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Die Gartenlaube (1860)/Heft 11

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[161]

No. 11. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Nur einen Mann aus Millionen!
Von J. G. Fischer..[1]
„Ein Mann ist viel werth in so schwerer Zeit.“ 
Schiller.

Erheb’ Dich wie aus Einem Munde,
Du Schrei der Noth nach einem Mann;
Das deutsche Fahrzeug geht zu Grunde,
Es fängt schon tief zu sinken an.
Schon bog es hoffend um die Klippe,
Schon nach dem Hafen ging der Zug,
Da fiel auf der Bemannung Sippe
Der Wahn, wie er noch Keinen schlug:

Sie riß herab der Einheit Fahne,
O unerhörte Meuterei!
Und Jeder schrie in seinem Wahne:
So bin ich stark, so bin ich frei! –
Du herrlich Schiff, so wohl gezimmert,
Ist’s möglich? läßt es Gott gescheh’n,
Daß Du verrathen und zertrümmert
Und rettungslos sollst untergeh’n?

Tritt aus der Führer wildem Zanken
Kein so antiker, ganzer Mann,
Der den unsterblichen Gedanken
Der deutschen Größe fassen kann?
Der uns ohn’ Aufseh’n und Erbarmen
Zusammentreibt im Schlachtenschweiß.
Und dann mit unbeugsamen Armen
Die deutsche Mark zu runden weiß?

Nur Einer aus den Millionen,
So weit die deutsche Langmuth haust!
Zum Heil der Völker und der Thronen
Nur eine eisern harte Faust,
Die wie ein Blitz durch alle Grade
Empor sich zum Dictator schwingt
Und die Rebellen ohne Gnade
In’s starre Joch der Einheit zwingt!

Die, nicht erwägend und nicht wählend,
Aufstelle das Columbusei,
Daß nicht der Deutschen Schmach und Elend
Ein Spottlied aller Völker sei!
Komm, Einziger, Dir sei geschworen,
Tritt auf, wir folgen Deiner Spur,
Du letzter aller Dictatoren,
Komm mit der letzten Dictatur!


  1. Wenn die begeisterten, am 10. November gesprochenen Reden irgendwo wirkliche Jubelreden geworden sind, so ist es in Schwaben gewesen, wo Dr. J. G. Fischer (der Verfasser des obigen Gedichtes) bei der Hauptfeier in Stuttgart und vor Schiller’s Geburtshaus in Marbach als stets willkommener Volksredner auftrat. Fischer’s Name, jetzt auch an der Spitze des Schiller-Comité’s, ist bekannt im ganzen Lande, namentlich durch seine vortrefflichen Gedichte: „Auferstehung Schiller’s“ und das „Lied der Zukunft“, die er in den bewegten Tagen des letzten Jahrzehnts sang. Um Fischer ganz zu würdigen, muß man seine in der Cotta’schen Buchhandlung bereits in zweiter Auflage erschienenen Gedichte zur Hand nehmen. Seine Liebeslieder sowohl, „junge Sprossen und Liebesrosen“ genannt, wie seine patriotischen Gedichte unter dem Titel: „Eichenzweige und Dornenreiser“ sind vortrefflich und zeigen uns den schwäbischen Poeten als einen ebenso naiven und zarten wie andererseits kräftigen und patriotischen Dichter. Einen hohen Werth dürfen wir auch seinen Romanzen und Balladen zusprechen. Jedenfalls hat Fischer noch eine bedeutende Zukunft. – Das oben abgedruckte markige Gedicht ist ein Originalbeitrag und noch nicht in die Sammlung aufgenommen.
    D. Red.




Eine Brautfahrt.
Von dem Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder.
(Fortsetzung.)

Die schöne Dame in dem weißen Planwagen hatte sogar die Aufmerksamkeit des alten, würdigen Geistlichen erregt, welcher seit der Ankunft der Gensd’armen nicht wieder eingeschlafen war, aber still und ruhig vor sich hingesehen hatte. Als er den Planwagen sah, hatte er sich etwas vorgebogen, und als er dann das kokette Spiel der Dame mit dem jungen Lieutenant bemerkte, glitt ein eigenthümliches feines Lächeln über seine Lippen, und gleich darauf blinzelten seine Augen in fast noch eigenthümlicherer Weise nach der schönen Dame hin. Sie wickelte sich darum dichter in ihren Shawl und blickte sehr ehrbar vor sich nieder. Hatte ihr dies das Blinzeln seiner Augen gesagt? Aber kannte er sie denn, und sie ihn? Doch ein alter, würdiger Geistlicher kann so etwas auch wohl einer unbekannten, koketten Dame sagen. Das devote Wesen machte freilich die schöne Dame nur noch reizender.

„Verdammt, verdammt!“ fluchte der Lieutenant von Horst. „Teufel! wenn die hier im Wagen säße!“

„Was hätte ich davon?“ entgegnete Herr von Falkenberg, der, wie alle blasirte Leute, auch ein großer Egoist war. „Ich muß hier aussteigen.“

Es ging in der That ein Seitenweg ab, und in diesem hielt eine Equipage, welche der in der Nachbarschaft wohnende Freund des Herrn von Falkenberg ihm entgegengeschickt hatte. Der Postillon hielt, und der Lieutenant stieg aus; beim Abschiede aber sagte er noch zu dem jüngeren Freunde: „Fritz, ich dächte doch, [162] Du vergäßest nicht, was Deine brave Mutter Dir gesagt hat, und was Du ihr versprochen hast.“

Ein vollständiger Egoist war er doch noch nicht! Er fuhr in der auf ihn wartenden Equipage fort und der weiße Planwagen war unterdeß dem Postwagen zuvorgekommen, welcher sich jedoch in eben diesem Augenblicke wieder in Bewegung setzte. Der junge Lieutenant träumte, während sich die Sonne glanzvoll ihrem Untergange zuneigte und nun konnte der geheimnißvolle, wichtige Tuchhändler wieder erzählen von dem Schinderhannes und Damian Hassel, von dem schönen Karl, der neugeborne Kinder braten ließ, um sogenannte Schlaflichter zu bekommen, durch die er sich unsichtbar machen könne, und von seiner schönen Geliebten, Louise Delitz, die aber doch Beide zuletzt gefangen und – „Hm, was ist denn das?“ rief er auf einmal erschrocken.

Es war schon lange finster geworden, der Wagen fuhr bereits seit einer Weile in dem gefürchteten Walde, und die Finsterniß war zwischen den hohen, dichten Bäumen noch dunkler geworden, zumal da der ordinaire Postwagen keine Laternen führte.

Der Ausruf des Tuchhändlers hatte auch die Bauern erschrocken gemacht.

Sie hatten alle Drei nicht eben Courage genug, aus dem Wagen zu blicken; der Lieutenant Fritz von Horst jedoch hatte unterdeß schon mehr Muth gehabt, und dieser war belohnt worden, indem er ein paar glänzende, schwarze Augen sah, die ihm so einladend, so bittend entgegenblickten.

Der weiße Planwagen war von dem Postwagen wieder eingeholt worden und hielt mitten im Wege. Es schien ihm ein Unfall begegnet zu sein, denn der Kutscher war nicht auf seinem Bocke, sondern suchte mit einer Laterne am Wagen herum; der einladende, bittende Blick der jungen Dame war zugleich ein ängstlicher.

„Halt, Postillon,“ rief eilig der Lieutenant, worauf der Postillon hielt.

Fritz von Horst sprang aus dem Wagen und eilte zu der jungen Dame in dem dastehenden Planwagen. „Bedürfen Sie meiner Hülfe, verehrte Dame?“ frug er artig.

„O mein Herr, wie gütig sind Sie!“ entgegnete ihm kindlich erfreut eine Engelsstimme, „unser Kutscher hat den Hemmschuh verloren und muß umkehren, ihn zu suchen, während wir allein hier bleiben müssen, ganz allein, mitten im dunkeln Walde!“

Die schönen Augen der Dame sahen den Lieutenant dabei so liebevoll an, die schwarzen Locken waren so reizend, und sie hatte in ihrer Angst vergessen, den rothen Shawl zuzuziehen, unter welchem die schönsten Schultern der Welt verborgen waren – und der junge Gardelieutenant sah sie jetzt voll in dem Scheine der Laterne, die der Kutscher, gewiß zufällig, gerade nach ihm hinhielt.

„Mein Fräulein,“ rief er, „ich bleibe bei Ihnen, so lange Sie befehlen.“

„Wir werden Sie nur wenige Minuten belästigen,“ antwortete die junge Dame.

Der Schirrmeister wollte Einwendungen machen, aber auch der alte Geistliche hatte aus dem Postwagen gesehen. „Herr Conducteur,“ rief er mit einer milden und zugleich seinem würdigen Aussehen entsprechenden Stimme, „Sie werden gewiß einen Act der Nächstenliebe hier ausüben dürfen.“ Er imponirte selbst dem Postbeamten.

„Auf ein paar Minuten denn,“ sagte der Eonducteur.

Der Geistliche warf ihm einen still dankenden, dem menschenfreundlichen Lieutenant aber einen väterlich wohlwollenden Blick zu, während sich die junge schöne Dame im Planwagen dafür mit kindlicher Dankbarkeit gegen den alten Geistlichen verneigte; der Kutscher ging indeß mit seiner Laterne zurück, um den verlorenen Hemmschuh aufzusuchen. Bevor er jedoch die beiden Wagen in völliger Dunkelheit ließ, hätte man noch einen sonderbaren Blick sehen können, mit welchem der Geistliche die Aeußerung der Dankbarkeit der Dame erwiderte, und unmittelbar darauf ein feines, spöttisches Lächeln, mit welchem er den neben ihr stehenden Lieutenant maß.

Fritz von Horst hatte unterdeß weiter in das Innere des Planwagens zu blicken gesucht; allein die Laterne war nur einen Augenblick da, die Leinwanddecke über dem Wagen war dicht, und er hatte daher wieder nichts gesehen, als die junge Dame in ihrer Schönheit. Das war freilich fatal, zumal für einen leichtsinnigen Gardelieutenant, um so mehr fatal, je schöner die Dame war.

Wer und was konnte nicht noch Allein dem Wagen sich befinden und lauern? Ein strenger Vater, ein bärbeißiger Bruder, ein eifersüchtiger Liebhaber gar. Allein ein junger Gardelieutenant darf nie verlegen werden, weder in der Schlacht – wenn er vielleicht einmal in eine solche kommen sollte – noch in Abenteuern, in die er oft hineinkommt. Auch Fritz von Horst war es nicht und sagte: „Erlauben Sie, mein Fräulein, der Abend ist kühl, Sie könnten sich erkälten.“

Der Abend war freilich auch dunkel, aber der Lieutenant der Garde schien bezüglich der Toilette einer Dame Erfahrung zu haben. Seine Hände hatten den Shawl der Dame erfaßt, um ihn etwas fester über die schönen weißen Schultern zu ziehen, allein sie mußten in demselben Augenblicke heftig zurückfahren, da aus dem Wagen etwas hervorkam, was den jungen Lieutenant zu entsetzen schien. Unmittelbar hinter der Dame schrie ein kleines Kind auf, ein kleines, unschuldiges Kind, welches, wenn es auch noch kein Jahr alt, doch zu solchen Lagen eine verzweifelt unangenehme Zulage ist.

„Ah!“ rief der Lieutenant.

„Schlafe, mein Engelchen,“ sagte die Dame schmeichelnd und wickelte sich dabei selbst in ihren Shawl und beugte sich zu dem Kinde zurück.

„Ein Satan ist das Engelchen,“ fluchte der Lieutenant ingrimmig in sich hinein. In diesem Augenblicke kam auch der Kutscher schon wieder zurück, der den Hemmschuh nicht weit vom Wagen gefunden hatte und ihn sogleich wieder an seinen Platz brachte.

„Mein Herr, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar,“ wandte sich die Dame von dem Kinde höflich an den jungen Mann zurück.

„Eingestiegen!“ commandirte der Schirrmeister, und der Lieutenant mußte wieder in den Postwagen steigen, ohne daß er nur noch einen Blick aus den schönen Augen der Dame erhäschen oder selbst einen solchen in den Planwagen werfen konnte, um zu wissen, wer außer dieser schönen Dame und dem schreienden Kinde sich darin befinde. Der Postwagen fuhr weiter und gleich darauf der Planwagen wieder an ihm vorbei; beide tiefer in Wald und Nacht hinein. Der Tuchhändler erzählte nun nach dieser kurzen Unterbrechung den beiden Bauern weiter: „Ja, der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht. Der schöne Karl wurde im Jahre 1810 zu Magdeburg mit dem Schwerte hingerichtet, und die schöne Louise Delitz verbrannten sie gar im Jahre 1811 öffentlich auf dem Markte zu Berlin; allein die Räuberbanden und die großen Räuberhauptleute sind damit nicht ausgegangen. Jetzt ist wieder die Rosenthal’sche Bande da – habt Ihr nichts von ihrem Anführer Rosenthal gehört?“

Die Bauern verneinten, und der Tuchmacher erzählte weiter grausige Geschichten, bis die tiefe dunkle Waldfinsterniß, in welcher der Postwagen seit der letzten halben Stunde gefahren war, auf einmal durch mehrere Lichter erhellt wurde. Der Schein kam aus den Fenstern eines Hauses, das etwa zwanzig Schritte von der Landstraße entfernt unter Bäumen stand. En war die einsame Waldschenke, von der die Bauern gesprochen, die sie als dss einzige Haus des Waldes bezeichnet hatten. Der Postwagen hielt, aber mitten auf der Landstraße, und der Schirrmeister ladete nicht zum Aussteigen ein. Der Aufenthalt mußte also kein langer sein sollen. Allein auch eine Minute kann Abenteuer bringen.

Der junge Gardelieutenant sah aus dem Wagen. Dicht vor dem Hause hielt ein Fuhrwerk; der weiße Planwagen glänzte hell in den Lichtern der Schenke. Ein rother Shawl war zwar nicht zu sehen, und schwarze Locken hätte man in dem Abenddunkel wohl nicht sehen können, wenn die Lichter auch noch einmal so hell gebrannt hätten. Fritz von Horst mußte dennoch die Berechnung machen, wo der weiße Planwagen sei, da werde auch die schöne Dame mit den schwarzen Locken und dem rothen Shawl nicht fern sein. Mit einem Sprunge war er zum Wagen hinaus.

Während er hinaussprang, regte sich auch der alte Geistliche, und er wandte sich an den jungen Lieutenant. „Mein lieber Herr,“ sagte er mit seiner milden Stimme, „dürfte ich Ihre Güte in Anspruch nehmen?“

„Was wünschen Sie, mein Herr?“

„Ich möchte hier gleichfalls aussteigen. Das hat aber bei diesem Wagen seine Schwierigkeiten für einen alten Mann, wie ich bin; das lange Fahren hat mich zudem müde gemacht. Dürfte ich Sie um Ihren Arm bitten?“

„Sehr gern,“ erwiverte der junge Lieutenant, und er hob zuvorkommend und hülfreich den alten Mann aus dem Wagen.


[163] „Ich muß mich ein wenig stärken,“ sagte dieser unterdeß; „ich habe seit heute früh nichts genossen.“

Der mitleidige junge Mann führte den Greis, der vor Ermüdung des langen Fahrens beinahe zitterte, an seinem Arm in die Schenke.

Das Innere des Postwagens hatte außer den Beiden Niemand verlassen. Aus seinem Coupé war aber der Schirrmeister mit einem Briefbeutel hervorgekommen, den er hier abzugeben hatte, und aus seinem Sattel hatte sich der Postillon losgemacht, der hier nach alter Gewohnheit einen Schnaps zu trinken hatte. Die Schenke hatte nur ein einziges, großes Zimmer. In diesem mußte Jeder suchen, was er zu suchen hatte. Der Schirrmeister gab dort an den Wirth sein Felleisen ab. Der Postillon erhielt seinen Schnaps.

