungen Leute spielten Karte, tranken und sangen. Der Wirth sprach nicht mehr davon, mich festzunehmen, dennoch verlor er mich nicht aus den Augen. Es ist wahr, ich hatte nichts von Sachen bei mir, und mein Anzug konnte meiner Zeche nicht eben entsprechen. Aber ich besaß in meiner Tasche einige Thaler und ließ diese klimpern; ihr Klingen schien den Wirth einigermaßen zu beruhigen.

„Ich wählte den Augenblick, wo einer der Trinker mitten unter Bravo’s ein Lied, das sich des größten Erfolgs erfreute, beendigt hatte, und das Glas in der Hand rief ich: „Jetzt hab’ ich das Wort!“ Und nun stimmte ich das Lied Beranger’s: „le Dieu des bonnes gens“ an. Wenn ich keine andere Bestimmung gehabt hätte, so hätte ich sollen Sänger werden; ich habe eine Tenorstimme, die, wäre sie ausgebildet worden, einen gewissen Umfang erreicht haben würde. Die Verse Beranger’s, die Sicherheit und Frische, mit welcher sie vorgetragen wurden, der wiederkehrende Refrain und die Volksthümlichkeit des Dichters erhoben alle Zuhörer. Ich mußte zwei oder drei Couplets wiederholen, man umarmte mich zuletzt und rief: „Es lebe Beranger! es lebe Frankreich! es lebe Italien!“

„Nach einem solchen Erfolge konnte von keiner Verhaftnahme mehr die Rede sein; mein Wirth sprach kein Wörtchen mehr davon, so daß ich heute noch nicht weiß, ob er es ernstlich gemeint oder sich nur einen Scherz gemacht hat. Man verbrachte die Nacht mit Singen, Spielen, Trinken; dann, am nächsten Morgen mit Tagesanbruch, bot sich die ganze fröhliche Gesellschaft zu meiner Begleitung an, eine Ehre, die ich natürlich annahm; wir trennten uns erst nach einem Wege von sechs Miglien. – Wahrlich, Beranger ist todt und weiß nicht, welchen Liebesdienst er mir geleistet!“

Glücklich entkam Garibaldi nach Marseille, ohne daß eine andere Ueberraschung ihn betroffen, als daß er in einer Zeitung, „das souveraine Volk“ betitelt, seinen Namen, wie er selbst scherzt, zum ersten Male gedruckt las; er war von den Blutrichtern Karl Alberts zum Tode verurtheilt worden, und dies raubte ihm die Aussicht auf einen längeren Aufenthalt in Frankreich, denn dem „bürgerfreundlichen“ König Louis Philipp war eine Verletzung des Asylrechts wohl zuzutrauen. Deshalb schiffte er sich alsbald nach Tunis ein, von wo aus er jedoch nach kurzer Zeit, da ihm die vom Bey von Tunis übertragene Stellung als Reis einer Barbareskenschebecke nicht sonderlich zusagte, unter dem angenommenen Namen Pane wieder nach Marseille zurückkehrte, das, von der Cholera furchtbar verheert, einem weiten Kirchhof glich und vergebens nach Leuten suchte, welche Dienste in den überfüllten Hospitälern verrichteten. Sofort übernahm Garibaldi einen solchen Barmherzigkeitsdienst und blieb daselbst vierzehn Tage unter allen Schrecknissen einer verheerenden Seuche, bis dieselbe an Heftigkeit abgenommen hatte. Bald darauf bot sich seinem nach Abenteuern verlangenden Geiste eine willkommene Gelegenheit zur Gewährung seines Sehnens dar: der Capitain der Brigg „le Nautonnier“ nahm ihn als zweiten Matrosen mit nach Rio Janeiro. Diese Reise gewährte ihm ein hohes, nicht geahntes Vergnügen, indem sie ihm neue Wunder der Schöpfung erschloß, die sein weiches, für zarte Eindrücke empfängliches Herz mit Staunen erfüllten. Viele seiner Freunde haben ihm deshalb nachgesagt, daß er vorzugsweise zum Dichter geboren sei. „Wenn man aber nur unter der Bedingung Dichter ist,“ sagt er selbst in seinen Aufzeichnungen, „daß man die Iliade, oder die göttliche Komödie, die Meditationen Lamartine’s, oder die Orientalen Victor Hugo’s dichten kann, so bin ich nicht Dichter; wenn der jedoch ein Dichter ist, der Stunden zubringt, um in den azurnen und tiefen Wogen die Geheimnisse der unterseeischen Vegetation zu erforschen; wenn der ein Dichter ist, welcher Angesichts der Bai von Rio Janeiro, Neapel oder Constantinopel in Wonnetrunkenheit geräth; wenn der ein Dichter ist, der sich zurückträumt in die Zärtlichkeit der theuern Mutter, in die Erinnerungen der Kindheit und der ersten Jünglingsliebe, während Flinten- [506] und Kanonenkugeln ihn umdonnern, ohne zu fürchten, daß dieser Traum mit einem zerschmetterten Kopf oder einem zerquetschten Arm endigen kann – dann bin ich Dichter.“

„Ich erinnere mich,“ fährt er fort, „eines Tages im letzten Kriege gegen Oesterreich, wo ich von Müdigkeit erschöpft, da ich seit zwei Nächten kein Auge geschlossen hatte und seit zwei Tagen nicht vom Pferde gestiegen war, dem General Urban und seinen 12,000 Mann mit meinen 40 Bersaglieri, meinen 40 Reitern und einem Tausend wohl oder übel bewaffneter Mann auf einem kleinen Fußsteig zur Seite marschirte, während auf der andern Seite am Berg Orfano der Oberst Türr mit fünf oder sechs Mann vorrückte; plötzlich blieb ich stehen, vergaß Müdigkeit und Gefahr und hörte dem wunderbaren Sang einer Nachtigall zu. Es war Nachts, bei Mondschein, in einer prachtvollen Jahreszeit. Das Vögelchen ließ im leisen Säuseln des Windes seine harmonischen Töne wie einen Rosenkranz abperlen, und mir dünkte, als ich diesen kleinen Freund meiner Jugendjahre wiederhörte, als träufe ein wohlthätiger, neuschaffender Himmelsthau auf mich herab. Meine Umgebung glaubte, ich wisse nicht, welcher Weg einzuschlagen sei, und ich hörte vielleicht ein fernes Donnern der Kanonen oder den dröhnenden Hufschlag der Rosse auf der Heerstraße. Nein, ich hörte eine Nachtigall schlagen, deren Gesang ich fast seit zehn Jahren nicht vernommen hatte, und meine Entzückung währte, wenn auch nicht so lange, bis meine Umgebung mir zurief: „General, hier ist der Feind!“ sondern bis der Feind mir selbst durch Kanonenschüsse sein „hier bin ich!“ zu vernehmen gab und dadurch meinen nächtlichen Liebling verscheuchte.“

Wir haben diese kleine Episode absichtlich mitgetheilt, und überlassen dem Leser, zu beurtheilen, ob ein Mann mit einem solch’ zartfühlenden Herzen wohl die Ehrennamen eines Seeräubers und Flibustiers verdient, mit welchen ihn selbst ein Schönhals beehrt!

Kehren wir jetzt zur Geschichte zurück. In Rio Janeiro hatte Garibaldi das seltene Glück, einen wahren Freund zu finden, einen gewissen Rossetti, für welchen er das treueste und zärtlichste Angedenken bewahrt hat; er nennt ihn eine auserwählte Seele, seinen Freund, seinen Bruder, seinen Unzertrennlichen. Mit diesem errichtete er, zunächst um die Stunden der Muße auszufüllen, einen kleinen Handel; bald aber sahen Beide ein, daß sie für derartige Geschäfte nicht geboren waren. Der Zufall führte ihnen den Secretair des Präsidenten der Republik Rio-Grande, die sich damals im Kriege mit Brasilien befand, zu, und so beschlossen sie, die Waffen für die republikanische Partei in Rio-Grande zu ergreifen. Nachdem sie mit einer geringen Mannschaft eine feindliche Goëlette erobert, erhielt Garibaldi den Oberbefehl über dieselbe; sie warfen alsbald in Maldonado (Republik Uruguay) Anker, mußten dasselbe aber schon nach acht Tagen wieder verlassen, da Oribe, in seiner Eigenschaft als Oberhaupt der Republik von Montevideo, dem politischen Chef von Maldonado Befehl zuschickte, Garibaldi zu verhaften und sich der Goëlette zu bemächtigen. Die Anker wurden daher sofort gelichtet, und bald war die Höhe von Jesus Maria, gerade den Barrancas von San-Gregorio gegenüber gelegen, erreicht. Inzwischen nahte neue Gefahr von Montevideo. Zwei Barken griffen die Goëlette an; die erste Geschützladung, die sie empfing, tödtete den Untersteuermann, einen der besten Matrosen Garibaldi’s, und dieser selbst ward, als er kaum das verlassene Steuer ergriffen, von einer feindlichen Kugel getroffen, die in den Nacken eindrang und ihn bewußtlos auf das Verdeck schleuderte. Trotzdem kämpfte seine kleine Truppe wacker fort, und nach einem einstündigen Widerstand fand der Feind für gut, sich mit einem Verluste von ungefähr zehn Mann Todter oder Kampfunfähiger auf die Flucht zu begeben.

In Gualguay, das er nach einer neunzehntägigen Fahrt erreichte, wurde Garibaldi freundlich aufgenommen, namentlich gab ihm der Gouverneur der Provinz Entre-Rios, Don Pascale Echague, vielfache Beweise von Wohlwollen; dennoch erfuhr Garibaldi nur zu früh, daß er so gut wie Gefangener sei, indem die Entscheidung über seine Freiheit von dem Dictator von Buenos-Ayres, Rosas, abhängig gemacht wurde. Man erlaubte dem Reconvalescenten zwar kleine Promenaden zu Pferde, allein sie waren auf gewisse Grenzen beschränkt, und als nach Don Echague’s Abreise ein gewisser Leonardo Millan Commandant von Gualguay geworden, reifte in Garibaldi’s Kopfe der Entschluß, sich seiner mißlichen Lage durch die Flucht zu entziehen.

„Ich traf,“ so erzählt er, „meine Vorbereitungen, um bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit fertig zu sein. An einem stürmischen Abend eilte ich daher nach der Wohnung eines alten Biedermannes, den ich gewöhnlich besuchte und welcher drei Miglien landeinwärts wohnte; diesmal theilte ich ihm meinen Entschluß mit und bat ihn um einen Führer und um Pferde, mit denen ich eine von einem Engländer gehaltene Estancia (südamerikanische Farm), die am linken Ufer des Parana gelegen war, zu erreichen hoffte. Hier fand ich sicher Fahrzeuge, die mich incognito nach Buenos-Ayres oder Montevideo schaffen würden. Er gab mir das Gewünschte, und wir machten uns querfeldein auf den Weg, um nicht entdeckt zu werden. So hatten wir in einer halben Nacht, aber im steten Galopp, ungefähr 54 Miglien zurückgelegt.

„Mit Tagesanbruch befanden wir uns im Angesicht von Ibiqui, ungefähr eine halbe Miglie von dem Parana entfernt. Der Führer forderte mich auf, zu warten, während er Erkundigung einziehen wollte. Ich willigte ein, und er verließ mich. Jetzt setzte ich mich auf die Erde nieder, hing den Zaum meines Pferdes an einen Baumast, legte mich selbst unter diesen Baum nieder und wartete so zwei bis drei Stunden; da mein Führer jedoch nicht wieder erschien, stand ich auf und entschloß mich, den nahegelegenen Waldsaum zu gewinnen zu suchen; im Augenblick aber, wo ich ihn erreichte, hörte ich hinter mir einen Flintenschuß und das Einschlagen der Kugel in’s Gras. Ich kehrte um und erblickte ein Cavallerie-Detachement, das mich, den Säbel in der Faust, verfolgte. Dieses Detachement befand sich bereits zwischen mir und meinem Pferde. Bei der Unmöglichkeit zu fliehen und der Nutzlosigkeit mich zu vertheidigen ergab ich mich.“

An Händen und Füßen gebunden, ward hierauf Garibaldi nach Gualguay zurückgeführt, wo die härteste Behandlung seiner wartete.

„Man wird mich nicht beschuldigen,“ fährt er fort, „allzuzärtlich gegen mich zu sein. Dennoch, ich gestehe es, fühle ich stets ein Schaudern, wenn ich an dieses Ereigniß zurückdenke. Vor Leonardo Millan geführt, ward ich von ihm aufgefordert, ihm diejenigen zu nennen, die mir zur Flucht behülflich gewesen wären. Ich erklärte natürlich, daß ich die Vorbereitungen allein getroffen und auch allein die Flucht unternommen hätte. Da ich gebunden war und Don Leonardo Millan daher nichts von mir zu befürchten hatte, so trat er näher zu mir heran und schlug mich mit seiner Peitsche; hierauf wiederholte er sein Verlangen und ich mein Leugnen. Nun befahl er, mich in’s Gefängniß abzuführen und flüsterte dabei meinen Begleitern einige Worte in’s Ohr. Diese Worte enthielten die Weisung, mir die Tortur zu ertheilen. Als ich in dem mir bestimmten Zimmer anlangte, ließen meine Wächter mir die Hände auf den Rücken festgebunden, knebelten mir die Daumen mit einem neuen Strick, wanden das andere Ende um einen Balken, zogen mich hinauf und hingen mich vier bis fünf Fuß von der Erde auf.

„Jetzt trat Don Leonardo Millan in mein Gefängniß und fragte mich, ob ich gestehen wolle. Ich konnte ihm nur in’s Gesicht spucken, und er züchtigte mich dafür.

„Wohlan,“ sagte er beim Fortgehen, „wenn es ihm gefällig sein wird, dem Kerkermeister zu beichten, so ruft mich, und hat er gestanden, so laßt ihn wieder auf die Erde.“ Hierauf ging er hinaus.

„In dieser Lage blieb ich zwei Stunden aufgehängt. Das ganze Gewicht meines Körpers lastete auf meinen bluttriefenden Daumen und meinen verrenkten Schultern. Mein ganzer Körper brannte, als wäre ich in einem feurigen Ofen; aller Augenblicke bat ich um Wasser, und menschlicher als meine Henker brachten mir meine Wächter solches. Allein das in meinen Magen eindringende Wasser vertrocknete, als hätte man es auf ein rothglühendes Eisen geschüttet. Man kann sich von dem, was ich erduldete, nur eine Idee machen, wenn man die an den Gefangenen im Mittelalter verübten Folterqualen liest. Endlich, nach Verlauf von zwei Stunden, hatten meine Wächter Mitleid mit mir oder hielten mich für todt und ließen mich herab. Ich stürzte meiner ganzen Länge nach hin. Ich war nur noch eine todte Masse, ohne ein anderes Gefühl als das eines dumpfen und tiefen Schmerzes – ein Leichnam oder so etwas Aehnliches. Ich hatte unmittelbar vorher fünfzig Miglien über Moorgrund gehen und dann mit gefesselten Händen und Füßen dieselbe Strecke ein zweites Mal zurücklegen müssen. Die zahlreichen und in dieser Jahreszeit wüthenden Muskitos hatten [507] mein Gesicht und meine Hände in ein großes Geschwür umgewandelt. Ich hatte eine zweistündige, fürchterliche Tortur ausgehalten, und als ich wieder zu mir kam, war ich an einen Mörder angeschlossen.

„Ohne die sorglichen Bemühungen einer Frau, die für mich ein Engel der Barmherzigkeit ward, wäre ich gestorben. Sie warf jede Furcht bei Seite und kam dem armen Gefolterten zu Hülfe. Sie hieß Madame Alleman. Dank dieser milden Wohlthäterin fehlte es mir in meinem Gefängniß an Nichts. Zwei Tage darauf ließ mich der Gouverneur, der wohl einsehen mochte, daß alle Versuche, mich zum Sprechen zu bringen, fruchtlos wären, und daß ich eher sterben, als einen meiner Freunde anzeigen würde, in die Hauptstadt der Provinz Bajada abführen. Hier blieb ich zwei Monate im Gefängniß, worauf mir der Gouverneur sagen ließ, daß es mir gestattet sei, die Provinz frei zu verlassen. Obgleich ich mich zu Ansichten bekenne, welche denen Echague’s entgegengesetzt sind, und ich seit diesem Tage mehr als einmal gegen ihn gefochten habe, so will ich doch nicht die Verpflichtung verschweigen, die ich ihm schulde, und ich wollte, ich wäre jetzt im Stande, ihm meine Dankbarkeit für Alles zu beweisen, was er für mich und namentlich für die Erlangung meiner Freiheit gethan hat.

„Später ließ das Glück alle militairischen Häupter der Provinz Gualguay in meine Hände fallen, und sie wurden insgesammt ohne die geringste Kränkung, weder an ihrer Person noch an ihrem Eigenthum, in Freiheit gesetzt. Was Don Leonardo Millan betrifft, so wollte ich ihn nicht einmal sehen, aus Furcht, daß seine Gegenwart bei der Rückerinnerung an die überstandenen Leiden mich vielleicht zu einer meiner unwürdigen Handlung veranlassen könnte.“




Eine Klosterschule.

Im Herzen Deutschlands, in Thüringen, gibt es ein weites, schönes Thal, das die „güldne Aue“ heißt. Diesen Namen verdankt es schon seit alten Zeiten der außerordentlichen Fruchtbarkeit seines Bodens; denn hier prangen die Saaten in üppigster Pracht und bringen alljährlich goldnen Erntesegen, hier grünen Wiesen und Wälder, daß sich des Menschen Herz erfreut. Die Helme und Unstrut, welche das Thal durchfließen und es alljährlich mit ihrem trüben Wasser, dem Nil gleich, düngen, tragen viel zu dieser Fruchtbarkeit bei. Diese Aue fängt bei der Stadt Nordhausen an, zieht sich von West nach Ost viele Meilen weit hin, nach Sangerhausen, Artern, Wiehe, von einer Seite durch die hohe Bergwand des Harzes gegen die kalten Nordwinde geschützt, während sie auf der andern Seite von weniger hohen Bergzügen, welche mit Feld und Wald bedeckt sind, begrenzt wird.

In einem der schönsten Theile dieses gesegneten Thales, nahe an der Unstrut, liegt auf einer Anhöhe die Klosterschule Roßleben, welche unsere Abbildung darstellt.