„Kann ich ein Glas Wein bekommen?“ fragte der Geistliche. „Nur ein einziges Glas, aber der Wein müßte gut sein; ich bin sehr erschöpft.“

Er konnte es bekommen. Auch etwas Brod dazu. Der genügsame Greis war damit zufrieden und setzte sich an einen kleinen Seitentisch. Man sah, wie der einfache Nachtimbiß ihm wohl that. Der junge Lieutenant suchte[WS 1] unterdeß sein Abenteuer, und auch er fand, was er suchte. In der großen Schenkstube befanden sich außer den vier Eingetretenen nur noch wenige Fremde. Ein finster aussehender Herr ging schweigend in dem Zimmer auf und ab spazieren. Ganz hinten in der Stube saßen zwei Damen auf einer Bank. Neben ihnen lag, in Kissen eingepackt, ein kleines Kind von vielleicht einem halben Jahre; es schlief.

Zu den Damen zog es den Lieutenant. Er sah zwar auch jetzt keinen kokett zurückgeworfenen rothen Shawl, und kein schwarzes Capuchon, mit hellblauem Sammet eingefaßt. Auch keinen runden, weißen Nacken konnte er sehen; ein einfaches Tuch hatte sittsam die Schultern verhüllt, nach denen er blickte. Aber mit desto wunderbarerem Zauber glänzte ihm eine ungefesselte Fülle rabenschwarzer Locken entgegen und aus dem feinsten Gesichte ein Paar großer dunkelglühender Augen. Und diese Augen wandten sich nicht von ihm ab. Sie waren überrascht, als sie ihn plötzlich eintreten sahen; sie blickten ihn dann, als er so liebevoll den Greis führte, mit einer unverhohlenen Freude an und sandten ihm einen dankbaren Blick zu, als er sorgsam den Geistlichen an den kleinen Seitentisch geführt hatte.

Der leichtsinnige Gardelieutenant stutzte beinahe, und es regte sich etwas in ihm, das ihn auf dem Wege zu der schönen Dame aufhalten wollte. Allein der Leichtsinn trug seinen gewohnten Sieg davon. Er nahete sich der Dame, vielmehr den beiden Damen.

Die Schöne hatte sich zu ihrer Begleiterin gewandt. Auch diese war schön, aber sie war eine sehr blasse junge Frau, etwas älter als die andere. Ihr Auge hing an dem Kinde. Sie mußte die Mutter des Kindes sein, zu welchem sie schmerzlich, gramvoll niedersah, und doch war das Aussehen des Kindes so frisch, und es schlief so ruhig. Die junge Dame mit den schönen schwarzen Locken sah etwas sorgenvoll auf die Mutter.

Der junge Lieutenant war zu ihnen getreten. Auf dem Wege hatte er sich noch einmal in dem Zimmer umgesehen. Von den Anwesenden konnte nur Einer zu den beiden Damen gehören, der finstere Herr, der schweigend aus und ab spazierte. Allein er hatte nicht einmal nach ihnen hingeblickt, er kümmerte sich auch weiter nicht um sie.

„Die Damen reisen ganz allein?“ fragte der Lieutenant sie.

Da glitt durch das Gesicht der schönen Dame mit den schwarzen Locken ein freundliches, freilich auch schalkhaftes Lächeln. „Nicht doch, mein Herr, dieses Kind reist mit uns.“

Der Lieutenant hatte nur das freundliche Lächeln gesehen, welches ihn bezauberte. „Meine Damen, darf ich Ihnen meine Dienste anbieten? Befehlen Sie über mich.“

Die schöne Dame, die ihm geantwortet hatte, schlug erröthend und in holder Verwirrung die Augen nieder. Ihre ältere Begleiterin aber hatte unterdeß, wohl zufällig, nach dem alten Geistlichen an dem Seitentische hinübergeblickt, und dieser hatte jetzt ihr einen ebenso sonderbaren Blick zugesandt, wie vorhin im Walde der jüngeren Dame, nur zugleich strenge und befehlend. Es war darauf, als wenn die blasse Frau erschrocken zusammenfahre, sich aber auch in dem nämlichen Momente gewaltsam aufraffe. Sie antwortete dem Lieutenant. „Ja, mein Herr, wir reisen allein, mit diesem Kinde, ohne Schutz. Wir müssen noch in der Nacht weiter durch den Wald, der noch drei Stunden währt. Und – es ist gewiß kindisch von mir, mein Herr, aber ich kann nicht dafür – ich bin einmal ein furchtsames Wesen, und ich fürchte mich auch hier. – O, mein Herr, lachen Sie mich nicht aus,“ unterbrach sie sich.

Der Lieutenant legte seine Hand auf das Herz. „Wahrhaftig nicht, Madame –“ Er konnte es in Wahrheit betheuern.

Er hatte gelächelt, aber wohl noch nie glücklicher. Auf seine Betheuerung erhob auch die jüngere Dame die Augen wieder, nicht mehr in holder Verwirrung, aber mit dem holdesten Blicke von der Welt die Bitte ihrer Gefährtin unterstützend.

„Madame,“ rief der junge Gardelieutenant, „haben Sie keine Furcht mehr. Darf ich Ihnen meine Begleitung anbieten ?“

„Sie wollten, mein Herr?“ fragte die jüngere Dame.

„Ich verlasse Sie nicht mehr.“

„O, mein Herr, wie soll ich Ihnen danken?“

Die jüngere Dame hätte beinahe seine Hand ergriffen, um sie zu drücken, so dankbar war sie.

„Ich nehme Ihren Schutz,“ sagte die blasse Dame, „nur bis zur nächsten Station in Anspruch. Sie ist am Ausgange des Waldes. Wir werden in unserem Wagen vor der Post dort anlangen, sodaß Sie diesen nicht verfehlen können.“

Der Postillon hatte seinen Schnaps getrunken, der Schirrmeister seinen Briefbeutel in Ordnung gebracht, der Geistliche sein Glas Wein und sein Stück Brod verzehrt. „Wieder eingestiegen!“ befahl der strenge Schirrmeister.

„Angela,“ sagte die blasse Dame zu ihrer jüngeren Gefährtin, „dem würdigen Geistlichen verdanken wir zum großen Theile mit die Hülfe, die uns im Walde wurde. Gehst Du wohl, ihm zu danken?“

Die jüngere Dame war schon aufgesprungen. Die helle Freude leuchtete in ihrem schönen Gesichte. Sie eilte zu dem Geistlichen, nahm dessen Hand und sah so dankbar zu ihm auf; ihre schönen Lippen flüsterten so kindlich zu ihm. Was sie sprach, konnte man nicht hören. Aber es mußte das Herz des Greises rühren, denn er sah ihr mit einem väterlichen Wohlwollen in das Gesicht, und man glaubte die Worte der innigsten Freude zu vernehmen, womit er ihren Dank aufnahm und erwiderte. Sie sprachen lange zusammen, und es war ein herrliches Bild, der würdige Greis und das liebliche Mädchen in dem heimlichen, freundlichen Gespräche.

Fritz von Horst ging unterdeß zum Conducteur, ihm mitzutheilen, daß er durch den Wald in dem Wagen der Damen fahren und erst auf der nächsten Station in den Postwagen wieder einsteigen werde. Das hörte der finstere, in der Stube auf und abspazierende Herr. „So ist bis dahin Platz für mich in der Post?“ wandte er sich an den Conducteur.

,O ja, der Herr kann auf der nächsten Station nachträglich bezahlen.“

Die mit dem Postwagen weiter fahren wollten, verließen die Schenkstube, und Fräulein Angela kehrte zu ihrer Gefährtin zurück.

„Welch ein herzlicher, edler Mann ist dieser Geistliche!“ sagte sie zu dieser, „er sendet auch Dir und Deinen Kindern seinen Segen; ich mußte ihm von Dir erzählen.“

In diesem Augenblicke erschien der Kutscher der Damen im Zimmer. „Befehlen die gnädige Frau,“ wandte er sich an die blasse Dame, „daß wir ebenfalls weiterfahren?“

„Auf der Stelle, Konrad. Du fährst dem Postwagen wieder vor, hältst Dich aber immer in seiner Nähe.“

„Zu Befehl, Euer Gnaden.“

„Du fürchtest Dich doch noch, Emilie?“ sagte die jüngere Dame mit einem schalkhaften Seitenblick auf den jungen Lieutenant.

„Sie verzeihen meine kindische Furcht, nicht wahr, mein Herr?“ bat die blasse Dame den Lieutenant.

„O, Emilie,“ fiel rasch die Andere ein, „ein Ritter hat nie seiner Dame etwas zu verzeihen – aber brechen wir auf. Der Herr wird Dir den Arm reichen und ich nehme das Kind.“ Sie befahl so bestimmt und doch so munter und neckisch, weshalb man ihr gern gehorchte, und so stiegen sie in den Planwagen, der vor der Thür der Schenke hielt. Auch dabei ordnete die jüngere Dame an. „Der Herr hat die Güte, sich da hinter zu Dir zu setzen, Emilie, denn Du fürchtest Dich; ich bleibe wieder hier vorn mit dem Kinde.“ Wieder gehorchte man ihr, allein der Lieutenant ärgerlich genug.

Der Postwagen war schon abgefahren. Man hörte sein schwerfälliges Krachen noch in der Nähe. Der Planwagen fuhr ihm [164] nach und hatte ihn bald eingeholt. Er fuhr an ihm vorüber. Dann hielt er sich so, daß man hinten in der Ferne, wenn auch nur schwach, das Krachen des alten Postkastens hören konnte. Der junge Gardelieutenant mochte mit seiner Lage wohl nicht ganz zufrieden sein. Er hatte seinen Sitz nicht neben der Schönen, die allein ihn in das Abenteuer und in den Wagen gezogen hatte.

Es war stockdunkel, und er konnte sie nicht einmal sehen. Nicht einmal reden konnte er mit ihr. Sie saß stumm auf ihrem Sitze, das Kind auf dem Schooß, und als er ein Gespräch mit ihr anknüpfen wollte, nahm ihn die blasse Dame an seiner Seite in Anspruch.

„Mein Herr,“ sagte sie, in einem Tone, der ihre Verwirrung zu erkennen gab, „in diesem Augenblicke fällt mir erst die eigenthümliche Lage auf, in die ich zu übereilt uns gebracht habe. Was mögen Sie von mir und meiner Schwägerin denken?“

Der Lieutenant war jedenfalls galant. „Gnädige Frau, ich habe nur das Gefühl des Glücks, Ihnen einen Dienst erweisen zu können.“

„Aber wir riefen Sie zu diesem aufopfernden Dienste, wir, die wir Ihnen, Sie, der Sie uns ganz fremd sind.“

„Desto glücklicher schätze ich mich,“ erwiderte der galante Gardelieutenant; „ich habe zugleich die liebenswürdigste Bekanntschaft gemacht.“

„Indeß, mein Herr,“ fuhr’die Dame fort, „ich muß Ihnen doch einige Auskunft geben, die mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen wird. Meine Schwägerin und ich hatten einen Besuch bei einer Freundin gemacht, und mein Mann hatte versprochen, uns abzuholen. Wir warteten auf ihn. Es wurde uns jedoch zu spät, und so mußten wir endlich ohne ihn die Rückfahrt antreten, in der Hoffnung ihm zu begegnen, was jedoch bis jetzt nicht geschehen ist. Möglich, daß er doch noch mit uns zusammentrifft. Ich rechne sogar darauf, wenn ihm kein Unfall zugestoßen ist, welcher Gedanke mich freilich doppelt beunruhigt.“

„Die gnädige Frau wohnen in der Nähe?“ fragte der Lieutenant.

„Nicht weit von der nächsten Station.“

„Auf einem Gute?“

„Auf einem Gute.“

Dem Lieutenant wollte seine Situation bedenklich zu werden beginnen. Warum, mochte ihm selbst nicht sogleich klar werden.

„Nicht wahr, mein Herr,“ sprach die Dame weiter, „Sie finden unter solchen Umständen meine Furcht vielleicht nicht so ganz kindisch?“

„Gnädige Frau, ich bewundere im Gegentheil Ihren Muth.“ Der Lieutenant hatte gewiß ein großes Compliment sagen wollen. Aber auf dem Sitze vor ihm wurde ein boshaftes Gekicher laut, das sich gar keinen Zwang anthat.

„Emilie, er bewundert Deinen Muth, daß Du ihn zu unserem Ritter engagirt hast.“

„Angela!“ verwies die blasse Dame.

Aber Fräulein Angela lachte herzlich weiter, und Fritz von Horst dankte jetzt dem Himmel, daß es stockdunkel im Wagen war, denn es wäre eine Beleidigung für das ganze Gardecorps gewesen, wenn Jemand gesehen hätte, daß ein Gardelieutenant vor Verlegenheit feuerroth geworden war. Er ärgerte sich aber auch zugleich, daß er keine Erwiderung an die Dame finden konnte. Jedoch was das Letztere betraf, so befreite ihn die Dame bald selbst von seinem Aerger, freilich um andere, gar beunruhigende Gefühle in ihm zu erwecken.

„In einem Punkte übrigens, liebe Emilie,“ fuhr Fräulein Angela fort, „hast Du unserem liebenswürdigen Ritter Unrecht gethan.“

„Und in welchem?“ fragte die Schwägerin.

„Daß er uns fremd sei.“

Der Lieutenant horchte hoch auf. „Ich hätte die Ehre, von Ihnen gekannt zu sein, mein gnädiges Fräulein?“

Der Kutscher hatte vorhin die blasse Dame gnädige Frau, diese hatte die jüngere Dame ihre Schwägerin genannt. Der höfliche Gardelieutenant hatte daher zu jener ebenfalls gnädige Frau gesagt, und er musste folglich auch die Jüngere als ein gnädiges Fräulein anreden.

„Gewiß, mein Herr,“ versetzte das gnädige Fräulein munter, „Sie sind der Herr Fritz von Horst?“

„In der That –“

„Lieutenant in der Garde –?“

„Wo hätte ich das Glück gehabt, von dem gnädigen Fräulein gesehen zu sein?“

„Hören Sie weiter, Herr Lieutenant von Horst; Sie haben eine brave Mutter?“

„Eine vortreffliche Mutter.“

„Sie ist die Freundin einer Frau von Eisenring?“

Der Lieutenant horchte nicht mehr hoch, er horchte auf einmal erschrocken auf. Es wurde ihm kalt und heiß auf der Stirn, und in seinem Innern fluchte es: „Himmeldonnerwetter!“ und betete dann wieder: „Lieber Gott, hilf mir aus dieser verdammten Geschichte!“ Auch ein Gardelieutenant kann beten, freilich erst dann, wenn er in solcher Noth ist. Und in Noth war der Lieutenant, denn er vergaß die Antwort auf die letzte Frage des gnädigen Fräuleins.

„Sie antworten mir nicht?“ sagte sie boshaft.

Er mußte antworten: „Meine Mutter hängt mit ihrem ganzen Herzen an dieser Freundin.“

„Das freut mich, Herr von Horst – aber weiter. Die Frau von Eisenring hat eine Tochter?“

„Meine Mutter hat mir davon gesprochen.“

„Blos so kalt davon gesprochen?“

Den armen Lieutenant überlief es am ganzen Körper glühend heiß, er fluchte und betete nicht mehr, aber er mußte Betrachtungen anstellen, und diese machten ihm noch heißer. – Lucina! Lucina von Eisenring! Es ist gewiß! Sie ist dieser verführerische und zugleich boshafte Teufel. Und keine Schwärmerin, wie ihre Mutter, aber ein Satan. Das Gut liegt in der Nähe, jenseits des Waldes. Sie kennt den Plan ihrer Mutter und muß mich schon früher, in der Residenz, beobachtet haben, da sie von meiner Reife weiß. Wahrscheinlich hat sie einen Liebhaber, und hat mir darum diese Falle gelegt. Jetzt kann sie nun zu ihrer Mutter sagen: den Menschen soll ich heirathen, der auf der Landstraße der ersten besten Schürze nachläuft? Sie läßt sich zwar Angela nennen, und als einziges Kind kann sie keine Schwägerin haben. Aber das Alles ist Maske für ihr verruchtes Spiel. Herr des Himmels, was habe ich da angefangen! Dieser verteufelte Leichtsinn! Und meine Mutter hatte mich gewarnt. Was nun weiter? Wie soll das enden? –

„Sie antworten mir wieder nicht, Herr von Horst?“ fragte das gnädige Fräulein.