In früheren Zeiten stand hier ein Augustiner-Nonnenkloster, welches, soweit reichen die ältesten Nachrichten, seit 1142 bestanden hat. Auch hierher kam die Reformation mit ihrer zersetzenden Kraft. Das Kloster wurde aufgehoben und säcularisirt. Ein frommer Thüringer Ritter, Heinrich von Witzleben, wurde damit beliehen; er gründete in dem Klostergebäude im Jahre 1554 eine Gelehrten-Schule, die er mit dem Klostergut und einigen andern Besitzungen ausstattete. – Die Familie von Witzleben war früher im Besitz aller Güter jener reichen Gegend, daher waren schon die Vorfahren des Stifters die Schirmherrn des alten Klosters gewesen, und so verwaltet einer seiner Nachkommen die Angelegenheiten der Schule mit bestimmten Vorrechten, unter dem Titel eines Erb-Administrators. Gegenwärtig führt der Oberpräsident der Provinz Sachsen, Hartmann Erasmus von Witzleben, die Erb-Administratur.

Im Jahre 1686 wurden die alten Klostergebäude durch Feuer gänzlich zerstört. Ein neues, größeres Gebäude, aus drei Flügeln bestehend, für die Zwecke der Schule eingerichtet, trat an dessen Stelle. Es hat außer den ökonomischen Localen, den Lehrerwohnungen, den Speise- und Classensälen und einer Kapelle hochgelegene und gesunde Wohnungen zur Aufnahme der Schüler. Die Zahl derselben war bisher 60–80, doch ist im letzten Jahrzehnt der Zudrang zu der Anstalt so gewachsen, daß man sich genöthigt sah, neue Stellen zu gründen. Die Leitung der Anstalt unter dem jetzigen Rector, eines als Mensch, wie als Lehrer gleich ausgezeichneten Mannes, des Professor Dr. Anton, hat zur Blüthe der Schule viel beigetragen. Der Geist, der hier herrscht, ist ein höchst humaner. Lehrer und Schüler leben wie eine große Familie. Die jungen Leute werden nicht nur in jeder wissenschaftlichen Hinsicht vortrefflich für die Universität vorbereitet, es wird auch durch eine sittliche Mitgabe für ihre Zukunft Sorge getragen.

Außer den eigentlichen Zöglingen, Alumnen genannt, für welche es ganze und halbe Freistellen gibt, finden andere als außerordentliche Kostgänger in den Familien der Lehrer Aufnahme; diese heißen Extraneer. Aber nicht nur für die geistige und sittliche Ausbildung, sondern auch für das körperliche Gedeihen der Schüler ist vielseitig gesorgt; ein großer freier Spielplatz, mit alten Linden besetzt, schließt sich unmittelbar dem Gebäude an, eine Turnanstalt, ein Flußbad, eine Eisbahn auf überschwemmter Wiese und vor allem ein naher großer Wald, das Ziel täglicher Spaziergänge, geben den jungen Leuten hinreichend Gelegenheit, ihre Körperkräfte zu üben und sich tüchtig zu tummeln.

Folge mir, lieber Leser, durch das ansehnliche Portal des Hauptgebäudes und die Treppensäulenhallen in die hohen, hellen Räume. Vergebens siehst Du dich um nach dunkeln Kreuzgängen, düstern Zellen, nach steinernen Weihkesseln und Nischen mit Heiligenbildern. Du findest nichts dergleichen, noch weniger Treppen, welche auf jeder Stufe die Spuren von Büßenden tragen. Alles, was Du suchst, hat der Strudel der Zeiten verschlungen. Aber beim Eintritt begegnen dir blühende, fröhliche Jünglinge, die nach beendetem Unterrichte aus den luftigen Hörsälen eilen, um sich in Gottes schöner Natur, die sie in reicher Fülle umgibt, besonders im nahen grünen Laubwalde, zu stärken und zu erquicken. Das neue, mit Seitenflügeln versehene Gebäude ist speciell für die Zwecke der Schule eingerichtet und hat außer den Localien für den Oekonomen in den untern Räumen die Classen- und Speisesäle, in der Mitteletage die Wohnungen der Lehrer, und darüber die sechzehn gesunden Zellen der Alumnen. Der Mittelbau, über dem wir auf unserm Bilde das Thürmchen sich erheben sehen, enthält die einfache aber freundliche Kapelle behufs des sonntäglichen Gottesdienstes, sammt den Bibliothekräumen. Die Zahl der Alumnen und Extraneer, früher auf 60–80 bestimmt, ist jetzt bis über 100 gestiegen. Sie wohnen je 3–4 beisammen; auf Fleiß und Sitte der Jüngern (Untergesellen) achtet als senior ein Zögling der ersten Classe. Den Lehrern sind zur allgemeinen Beaufsichtigung Inspektoren (gewöhnlich die sechs obersten Primaner) beigeordnet. Speciellere Aufsicht, besonders über die Ausgaben und Geldbedürfnisse der Schüler, führen die Lehrer als Sutores. Jeder Alumnus wird bei der Aufnahme einem solchen zugewiesen. Für Krankheitsfälle ist ein Schularzt angestellt.

Die Lebensordnung ist, wie das Programm von 1845 sich ausspricht, „nach gleichen Gesetzen ein fest geregeltes, und die Disciplin keine andere, als wie sie ein christliches und gebildetes Familienleben in einem so großen Kreise erfordert.“ – Der Unterricht wird von sieben Lehrern ganz nach den für alle preußischen Gymnasien gültigen Vorschriften ertheilt, und begreift wissenschaftliche und sittliche Vorbereitung für die Universität. – Beiläufig sei hier auch des Klosterwappens gedacht: ein einfaches Kreuz, an welchem eine Schlange sich emporwindet, dem unten eine Rose erblüht.

Die Schule hat sich, besonders unter dem Rectorat des originellen Benedict Wilhelm (seit 1786), welcher am 17. Mai 1836 als „Vater Wilhelm“ (Wahlspruch: non scholae, sed vitae) sein höchst jubelvolles Jubiläum unter Theilnahme vieler alter Schüler beging, dessen sich mancher Leser dieses Aufsatzes gewiß mit freudigem Rückblick erinnern wird, ganz vorzüglich aber unter der Direction des jetzigen Rectors, des trefflichen Anton (Doctor humanus!), als ausgezeichnet bewährt. Hat auch keiner der Lehrer älterer und neuerer [508] Zeit im steten Bewußtsein seiner höhern Pflichten gegen die Anstalt danach gestrebt, durch Epoche machende Werke zu glänzen und nach ungewöhnlichem schriftstellerischen Ruhme zu trachten, so haben dieselben doch, so weit bekannt, mit wenigen Ausnahmen – besonders in neuern Zeiten – den dauernden Ruhm der treusten Hingebung an die edlern Zwecke der Schule bewährt und Roßleben zur wahrhaften Pflege- und Bildungsstätte des echten Humanismus gemacht, wo Obscurantismus und anderer Ismus gleicher Art zu keiner Zeit die mindeste Wurzel fassen konnten. – Der deutsche Norden hat überhaupt – und Roßleben sammt seinen ein Jahrzehnt früher gestifteten drei „fürstlichen“ Schwestern Pforta, Meißen, Grimma, schließt sich dem zum Beweise ganz vorzüglich an – einen hochgebildeten Lehrerstand aufzuweisen, der eine feste, unerschütterliche

Die Klosterschule Roßleben.

Phalanx gegen die Ueberfluthungen theologischen und ähnlichen Unwesens bildete und bildet.

Hier und da haben sich neuerer Zeit vereinzelte Stimmen gegen diese „geschlossenen“ Klosterschulen hören lassen. Man hat ihre Licht- und Schattenseiten abgewogen. Wir wollen hier darauf nicht näher eingehen. Nur dies sei bemerkt: Eine gemeinsame Erziehung scheint ganz besondere Vortheile zu bieten. Eine solche im größern Maßstabe, wie auf Klosterschulen, ist nicht ohne festgewurzelte Disciplin und Ordnung möglich. Ordnung aber erheischt Commando. Lehr- und Erziehungsinstitute dieser Art – dies ist unsere feste Ueberzeugung – können nur durch den Geist ihrer Leiter und Lehrer zu schlechten werden, also durch Brutalität – Gamaschendienst – Pedanterie – Niedertreten der Ueberzeugungen und der IndividualitätBevorzugung einzelner und vornehmerer Zöglinge, Hinsteuern zu unwürdigen (auch Partei-)Zwecken etc. Eine solche Corruption der Bildungsprincipien scheint jedoch auf unsern protestantischen Gymnasien kaum möglich, am wenigsten in Roßleben, das sich von jeher, ja früher, als viele andere Schulen, durch wahrhaft humane Lehr- und Erziehungsweise auszeichnete, worüber wohl alle ehemaligen Zöglinge dieser trefflichen Anstalt in Rückblick auf ihre Schulzeit mit mir einig sein werden.