Aber diesmal sollte er der Antwort überhoben werden. Ein Geräusch, das man plötzlich hörte, ließ ihn sie und wahrscheinlich auch das boshafte Fräulein vergessen. Man hatte bisher noch immer das schwerfällige Fahren des Postwagens vernehmen können.

Er mochte in einer Entfernung von etwa fünfhundert Schritten hinter dem Planwagen fahren. Auf einmal vernahm man den Ruf einer menschlichen Stimme. Es war ein lauter, befehlender Ruf. Unmittelbar darauf folgte ein heller Peitschenschlag; dann ein Schuß, dann ein Durcheinander mehrerer Stimmen; Alles fast in einem einzigen Momente. Und Alles in der Gegend des Postwagens. Diesen selbst, sein Fahren, sein Krachen vernahm man nicht mehr. Das Durcheinander der Stimmen war ein wildes, schreiend, befehlend, drohend. Aber es dauerte ebenfalls nur einen einzigen, kurzen Augenblick; dann vernahm man auch von ihm nichls mehr. Alles war still in jener Gegend, im ganzen Walde.

Fritz von Horst war aufgefahren. „Räuber!“ rief er. Brav war der leichtsinnige Gardelieutenant. Er sprang auf, er wollte aus dem Wagen springen, im vollen Fahren des Planwagens. Denn dieser hatte nichl angehalten; der Kutscher fuhr ruhig weiter, als wenn er von allem dem Geschrei und Gewirre nicht einen Laut vernommen habe.

(Fortsetzung folgt.)
[165]

Ein Besuch in der Uhren-Heimat La Chaux de Fonds.

Von H. A. Berlepsch.
Jede Uhr ist ein Wecker, und zwar ein geistiger.
Jean Paul.

„Im schweizerischen Jura schreibt man fast der ganzen civilisirten Welt die Zeit vor!“ – So verblüffend dieser Satz lauten mag, so buchstäblich wahr ist er. Denn ein Jahr in’s andere gerechnet werden durchschnittlich mehrere hunderttausend Stück Taschenuhren jährlich in den jurassischen Thälern fabricirt, die überall auf unserem ganzen Erdball, wo man nicht mehr kindlicher Weise nach der Länge der Schatten und dem Stand der Sonne rechnet, sondern sich des zuverlässigen und bequemen Taschen-Chronometers bedient, auch Käufer finden.

Die Uhrenfabrikation in diesen öden, unfruchtbaren, melancholischen Bergthälern der französischen Schweiz ist eine der interessantesten Erscheinungen im Gebiete industriellen Lebens. Wie der Schweizer überall in seiner praktischen Thätigkeit, in seinem nach Erwerb strebenden Sinnen und Unternehmen durch Fleiß, Umsicht und Sparsamkeit das zu ersetzen und dem Schicksal abzuringen sucht, was die rauhe oder wilde Natur seines gebirgigen Heimathlandes ihm als Gabe des Ackerbaues und Gartens versagt, so hat auch der Jurassier, der sein Mehl und Brod, seine Früchte und Gemüse auf fremden Märkten kaufen und theuer einführen muß, sich einen Ausweg erkämpft, auf dem er das Aequivalent dafür findet. Dies ist seiner Hände Geschicklichkeit in der Uhrmacherei. Zu welch’ einer ergiebigen Vermögensquelle dieselbe geworden ist, documentirt am besten die Physiognomie derjenigen Ortschaften und Städte, in denen sie mit vollem geschäftlichen Ernst betrieben wird.

Die Uhrenindustrie hat sich besonders ausgebildet in den Cantonen Genf, Neuenburg, Waadt, Bern, Solothurn und Freiburg, speciell in den beiden großen Orten Chaux de Fonds und Locle, in den Städten Genf und Biel und in den Thälern St. Imier, Travers, St. Croix und Lac de Joux.

Chaux de Fonds und Locle, ersteres mit einer Einwohnerzahl von 16,000, letzteres von 10,000 Köpfen, tragen heute noch nicht das stolze, positive Prädicat „Stadt“, sondern sind blos Marktflecken, aber Marktflecken, in denen Millionaire wohnen, Marktflecken mit palastähnlichen Häusern und residenzlichen Straßen, mit literarischen Salons, Luxus in Küche, Keller und Garderobe, mit Gasbeleuchtung, Cercles, Theater und allem Comfort des Lebens, den Wohlhabenheit und Reichthum zu beanspruchen berechtigt sind.

La Chaux de Fonds.

Städte haben ihre Schicksale in auf- und absteigenden Linien wie Staaten, Menschen und Bücher. Während viele Ortschaften, die einst im Mittelalter mit Thürmen und Thoren, mit Bürgersouverainetät und Reichsunmittelbarkeit prangten und sich im Selbstbewußtsein ihrer politischen Bedeutung neben die großen Metropolen des Handels und Verkehrs, der Kunst und des Gewerbfleißes stellten, – nun durch die Conjuncturen der Zeit, durch das mächtig reformirende Schienennetz der Eisenbahnen zur Seite geschoben, nur mühsam ein verkümmerndes, schwindsüchtiges Dasein fristen und von Jahr zu Jahr immer mehr zurücksinken in den Zustand ärmlicher Uranfänglichkeit, – so gibt es deren andere, prononcirte Parvenus in der Staaten-Entwickelung, die vor einem Jahrhundert noch in den Windeln ihres Communalwesens lagen und über einen Umkreis von wenig Stunden hinaus als unbekannte Größen nicht mitzählten, – jetzt in strotzender Jugendfülle mit wuchernder Lebenskraft von Tag zu Tag wachsen, gedeihen und mit Siebenmeilenstiefeln dem gesunden, breiten, behäbigen Plateau bürgerlicher Wohlfahrt, commercieller Größe, materieller und geistiger Macht entgegeneilen. Zu letzteren gehören die jurassischen Ortschaften, welche aller Welt sagen, „was es an der Zeit sei“. Auf sie ist das zum Schreckenswort der Gegenwart gewordene „Zu spät“ nicht anzuwenden, – sie wußten stets, „wie viel die Uhr geschlagen hat“, und eben darum, weil sie in ihrer Zeitrechnung nicht irrten (wie manche große Cabinete), wurden sie das, was sie heute sind: Tangenten des Weltverkehrs.

Im vierzehnten Jahrhundert hieß die Gegend, in welcher jetzt die Locomotiven und ihre Trains täglich zwölf Mal hin- und herrasseln, wo Messagerie und Courier-Posten herüber und hinüberfliegen, wo der elektrische Draht ununterbrochen den trommelnden Apparat in Bewegung setzt, sehr bezeichnend „die schwarzen Berge“; denn düstere Tannenwälder bedeckten weit und breit die Berge, und schwarze Torfmoore dampften in den Combes (Thalflächen). Ein Bürger von Corcelles, Namens J. Droz, siedelte um 1303 mit seinen vier Söhnen, nach der Erlaubniß seines Herrn von Valangin, sich zuerst hier an; ihm folgten Andere. 1512 zählte Chaux de Fonds erst 7 Häuser, und Locle im Jahr 1683 deren noch nicht mehr als 37. Ja, noch in allerjüngster [166] Zeit, vor 26 Jahren, war Chaux de Fonds erst mit etwa 6000 Menschen bevölkert; seitdem ist die Summe der Einwohner fast auf das Dreifache gestiegen. – Das Land, seine Boden-Erzeugnisse und sein Klima waren keinesweges so einladend, daß Menschenmassen so auffallend hier zusammenströmten. Der Bied, ein Waldwasser, überschwemmte vor einem halben Säculum bei hohem Stande fortwährend den Thalgrund, bis patriotische Männer dasselbe durch einen fast tausend Fuß langen Stollen dem Doubs zuleiteten. Noch heute sammelt man, in Ermangelung guten Quellwassers, die atmosphärischen Niederschläge in Cisternen für den Küchengebrauch, und die mittlere Jahrestemperatur von Locle steigt nicht über +7°-Celsius; – denn die Höhenlage dieses Ortes (2900 Pariser Fuß über dem Meeresspiegel) kommt jener des Inselsberghauses oder der Schmücke auf dem Schneekopf (Thüringer Wald) – und die Lage von La Chaux de Fonds (3100 Pariser Fuß) derjenigen vom Brockenhause oder vom Gipfel des Ochsenkopfs im Fichtelgebirge gleich. Alles keine anlockenden Factoren.

Ein Spiel des Zufalls, eine Fügung des Schicksals, ein Fingerzeig der Vorsehung (nenne es ein Jeder nach seinem Glaubensbekenntniß, wie er will) gab die anscheinend unbedeutende Veranlassung zu der nachmals so großartig sich ausbreitenden Industrie, zu der bedeutenden Volks-Accumulation. Ums Jahr 1679 kam ein Roßhändler nach la Sagne und brachte als neues Weltwunder eine Taschenuhr von London mit. Bis dahin hatte man dort noch nie ein solches Ding gesehen. Da begab sichs, daß die Uhr stehen blieb. Der Eigenthümer, besorgt um sein kostbares Kleinod, vertraute dasselbe einem autodidaktischen Genie, dem vierundzwanzigjährigen Daniel Joh. Richard an, und dieser, von seinen Eltern und Allen als unpraktischer, grübelnder Mensch verhöhnt, vertiefte sich so begeistert in das Studium der hier angewandten Mechanik, daß er, ohne jede positive Vorkenntniß der diesen Constructionen zu Grunde liegenden mathematischen Bedingungen, den kühnen Entschluß faßte, eine gleiche Uhr nachzubilden. Dazu aber fehlten ihm zunächst alle technischen Hülfsmittel. Er versuchte es, sich solche, namentlich eine Divisionsmaschine, in Neuenburg oder Genf zu verschaffen. Aber seine desfallsigen Bemühungen bei Uhrmachern, die ihre Kunst wie ein Geheimniß bewahrten, waren total vergeblich und er mußte also, bevor er an die Ausführung seines Planes denken konnte, erst die Werkzeuge erfinden und selbst fertigen, mittelst deren er seinen Uhrenbau auszuführen gedachte. Muth und Ausdauer überwinden Berge von Schwierigkeiten. Auch Richard wurde ihrer Meister, und sechs Monate später lag eine von seiner Hand gefertigte Uhr zu aller Einwohner Erstaunen pickend und zeigerrückend vor. Alle Bestandtheile, Räder und Getriebe, Feder und Kette, Zifferblatt und Gehäuse, Vergoldung und Decoration war von ihm selbst gefertiget. Die Anerkennung, welche ihm wurde, die Nachfrage der Begüterten nach solchen „Zeitmessern“, die eigene Freude am Gelingen seines Impromptu’s regten ihn an, unter Beihülfe seiner Brüder fernere Uhren zu fertigen, – und so ward er Begründer der jetzt so blühenden jurassischen Uhrmacherei, der Wohlthäter eines ganzen Landes. Die neue Industrie vervollkommnete sich dermaßen, daß Locle 1741 schon 200 bis 300 Uhren mit einfachen Stundenzeigern lieferte, – daß zehn Jahre später Abraham Robert und Daniel Perrelet Maschinen erfanden, mittelst deren die gewöhnlichen mechanischen Arbeiten rascher, präciser und billiger ausgeführt werden konnten, – daß man abermals zehn Jahre später (1760) Repetiruhren construirte etc. Als berühmte Männer in diesem Fache gingen aus den jurassischen Bergen hervor: Ferd. Berthoud von Couvet, Autor einer berühmten Monographie über die Uhrmacherkunst, – sein Neffe, der bekannte Vervollkommner der Schiffsuhren, – Breguet, der famose Uhrmacher in Paris, dessen Geschäft noch heutigen Tages fortbesteht, und dessen Enkel der französischen Telegraphie so wesentliche Dienste leistete, Pierre Jacques Droz und Henri Louis Droz, Verfertiger der schreibenden, zeichnenden und clavierspielenden Automaten, Jean Pierre Droz, der berühmte Stempelschneider und Medailleur in Paris und London etc. etc.

Die Uhrenindustrie wuchs nun in gemessenen Progressionen, sodaß im Jahre 1818 die Ausfuhr derselben aus den Neuenburger Bergen und dem Val de Travers 130,000 Stück betrug, von denen etwa ein Neuntel in goldenen Schalen oder Gehäusen war, und nur 1000 Stück auf Pendel- und Stockuhren kamen. Im Jahre 1854 wurden allein in Locle und La Chaux de Fonds in den Controle-Bureaux 268,000 Stück Uhren gestempelt, von denen 161,000 in silbernen und 107,000 in goldenen Schalen. – Jetzt werden fast ausschließlich nur Taschenuhren im schweizerischen Jura verfertigt. Jene großen Tisch- und Stockuhren (pendules), welche zu einem modernen Luxusartikel des Welthandels sich ausgebildet haben, sind meist Pariser Erzeugnisse. Die nachbarlichen Franzosen gaben sich zu verschiedenen Zeiten die größte Mühe, auch in ihren Bergen die Uhrenfabrikation einzuführen und an dem Gewinn zu participiren, der die Neuchateler binnen einem Jahrhundert in ihrer Wohlhabenheit so sichtbarlich gehoben hatte; Louis Philipp verwandte Millionen auf Durchführung dieser Idee, gewann um hohe Gagen Lehrmeister und machte den Unternehmern bedeutende Capitalvorschüsse. Aber die Erfahrung, welche schon hundertfältig in anderen Gegenden, bei anderen Gelegenheiten gemacht wurde, daß Handel und Gewerbe keine Treibhauspflanzen sind, die man nach Belieben da und dorthin verpflanzen und deren Verkehrsbeziehungen man willkürlich reguliren kann, bewährte sich auch hier. Die französischen Uhrmacher konnten die schweizerische Concurrenz nicht aushalten, und das Project sank mit bedeutenden Verlusten in sich selbst zusammen.

Die Uhrenindustrie ist mit dem schweizerischen Jurassier so innig verwachsen, daß alle Bewohner dieser Bergthäler gleichsam geborene Uhrmacher sind. Sieht man sie arbeiten, so möchte man glauben, es sei ein ganz anders gearteter Menschenschlag, mit viel feiner gestaltetem, sorgsamer ausgebildeten, gebrauchsfähigeren Organismen, der hier mit ungewöhnlicher Leichtigkeit, fast spielend die spitzfindigsten Kunststücke der Kleinmechanik ausführt. Intelligenz, klarer Scharfblick und lächelndes Selbstvertrauen lebt in diesem Volke von frühester Jugend an, wie solche kaum irgendwo in anderen Fabrikdistricten nur in annähernder Weise gefunden werden dürften. Woher kommt das? Einfach daher, daß der jurassische Uhrenmacher nicht gedankenloser Bediener der Maschine geworden ist wie der Spinner, der Zwirner, der Besorger des mechanischen Webstuhles, der Appreturgehülfe etc. etc., sondern daß bei jeder seiner Verrichtungen der Verstand, die Aufmerksamkeit ununterbrochen in Anspruch genommen werden, daß die Beobachtung der difficilsten Verhältnisse Bedingung des Gelingens seiner Arbeit ist. Obwohl er jeden Augenblick genöthigt wird, die Vortheile der Maschinen-Vermittelung zu benutzen, so kommt diese doch nur in so beschränktem Maße und gleichsam als Nebensache in Betracht, daß die leitende Hand, das prüfende, spähende Auge, die exacte Berechnung der subtilen Wirkungen jene kleinen Hülfsleistungen der Mechanik vollständig außer Rechnung bringt. Also diese fast angeborene, intelligente, applicative Fertigkeit ist einer der Factoren, welcher die Verbreitung der Uhrenindustrie par Ordre du Cabinet nicht überall ohne Weiteres zuläßt; es müßte eine Bevölkerung mit Aufwand außerordentlicher Opfer mehrere Generationen hindurch factisch erst dazu erzogen werden.

Aber ferner ist es auch die Eintheilung der Arbeit, die nothwendige Voraussetzung des Vorhandenseins einer außerordentlichen Menge hülfsleistender Hände, welche jedem Concurrenzversuche schwer zu bewältigende Hindernisse in den Weg legen. Unendlich viele bestimmt abgegrenzte Specialfertigkeiten greifen wie die Räder eines Uhrwerkes selbst in den Organismus des großen Geschäftsbetriebes ein und ermöglichen nicht nur überhaupt mit Leichtigkeit und bedeutender Zeitersparniß arbeiten zu können, sondern diese Specialarbeiter sind auch Virtuosen in ihren Fächern und können aus allen den angegebenen Gründen mit geringeren Kosten produciren.

Es gibt keinen anderen Industriezweig, bei welchem die Theilung der Arbeit so weit getrieben wird, als in der Uhrenfabrikation oder eigentlicher „Uhrenmanufactur“. Denn so fabrikmäßig das ganze Geschäft organisirt ist, so außerordentlich viel verschiedene Hände an der Herstellung jedes einzelnen Uhren-Exemplares mitwirken müssen, so wenig verläuft der Betrieb desselben nach dem allgemein adoptirten Begriffe fabrikativ, da 1) weder ein Fabrikherr die Uhr vom rohen Metall an bis zur letzten feinen Politur durch ausschließlich in seinem Dienste stehende Arbeiter fertigen läßt, noch 2) die einzelnen Arbeiten gemeinschaftlich in besonders dazu erbauten und eingerichteten großen Gebäuden und Fabriksälen ausgeführt werden.

Im Gegentheil, der ganze Herstellungsproceß ist eigentlicher „Handwerksbetrieb“ im Großen, – Handwerksbetrieb auf eigene Rechnung und Gefahr jedes einzelnen mitwirkenden Darstellers irgend eines Uhrentheiles. Nur die Ebauches, d. h. die ersten grobformenden [167] Bearbeitungen der Messingtheile und das Drehen der Schrauben, werden in großen Localen „fabrikmäßig“, im vulgären Sinne, gefertigt und hierzu Frauen und Kinder verwendet. Die weitaus größte und für die Herstellung einer Uhr wichtigste Summe der kunstgeübten Hände arbeitet daheim im Stübchen, im Kreise ihrer Familie unter Mitwirkung und Mitverdienst derselben. Der eigentliche Uhrenfabrikant oder Etablisseur hat in der Regel keine Arbeiter im Hause, höchstens einen Visiteur auf dem Comptoir. Die einzelnen Uhrenbestandtheile: Räder, Spiralen, Federn, Zeiger, Zifferblätter, Gehäuse etc. läßt der Etablisseur ebensowenig speciell und ausdrücklich fertigen, sondern bezieht diese je von den Arbeitern (oder man könnte treffender sagen „kleinen Fabrikanten“), welche sich auf eine specielle Branche geworfen haben. Zwei der interessantesten Special-Geschäftszweige sind die der Rubinschleifer und Spiralmacher.

Bekanntlich haben die Cylinder- und Anker-Uhren den Vortheil, viel regelmäßiger und unabhängiger von äußeren Einflüssen zu gehen, als die früheren Spindeluhren. Diese Regulirung des Ganges wird zunächst durch die „Cylinderhemmung“ herbeigeführt. Letztere aber veranlaßt zugleich auch größere Friction und Abnutzung der davon betroffenen Theile, und um diese zu paralysiren, ist man auf den Einfall gekommen, die Stahlzäpfchen der Räder nicht wie früher lediglich in Löchern der Metallbestandtheile (der Pfeiler- und Klobenplatte) laufen zu lassen, sondern dafür härtere, minder abnutzbare Körper zu wählen. Dies sind die Rubinsteinchen, welche, je mit einem Loch versehen, an denjenigen Stellen eingelassen werden, wo die Stahlzapfen laufen. Cylinderuhren haben entweder vier oder acht Steinchen (huit trous en pierres), Ankeruhren deren dreizehn. Bei dieser Einrichtung kann eine Uhr vierzig Jahre und länger in Bewegung sein, ohne daß sich das Mindeste abnutzt.

Die Rubinchen sind meist kleiner als ein Hirsekorn und so dünn wie Papier. Diese mit geschlemmtem Diamantstaub zu schleifen, ist vielleicht die minutiöseste Arbeit, die es überhaupt in der Weltindustrie gibt. Meist wird sie von zarten Mädchenhänden besorgt. Ein Rubinenschleifer hält gewöhnlich zehn bis zwanzig Mädchen. Ist das Steinchen, welches mikroskopisch untersucht wird, geschliffen, so kommt es in die Bohrmaschine, um das Loch einzuschneiden. Diese Arbeit ist weniger ein eigentliches Bohren, als vielmehr ein unendlich subtiles Hämmern oder Meißeln mit einer Nadel, die in kaum denkbar kurzen Zwischenräumen gleichsam in zitternder Bewegung immer auf ein und dieselbe Stelle hintupft, – vielleicht einige hunderttausend Mal in einer Stunde. Die Nadel, wenn sie vom härtesten Stahl wäre, würde aber dem Edelsteine dennoch nichts anhaben können; darum wird auch diese Lochmeißelung mittelst Diamantstaubes vorgenommen, welcher, da die Nadel aus sehr weichem Stahl gefertigt ist, sich in die Spitze festsetzt, und so zum Angriffsbohrer wird. Je vier Steine werden ein „jeu“ genannt und kosten (von der kleinsten Sorte) etwa zwei Francs. Die Producte dieser Liliputaner-Industrie während eines ganzen Jahres lassen sich füglich in einer etwas großen Pillenschachtel aufbewahren, und doch beträgt der durch dieselben repräsentirte Stoff- und Arbeitswerth etwa hunderttausend Franken.

Nicht minder interessant und eben so minutiös ist die Verfertigung der Spiralen. Betrachtet man dieses in jeder Taschenuhr sichtbare Maschinentheilchen, das so dünn und zart wie ein Haar, in ewiger Unruhe seine Federkraft spielen läßt und unaufhörlich sich zusammenzieht und wieder ausdehnt, so bewundert man sicherlich die unendliche Geduld und Geschicklichkeit, welche dazu gehören muß, solche nur guten Augen erkennbare Körperchen aus hartem, sprödem Metall zu schaffen. Und diese Stahlhärchen, diese mikroskopischen Manufacte werden, was ihre letzte und difficilste Form anbetrifst, wenn auch unter Anwendung complicirter Werkzeuge, doch fast von freier Hand gearbeitet. Bei keinem anderen Fabrikate wird die Wertherhöhung des Rohmaterials durch die Arbeit bis zu solchem Grade getrieben, als bei den Spiralen. Sie sind, als einer der zartesten von Menschenhänden darstellbaren Gegenstände des Kunstfleißes, ohne Uebertreibung zugleich der größte Triumph der Arbeit zu nennen. Einige Zahlen werden die unglaubliche Differenz näher beleuchten, welche hier zwischen dem Stoff und der fertigen Waare liegt. Eine Spirale von mittlerem Kaliber wiegt circa funfzehn Milligramm; es gehen deren also etwa sechsundsechzig Stück auf ein Gramm. Würde nun bei der Umwandelung des fertig bereiteten Stahls durch Schmiede- und Walzarbeiten zu papierdünnem Blech, durch Zerschneiden desselben zu jenen haarfeinen Streifchen und bei der weiteren Bearbeitung bis zum fertigen Handelsproduct durchaus kein Materialverlust eintreten (der aber natürlicherweise eintritt), so würden aus einem Centner Stahl 31/2 Millionen Stück solcher Spiralen gefertigt werden können. Das Dutzend kostet beim Fabrikanten im Jura, je nach Größe und Güte, 1/2 bis 3 Francs. Nimmt man also etwa 13/4 Franc (14 Silbergroschen) pr. Dutzend als Mittelwerth der überhaupt producirten Spiralen an, so ergibt dieser Preisansatz, auf das Gewicht reducirt, einen Handelswerth von 525000 Franken pr. Centner. Der Centner des besten englischen Stahls kostet aber höchstenn nur 170 bis 200 Franken. Es ist somit fast die ganze obige Werthsumme reiner Arbeitsgewinn, eine Potenzirung des Rohmaterials auf das mehr als Halbmillionenfache seines ursprünglichen Stoffwerthes. Keine Branche irgend eines der großen Industriezweige erzielt auch nur annähernd ein solch enormes Resultat.

So wie diese beiden näher beleuchteten Specialbranchen, gibt es deren noch viele, die, eine jede scheinbar unabhängig von der anderen für sich fabrikationsmäßig producirend, in den großen Herstellungsproceß der Uhrenfabrikation auf das Genaueste eingreifen (Fabricant d’aiguilles, fabr. de balanciers, fabr. de Calottes, cercles et cuvetten, fab. de pignons, de ressorts-de-barillets, de cadrans en émail et métalliques, faiseur de raquettes etc. etc.). Es ist eine gemeinsame Norm, ein Allen als gemeinsames Productionsgesetz geltendes mathematisches Maß, nach welchem sie arbeiten, – es ist ein gemeinsames Ziel, an welchem Alle endlich zusammentreffen: die fertige Uhr.

Die einzelnen Bestandtheile, die, wenngleich von den verschiedensten Seiten bezogen, dennoch nach Nummer und Kaliber auf’s Genaueste zusammenpassen, gehen nun durch eine Menge Hände. Zuerst bekommt sie der „Triebmacher“, der die Getriebe einschneidet, so daß sie ineinander greifen; dann erhält sie der „Finisseur“, der die einzelnen Theile „finirt“, die Räder zusammen- und die Brücken aufsetzt. Darauf der „Echappement planteur“, der die Raquette (Unruhe) und die Echappement-Theile, die wieder von anderen Branche-Arbeitern gefertiget sind, plantirt. Hierauf gelangt das ziemlich vollständige innere Werk in die Hände des Zifferblatt-Aufsetzers (Fabricant et poseur de cadrans), der, wenn er geschickt ist, täglich 10 bis 15 Francs verdienen kann. Alle diese Leute wohnen und arbeiten für sich in ihren Häusern, so daß die längliche Schachtel, in welcher jederzeit sechs Uhren Platz haben, mit letzteren in ihren verschiedenen Entwickelungsstadien fortwährend unterwegs ist, von einem Hause zum andern wandernd. Ist das Zifferblatt aufgesetzt, so wandert das Werk zum „Faiseur des boîtes“ oder „Schalenmacher“, der das goldene oder silberne Gehäuse nach Angabe des Fabrikanten, wie schwer und theuer dasselbe sein darf, darumlegt.

Vorläufig ist dieses Gehäuse noch ganz blind und roh, ohne jede Decoration. Die Genfer Schalen sind eleganter, gustöser, nobler als die im Jura gefertigten, während die großen Uhrenschalen vorzugsweise in Locle dauerhaft, solid und kräftig in den Scharnieren hergestellt werden. Für Damenuhren namentlich, „Savonettes“, kann man nur Genfer Arbeit gebrauchen. Allgemein wird für silberne Schalen dreizehnlöthiges Silber, für goldene achtzehnkarätiges Gold verwendet. Um diesen Gehalt der edlen Metalle zu garantiren, kommen die rohen Schalen auf das Controle-Bureau, wo sie probirt und gestempelt werden. Schleuderer und Fabrikanten, die à tout prix Geschäfte machen wollen, lassen indessen auch, indem sie das Controle-Bureau umgehen, geringer legirte Schalen machen.

In solch geringerer, aber sehr elegant aussehender Waare macht Chaux de Fonds besonders Geschäfte, während Locle immer mehr auf äußerst solide Arbeit sieht. – Steckt nun das Werk in der rohen Schale, so kommt es zum Cuvette-Macher, der den inneren Messing-Deckel anbringt. Bei solchen Uhren, deren Cuvette von Silber oder Gold ist, fertigt dieselbe der Monteur des boîtes. Nun erst erhält das Ganze der Repasseur, welcher das Werk in der Schale justirt, die Brücken, Kloben etc. finirt, überhaupt das ganze Uhrwerk zuerst in Gang setzt. Damit aber ist es noch nicht fertig, denn Werk und Schale werden nun nochmals auseinander genommen, ersteres wird regulirt, vergoldet und die Stahltheile polirt, – indessen der Guillecheur oder Graveur (zwei getrennte Branchen) das Gehäuse decoriren und durch die bei ihnen arbeitenden [168] Finisseusen und Polisseusen fertig machen lassen. Nun erst läuft das Stück durch die letzte Hand, die des Remonteur, der die Uhr fix und fertig dem Fabrikanten abliefert.

Chaux de Fonds und Locle sind die hohe Schule der Uhrmacherei. Fortwährend trifft man hier Lehrlinge und Gehülfen aus allen civilisirten Ländern; nur die Engländer, die nächst der Schweiz die namhafteste Uhrenfabrikation betreiben, sind zu stolz, ihre siegreichen Concurrenten zu besuchen.

Der Werth solcher Uhren, die nie anders als im halben Dutzend verkauft werden, steigt von 6 Francs pr. Stück (sogen. grissots, d. h. Semiler-Uhren) bis zu 2000 Francs und darüber. Oft liegt der hohe Preis weniger in der luxuriösen Ausstattung, als in der verbürgten großen Genauigkeit. Eine Uhr kann dadurch, daß sie auf der Pariser Sternwarte ein halbes Jahr beobachtet wurde, um vielleicht 1000 Francs im Preise steigen. Die geringsten Uhren (man sagt, das Stück in Neusilber um einen Fünffrankenthaler = 11/3 Thaler Courant) liefert in sehr großer Quantität der berner Jura. Den größten Export-Verkehr hat Chaux de Fonds.

Von welcher Ausdehnung dieses Geschäft ist, mag man daraus entnehmen, daß allein im Jahre 1856 die enorme Summe von einer Million einmalhunderttausend Stück Uhren in der Schweiz gefertigt wurde. Der Export hat sich Märkte in den entlegensten Weltgegenden gesucht, und es gibt jetzt auf dem ganzen Erdball kein civilisirtes oder in Civilisirung begriffenes Land, in welchem es nicht auch schweizerische Uhren gäbe. Wie der Basler Bandfabrikant seine Seidenbänder im Dessin und Gewicht den Forderungen der verschiedenen Länder anpaßt, nach welchen er exportirt, wie der ostschweizerische Mousseline-Manufacturist die Trachten und Gewohnheiten der Brasilianer, der Indianer, Mulatten und Inselbewohner Westindiens studirt, um seine Gewebe danach einzurichten, so auch läßt der jurassische Etablisseur große, schwere, altmodische Uhren mit drei und vier Gehäusen für die Türkei, Egypten und andere moslemitische Länder, oder Uhrenpaare für die Chinesen fertigen. Denn dieses Volk soll sich nicht mit dem Besitz einer gutgehenden Uhr begnügen, sondern es trägt eine Secundantin in der Tasche, um damit die eigentliche Uhr zu controliren.

Der Werth des allein in den Neuenburger Bergen zu Uhrgehäusen verarbeiteten geprägten Goldes und Silbers beläuft sich jährlich auf mehrere Millionen Franken. Im Jahre 1857 importirte nach den eidgenössischen Zolltabellen die Schweiz an Uhren, Uhrentheilen und darauf bezüglichen Werkzeugen 690 Centner im Werthe von 8,280,000 Francs, und exportirte dagegen 2121 Centner im Werthe von 101,824,000 Francs, so daß die Mehrausfuhr dieses einzigen Jahres 931/2 Millionen Franken ausmachte.