Viele ausgezeichnete Männer sind schon aus dieser Anstalt hervorgegangen. Alle, wohin das Schicksal sie auch verschlagen hat, gedenken mit warmer Freude der schönen Jahre, die sie in Roßleben zugebracht. Mit Entzücken wird das Auge manches Greises, manches gereiften Mannes auf unserem Bilde ruhen, und voll Begeisterung erzählt er dem Kreise lauschender Kinder oder Enkel von der „güldnen Aue“, ihren Schönheiten und Merkwürdigkeiten. Diese herrliche weite Landschaft, dicht mit reichen Dörfern besät, ihren prächtigen unabsehbaren Wiesen und waldgekrönten Bergen – wer könnte sie je vergessen? Eine grüne Weide, das Ried genannt, zieht sich meilenweit am Ufer der Unstrut entlang, belebt von großen Heerden weidenden Rindviehs und Pferden, die der Gegend einen sehr belebenden Reiz geben. Ein Geist des Friedens, der Stille ist über dem ganzen, weiten, sonnigen Thale ausgebreitet und theilt sich dem Gemüth des Beschauers gar wohlthätig mit. Man ist hier entfernt vom Trouble großer Stätte, keine Eisenbahn stört durch ihren schrillen Pfiff die tiefe Ruhe der Natur – nicht einmal eine Chaussee geht durch diesen Theil des Thales.

Gegen Westen schließt die Aussicht von Roßleben der Kyffhäuser-Berg, auf dessen höchster Spitze ein alter Thurm, gleich einem emporgestreckten Finger, gegen den goldnen Abendhimmel absticht. Er erinnert uns, daß wir hier auf historischem Boden [509] wandeln. Wie alle reichen und malerischen Gegenden Deutschlands, waren auch in diesem Thale die schönsten Punkte mit Schlössern und Klöstern besetzt, die uns aus ihren Ruinen die Kunde geben von früherer Herrlichkeit (?), von einer längst versunkenen Zeit. Die deutschen Kaiser waren es, die die „güldne Aue“ vorzüglich liebten, und sich oft und lange hier aufzuhalten pflegten. Ganz in der Nähe Roßlebens liegt Kloster Memleben, ein Lieblingsort des Kaiser Heinrich I. des Finklers oder Vogelstellers. Er starb hier im Jahre 936. Doch ist er nicht in Memleben begraben, wie man dort irrig meint, sondern seine Leiche wurde nach Quedlinburg zur feierlichen Bestattung gebracht. Die Namen von vier Ortschaften sollen nach einem Ausspruch dieses vortrefflichen Kaisers benannt sein. „Wie wohl mir steht allhier mein Leben!“ rief der Kaiser aus, und taufte dadurch die Orte: Wiehe, Wohlmirstett, Allerstett, Memleben. Letzteres war ein großes und reiches Kloster, die Kirche ist erst im vorigen Jahrhundert verfallen, ihre Ruinen, sowie eine unterirdische Kirche, erregen noch unsere Bewunderung. Auf jeden Kirchenpfeiler ist in den Sandstein das Bild eines deutschen Kaisers eingegraben mit Krone und Scepter, ihm gegenüber seine Gemahlin. Macht man die Steine naß und tritt in einige Entfernung, so werden die Gestalten um so deutlicher.

Bei unserer Rückkehr nach Roßleben berühren wir noch die Ruinen von Wendelstein, die einen Felsen krönen, der unmittelbar am Ufer der Unstrut sich erhebt. Ihr Ursprung liegt in grauer Ferne, ihr Name deutet auf eine Wehr gegen die Wenden. Domänengebäude und die Oberforstmeisterei sind auf die alten Mauern gebaut – ein moderner Schornstein entsendet die Dämpfe einer Zuckerfabrik aus den alten Ruinen empor!

Sehr verschieden von diesen Betrachtungen des Alterthums wird die Aufmerksamkeit des Wanderers durch ein Werk der Gegenwart in Anspruch genommen. Die im Winter so befruchtenden Überschwemmungen der Unstrut thun den Wiesen und Feldern, wenn sie im Sommer nach heftigen Gewitterstürmen oder lang anhaltendem Regen eintreten, unendlichen Schaden. Um diesem Uebelstand abzuhelfen, wird jetzt ein großartiger Bau an den Ufern des genannten Flusses ausgeführt. Unter der Leitung eines Mannes, der schon durch bedeutende Wasserbauten von ähnlicher Art, die er mit Glück ausgeführt hat, sich einen berühmten Namen erworben – des Geheimrath Würfbein – sollen auch hier unendliche Schwierigkeiten überwunden werden. Bewährt sich dieser Bau, der seiner Vollendung, wie man hofft, bereits nahe ist, dann werden für den Landmann seine Felder und Wiesen von Neuem zur „güldenen Aue“.




Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
VII.

In London traf Wilhelmine Schröder-Devrient abermals mit ihrem Freunde und Kunstgenossen, Anton Haitzinger, zusammen, und wieder waren die Beiden berufen, die deutsche Musik in einigen ihrer besten Schöpfungen zur Geltung zu bringen. Besonders war es Fidelio, der Furore machte. Nur bei Paganini’s Concerten war der Zudrang des Publicums so groß, die Begeisterung so allgemein gewesen, wie bei Beethovens Oper und Wilhelminens Leonore. Außerdem gab sie Pamina, Rezia, Emmeline. Die Agathe wurde leider nicht von ihr, sondern von Madame de Meric gesungen.

In jeder ihrer Rollen wurde Wilhelmine mit Beifall überschüttet. Wer nur irgend auf Geschmack, Kunstsinn, Bildung Anspruch machen wollte, mußte die deutsche Künstlerin gehört haben. Eben so eifrig drängte sich die alte und junge Männerwelt um die schöne Frau. Die Aristokratie des Talentes, der Geburt und des Geldes war täglich in ihrem Salon vertreten; sie wurde mit Einladungen bestürmt – eine Soirée oder Matinée musicale ohne „Schröder-Devrient“, wie sie von den Engländern genannt wurde, war nicht mehr denkbar.

Aber diese Art von Erfolgen war es nicht, die Wilhelmine Schröder-Devrient befriedigen konnte. „Auf der Bühne fehlte mir das Bewußtsein, verstanden zu werden,“ schrieb sie; „ich wurde von dem größten Theile des Publicums doch nur angestaunt, wie eine fremdartige Erscheinung – und für die Gesellschaft war ich eben nur ein Spielzeug, für das sich zufällig die Mode entschieden hatte, das aber gewärtig sein mußte, im nächsten Moment bei Seite geschoben zu werden.“

Der Grund ihres Mißbehagens lag übrigens noch tiefer. Rahel Varnhagen beklagt sich einmal, „daß kein innerer, nur ein äußerer Charakter schützt vor angethaner Ehre.“ Auch Wilhelmine Schröder-Devrient gehörte zu den stolzen, selbstbewußten Naturen, die sich von solcher „angethanen Ehre“ in tiefster Seele verletzt fühlen. Wie selten sind aber die Vornehmen vornehm genug, um ihrem Verkehr mit denen, die sie sich untergeordnet glauben, den bitteren Beigeschmack der Herablassung zu nehmen!

Um die geselligen Zustände in England zu charakterisiren, erzählt Wilhelmine, die Pasta hätte sich eines Tages, als ihr die Ehre zu Theil wurde, bei der Herzogin von K..t zu singen, von den Damen der Gesellschaft durch eine dicke seidne Schnur getrennt gesehen, die in Tischhöhe quer durch den Musiksaal gezogen war. „Mir gegenüber hat man sich das nun zwar nie erlaubt,“ fügt Wilhelmine hinzu; „aber im Geist habe ich zwischen mir und den englischen Damen beständig eine solche Schranke gefühlt.“

„Man braucht übrigens nicht nach England zu gehen, um derartige Erfahrungen zu machen,“ fährt sie fort. „Ich habe in Deutschland in Hofconcerten gesungen, in denen die Kluft, die uns Künstler von dem hoch- und höchstgebornen Publicum trennt, eben so zart als sinnig dadurch angedeutet war, daß für uns einfache Rohrstühle dastanden, während unser erlauchtes Auditorium auf vergoldeten, weich gepolsterten Sesseln Platz nahm. Für uns Plebejer war das ja auch ganz in der Ordnung, aber unsere Atlas- und Sammet-Roben, die auf den harten Sitzen unbarmherzig zerdrückt wurden, hätten wohl einige Rücksichten verdient.“

Mit Ausnahme des häuslichen Comforts, nach dem sie sich häufig zurücksehnte, war Wilhelmine das englische Leben im Allgemeinen nicht zusagend. Das ganze Sein und Thun erschien ihr zu sehr in Formen eingezwängt, mit denen sie sich nicht befreunden konnte, mit denen sie sogar mehr als einmal in Conflict gerieth.

So z. B. hatte sie bald nach ihrer Ankunft eine Privatwohnung bezogen, in der sie sich sehr behaglich fühlte. Das Haus war still, die Einrichtung eben so geschmackvoll als bequem, und Alles bis ins kleinste Winkelchen von höchster Sauberkeit. Die Wirthin war eine sanfte, freundliche Frau, voll Aufmerksamkeit für ihre Hausbewohnerin; die Domestiken waren gut geschult – Wilhelmine wünschte sich Glück, dies hübsche, ruhige Daheim gefunden zu haben.

Alles ging gut bis zum Sonntage. Aber kaum hatte sich die Künstlerin, wie sie es gewöhnt war, nach dem Frühstück an den Flügel gesetzt, um ihre Uebungen zu singen, als das Stubenmädchen hereinkam und sie im Namen ihrer Wirthin ersuchte, „den Sabbath nicht durch Musik zu entheiligen.“

Zum Glück für das Mädchen war Wilhelmine so heiter gelaunt, daß sie die Sache von der humoristischen Seite nahm, Gehorsam versprach und auch sogleich den Flügel schloß. Aber was nun beginnen? Die Besuchstunde war noch nicht da; zu lesen hatte sie nichts; zum Ausgehn war das Wetter zu schlecht – sie nahm ihr Strickzeug zur Hand und setzte sich damit ans Fenster.