Gegenwärtig mögen in allen Uhrendistricten summarisch etwa 40,000 Menschen Beschäftigung in diesem Industriezweige finden. Den jährlichen Verdienst eines Arbeiters kann man nach einer Durchschnittszahl auf etwa 1560 Franken (416 Thaler Courant) anschlagen, während es deren freilich nicht wenige gibt, die ihre jährliche Einnahme auf 4000 bis 6000 Francs zu steigern wissen. Da Wohnungen und auch zum Theil die Lebensmittel in den Jura-Orten enorm theuer sind, so müssen gute Löhne gezahlt werden. Der eingeborene Jurassier beschäftigt sich mit keinem anderen Erwerbszweige, als mit der Uhrenfabrikation, weil sie ihm mehr einbringt, als jedes andere Gewerbe; alle übrigen Handwerke überläßt er gern Schweizern anderer Cantone oder Ausländern, die sich dort niederlassen.

Die Schweizeruhren werden von keinem Lande hinsichtlich der Billigkeit und Concurrenzfähigkeit übertroffen. Selbst auf jenen Märkten, wo England in anderen Industrie-Artikeln obenan steht, gestaltet sich der Uhrenverkauf so, daß aus der Schweiz zwei Drittel, und aus England erst ein Drittel bezogen werden. Nach ziemlich verbürgten Gerüchten sollen unter den als „englisches Fabrikat“ in den Welthandel kommenden Uhren fast die Hälfte schweizerischen Ursprunges und nur die Schale wirklich englische Arbeit sein.

Bei der Industrie-Ausstellung in Bern 1857 wurden namentlich folgende Fabrikanten durch Preise ausgezeichnet: Ulysses Lecoultre in Sentier, Perret und Henri Grandjean in Locle (Letzterer namentlich für Marine-Chronometer), Julien Perret in Chaux de Fonds, Golay-Leresche, Lutz und Sohn, Philippe Patek und Cie. in Genf (Letzterer Erfinder des Remontoir par le pendant) etc. Aber es gibt noch viele Firmen, die ebenso arbeitende sind, als die genannten.




Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.

„Die Geschichte großer Menschen ist immer eine Martyrlegende“ – in vollem Maße hat sich dies Dichterwort an Wilhelmine Schröder-Devrient erfüllt. Sie war müde vom Leben, schon ehe die Krankheit ihre Körperkraft verzehrte, und der Tod ist ihr ein lieber, willkommener Freund gewesen.

Am 26. Januar ist sie schmerzlos entschlafen und liegt nun, von Blumen bedeckt, in ihrem Grabe auf dem Trinitatiskirchhofe zu Dresden, wohin ihr Tausende einen wehmüthigen, dankbaren oder begeisterungsvollen Scheidegruß nachrufen. – Auch diese „Erinnerungen“ sollen ein solcher Nachruf sein, keine vollständige Lebensgeschichte der Entschlafenen. Nur einzelne Züge, flüchtige Bilder aus dem Leben der großen, schönen, guten Frau will ich hier zusammentragen. Möchten ihre Freunde die theure Gestalt darin wiederfinden, und möchte es mir gelingen, sie auch denen lebendig vorzuführen, die nicht das Glück gehabt haben, sie zu kennen.




I.

Im Jahre 1849 war ich mit Frau Schröder-Devrient in der Paulskirche zu Frankfurt zusammengekommen, war ihr von einer gemeinsamen Bekannten vorgestellt und hatte ein paar interessante Stunden an ihrer Seite verlebt. Dann waren wir ganz verschiedene Wege gegangen – ich wußte nun, daß die Künstlerin von der Bühne geschieden war, daß sie einen livländischen Edelmann, Herrn von Bock, geheirathet hatte und bald auf den Gütern ihres Mannes, bald in Paris oder Berlin lebte. Aber im Herbst 1858 kam sie nach Dresden, und da sah ich sie wieder. Zuerst in dem Concert eines jungen Künstlers, worin sie nach jahrelanger Pause zum ersten Male wieder auftrat. Ich werde den Augenblick nie vergessen, wie die hohe, imponirende Gestalt auf dem Podium erschien, von der Versammlung mit stürmischem Applaus begrüßt wurde, sich lächelnd und doch tiefbewegt verbeugte, aufathmete, als fühlte sie sich nach langer Entbehrung von Lebenslust umweht, und nun zu singen begann.

Ihr erstes Lied war „der Wanderer“ von Schubert, und meine erste Empfindung ein tiefes Erschrecken. Sie kann nicht mehr singen! dachte ich – der Ton war matt, ohne Fülle, ohne Metall – aber schon als sie zu den Worten kam: „Und immer fragt der Seufzer wo?“ hatte sie gesiegt. Wie der Meermann im Märchen, zwang sie Alle, die sie hörten, ihr zu folgen, wohin sie wollte: in Sehnsucht und Schmerz, in Grauen und Verzweiflung, in Liebeslust und Frühlingsfreude. Wie Lessing von Rafael sagt: „er würde auch ohne Hände der größte Maler gewesen sein“, so darf von Wilhelmine Schröder-Devrient behauptet werden, daß sie auch ohne Stimme die größte Sängerin geblieben wäre. Ihre Seele sang so gewaltig, so schön, so wahr, wie es wohl nie zuvor gehört wurde und vielleicht nie wieder gehört wird.

Ganz berauscht kam ich nach Hause, und nun ließ es mir keine Ruhe. Ich schrieb ihr, – „Es war der klügste Streich, den Sie je gemacht haben“, pflegte sie später zu sagen – erinnerte sie an unser Zusammensein in Frankfurt, fragte sie, ob sie mir eine Viertelstunde schenken wolle, bat um Erlaubniß, ihr meine Freundin, eine ihrer eifrigsten Verehrerinnen, zuzuführen, und erhielt umgehend die Antwort: „Wollen Sie mich heute Nachmittag um fünf Uhr mit Ihrem Besuch erfreuen, ich bin dann nur für Sie zu Hause.  Wilhelmine von Bock.“

Zur bestimmten Stunde waren wir bei ihr, Scheffelgasse Nr. 1, 3 Treppen; und kaum waren die ersten Worte gewechselt, kaum saßen wir neben ihr in dem kleinen grauen Zimmer mit den einfachen, rothbrauen Wollenvorhängen an Fenstern und Thüren, [169] als uns so wohl und warm ums Herz war, wie beim Wiedersehen eines vertrauten, langentbehrten Freundes. Sie mußte wohl etwas Aehnliches empfinden, denn sie hat uns seitdem festgehalten und hat uns an Allem theilnehmen lassen, was sie in Schmerz und Freude, in Hoffnung oder Erinnerung bewegte.

Aeußerlich hatte sie sich seit unserem ersten Zusammentreffen wenig verändert. Trotz ihrer 53 Jahre war sie wunderschön; man hätte sie für viel jünger halten können, obwohl sie alle Toilettenkünste verschmähte. Zu einfachen Scheiteln lag das reiche blonde Haar über der Stirn und war am Hinterkopfe in Flechten aufgesteckt. Ihr Gesicht war von reiner, matter Blässe; die Lippen dagegen waren vom frischesten Roth, die Augen – sobald sie angeregt war – vom lebendigsten Ausdruck, und die edlen Züge so von Geist und Güte überstrahlt, daß es ebenso beglückend war sie anzusehen, wie ihr zuzuhören.

Dies Glück ist uns in reichem Maße zu Theil geworden. Halbe Tage und Nächte lang haben wir neben ihr gesessen, während sie uns die Geschichte ihres Lebens – dieses an Glanz und Elend so überreichen Lebens – erzählte. Gewöhnlich saß sie dabei ruhig, mit übereinander geschlagenen Armen in die Sophakissen zurück gelehnt, den Kopf etwas erhoben, den Blick in’s Weite gerichtet, als sähe sie die Gestalten und Scenen, von denen sie sprach, an sich vorüberziehen. Aber dabei strahlten und sprühten die Augen; der herrliche, feingeschnittene Mund drückte jede Empfindung mit größter Wahrheit aus, und die Stimme war so reich an Modulationen, von der bängsten Klage bis zum niederschmetternden Zorn, von thränenschwerer Wehmuth bis zum Aufjauchzen des Triumphs, daß sie unwiderstehlich mit sich fortriß. Und wenn sie sich mitten in der Erzählung zu uns wandte, uns mit festem, warmem Druck die Hände reichte und wehmüthig sagte: „Ja, meine Lieben, das Alles hab’ ich erdulden müssen!“ sind uns die Augen naß geworcen und das Herz hat uns gezittert, als hätten wir uns in die Erinnerung eigener Leiden versenkt.

Die Geschichte ihrer ersten Lebensjahre hat die Künstlerin selber aufgezeichnet. Ich lasse hier so viel als möglich ihre eigenen Worte folgen.

„Ich bin zu Hamburg den 6. December 1804 geboren. Hätten wir damals noch in einem Zeitalter gelebt, wo die Zeichen des Himmels als Glück oder Unglück bringend gedeutet wurden, so hätte die Stunde meiner Geburt den größten Anlaß dazu gegeben, denn es ereignete sich das seltene Phänomen, daß es bei undurchdringlichem Schneegestöber heftig donnerte und blitzte, „Während dieses Aufruhrs der Elemente erblickte ich das Licht der Welt und erfüllte das bescheidene, kleine Haus meiner Eltern mit einem dreistündigen Wehgeschrei, das meinen armen Vater endlich zu dem verzweiflungsvollen Ausruf getrieben haben soll: „Werft den Balg zum Fenster hinaus!“ worauf er von dem Hausarzt die prophetische Antwort erhielt: „Sein Sie ruhig, lieber Schröder, das gibt eine gute Sängerin.“

„Wer meine Mutter war, ist der civilisirten Welt bekannt. Sie hieß Sophie Schröder. Mein Vater, Friedrich Schröder, war zu seiner Zeit eine hervorragende und allgemein beliebte Persönlichkeit in der Theaterwelt. Seine Begabung als Künstler muß aber doch nicht eminent gewesen sein, denn sein Name ist nicht auf die Nachwelt übergegangen. Er war ein sehr schöner Mann, hoch und schlank gewachsen, mit einer herrlichen Bariton-Stimme begabt und für seine Epoche ein ausgezeichneter Sänger. Er war besonders als Don Juan berühmt und der Erste, der diese Rolle in deutscher Sprache sang.“

Wilhelminens Kindheit war keine glückliche: ihrem elterlichen Hause fehlte die Harmonie, deren das Kindergemüth so sehr bedarf. Die Mutter war fast immer durch ihren Beruf in Anspruch genommen, der Vater kränkelte viel, das Wanderleben gab nothwendig dem ganzen Hauswesen etwas Ungeordnetes, Unbehagliches; Wilhelmine litt unter den daraus entstehenden Mißverhältnissen, noch ehe sie im Stande war, sie zu erkennen. „Mit meinen ersten Erinnerungen“ – schreibt sie – „breiten sich auch schon dunkle Schatten über mein Leben, die noch jetzt, indem ich dieses niederschreibe, ihre düstern Reflexe in meine Seele werfen.“

Schon in den Tagen, die andere Kinder spielend verträumen, lernte Wilhelmine den Ernst des Lebens kennen. „Mit meinem vierten Jahre,“ erzählt sie, „begann für mich die Zeit der Arbeit, und ich mußte früh im Leben anfangen, mir mein Brod zu verdienen. Damals zog die berühmte Kobler’sche Tänzergesellschaft durch Deutschland; sie kam auch nach Hamburg und machte dort ganz besonderes Glück. Meine Mutter, leicht empfänglich und von einer Idee hingerissen, war schnell entschlossen und bestimmte mich zur Tänzerin.

„Mein Tanzlehrer war ein Afrikaner; aus seiner Heimath nach Frankreich verschlagen, in Paris unter das Corps de ballet gerathen, kam er später nach Hamburg, wo er Unterricht gab. Dieser Mann, Lindau mit Namen, war nicht gerade von bösem Charakter, aber heftig, streng, oft sogar grausam.

„Ich denke noch mit Schrecken an die Strafen zurück, die er mir zudictirte. Eine derselben war z. B., daß er in dem Haken am Plafond, der bestimmt war, den Kronleuchter zu tragen, ein Seil befestigte, unten eine Schlinge machte, den einen Fuß hineinlegte, sodaß ich das Bein horizontal von mir strecken mußte, während er den andern Fuß in das Bret einsetzte, in das man damals eingezwängt wurde, um auswärts gehen zu lernen. Dabei mußte ich beide Arme horizontal ausstrecken und in dieser Stellung so lange stehen bleiben, als er es für gut fand. Erlahmten meine kleinen Arme, oder brachen meine Beine zusammen, so bekam ich einen empfindlichen Schlag mit dem Violinbogen – er spielte die Violine zu meinem Tanz – auf die Hand oder an die Fußknöchel. Wurde ich endlich aus dieser Tortur befreit, so sank ich oft kraftlos zusammen und konnte mich stundenlang nicht erholen. Machte ich aber meine kleinen Sprünge zu seiner Zufriedenheit, so überhäufte er mich mit Liebkosungen und konnte wie ein Kind mit mir spielen.

„Ich mochte etwas über fünf Jahr alt sein, als ich weit genug war, um öffentlich tanzen zu können, und so debütirte ich denn mit einem Pas de châle und einem englischen Matrosentanz, ein Filzhütchen mit blauen Bändern auf dem Kopfe und Schuhe mit Holzsohlen an den Füßen. Von diesem ersten Auftreten ist mir nur noch erinnerlich, daß das Publicum dem kleinen gewandten Aeffchen zujauchzte, daß mein Lehrer sehr beglückt war, und daß mich mein Vater auf seinen Armen nach Hause trug. Meine Mutter hatte mir vor Beginn des Tanzes, je nachdem ich meine Sachen machen würde, eine hübsche Puppe oder Prügel in Aussicht gestellt – und gewiß war es die Angst, die meine kleinen Glieder leicht und gelenkig machte, denn die Schläge meiner Mutter thaten weh.“

Am folgenden Morgen wickelte Friedrich Schröder ein altes spanisches Goldstück in ein Stück Papier, gab der kleinen eine Feder in die Hand und führte sie ihr mit solcher Geschicklichkeit, daß ziemlich leserlich die Worte entstanden:
„Zum Andenken an Ihre dankbare Schülerin
Wilhelmine Schröder,“

worauf sie das Päckchen ihrem schwarzen Lehrer überreichen mußte.

Mehr als zwanzig Jahre später kam Wilhelmine als gefeierte Sängerin nach Hamburg, um eine Reihe von Gastrollen zu geben. Nach der ersten Vorstellung meldet der Diener „einen alten sonderbar aussehenden Herrn“, der seinen Namen nicht nennen wolle, aber dringend bäte, vorgelassen zu werden. Die Künstlerin befiehlt den Fremden herein zu führen, und gleich darauf steht ein alter, weißhaariger Mann mit schwarzem Gesicht vor ihr, der, vor Bewegung keines Wortes mächtig, mit zitternder Hand in die Tasche greift und eine Münze nebst einem vergilbten Stück Papier daraus hervorlangt. Der Greis war Wilhelminens Tanzlehrer, der die erste Schreibübung seiner berühmten Schülerin als Reliquie bewahrte.

Ein anderes Auftreten des Kindes fiel nicht so glücklich aus, wie der Matrosentanz. Frau Händel-Schütz zog damals durch Deutschland, um mimisch-plastische Vorstellungen zu geben; sie kam auch nach Hamburg, und Wilhelmine wurde dazu erkoren, als Genius gekleidet neben der Künstlerin zu stehen, um die Gewänder zu halten, die sie während der Darstellung wechselte. Die Kleine erlag fast unter der Last der Stoffe; das Stillstehen wurde ihr immer peinlicher – endlich hielt sie es nicht mehr aus, warf laut weinend der berühmten Frau ihre Shawls vor die Füße, sprang davon und war weder durch Bitten noch durch Drohungen zu bewegen, zu ihrem Amte zurückzukehren.

„So vergingen einige Jahre,“ fährt sie in ihren Aufzeichnungen fort, „in denen ich neben meinem Tanz auch zu Kinderrollen verwendet wurde. Von meinem Schulunterricht wüßte ich nichts zu sagen. Er war jedenfalls sehr mangelhaft, wie ich denn überhaupt bis zu meinem zwölften Jahre zu keinem anderen Studium [170] ernsthaft angehalten wurde, als zum Tanz. Aber meine Phantasie war schon damals sehr angeregt. Meine Thätigkeit sowohl, wie der häufige Besuch des Theaters, regte mich zu allerlei phantastischen Spielen an. Ich suchte mir allerhand bunte Lappen und sonstigen glänzenden Theaterschmuck zu verschaffen, schlich damit auf den Boden unseres Hauses, aus dessen Hinterfenster man die Aussicht auf den Dammthor-Wall hatte, behängte mich nach Möglichkeit mit meinen bunten Herrlichkeiten und führte dann selbsterfundene Monologe oder auch ganze Stücke auf, die ich mit lauter Stimme vortrug. Häufig wurde dadurch mein Aufenthalt verrathen, und ich wurde auf’s Unsanfteste aus meiner Begeisterung geweckt, indem man mich in die Kinderstube zurückjagte.

„Besonders war es die Jungfrau von Orleans, die mich begeisterte. Da wurde von Papier ein Panzer und ein Helm fabricirt, irgend ein Stock, woran ein Tuch befestigt war, diente als Fahne, ein zweiter Stock als Schwert, und so ausgerüstet ging es in die Schlacht. Vermochte ich meinen Gefühlen keinen Ausdruck zu geben, so versank ich in träumerisches Hinbrüten, saß oft stundenlang in einer Ecke des Bodens hingekauert, die Ellenbogen auf eie Kniee gestützt, den Kopf in die Hände gedrückt – und dichtete.

„Wie schon erwähnt, hatte man aus dem Hinterfenster des Hauses den freien Blick auf den Wall. Einen Morgens gingen Vater, Mutter, Geschwister und Mägde auf den Boden, um die Freiwilligen zu sehen, die sich auf dem Dammthor-Walle zum Abmarsch versammelt hatten. Der deutsche Freiheitskrieg begann, und wer nur einen Tornister, einen Säbel tragen konnte, zog hin, Blut und Leben für Gott und Vaterland zu lassen.

„Unter dieser begeisterten Schaar waren Knaben von vierzehn bis fünfzehn Jahren. Einer derselben, der Sohn eines Schauspielers, mit dem mein Vater häufig verkehrte, war lange Zeit unser Spielkamerad gewesen. Ich war die Erste, die unsern jungen Freund in seiner kriegerischen Rüstung entdeckte, rief ihn bei seinem Namen und er nickte freundlich zu uns herauf. Erst wußte ich nicht, was vorging; als aber das Commandowort zum Abmarsch gegeben wurde, der Zug sich in Bewegung setzte und Väter, Mütter, Schwestern und Brüder laut weinend nebenher gingen, fragte ich meinen Vater: „Wohin geht der Ludwig?“ – „In die Schlacht,“ gab er mir zur Antwort. Da starrte ich ihn an, wie vom Donner, gerührt, schrie endlich laut auf: „Ich will mit!“ und machte Miene, mein Vorhaben auszuführen. Natürlich wurde ich mit Gewalt zurückgehalten, und da ich keine Möglichkeit sah, fortzukommen, warf ich mich heulend zur Erde, tobte und schrie, und war durch nichts zu beruhigen. Tagelang war ich wie vernichtet, schlich immer auf den Boden und stand da, mit dem Kopfe an’s Fenster gelehnt und schaute nach der Himmelsgegend, wo mein junger Spielkamerad verschwunden war. Nun spielte ich erst recht Jungfrau von Orleans, und mein Papierhelm kam kaum von meinem Kopfe, mein hölzernes Schwert kaum von meiner Seite.

„Das Kriegsgetümmel, unter welchem Hamburg damals litt, sollte auch auf das Schicksal meiner Eltern einen entscheidenden Einfluß haben. Während der Besetzung der Stadt durch General Tettenborn hatte meine Mutter in dem Gelegenheitsstück „die Russen in Deutschland“ eine russische Kokarde auf der Brust getragen. Als darauf Davoust einrückte, verlangte er, daß nun mit der französischen Kokarde gespielt würde. Meine Mutter zögerte lange, diesem Befehl zu gehorchen, und als sie nicht mehr ausweichen konnte, erschien sie – zum Gelächter des ganzen Publikums – mit einer tellergroßen blau-weiß-rothen Kokarde. Sie wurde in Anklagestand versetzt und sollte als Gefangene nach Frankreich geschleppt werden. Wir mußten flüchten, und ich erinnere mich, daß meine größte Sorge war, die Franzosen könnten mir meine Puppe wegnehmen, weshalb ich sie auf’s Aengstlichste unter meiner Schürze verbarg.

„Inmitten der Kriegsunruhen zogen meine Eltern nun mit vier kleinen Kindern einer ungewissen Zukunft entgegen. Sie zogen erst durch Norddeutschland, gingen später an den Rhein, kamen nach Frankfurt und machten die Schrecknisse der Schlacht von Hanau mit. Dann wendeten sie sich nach Prag, und hier wurde ihnen endlich wieder – unter Liebich – ein längeres Engagement zu Theil. Auf allen diesen Streifereien mußte ich und meine jüngere Schwester Betty, die in den letzten Jahren auch tanzen gelernt hatte, durch unsere kleinen Sprünge das tägliche Brod verdienen helfen. Damit mag es übrigens zu dieser Zeit knapp genug bestellt gewesen sein, denn meine Eltern hatten auch in Hamburg nur geringe Gage bezogen. Damals bekamen die ausgezeichnetsten Künstler nicht so viel, wie jetzt die größte Mittelmäßigkeit.

„So kamen wir unter mancherlei Beschwerden und immer von Kriegsgetümmel begleitet nach Prag, wo meine Eltern mehrere Jahre blieben und von wo aus sich hauptsächlich der Künstlerruhm meiner Mutter verbreitete. Wir Kinder wurden dem Kinderballet beigegeben, das damals unter einer Madam Horschelt in Prag florirte und später von ihrem Sohne nach Wien verpflanzt wurde. Die Rückerinnerung an diese Zeit krampft mir noch heute das Herz zusammen. Wir waren der rohesten Behandlung ausgesetzt, von den schlechtesten Beispielen umgeben und lernten nichts als tanzen und dumme Streiche.

„Aus dieser Zeit taucht die Erinnerung an zwei bedeutende Persönlichkeiten in mir auf: an Karl Maria von Weber, der damals in Prag Kapellmeister und mit seiner späteren Gattin, Caroline Brand – einer ausgezeichneten Darstellerin im Soubrettenfache – verlobt war, und an Rahel Robert, später Varnhagens Frau, die viel mit meiner Mutter verkehrte. Zu meinen liebsten Erinnerungen aus der Kindheit gehört aber die ruhige Zeit, die wir Kinder mit meinem Vater allein verlebten, während meine Mutter nach zweijährigem Aufenthalt in Prag einem Rufe zum Gastspiel in Wien gefolgt war, welches später ein Engagement am Burgtheater nach sich zog. Ich kann nie ohne Rührung daran denken, mit welcher Umsicht, Sorgfalt und Güte sich der Vater unserer körperlichen und geistigen Pflege annahm. Wie oft bin ich mitten in der Nacht davon erwacht, daß er vor unsere Betten kam, um sich von unserem gesunden Schlaf zu überzeugen, und mit welcher milden Festigkeit suchte er unsere Wildheit zu zügeln, uns an Ordnung und Regelmäßigkeit zu gewöhnen! O, wäre mir dieser Vater nicht zu einer Zeit durch den Tod entrissen, wo ich seiner so sehr bedurfte, wie ganz anders wäre es wohl mit mir geworden! Aber eine liebende Hand sollte mir nicht den Lebenspfad ebenen, sondern wie im wilden Strom sollte ich über Klippen und Abgründe dahinjagen – ob Herz und Seele mir oft auch brechen wollten, wie die hochaufschäumenden Wellen.“




Hühnerologie.
(Mit Abbildung.)

Wenn auch obiges Wort vor dem Richterstuhl derer, welche beflissen sind, die an sich so reiche deutsche Sprache von allen fremdartigen Beimischungen zu reinigen, keine Gnade finden dürfte, so hat sich dasselbe doch durch den langjährigen Gebrauch so zu sagen eingebürgert und hat wenigstens den Vorzug, allgemein verständlich zu sein, was man nicht allen in neuerer Zeit in den Sprachverkehr aufgenommenen, rein griechischen Bezeichnungen nachrühmen kann. Der Begriff „Hühnerologie“ könnte füglich nicht anders verdeutscht werden, als durch eine Umschreibung, wie etwa: „auf durch Veredelung zu bewirkende Hebung der Hühnerzucht gerichtete Bestrebungen“, und sowohl der Kürze wegen, als weil der beabsichtigte Zweck in der Praxis häufig durch Kreuzung verschiedener Racen angestellt wird, möchte wohl vor milderen Richtern diese kleine Sprachbenutzung vom Deutschen und Griechischen einer nachsichtigeren Beurtheilung sich zu erfreuen haben.

Die der heutigen Nummer beigefügte vortreffliche Zeichnung gibt eine erwünschte Veranlassung, die im Zeitraum von mehreren Jahren gesammelten Beobachtungen und Erfahrungen auf dem Gebiete der Hühnerologie, mindestens was die hauptsächlichsten Racen betrifft, etwas näher in’s Auge zu fassen. Vor allem sei es gestattet, auf dem so höchst gelungenen Bilde eines der ersten Künstler in diesem Fach betrachtend zu verweilen. Man erkennt sofort, daß dasselbe mit vollständiger Sachkenntniß das Charakteristische der verschiedenen Gattungen auffassend und ganz in das eigenthümliche Leben derselben eingehend entworfen ist.

Im Vordergrund erblickt man eine kleine Zwerghenne mit [171] ihren Küchlein; die Mutterliebe verleiht ihr den Muth, einen kühnen Angriff auf einen größeren Hund zu wagen, von dem sie Gefahr für ihre junge Schaar fürchtet, während sie sonst vielleicht die Flucht vor ihm ergreifen würde; die Küchlein, von denen das eine noch schlaftrunken überpurzelt, stehen betroffen und von der unbekannten, ihnen noch fremden Erscheinung überrascht, der Feind aber ergreift schleunigst das Hasenpanier. – Rechts befindet sich ein Brahma-Hahn mit einigen Hennen; der Hahn läßt zornig seine Stimme erschallen, gleichsam als Drohung gegen den Ruhestörer, während die Hennen, auf den Schutz ihres Herrn vertrauend, vollkommene Gelassenheit bewahren, dergestalt, daß eine von ihnen, eine schwarze Cochin-China, es nicht einmal der Mühe werth erachtet, sich von ihrer Siesta zu erheben. Die links befindliche Gruppe, aus einigen Schleierhühnern, vermischt mit gewöhnlichen Landhennen, bestehend, scheint von der erwähnten Scene gar keine Notiz zu nehmen, nur die seitwärts stehende Brabanter Henne wirft kaltblütig einen beobachtenden Blick dahin. Auf dem Mauerwerk haben zwei andere Hennen Platz genommen, wovon die eine den eben aufgestandenen Hahn gleichsam fragend anblickt. Im entferntern Hintergrund nähert sich langsam eine einzelne Henne; zwischen dem wohlbesetzten Taubenschlage und dem Hause endlich tritt würdevoll ein Truthahn heran. Das ganze ländlich gehaltene Bild gewährt einen höchst freundlichen, vollkommen naturgetreuen Anblick; Form, Charakter und Stellung sind so entsprechend wiedergegeben, daß alle Freunde der Hühnerologie dasselbe mit Freuden begrüßen werden.

Um nun näher auf den Gegenstand einzugehen, so steht unbedingt fest, daß vor nicht gar zu langer Zeit noch die Hühnerzucht nicht blos in Deutschland, sondern auch fast in allen europäischen Ländern, mit alleiniger Ausnahme Frankreichs und Belgiens, ziemlich vernachlässigt war, höchstens ungefähr den nöthigen Bedarf an Eiern deckte, nebenbei einige alte Hennen zum Kochen, und im Sommer eine Anzahl junger Hähne zum Braten lieferte.

Die eingebornen Landhühner, kleine Eier producirend, unterschieden sich wenig von einander, die hin und wieder auftauchende Liebhaberei beschränkte sich meistens auf Stämme von gleicher Farbe oder mit Hauben versehene Exemplare.

In den zuletzt genannten Ländern hingegen wurde die Hühnerzucht schon früher mit größerer Aufmerksamkeit betrieben, was nicht nur die bedeutende Eier-Consumtion in Frankreich selbst, sondern auch die beträchtliche, jährlich zunehmende Ausfuhr von Eiern nach England beweisen. Nicht minder waren von jeher die fettgemästeten französischen Kapaune und Poularden berühmt, die sich besonders in obligater Begleitung von Trüffeln noch heute der vollsten Anerkennung aller Feinschmecker erfreuen. Ohne Zweifel waren zur Erreichung so günstiger Resultate geeignete Hühner-Racen als Grundlage erforderlich, und diese auch in den echt französischen Gattungen vorhanden, worauf wir später zurückkommen werden. Der Haupt-Impuls auf dem Continent in Betreff der veredelten Hühnerzucht ging von England aus, wohin die jetzt allgemein bekannten Cochin-China, nach ihrem eigentlichen Vaterlande richtiger Schanghai genannt, in den Jahren 1843–1845 zuerst als ein Geschenk für die Königin Victoria gelangten, und einige Jahre nachher in England mehr verbreitet, auch in Frankreich zuerst durch den Admiral Mackau in den Jardin des plantes ungefähr zu gleicher Zeit eingeführt wurden. Die von allen bisher bekannten Hühner-Gattungen so entschieden abweichende Figur, verbunden mit unglaublichen, ihnen nachgerühmten, sich theilweise nicht im vollen Umfange bestätigenden Tugenden, nächstdem die anfänglich geforderten äußerst hohen Preise erweckten das lebhafteste Interesse und das Verlangen, in den Besitz einiger solcher Vögel zu gelangen, welche sich in einem Zeitraume von etwa zehn Jahren nunmehr so verbreitet haben, daß man sie bereits für einen sehr mäßigen Preis kaufen kann. Nachdem die Aufmerksamkeit einmal rege geworden, blieb man bei der einen Gattung nicht stehen, sondern forschte überall nach neuen und hauptsächlich größeren Arten.

Eingedenk des Grundsatzes, daß vereinte Kräfte Großes zu wirken vermögen, bildeten sich Vereine für Beförderung der Hühnerzucht, und zwar betrat der in Görlitz im Jahre 1852 begründete „Hühnerologische Verein“ zuerst diese Bahn, dem bald andere Vereine gleicher Tendenz an verschiedenen Plätzen, zunächst in Dresden, dann in Breslau, Berlin und vielen anderen Orten folgten. Alle diese Vereine, von denen der Görlitzer eine die Angelegenheiten des Vereins, wie die Hühnerologie im Allgemeinen besprechende Zeitschrift unter dem Titel: „Hühnerologisches Monatsblatt“ herausgibt, wirken dahin, die vorzüglichsten Hühnersorten anzuschaffen, möglichst zu vervielfältigen, zu diesem Behuf ihren Mitgliedern Eier gegen angemessene Entschädigung zu liefern, von den Ueberschüssen der sehr mäßigen Beiträge aber alljährlich bei Gelegenheit einer Ausstellung Hühner anzukaufen, und sie unter ihren Mitgliedern ohne weitere Einlage zu verloosen. Zweifelsohne ist dieses Verfahren gemeinnütziger, als das von den englischen Vereinen beobachtete, das in Prämien für die seltensten und schönsten Exemplare besteht, mithin selbstredend nur sehr wohlhabenden Personen Aussicht darbietet, da die reichen Engländer ihrerseits beim Ankauf vor keinem noch so hohen Preise zurückschrecken.