Ob an diesem heidnischen Beginnen eine fromme Nachbarin Aergerniß nahm und die Wirthin zum Einschreiten veranlaßte, oder ob die würdige Frau, von banger Ahnung getrieben, ihre Botin abermals sandte, hat nie ermittelt werden können. Gewiß ist, daß Wilhelmine kaum ein paar Nadeln abgestrickt hatte, als das Stubenmädchen wieder eintrat, die Stricknadeln einen Augenblick anstarrte, um stumm, wie sie gekommen war, wieder zu verschwinden. Wilhelmine wußte nicht, was sie aus der Scene machen sollte, aber die Erklärung kam nur zu bald. Die Wirthin erschien in feierlicher Haltung und eröffnete der erstaunten Künstlerin, sie [510] müsse, so leid es ihr thue, Madame Schröder-Devrient bitten, sich im Lauf der nächsten acht Tage eine andere Wohnung zu suchen; ihr Gewissen erlaube ihr nicht, in ihrem „christlichen Hause“ solche Sabbathschändung zu dulden. – Vergebens stellte ihr Wilhelmine vor, daß sie mit der englischen Sonntagsfeier ganz unbekannt gewesen wäre, daß sie nur gethan hätte, was in Deutschland allgemein geschähe. Die Engländerin blieb unerschütterlich – die singende, strickende Deutsche durfte keinen zweiten Sonntag in dem „christlichen Hause“ erleben.

Am allerpeinlichsten aber war für Wilhelmine das geringe Musikverständniß der Engländer. „Die große Menge,“ schreibt sie, „schwärmte für diesen oder jenen Componisten, für diesen oder jenen Sänger, nur weil es so Mode war. Jenes sich Hingeben an die Musik, das dem deutschen Volke in so hohem Maße eigen ist, war dort nur bei Einzelnen zu finden. War ein Künstler einmal Mode, so konnte er thun und lassen, was er wollte; so lange ihm die Mode zur Seite stand, war Alles recht und gut, und wenn die heilige Cäcilie selber vom Himmel herunter gestiegen wäre, sie hätte nicht wagen dürfen, sich mit ihm zu messen. Man that übrigens wohl, sich auf dies „Modesein“ nicht zu viel einzubilden, denn der Grund dazu war oft für den Künstler nichts weniger als schmeichelhaft. Ein Beweis dafür war Hummel. Er hatte schon in mehreren Concerten gespielt, ohne besonders beachtet zu werden; das eine Mal aber fiel es einer der tonangebenden Damen ein, während seines Spieles aufzustehn, um die Bewegungen seiner Hände zu beobachten – und nun schien ihr plötzlich die Musik verständlich zu werden. Ein steigendes Entzücken malte sich in ihren Zügen – endlich brach sie in die bewundernden Worte aus: „O der Triller, der Triller, und noch dazu mit der linken Hand!“ Wie eine Losung flogen die Worte von Mund zu Mund; alle Damen standen auf, Hummels Spiel zu – betrachten; als er zu Ende gekommen war, brach von allen Seiten donnernder Beifall aus, und von Stund’ an war er der erklärte Liebling der Londoner „musikalischen“ Welt.“

„Auch ich habe Gelegenheit gehabt, gar eigenthümliche Erfahrungen zu machen,“ fährt Wilhelmine fort. „Als ich zum ersten Mal in einer großen Privatgesellschaft singen wollte, machte mir ein berühmter deutscher Künstler, der mich accompagnirte, den Vorschlag, einen Strauß’schen Walzer zu wählen. „Das kann nicht Ihr Ernst sein!“ rief ich halb bestürzt, halb unwillig. Der Künstler lachte. „Ich sehe,“ sagte er, „daß Sie das hiesige Publicum nicht kennen und in allerlei Illusionen befangen sind. Singen Sie, was Sie wollen: die Cavatine aus der Euryanthe oder „Du, Du liegst mir im Herzen,“ die große Arie aus Fidelio oder „Und als der Großvater die Großmutter nahm“ – immer wird Ihr Gesang nur die Begleitung zu der lebhaften Unterhaltung sein, die mit den ersten Tönen der Musik beginnt. Hören Sie aber auf zu singen, so stockt jedes Gespräch und der rauschendste Applaus wird Ihnen zu Theil.“ Ich hielt diese Worte für einen Scherz – noch dazu für einen schlechten. Aber ich habe mich vom ersten bis zum letzten Liede, das ich in englischen Gesellschaften gesungen habe, von ihrer Wahrheit überzeugen müssen.“

Trotz dieser Erfahrungen und Enttäuschungen konnte sich Wilhelmine Schröder-Devrient dem berauschenden Einfluß nicht entziehen, der in dem Bewußtsein liegt, inmitten der gewaltigen Strömung des Londoner Lebens, wenn auch nur auf Augenblicke, aufzutauchen und zum Mittelpunkte zu werden, dem sich Hunderttausende in Bewunderung zuwenden. – Dieser Zauber bewog sie denn auch, im Mai 1833 abermals nach London zu gehen, obwohl sie das Jahr zuvor die contractlich zugesicherte Gage nicht erhalten hatte.

Das zweite Londoner Engagement – wieder bei der deutschen Oper und für die Dauer der Saison – schloß Wilhelmine mit Mr. Bunn, Director des Theaters von Drury Lane. Ihr Repertoir sollte folgende Opern umfassen: Fidelio, – Freischütz, – Euryanthe, – Oberon, – Iphigenie, – Vestalin, – Zauberflöte, – Jessonda, – Templer und Jüdin, – Blaubart, – Libella, – Wasserträger – viele derselben kamen aber nicht zur Aufführung. Sie verpflichtete sich, 25 Mal aufzutreten, und sollte für jede Vorstellung 40 L. St. erhalten. Außerdem wurde ihr ein Benefiz bewilligt, wogegen sie eine Abschiedsvorstellung zum Besten der Direction geben sollte.

Das Jahr zuvor war die Zauberflöte zum ersten Mal in London gegeben, dies Mal lernten die Engländer Jessonda und Euryanthe kennen, und letztere besonders erregte das höchste Entzücken. In derselben Stadt, wo Carl Maria von Weber vor kaum sieben Jahren verkannt und verlassen sterben mußte, war er jetzt der erklärte Liebling aller Stände, und nur der Erfolg der „Teufelsbrücke“ – einer englischen Posse, worin die Malibran spielte – kam dem seiner Opern gleich. Mr. Bunn hatte nämlich neben der deutschen auch eine englische Oper, bei welcher die Malibran engagirt war, und da er den Geschmack seiner Landsleute kannte, ließ er die beiden Gesellschaften einen Abend um den andern spielen, oder auch – um Jedem, der sein Theater besuchte, gerecht zu werden – nach dem Fidelio, dem Freischütz, der Euryanthe die beliebte Teufelsbrücke folgen. Marie Malibran hatte wieder den Schmerz, sich die deutsche Künstlerin an die Seite gestellt zu sehen und allgemein – in der Gesellschaft, wie in der Presse – das Urtheil zu hören, daß ihr Wilhelmine Schröder-Devrient zum Mindesten ebenbürtig wäre. „Freilich,“ – setzten die Freunde der Malibran hinzu – „ist Schröder-Devrients Talent nicht so vielseitig, wie das der italienischen Sängerin. Die deutsche kann nur die Priesterin der ernsten deutschen Muse sein; kann nur Spohrs, Webers, Beethovens Melodien singen. Mit Bellini würde sie nichts anzufangen wissen.“

Diesen Irrthum sollte Wilhelmine Schröder-Devrient -– wenn auch erst vier Jahre später – auf’s Glänzendste widerlegen. Zur Saison 1837 ging sie zum dritten Mal nach London, diesmal zu der englischen Oper, die Bunn für die beiden Theater Covent-Garden und Drury-Lane engagirt hatte. Wilhelmine debütirte wieder als Fidelio, den sie jetzt aber in einer schlechten englischen Uebersetzung singen mußte. (Auch den Freischütz, die Euryanthe, die Zauberflöte und andere deutsche Opern hatte Bunn in ähnlicher Weise zurechtmachen lassen.) Das Publicum sah Wilhelminens Auftreten in großer Spannung entgegen; man fürchtete allgemein, daß sie die fremde Sprache nicht genug in der Gewalt haben würde. Bei den ersten Worten, die Fidelio spricht, ließ sich auch der fremde Accent und eine gewisse Aengstlichkeit nicht verkennen, aber als die Künstlerin zu singen begann, wurde die Aussprache sicherer, correcter, und am folgenden Tage erklärten die englischen Blätter einstimmig, Schröder-Devrient hätte noch nie so entzückend gesungen, wie in diesem Jahre. „Anfangs verursachte ihr die fremde Sprache einige Schwierigkeiten,“ heißt es in einem dieser Journale, – „aber sie hat dieselben vollständig besiegt und beweist uns, daß die englische Sprache der deutschen an Wohllaut in demselben Maße überlegen ist, wie das Englische wieder von dem Italienischen übertroffen wird.“ – Wilhelmine war nicht ganz dieser Meinung!

Nach dem Fidelio folgten nun: die Vestalin, Norma und Romeo, und für jede dieser Rollen wurde der Künstlerin enthusiastischer Dank zu Theil. Aber als die Zeitungen verkündigten, daß sie auch als Sonnambula auftreten würde, ließen sich von allen Seiten zweifelnde, beinah tadelnde Stimmen hören. Die Sonnambula war eine Hauptrolle der unvergeßlichen Malibran gewesen – wer durfte es wagen, sie nach ihr zu singen? Dennoch errang Wilhelmine auch in dieser Partie den entschiedensten Triumph. Ihre Amine, das war das allgemeine Urtheil, überträfe alle ihre Vorgängerinnen an Schönheit, Wahrheit und Wärme.

Aber während die Künstlerin vom Publicum mit Beweisen der Zuneigung und Bewunderung überhäuft wurde, bereitete ihr der Director Bunn tausendfältigen Verdruß. Der erste Grund zu Mißhelligkeiten war, daß er seine pecuniären Verpflichtungen nicht erfüllte, auf der andern Seite aber die übertriebensten Anforderungen machte. Wilhelmine brauchte wöchentlich zwar nur zwei Mal, höchstens drei Mal aufzutreten, dann hatte sie jedoch die Aufgabe, erst z. B. den Fidelio zu singen, dann kam ein Zwischenspiel oder Ballet, das ihr Zeit gab, sich etwas zu erholen, und zum Schluß sang sie dann noch den letzten Act aus den Capuletti; oder der Abend begann mit der Norma, um mit dem zweiten Act des Fidelio zu schließen; oder es standen gleich drei Bruchstücke verschiedener Opern auf dem Repertoir. Dazu kamen Virtuosenconcerte, Concerte für wohlthätige Zwecke, Matinées und Soiréen in Privatkreisen, denen die Künstlerin ihre Mitwirkung nicht versagen konnte, bis sie endlich der Anstrengung erlag. Sie wurde ernstlich krank, und nun offenbarte sich Bunn’s Charakter in seiner ganzen Rohheit. Er bestürmte die kranke, schutzlose Frau mit Anforderungen, die sich bis zu Drohungen steigerten. Einmal ging er soweit, daß er in das Zimmer der Kranken eindrang, um sie mit Gewalt auf die Bühne zu schleppen. „Daß sie nicht singen könne, [511] sähe er wohl,“ versicherte der Ehrenmann ein Mal über das andere – „das wolle er denn auch gar nicht verlangen. Sie solle sich nur einen Augenblick im Costüm vor dem Publicum zeigen, dann könne er „wegen plötzlich eingetretenen Unwohlseins der Sängerin“ ein anderes Stück einschieben und hätte die Einnahme gerettet.“

Dem energischen Einschreiten des Arztes gelang es, Wilhelminen für diesmal von dem Unverschämten zu befreien, aber durch sein wiederholtes Drängen ließ sie sich verleiten, wieder aufzutreten, als sie kaum zur Hälfte genesen war. Als der Vorhang zum letzten Male fiel – sie hatte erst Fidelio, dann den zweiten Act der Sonnambula gesungen – sank sie ohnmächtig zusammen und kehrte erst nach zwei Stunden zum Bewußtsein zurück.

Zum Glück war das Ende der schweren Zeit nicht mehr fern, und die Hoffnung auf baldige Erlösung gab Wilhelminen Kraft. Sie genas, trat noch ein paar Mal auf, gab ihre Abschiedsvorstellung und wartete, um abzureisen, nur noch auf die Auszahlung der ihr versprochenen Summe – als sich Mr. Bunn banquerott erklärte. Die öffentliche Meinung sprach sich ganz entschieden gegen ihn aus; die Zeitungen rechneten ihm die enormen Einnahmen nach, die ihm Wilhelmine Schröder-Devrient sowohl, wie die Taglioni, die zu derselben Zeit bei ihm engagirt war, verschafft hatte – es war umsonst; die betrogenen Künstlerinnen konnten nichts gegen ihn ausrichten und mußten abreisen, ohne auch nur einen Theil der Gage zu erhalten.

Körperlich und geistig müde kam Wilhelmine nach Deutschland zurück. Sie hätte der größten Ruhe bedurft, konnte sie sich aber nicht gönnen, da ihr die Früchte ihrer letzten, übergroßen Anstrengungen verloren gegangen waren. Gleich nachdem sie in Hamburg angekommen war, trat sie ein Gastspiel an; mit welchen Empfindungen und Befürchtungen, spricht sie in einem Briefe an einen deutschen Freund in London aus. Sie schreibt:

„Mein lieber Freund! Zürnen Sie mir nicht über mein langes Schweigen, was Sie allerdings befremden und beängstigen muß. Sie wissen ja aber, wie es geht, wenn man beschäftigt ist. Gern würde ich Ihnen ausführlich schreiben, erlaubte es meine Zeit und meine hypochondrische Stimmung, denn Sie mögen wissen, daß ich ganz elend bin! Morgen reise ich ab, Gott sei Dank, und denke in längstens acht Tagen in Dresden zu sein. Hier haben Sie fast dieselben Worte wie in Weber’s letztem Brief, und aus Grund meines Herzens wünsche ich mir ein gleiches Loos.[1] Ich wollte, ich stände morgen nicht mehr auf. Ich glaube auch, daß ich mich nie wieder ganz erholen werde; ich schwinde mit jedem Tage mehr dahin und werde so hinsiechen, bis meine Kräfte gänzlich gebrochen sind. Die hiesigen Aerzte haben mir ein verändertes Klima angerathen. Ich soll den Winter in Italien zubringen; vielleicht erlange ich den nöthigen Urlaub, denn für die Bühne bin ich doch für längere Zeit verloren. Ich habe hier mit dem Aufwand meiner letzten Kräfte vier Mal gesungen. Heute war Norma, und mit dem letzten Lebewohl, was ich zu singen hatte, schien es mir, als wenn ich meinen Schwanengesang vollendet hätte. Ich habe mir doch wohl durch übermäßige Anstrengung die Schwindsucht zugezogen und sehe nun einer Zeit voll Kummer und Noth entgegen. Gott gebe mir Kraft, denn ich muß mich ja für meine Kinder erhalten. Sein Wille geschehe! Leben Sie wohl.“

Wilhelminens Befürchtungen gingen nicht in Erfüllung. Ihre kräftige Natur überwand die Krankheit nach kurzer Ruhe; als sie im October ihre künstlerische Thätigkeit in Dresden wieder aufnahm, war ihre Stimme schöner, ihre Darstellung gewaltiger als je zuvor. Mit neuer Lust vertiefte sie sich in dramatische und musikalische Studien und gab die Reise nach Italien auf – wie sie hoffte, bis auf spätere Zeiten. Aber wie Schiller und Jean Paul ist sie gestorben, ohne das Land ihrer Sehnsucht zu sehen.

Ungleich erquicklicher als die Reisen in’s Ausland, wenn auch weniger ruhmbringend im gewöhnlichen Sinne des Wortes, war Wilhelminens künstlerische Wirksamkeit in Dresden, wohin sie immer wieder zurückkehrte, sowie ihr Gastspiel in den bedeutendsten Städten Deutschlands. Bald sehen wir sie in Berlin, bald in Hamburg, dann wieder in Leipzig, in Wien, in München, in Hannover. Von Braunschweig geht sie nach Breslau, von Breslau nach Nürnberg.

Im Frühjahr 1835 faßte sie zum ersten Mal den Plan nach Italien zu gehen, nahm auf 5/4 Jahr Urlaub, änderte aber plötzlich ihren Entschluß und blieb längere Zeit in Baiern und Oesterreich, besonders in Wien, wo sie mit Enthusiasmus aufgenommen wurde. Auch nach Pesth und Prag wurde sie berufen, und als sie im September 1836 nach Dresden zurückkam, durfte sie sich sagen, daß ihr Hunderttausende die höchsten Kunstgenüsse verdankten, daß ihr Name von der Nordsee bis zu den Alpen, vom Rhein bis zur Oder mit Begeisterung genannt wurde. Ihr Kommen wurde überall wie ein Freudenfest gefeiert; wenn sie ging, herrschte allgemeine Betrübniß, und wie viel sehnsüchtige Grüße mögen die sichtbaren Liebesbeweise – die zahlreichen Kränze und Gedichte – begleitet haben, die sie mit heim nahm! Unter den Kränzen war ihr der Lorbeerkranz besonders werth, den ihr die Studenten in Breslau nach einer Serenade überreicht hatten. „Ich war so ergriffen, als ich ihn erhielt,“ erzählte sie, „daß ich nicht im Stande war, auch nur ein Wort des Dankes zu sagen. Die Thränen stürzten mir aus den Augen. Es lag etwas Entzückendes in dem Bewußtsein, alle diese jungen Herzen begeistert zu haben – ich empfand wieder einmal ganz das Glück des Künstlers.“ Unter den poetischen Gaben war ihr Liebling ein längeres Gedicht von Heinrich Laube. Sie hatte dasselbe nach einem Gastspiel in Leipzig erhalten, wo sie als Fidelio, Romeo und Desdemona aufgetreten war. Es schließt mit den Versen:

„William Shakespeare war ihr Vater,
William Shakespeare sandte sie –
Auf den Lippen, auf den Wimpern
Trug sie seine Poesie.

Als sie ging, war Alles stille,
Jedes Herz sprach leis: ade!
Poesie ist stetes Scheiden,
Wie ihr Glück ist groß ihr Weh.