Wenden wir uns nun zu den hauptsächlichsten ausländischen Racen, deren nähere Bekanntschaft erst von der Einführung der Schanghai an gerechnet datirt, so sind diese Hühner bekannt genug, um eine nähere Beschreibung derselben überflüssig erscheinen zu lassen; Größe und Breite der Figur, gelbe, stark befiederte Füße, kleiner spitz zulaufender Schwanz, und vor Allem die zur Vollendung der Toilette unentbehrliche, möglichst umfangreiche Crinoline sind unerläßliche Eigenschaften, welche sich freilich bei ausgearteten Exemplaren weniger vollständig vereinigt finden. Ihre ursprüngliche Normalfarbe ist gelb in mehreren Schattirungen, doch werden ganz weiße, wie schwarze, und in neuerer Zeit die grau gesperberten, mit dem Beinamen „Prinz Albert“, besonders gesucht und höher im Werth geschätzt. Ihnen schließen sich die Brahmaputra, ebenfalls schon ziemlich verbreitet, zunächst an; zwar wurde früher behauptet, sie bildeten eine andere Race, indessen stimmen ihre Figur und sonstigen Eigenschaften so vollkommen mit dem Schanghai oder Cochin-China überein, daß man sie füglich als eine Seitenlinie oder eigentlich als zweifarbige Schanghai, vermöge ihres weißen Gefieders mit schwarzer Zeichnung, betrachten kann. Beide Gattungen, Schanghai und Brahmaputra, legen röthlich-gelbe, im Verhältniß zu ihrer Figur nicht allzugroße Eier, und sind vorzüglich in ihrem ersten und zweiten Lebensjahre sehr fruchtbar, welche Eigenschaft jedoch mit den Jahren wesentlich abnimmt, indem ihr phlegmatisches Temperament sie bei irgend gutem Futter sehr bald Fleisch und Fett ansetzen läßt; nebenbei sind sie von einer ungemeinen Leidenschaft für das Geschäft des Brütens beseelt, dergestalt, daß sie in reiferem Alter häufig, nachdem sie einige wenige Eier gelegt, sich wieder zum Brüten anschicken.

Fernere von England zu uns gelangte Gattungen sind die Malayen, schöne große Hühner von gelblicher oder bräunlicher Farbe, mit hohen Füßen, große Eier legend und ziemlich gut brütend, so, dann die weißen japanischen Seidenhühner mit haarartigem Gefieder und schwarzem Schnabel, mehr der Schönheit als des Nutzens wegen zu empfehlen, dann die ostindischen Zwerghühner oder Bantams, kleine muntere Hühner, in weiß, schwarz, sowie weiß und schwarz ober gelb und schwarz gefleckt, welche letztere dann Silber- und Gold-Bantams genannt werden. Die kleinen Bantam-Hähne gebehrden sich mit unendlicher Wichtigkeit, sind außerordentlich streitsüchtig und fürchten sich nicht, mit dem größten Hahn anzubinden.

Unter der etwas allgemein gehaltenen Benennung „Franzosen“ wird nächstdem eine Sorte verstanden, muthmaßlich das Resultat einer früheren Kreuzung mit Malayen, in Frankreich unter dem Namen: Poule Russe oder auch Poule du Gange ziemlich verbreitet, von hoher, schlanker, den Malayen, ähnlicher Figur, mit glatten gelben Füßen, gelblichem Gefieder, große Eier legend und in der Regel gut brütend. Dieselbe Gattung in ganz weiß, einen reizenden Anblick auf grünem Rasen gewährend, ist unter der Benennung „Pariser“ vielseitig bekannt. Graue, kukukartig gesperberte, gewöhnlich „holländische Sperber“ genannt, schließen sich den vorerwähnten an. Letztere Benennung dürfte noch am meisten zu rechtfertigen sein, weniger der auf russische Abstammung deutende Name, indem die meisten holländischen Racen hinsichtlich der höhern Stellung der Füße etc. ziemlich damit übereinstimmen.

Als eine schöne und nutzbare Sorte sind ferner die „Spanier“ zu erwähnen, große, ganz schwarze Hühner mit ungewöhnlich stark entwickeltem Kamm, bei der Henne auf die Seite hängend, beim Hahn gerade empor gerichtet, mit einem die Augen umgebenden weißen Kreise; sie legen fleißig, sehr große Eier und brüten höchst selten oder gar nicht; im Winter erfrieren sie leicht die Kämme und müssen daher etwas wärmer gehalten werden. Diese schöne Gattung, mit wirklicher Grandezza einherschreitend, stammt ursprünglich [172] aus Spanien, scheint jedoch daselbst vernachlässigt zu sein, wogegen sie in Holland, England und auch in Deutschland sorgfältig gezüchtet und sehr geschätzt wird. Merkwürdig genug hat man ihnen an einigen Orten den Namen „Tscherkessen“ beigelegt, während es glaubhaft erwiesen ist, daß man bei jenen Bergbewohnern, die sich, zumal in letzter Zeit, mit ganz anderen Dingen als Hühnerzucht beschäftigten, keine Spur davon antrifft.

Ueberhaupt, seitdem Hühner ein großer Handelsartikel geworden sind, hat die Speculation nicht verfehlt, hinsichtlich der Benennungen oft das Gebiet des Romantischen zu betreten, weshalb es höchst gewagt bleibt, durch einen zu den schönsten Hoffnungen berechtigenden Namen verlockt, eine Sorte Hühner aus weiter Ferne für hohen Preis zu bestellen. So werden beispielsweise die kleinen englischen Zwerghühner mehrfach „Indianische Steppenhühner“, schwarze Hühner mit weißen Hauben „Aleppo“, eine Kreuzung gelber und gesperberter Cochin-China aber „Hermandad“ genannt etc.

England verwendet große Aufmerksamkeit auf eine Züchtung der überseeisch importirten Racen, um sie echt zu erhalten und durch schlechte Nachzucht nicht verfallen zu lasten, ebenso auch auf Hebung europäischer, durch Schönheit oder Ertrag ausgezeichneter Gattungen. Besondern Werth legt man aus einem gewissen Nationalstolz in England auf die Zucht der Dorkings, einer echt englischen Race, stark gebaut, in gewöhnlichen meistens bräunlichen Farben, im Legen und Brüten weniger ausgezeichnet, aber sehr zum Fleischansatz geneigt; eine Eigenthümlichkeit derselben ist, daß sie stets fünf Zehen an jedem Fuß besitzen, was bei andern Hühnern nur ausnahmsweise vorkommt und, ohne einen Nutzen darzubieten, gleichsam als Luxus erscheint. Mit Hauben versehene Hühner werden in England mit dem Namen „Polands“ bezeichnet, in Frankreich poules huppées, in Deutschland gewöhnlich „Schleierhühner“ genannt. Die behaubten Hühner sind sehr verschiedenen Ursprungs und fast in allen Farben vertreten, besonders gesucht sind diejenigen mit großen weißen Hauben. Eine Varietät, weiß mit schwarzen Hauben, soll früher existirt haben, scheint aber gänzlich eingegangen zu sein, da sie vielseitig zu hohen Preisen, allein vergeblich gesucht wird. Als eine Seitenlinie der Haubenhühner sind die Brabanter zu bezeichnen, regelmäßig tigerartig gefleckt, welche Zeichnung dadurch gebildet wird, daß jede Feder in weißer, blaßgelber oder goldgelber Grundfarbe an ihrem Ende mit einem starken schwarzen Punkt versehen ist; die Haube ist mehr helmartig, nach vorn geneigt, und ein schwarzer Bart ziert außerdem das Huhn. – Diese schöne Race, deren Heimath Holland und Belgien, strenger genommen Brabant ist, wie auch der Name andeutet, stand vor Einführung der überseeischen Racen bei allen Liebhabern in besonderem Ansehen, trat als eine bekannte Größe für einige Zeit in den Hintergrund, wird aber neuerdings wieder sehr gewürdigt, zumal wenn sie mit befiederten Füßen erscheint, was ehedem nur ausnahmsweise der Fall war.

Frankreich, wie bereits oben angedeutet, hat sich stets im Besitz eigener Hühner-Racen befunden und davon den größten Nutzen gezogen, weshalb das Bedürfniß einer durchgreifenden Veredelung durch ausländische Gattungen dort weniger dringend als in andern Ländern vorliegt. Gleichwohl werden in Frankreich, theils aus Liebhaberei, theils zu Versuchen und Kreuzungen, die überseeischen Racen ebenfalls angetroffen. Die eingebornen französischen Hühner zerfallen in mehrere Abtheilungen, welche wiederum in einzelnen Gegenden vorzugsweise gezüchtet werden; die ausgezeichnetste Gattung jedoch sind die Crève-Coeur, starke schwarze Hühner mit einer meistens hinterwärts geneigten Haube versehen, und mit schwachem Kamm. Ihren Namen sollen sie der Formbildung des Kammes beim Hahn verdanken, die, in zwei auseinandergehenden Zacken bestehend, mit einem gespaltenen Herzen verglichen wird, wobei allerdings eine etwas lebhafte Einbildungskraft in Anspruch genommen werden dürfte. Die Vorzüge gedachter Race bestehen in der Größe ihrer Eier, dem fleißigen Legen, der Leichtigkeit, mit welcher sich die Jungen aufziehen, und in dem schnellen Fleischansatz. Unter den Nebengattungen sind hauptsächlich zu bemerken: die Houdan, ähnlich in Figur, schwarz und weiß gefleckt, in der Normandie sehr verbreitet, die La Flèche, schwarz von Gefieder, höher gestellt, mit schwächerer Haube, und außerdem noch mehrere andere dahin einschlagende Sorten. Auf das Gebiet der unendlichen Spielarten und mit obigen verwandten Sorten weiter einzugehen, würde zu weit führen, noch weniger Interesse aber könnte es gewähren, sich in das Labyrinth der vielfachen, theils absichtlichen, theils zufälligen Kreuzungen zu vertiefen. Es bilden sich häufig neue Abarten, die jedoch erst nach einigen Generationen als constant zu betrachten sind, da die Nachzucht im ersten und zweiten Jahr mehr nach dem einen oder dem andern Theil der Stamm-Eltern zurückschlägt.

Wenn die Hühnerzucht überhaupt mehr Gegenstand der Liebhaberei ist, dann wird das Hauptaugenmerk fast immer dahin gerichtet sein, die fremden Racen rein und unverfälscht zu erhalten, diejenigen Fälle abgerechnet, wo Kreuzungsversuche unternommen werden, um ein gewünschtes Resultat möglicherweise zu erreichen. Allein wenn es sich um den Nutzen handelt, dann sind verschiedene Gesichtspunkte in’s Auge zu fassen, wobei auch klimatische Verhältnisse berücksichtigt werden müssen. Die wesentlichsten Eigenschaften einer allen Anforderungen entsprechenden Race sind: fleißiges Legen, sicheres Brüten, schnelles Wachsthum und Mastfähigkeit. Selten wird man alle diese Tugenden vereinigt finden, deshalb pflegt man entweder mehrere Racen zu halten, um einander gegenseitig zu ergänzen, oder durch Kreuzung neue Sorten zu erzielen, auf welche die guten Eigenschaften der beiderseitigen Eltern in möglichst hohem Grade übergehen. So hat z. B. die Kreuzung der deutschen Landhennen mit den großen Hähnen der vorstehend erwähnten sogenannten Franzosen einen bedeutend stärkern, größere Eier legenden Schlag ergeben, wobei nicht zu übersehen, daß der Einfluß des Hahns jederzeit vorzüglich maßgebend ist. Die Erfahrung hat gelehrt, daß, wenn die aus der Verbindung eines edeln Hahns mit einer gewöhnlichen Henne hervorgegangenen jungen Hennen wiederum mit einem edeln Hahn gepaart werden, die zweite Generation dem Hahn fast ganz gleiche Exemplare liefert.

Unter allen Geflügelarten ist unstreitig die Eierproduction des Huhns die stärkste; naturgemäß legt dasselbe eine Serie Eier ab, und schickt sich dann zum Brüten an; wird dieser natürliche Verlauf der Dinge nicht gestört, so wiederholt sich solcher zwei bis drei Mal jährlich; wird das Brüten jedoch nicht gestattet, so beginnt die Henne nach einiger Zeit wieder zu legen, und zwar früher, als es sonst, nachdem die Jungen mehrere Wochen geführt worden, geschehen würde. Auch hierin sind Individuen und Racen verschieden; einige Gattungen, wie z. B. Spanier, Crève-Coeur u. s. w., welche fast nie brüten, machen zwischen den Eier-Serien nur längere oder kürzere Pausen, ohne Neigung zum Brüten zu bekunden, während Schanghai, Brahma etc., zumal im Alter von mehreren Jahren oft nur wenige Eier legen und dann abermals brüten wollen. Bei jüngeren Exemplaren dieser Racen kommt es indessen auch vor, daß sie ihre Jungen oft kaum acht bis vierzehn Tage führen, und dann wieder zu legen beginnen, was zwar hinsichtlich der Eier recht angenehm, in Betreff der früh verwaisten Jungen aber desto störender ist. Die Ertragsfähigkeit einen Huhns ist nicht mit Sicherheit zu veranschlagen und hängt von der Race, dem Alter, der Fütterung -c. ab; man kann in günstigen Fällen bis auf 180, selbst 200 Eier jährlich hoffen, durchschnittlich aber füglich nicht mehr als etwa die Hälfte dieser Zahlen annehmen. In das Reich der Fabel gehören die Erzählungen von Hühnern, welche zwei, sogar drei Mal täglich legen. Wenn in Folge einer innern oder äußern besondern Entwickelung eine Henne an demselben Tag zwei Mal legt, so kann das zweite Ei nicht vollkommen ausgebildet, sondern blos mit einer weichen Schaale versehen sein, und den darauf folgenden Tag wird sie entschieden nicht legen, da die Verhärtung der Schale zur vollständigen Reife ziemlich einen Tag bedarf. Es kommt vor, daß Hühner einige Wochen lang legen, ohne einen einzigen Tag zu pausiren, allein dies sind Ausnahmen, und in der Regel legen sie zwei, drei bis vier Tage unausgesetzt hinter einander; diejenigen, welche zwischen jedem Ei einen Tag überspringen, sind als gute Legehühner nicht zu empfehlen.

Der Raum erlaubt nicht, hier auf das natürliche und künstliche Brüten, auf Einrichtung der Ställe, die Fütterungsmethoden, Mästung, Krankheiten und viele andere der Hühnerologie angehörende Punkte überzugehen, nur möge schließlich noch die Bemerkung Platz finden, daß eine jede neue Erscheinung neben ihren Vortheilen auch Schattenseiten darbietet, im vorliegenden Fall darin bestehend, daß seit Einführung ausländischer Racen sich eine neue, früher ganz unbekannte Krankheit im Gefolge gezeigt hat, nämlich die fast allen Hühnerologen nur allzu schmerzlich bewußte Augenkrankheit. Heilmittel in Menge sind dagegen vorgeschlagen und mit günstigem oder ungünstigerem Erfolg angewendet worden; weil

[173]

Der Hühnerhof.
Originalzeichnung von G. Hasse in Dresden.

Brabanter Henne. Schleierhahn mit Schleierhenne. Englische Zwerghenne. Brahm-Hahn mit Henne. Cochin-China-Henne.

[174] aber eine Krankheit oft leichter zu verhüten als zu heilen ist, und da mehrfache Beobachtungen ergeben haben, daß hauptsächlich die Veränderung des Wassers nachtheilig einwirkt, möge als Präservativ empfohlen werden, neu angekommenen Hühnern eisenhaltiges Trinkwasser, erzeugt durch rostiges Eisen oder Hammerschlag, eine Zeitlang zu verabreichen.

Die Hühnerzucht bietet des Angenehmen und Nützlichen in Menge dar, in fast allen Classen der Gesellschaft entwickelt sich ein immer regeres Interesse, und die allgemeine Verbreitung edler und veredelter Rassen trägt dem Schönheitssinn wie dem praktischen Nutzen Rechnung.