Und sie ging – die Menschen aber
Schlossen’s in ihr Herz hinein:
Ist der Himmel noch so ferne,
Schickt er doch die Boten heim.

Dieses Weib, des Dichters Tochter,
Sang uns ihre Seel’ in’s Herz.
Geht sie auch – es bleibt uns ewig
Ihres Tones Himmelsschmerz.“

Wie jede echte Künstlernatur wurde auch Wilhelmine Schröder-Devrient durch jeden Triumph, den sie feierte, zum Weiterstreben getrieben. Einige ihrer bedeutendsten Gestalten hat sie in dieser unruhvollen Zeit geschaffen: Desdemona 1831, Romeo 1833, Norma 1835, Valentine 1838. Ueberhaupt hat die Künstlerin von 1828 bis 1838 siebenunddreißig neue Opern einstudirt.



Blätter und Blüthen.


Graf Szécsenyi, jener große und unglückliche Magyar, der sich vor wenigen Monaten im Wiener Irrenhause erschoß, wurde in seiner Jugend auf eine originelle Weise von der damaligen Sucht der Cavaliere, Schulden zu machen, geheilt. Damals noch Militair, besuchte er einst seinen Gutsnachbar, den Fürsten … , einen weltberühmt reichen Grundbesitzer, der aber zu jener Zeit noch berüchtigt tief verschuldet war. Während nun der Graf sich mit dem Fürsten unterhielt, meldete plötzlich des letzteren Kammerdiener: ein Bankier, möge er Meyer genannt werden, erbitte die Gnade, Seine Durchlaucht sprechen zu dürfen. Der Fürst befahl den Besuch eintreten zu lassen, und als er mit dem Grafen allein war, ersuchte er diesen dringendst, ihm nicht von der Seite zu weichen. Szécsenyi fragte erstaunt, ob sich der Fürst etwa vor dem Juden fürchte, und mit Grund zu fürchten habe. Der Fürst jedoch erwiderte, er wolle den Grafen nicht im eigenen Interesse hier behalten, sondern um ihm Einsicht in Verhältnisse zu gewähren, die leider damals auf dem gesammten ungarischen Adel lasteten, und die in ihrer ganzen Scheußlichkeit kennen zu lernen, einem jungen Cavalier nur zur besten Lehre dienen könne, und somit schob er den Grafen hinter eine spanische Wand.

Gleich daraus führte der Kammerdiener den Wiener Geschäftsmann in den Salon. Der Geldprotz verneigte sich tief und huldigendst vor dem Fürsten, und getraute sich kaum näher zu treten. Im Augenblicke jedoch, als der Kammerdiener verschwunden war, richtete sich der Geldmäkler hoch und brutal auf, ging auf seine Durchlaucht los und fragte im verächtlichsten Tone: „Was ist’s nun mit Ihnen, mein lieber Fürst, wann werden Sie endlich zahlen? Solch unverbesserliches Lumpenthum verdient keinerlei Rücksicht mehr, und meine Geduld ist erschöpft. Was heißt, immer prolongiren und die paar Interessen zahlen, wenn man nie zu seinem Capitale kommt und dabei immer sehen muß, wie diese Bettelherrlichkeit, diese Verschwendung [512] und Prasserei fortgeführt wird auf anderer Leute Kosten, und die Schulden immer mehr anwachsen?“ Und in diesem Tone ging’s fort. Der Fürst demüthigte sich bis zur Unglaublichkeit – vielleicht eben weil er einen Zeugen in der Nähe wußte, dem er eine heilsame Lection ertheilen wollte – bot die unmenschlichsten Procente, wies auf seinen großen Activstand, und daß ihn nur die schlechten Creditverhältnisse der Monarchie zwangen, trotz seines reichen Besitzes Schulden zu machen, um durch sein fürstliches Hauswesen Hunderten von ärmern Leuten Brod und Amt geben zu können, und bat nur noch um kurze Prolongation. Vergeblich, der reiche Wucherer beutete die Gelegenheit im vollsten Maße aus, den hohen Magnaten, dessen Ahnen und der selbst für sein Land so viel gethan und dessen Stütze in trüben Tagen war, sich zu Füßen des Gläubigers winden zu lassen und ihm keinerlei Entwürdigung zu schenken, auf daß er fühle, wie sehr er in Händen des Darleihers sei, und erst nachdem dieser seinem Opfer alle moralischen Fußtritte ertheilt und die Prolongation auf das höchste Procent geschraubt hatte, gewährte er diese im Tone einer Begnadigung unterm Galgen.

Als sich der Bankier entfernt hatte, stürzte Szecsenyi wüthend und knirschend aus seinem Versteck hervor, und starrte den ebenfalls bleich gewordenen Fürsten voll Entsetzen an. Dieser aber meinte: „Siehst Du, Stefi! diese Lection war Dir nöthig. Mir ist nicht mehr zu helfen, ich sitze nun schon durch meine Väter und durch meine zu späte Selbsterkenntniß unrettbar in diesem tiefen Schlamme: Du aber trittst erst Dein nicht großes, jedoch wohlgeordnetes Vermögen an und machst schon von vornherein Schulden ohne jegliches Bedenken. Du hast mir selbst erzählt, wie Du in Paris bei Frascati über vierzigtausend Gulden verspieltest, die Du zu leihen genommen, also schuldig warst, und wie Du, bis Dir Deine gute Mutter dies Geld auftreiben und schicken konnte, tagelang in jenem Spielpalaste Dich umhertriebst, ein fleißiges Pointiren der Chancen simulirend, in Wirklichkeit aber, um einmal des Tages essen zu können, indem dort für die Spielenden gratis ein Diner servirt wird. Also merke Dir diese Lection, sofern Du nur eine Ader wirklichen Cavaliergefühles und des Patriotismus in Dir hast, und suche diesem Fluche zu entgehen, so lange es noch Zeit ist. Suche ihm um so mehr zu entfliehen, als man in Wien gar sehr gerne diese Umstrickung sieht, durch die der freiheitsliebende, trotzige ungarische Adel so sicher und leicht gebändigt und zahm gemacht wird, weshalb denn auch gar nichts geschieht, uns einen sittlichen und natürlichen Credit als reichste Grundbesitzer der Monarchie zu verschaffen. Kaufe nie etwas, so Du nicht gleich baar bezahlen kannst, und indem Du selbst eine vernünftige Wirthschaft erstrebst, suche jeden Deiner Landsleute und Freunde durch Dein Beispiel zu gleichem Handeln anzuregen, denn nur durch weise Oekonomie in den Mitteln kann unsere Nation noch jemals wieder erstarken!“ Graf Szécsenyi vergaß denn auch diese Lection nicht, und in der That war er bald der bestrangirte Cavalier, was in damaliger Zeit zu den Unmöglichkeiten gezählt wurde. Sein Vater, Graf Franz Szécsenyi, bedachte natürlich den ältesten Sohn Ludwig am besten, am mittelmäßigsten den Grafen Stefan, auf den er überhaupt nicht große Stücke hielt, und bei aller natürlichen Liebe nicht entferntest die Charaktergröße des künftigen Reformers in ihm ahnte. Graf Stefan erhielt das Gut Zinkendorf und hatte im Ganzen eine Jahresrente von 60,000 Gulden Silber. Während seiner Reformthätigkeit soll er durch glückliche und allgemein bekannte sehr ehrenwerthe Speculationen seine Jahresrente verdoppelt haben, indem er Güter und Häuser ankaufte, die eben durch seine gemeinnützigen Reformen zuletzt höhern Werth erhielten, was sein verurtheilsfreier und praktischer Blick rechtzeitig voraussah. In seinem Hauswesen war er großer Herr, jedoch ohne alle Verschwendung.




Ein kaiserlicher Mord. (Nach dem Tagebuche eines Erfurter Bürgers.) Es war im Jahre 1812, als die große französische Armee, ihrem Verhängnisse entgegeneilend, nach Rußland zu marschiren im Begriff war. In Erfurt zogen sich zwanzig Regimenter schwerer Cavallerie zusammen, um von ihrem Kaiser gemustert zu werden. Stattlichere Leute, ausgesuchtere Pferde, glänzendere und zugleich tüchtigere Ausrüstung war bis dahin noch nicht gesehen worden. Uebt schon jedes militairische Schauspiel für sich eine Art von Anziehungskraft auf die große Menge aus, und sogar auf den, welcher ein Elihu-Burritt’sches Oelblatt in sein Wappen genommen, wie viel mehr hätte es nicht hier der Fall sein sollen, wo jeder Einzelne dieser Weltbezwinger von einer strahlenden Glorie umgeben zu sein schien. Dennoch wanderten nur wenige Erfurter Bürger zum Krämpferthore hinaus, um Augenzeuge der bevorstehenden Revue zu sein. Denn wer sieht gern den Triumphzug seiner eigenen Ueberwinder, und auch der Veranlassung zu Hamlet’schen Selbstbekenntnissen geht Jeder gern aus dem Wege, welchem noch einige Gesinnungstüchtigkeit geblieben ist.

Des Morgens in aller Frühe stellten sich die Truppen, welche in der Stadt und in den umliegenden Dörfern übernachtet hatten, zwischen Erfurt, Dittelstedt und Melchendorf in musterhafter Ordnung auf. Einige Erfurter Bürger, worunter auch ich, zogen aus dem Krämpferthore nach dem sogenannten Rabensteine, von wo aus wir den für Zuschauer günstigsten Standpunkt zu ermitteln hofften. Kaum hatten wir auf der alten Gerichtsstätte Posto gefaßt, als der Kaiser mit seinem Gefolge im Schritt reitend denselben Weg einschlug, Am Rande eines Feldweges stellten wir uns in einer Reihe auf, entblößten Hauptes, lautlos, und sahen dem nahenden Schlachtengotte scharf unter die Augen. Sein Antlitz war aufgedunsen und erdfahl; auf der Stirne schienen schon die Rachegeister von Moskau und der Beresina der Ahnung düstere Schatten geworfen zu haben. Er trug das historisch gewordene Hütchen, einen grünen Leibrock, eine weiße, an den Taschen reich gestickte Weste, welche unter dem Rocke eine Hand breit hervortrat, kurze weiße Cashemir-Beinkleider, an den Knieen mit einigen Knöpfen und Schleifen besetzt, und Stulpenstiefeln. Beim Vorüberreiten fixirte der Kaiser jeden Einzelnen von uns, und als er zu den letzten der Reihe gekommen, war sein Auge so starr geworden, daß man nicht ohne Grauen hineinzusehen vermochte.

Ihm folgte der ganze zahlreiche Generalstab, und den Schluß bildete die Erfurter Ehrengarde. Die Männer waren trefflich beritten und trugen dreieckige Hüte, blauen, rothgefütterten Leibrock mit goldenen Epaulettes, weiße Weste, lange weiße Cashemirhosen und Stiefeln mit Goldquasten. Wir Zuschauer schlossen uns den Reitern an. Aber bald setzten dieselben in einen kurzen Galopp ein und waren, da das Terrain vielfach durchschnitten war, uns schon nach wenigen Minuten aus den Augen.

Plötzlich stürmte Rustan, des Kaisers Mameluck, wie ein Besessener hinter uns her und an uns vorüber, und der Huf seines prächtigen Berberhengstes überschüttete uns mit einer Wolke von Staub und Sand. Ehe wir uns noch recht die Augen ausgewischt, hörten wir einen schweren Fall. Rustan war mit dem Pferde in einen Graben gestürzt, über welchen er hatte setzen wollen. Wir eilten zur Hülfe. Aber noch hatten wir die Stelle nicht erreicht, als er sich schon wieder aufgerafft und sein Pferd bestiegen hatte, worauf er in vollem Jagen das Gefolge des Kaisers zu erreichen suchte.

Als die kleine Gesellschaft, der ich mich angeschlossen hatte, bei der damals schon aufgeworfenen, aber noch nicht vollendeten Weimarischen Straße ankam, wurde unserem weiteren Vorgehen durch die aufgestellten Wachen ein Ziel gesetzt. Etwa tausend Schritte vor uns waren die Truppen in einem länglichen Viereck aufgestellt, dessen Langseite uns gegenüber offen war. Der rechte Flügel lehnte sich an Dittelstedt, das Centrum stand bei Melchendorf und der linke Flügel dehnte sich nach Erfurt hin aus. Der Kaiser, von seinem Stabe gefolgt und die Erfurter Ehrengarde zurücklassend, ritt den rechten Flügel entlang, welcher seine Fronte der Stadt zugekehrt hatte, und nahm jedesmal den Obersten des zu passirenden Regimentes mit sich. Die Feldmusik, die Trommelwirbel, der von Regiment zu Regiment donnernde Ruf „Vive l’Empereur!“ wollte kein Ende nehmen.

Nach etwa einer Stunde hatte der Kaiser auch die Truppen des Centrums gemustert und ritt nun an dem linken Flügel herunter. Da machte er bei einem am äußersten Ende aufgestellten Regimente Halt. Es war ein reitendes Artillerie-Regiment in grüner Uniform. Ich hatte während dieser Zeit mich mit meinen Gefährten mehr nach diesem Flügel hingezogen, vermochte aber nicht, ein Wort von dem zu vernehmen, was der Kaiser sprach. Derselbe ließ drei Mann jenes Regimentes absitzen, den Mantelsack abschnallen, die Pferdedecken abnehmen und ausbreiten, und die Equipirung auspacken und Stück für Stück auf die Decken legen. Dann sahen wir die drei Leute bis auf das Hemd sich entkleiden. Wir waren über diese auf das Geringste eingehende Musterung erstaunt und ergingen uns in allerlei Vermuthungen, als der Kaiser sich an den Regimentscommandeur wandte und denselben, wie aus den heftigen Gebehrden zu schließen war, zornig zur Rede stellte. Der Oberst ritt einen Schritt näher heran, nur sich zu rechtfertigen, und – wie es schien – mit geziemender Ruhe, und zog dann sein Pferd wieder einen Schritt zurück. In demselben Augenblicke aber zog der Kaiser seinen Degen und stieß ihn dem Officier in die Brust. Der Schwergetroffene sank vom Pferde. Das Gefolge des Kaisers schloß einen Kreis um den zornigen Gebieter und entzog den weiteren Vorgang unseren Augen. Die Revue war vorüber. Der Kaiser, in ruhiger Haltung, als wäre etwas Besonderes nicht vorgefallen, ritt an der Spitze seines Gefolges auf der Weimarischen Straße der Stadt zu. Wir, die wir Zeugen dieses tragischen Vorfalles gewesen, zogen in gedrückter Stimmung und ohne ein Wort zu sprechen, auf demselben Wege heimwärts und kamen eben dazu, wie acht Mann jenes Artillerie-Regimentes den Verwundeten an die Böschung der Chaussée lehnten und mit Thränen in den Augen aus jungen, in der Nähe stehenden Pappeln eine Bahre zusammenbanden, um ihren Commandeur nach der Stadt zu tragen. Dieser wurde durch das Schniedtstedter Thor in den goldenen Hirsch gebracht, wo der schon harrende Feldscheer einen Todten in Empfang nahm.

Ueber diesen Vorfall wurde, da die französische Spionirerei zu dieser Zeit in höchster Blüthe stand und jedes unvorsichtige Wort mit schwerem Kerker geahndet wurde, nur unter vier Augen gesprochen. Niemand wagte es, Erkundigungen über die Motive dieser raschen That einzuziehen. Auch folgten die Ereignisse dieser schweren Zeit so schnell aufeinander, daß diese vom Kaiser eigenhändig geübte Justiz – wenn sie nicht einen schlimmeren Namen verdient – nur den wenigen bei der Revue gegenwärtigen Zuschauern bekannt geworden ist.



Schach.
Lösung von Aufgabe Nr. 1.

Stellung: Weiß. K. d 2. D. a 6. L. e 5. S. g 3. B. d 5. Schwarz. K. e 5. L. h 7. S. f 4. B. a 3, e 6, f 5, g 4. – Matt in vier Zügen.

Wir bemerken für die Angabe der Züge, daß nur der Anfangsbuchstabe der Figur, welche zieht, und dann das Feld, wohin sie geht, genannt werden, bei Bauerzügen aber auch der Anfangsbuchstabe fortbleibt.

1. S. h 5. S. h 5: 2. K. e 3. K.d 5: 3. D. c 4 †. K. e 5: 4. D. d 4 †. Varianten: a) 1. .. K. d 5: 2. S. f 4: K. e 5: 3. D. e 6: K. f 4: 4. D. e 3 †. – b) 1. .. K. b 4. 2. K. c 2. S. d 3. 3. L. c 3 †. K. c 5. 4. D. e 6 †. – c) 1. .. a 2 oder L. g 6. 2. L. d 6. K. d 4. 3. S. f 4 : nebst 4. D. d 3 †. Die Idee des ersten Zuges 1. S. h 5 besteht darin, 1) den schwarzen Springer, falls er auf h 5 schlägt, von dem weißen König zu entfernen, damit dieser ungestört den entscheidenden Zug auf e 3 thun könne, 2) den eigenen Springer, falls er nicht genommen wird, von h 5 aus nach f 6 oder f 4 zu ziehen, damit er im Vereine mit dem Läuferzug L. d 6 den schwarzen König in die Mattstellung treibe.

Eine richtige Angabe der Lösung ging nur von Hrn. J. Kohtz in Cöln ein.

Aufgabe Nr. 3. (Für Anfänger.)

Matt in zwei Zügen. Stellung: Weiß. K. h 1. D. f 2. L. e 6. S. c 2, h 3. B. g 2, g 5. Schwarz. K. e 4. T. a 8, h 7. L. d 3, f 4. S. c 4, h 2. B. b 3. e 5. Weiß hat den Anzug, wie in allen Aufgaben.

Briefwechsel.

Aspany. J. R. – Gräfenroda. J. L. Sie übersehen den schwarzen Bauer a 3, welcher den Mattzug der Dame auf b 2 vereitelt.

Cöln. J. K. Für die richtige Lösung unsern Dank. Von den Aufgaben ist Nr. 3 unrichtig notirt, das Feld h 7 doppelt besetzt. Nr. 1 und 2 mit ihren etwas unregelmäßigen Stellungen der Dame auf e 2 und der Bauern auf e 2 und e 3 verdienen der hübschen Idee wegen Umarbeitung.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Brief Karl Maria’s von Weber, auf den sich Wilhelmine hier bezieht, beginnt mit den Worten: „Ich bin ganz elend, Mittwoch reise ich ab. Gott sei Dank –“ Die Abreise verzögerte sich, und der Künstler starb in London.