Zum Tode verurtheilt.
Aus den Erinnerungen eines englischen Gefängniß-Geistlichen.

Ein Menschenleben mag dem Tode noch so nahe, des Todes noch so sicher sein, in der Regel glimmt der Docht schon erloschner Lebenslampe, die Hoffnung, die Möglichkeit der Genesung oder wenigstens noch einiger Tage oder Wochen schweren, schmerzhaften Athmens noch so lange fort, bis der Sterbende im Schlafe ober in glücklicher Unbewußtheit, vielleicht umlächelt von glücklichen Visionen, sein Auge zum letzten Schlummer schließt, ohne es zu wissen. Ja, Mancher lallt noch fieberhaft von alle dem Schönen, was er thun will, sobald er nur erst wieder gesund sei, zu den Umstehenden, bis er endlich vergißt, einen angefangenen Satz neuer Hoffnungen und guter Vorsätze zu vollenden, da er dabei einschlief, um nicht wieder zu erwachen. Insofern hat der natürliche Tod für den Sterbenden nicht die Schrecken, die sich der Gesunde, Lebende wohl gelegentlich einbilden und ausmalen mag. Auch der Soldat, der sich in Kanonendonner, Kugelregen oder Bajonnetenspitzen stürzen muß (in der Regel, um die stupide Laune oder die verbrecherische Anmaßung dieser und jener Diplomaten zu befriedigen), hat erstens die wirre Aufregung der Schlacht und dann zweitens die Hoffnung für sich, daß nicht „jede Kugel apart ihren Mann treffe“ und er ja wohl mit einer Medaille lebendig davon komme und wohl gar hohe polizeiliche Concession bekommen könne, einen Leierkasten zu drehen.

Wir wollen die menschliche Natur nicht unterschätzen und zugeben, daß edle, energische Naturen dem Tode schon Tausende von Malen fest und gefaßt in’s Auge gesehen oder ihm gar entgegengegangen; aber wir sind auch überzeugt, daß die Hoffnung, mit dem Leben davonzukommen, viel nothwendiger für Ausführung heroischer, todesmuthiger Thaten sei, als der sich gern rühmende Mensch zugeben will. Die großen Thaten, vollbracht mit Lebensgefahr, sind zahllos; – zugegeben. Aber heroische Thaten mit sicher vorausgesehenem, unvermeidlichem Tode, Curtiusthaten, werden ungeheuer selten, wenn man die, wie es psychologisch nothwendig ist, abzieht, welche aus krankhaftem Lebensüberdruß, aus Furcht vor einem sichern, schrecklicheren Tode hervorgingen.

Wir haben das Zeugniß eines englischen Geistlichen, der mehrere Jahrzehnte lang zum Tode verurtheilte Verbrecher religiös für den Galgen weihen mußte, der auf diese Weise Hunderte während der je sechs Tage vor dem sichern Tode zu bearbeiten hatte, und immer vergebens, daß jeder so Verurtheilte bis unter den schmachvollen Querbalken des Galgens immer seine ganze Lebenskraft in die Hoffnung auf eine Begnadigung concentrirte und nur so die unsäglichen Qualen dieser sechs Tage ertrug. – „Obgleich in manchen Fällen,“ erzählt er, „die verurtheilte Person die Gerechtigkeit des Todesurtheils [WS 2] zugab – freilich hab’ ich dabei meine Zweifel in die Ehrlichkeit dieses Zugeständnisses, da es gewöhnlich mit dem Hintergedanken gemacht ward, es werde Mitleiden und Begnadigung erregen – schien es ihr doch immer absolut unglaublich und zu ungeheuerlich, daß Menschen, Mitmenschen mit der Gewalt, ihr das Leben zu retten, es auf eine so scandalöse, den ganzen Staat, die ganze Gesellschaft schändende Art nehmen sollten. Daß die Gefängniß-Behörden, gegen ihn so menschlich, so human, ja oft zuvorkommend (wie gegen jeden definitiv Verurtheilten), daß die Regierung, die Königin und gütige Mutter, die Nation, die christliche Welt es ruhig geschehen lassen könnten, einen Menschen unter das offene Himmelslicht hinauszuführen, in die Mitte einer gaffenden, sich grauenden Menge, um ihn „am Halse aufzuhängen, bis todt“, erscheint ihm nicht nur empörend, sondern auch schlechterdings unbegreiflich, obgleich er weiß, daß Hunderte, Tausende vor ihm auf dieselbe Weise öffentlich umgebracht wurden. Er schließt mit verzweifelter Energie seine Augen dem ihn sicher erwartenden Schicksale, so lang’ er irgend kann, bis zur letzten Nacht, nicht selten bis zu dem Augenblicke, wo er sich unter den „Querbalken“ stellen muß und ihm die baumwollene Mütze über das Gesicht gezogen wird. In den meisten Fällen richtet der Unglückliche seine ganze Energie auf diesen einen unmöglichen Punkt der Begnadigung. Fast immer hatte ich auch guten Grund, an der Ehrlichkeit eines religiösen Bedürfnisses zu zweifeln und ihn vom Leben auf „wichtigere“ Dinge hinzulenken. „Wichtigere?“ denkt er. Was kann es für einen Menschen Wichtigeres geben, als die Frage, ob er nächsten Montag oder Dienstag, morgen, in einer Stunde vielleicht umgebracht werden oder – leben soll?“

So der alte, englische Gefängniß-Geistliche.

An einer andern Stelle heißt es: „Ich fürchte, manche respectable Person in seidener Cravatte, statt mit dem Stricke um den Hals, zu empören, wenn ich die Meinung ausspreche, daß ich diesen Geisteszustand verurtheilter Verbrecher weder unnatürlich, noch tadelnswerth finde. Verbrecher sind fast immer Menschen ohne Erziehung und Schule, ohne Religion und Glauben, ohne Wissen und Sittlichkeit. Die Gesellschaft, der Staat hat sie vernachlässigt („der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen,“ sagt Bettina). Sie dachten nie daran, an ein großes „Jenseits“ zu glauben, an mehr, als die Befriedigung der kurzsichtig nächsten, unmittelbarsten Bedürfnisse und Leidenschaften. Es ist unmöglich, solche Naturen in sechs Tagen zu moralischen Helden und religiös Erhabenen umzuwandeln. Wenn nun außerdem diese Unglücklichen, mit denen wir’s zu thun haben, von einem Alles übertäubenden Schrecken gequält werden, der nur in der wahnsinnigen Hoffnung einer Milderung oder Begnadigung – dieses Irrlichtes – zuweilen auf Augenblicke und Minuten sich mühsam etwas abschwächen läßt, um dann desto furchtbarer wieder durch die Adern zu brennen und grauenhaft um die Ohren zu brausen – so kann man sich die Vergeblichkeit unserer religiösen Arbeit wohl erklären. Ich sage nichts von dem Peinlichen unserer Aufgabe, wie wir den Qualen unserer armen Sünder zusehen müssen, den zitternden Hoffnungen, die kochend auf- und absteigen, um zuletzt erbarmungslos erwürgt zu werden, dem vergeblichen Flattern und den verzweifelten Flügelschlägen des gekäfigten Vogels. Wenn es auf uns Gefängniß-Geistliche ankäme, gäb’s gewiß keine Todesstrafe mehr. Bilde sich Niemand ein, daß der Mörder nach „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ behandelt werde, daß wir ihm thun, wie er Andern gethan. Er sagte es seinem Opfer nicht voraus, daß er nach so und so viel Tagen zu einer bestimmten Stunde unfehlbar sterben müsse; er steckte sein Opfer nicht zu diesem Zweck in eine dunkele, undurchdringliche Zelle und ließ es sorgfältig bewachen Tag und Nacht, daß es nicht entkomme, daß es sich nicht selbst den Tod gebe. Während einer solchen Zeit stirbt der Mörder wohl fünfhundert Tode. Die flüggen, todesmuthigen Helden, welche mit kaltblütiger Ruhe und Tapferkeit sterben, sind eine Fabel, eine Farce, was auch in der letzten Minute des letzten Actes geschehen mag in der Mitte von tausend verbrecherischen oder rohen Massen, welche, wie das Publicum im Theater, etwas ungewöhnlich Ideales, Großartiges, Heroisches von ihm verlangen. Der Gefängnißwärter, immer in seiner Zelle, um Selbstmordversuche zu verhüten und den Helden für das Publicum draußen, das schon früh um drei Uhr anströmt, aufzubewahren, weiß nichts von diesem Heroismus, und obgleich ein „Atheisten-Gelächter“ manchmal statt der „beleidigten Gottheit“ sich geltend macht – kein Mensch allein und ohne diese furchtbare Sympathie des Gefängnißwärters wird Gott herausfordern.

„Ich habe zum Tode verurtheilte Menschen in fast jeder Geistesverfassung kennen gelernt – versunken in stumpfe Gefühllosigkeit der Verzweiflung, ruchlos, wüthend, boshaft und manchmal sogar affectirt witzig (der bei weitem furchtbarste und peinlichste aller Zustände); aber in ihren Zellen, allein mit mir und dem Wärter, war nie Einer wirklich „flügge“, nie Einer dann und wann ohne heimliche oder offene Hoffnung auf Milderung oder Gnade. Ich will blos zwei Fälle, die ich gleichzeitig zu „behandeln“ [175] hatte, Wegen ihrer Gegensätze und ihrer Gleichheit näher beleuchten.“ – Wir erzählen sie in etwas kürzerer Form.

Mary B. lag zum Tode verurtheilt wegen Vergiftung ihrer eigenen Schwester, für deren Gatten sie in dämonischer Leidenschaft brannte, obgleich sie kaum den Mädchenjahren entwachsen war. Als ich sie zuerst besuchte, hatte sie noch ziemlich eine Woche zu leben. Sie erzählte mir, daß sie mit einem Bleistift auf einem Stückchen Papier ausgerechnet, wie viele Minuten dies seien. Ich sprach ihr lange und eifrig zu. Als ich sie verließ, kreischte sie mit einem Schauder: „Hundert und zwanzig von den Minuten verloren!“ Ihre Wärterin erzählte mir, daß sie bei jedem Schlage der Gefängnißuhr laut aufgeschrieen[1] und jeden Morgen nach dem Erwachen eifrig nach der Zeit gefragt habe, um zu heulen und zu brüllen, wenn es später war, als sie erwartet. Die Minuten und Stunden in einer engen Zelle mit dem kleinen Fensterchen an der Decke in furchtbarster Qual zugebracht beweinte sie mit leidenschaftlichstem Schmerze und schrie oft: „O könnt’ ich diese Stunden zurückrufen!“ Vierundzwanzig Stunden vor ihrem Ende suchte sie dies Ende gewaltsam durch Selbstmord zu meiden; aber ich erfuhr nachher, daß sie diesen Versuch in der Gewißheit der Vereitelung gemacht, um dadurch vielleicht Mitleid zu erregen. Die Wärterin, ich, der Inspector, der Gouverneur, alle wurden mit wahnsinniger Wuth bittender Verzweiflung angefallen, daß wir Gnade, Aufschub vermitteln sollten. Einige Male schien sie mir reuig, andächtig, zerknirscht zuzuhören und verrieth dann den wirklichen Beweggrund, indem sie mich beim Weggehen umklammerte: „Nicht wahr, Sie sagen, daß ich nun reuig bin und von nun an ein sündenloses Leben führen werde?“

Jeder, der etwas Erfahrung in diesem Gebiete hat, weiß, wie thöricht die Behauptung ist, daß Zuchthaus oder Strafarbeit oder sonst ausgesuchte Pein für’s ganze Leben keine große Gnade für den zum Tode verurtheilten Verbrecher sein könne. Männliche fürchten ihn ebenso, wie weibliche Verbrecher. Letztere scheinen sogar oft gefaßter, weil man die schneller eintretende Abspannung, den daraus folgenden Stumpfsinn für Ergebenheit etc. ausgibt. Mary B., jung und ungemein kräftig, kam nicht zur Wohlthat dieses Stumpfsinns. Sie schrie und jammerte immer von Rettung und der gnädigen Königin. Wenn sie’s nur wüßte, wenn nur Jemand einen Augenblick ihre Qualen fühlte, könnte, dürfte sie nicht sterben! So oft sich ihre Zellenthür öffnete, sprang sie auf und spannte mit hoffnungsvollem Eifer Augen und Ohren für das Wort der Gnade. Ein ander Mal fragte sie wieder nach den geringsten Details, wie „es“ gemacht würde, wo „es“ geschehen sollte. Nie nannte sie die Vollstreckung ihres Urtheils anders als „es“. Sie erzählte oft von ihren Träumen, von Tagen, Scenen, Spielen ihrer Kindheit und Unschuld und brach dann in die entsetzlichen Krämpfe unsäglicher Qualen aus. Die Nacht vor ihrem Tode brachte sie hinter den Eisenbarren ihrer Zelle zu, Abschied nehmend vor den Sternen und der Welt voller Schönheit. Aber vom Schaffot blickte sie immer zurück nach dem Gefängnisse, von wo allein die Gnadenbotschaft kommen konnte. Ihr Gesicht ward endlich verhüllt, ihr gedämpfter Schrei erstickt von der – Fallthür.

Robert S., wegen Einbruchs und Mord zum Galgen verurtheilt, schien sein Schicksal mit Ruhe zu erwarten und auf keine Gnade zu hoffen. Ich fand ihn stets achtungsvoll und ohne Klage. Er war in allen religiösen Dingen fabelhaft unwissend, aber keiner der stupiden Idioten, wie die Meisten seiner Art, sondern zeigte löblichen Eifer, sich belehren, sich trösten, sich für den Himmel vorbereiten zu lassen. Nur bekümmerte es ihn, daß er nichts für die hinterbleibenden Seinen thun könne. Endlich glaubte er ein Mittel gefunden zu haben. Er bekam Erlaubniß, einen Anatomen, der gern Leichname kaufte, zu sprechen und sich ihm zu verkaufen. Der Anatom kam am Abende vor der Urtheilsvollstreckung und unterhandelte mit dem Verurtheilten. Da der „Leib“ meine Sache nicht war, bekümmerte ich mich weiter nicht darum, hörte aber unwillkürlich, daß der Doctor und Anatom den ihm gebotenen „Artikel“ ganz abgelehnt, gar nichts darauf geboten habe. Am nächsten Morgen wurde Robert S. vor dem Gefängnisse gehenkt und begraben. Ich hatte ihn bis zum letzten Augenblicke begleitet, getröstet und ruhig, gefaßt, männlich gefunden und nie bemerkt, daß er Hoffnung auf Milderung oder Gnade gehegt habe. Und doch hatte ich mich auch in diesem Falle täuschen lassen.

Als ich den Anatomen einige Wochen später in Gesellschaft traf, sagte er mir die Gründe, weshalb er den sonst kostbaren Robert S. nicht gekauft habe. „Die Sache ist,“ sagte er, „daß ich den Leichnam dieses Burschen schon früher gekauft hatte, er mir aber betrügerisch davon gelaufen war. Er wurde schon vor zwei Jahren einmal gehenkt und mir als Leichnam in’s Haus geliefert. Des Nachts erschreckt er meine Frau beinahe zum Tode, als er wieder zu sich gekommen und aufgestanden war. Da ich kein Henker, sondern Arzt bin, curirte ich den stiernackigen Kerl und entließ ihn nach vierzehn Tagen ganz wohl. Er versprach mir die zehn Pfund, die ich für ihn an seine Frau gezahlt, redlich wieder zu geben. Aber er hielt nicht nur nicht Wort, sondern bringt sich auch zum zweiten Male in die Schlinge – ein köstliches Beispiel für die „Abschreckungstheorie“. Ich wollte ihn nicht zum zweiten Male bezahlen. Ich hab’ ihn doch gekriegt und auch gefunden, weshalb er, wie Sie sagen, so gefaßt war. Er hatte sich diesmal nicht auf den Zufall verlassen, der ihm das vorige Mal vermöge einer ausbleibenden Verengung des Strickknotens das Leben gerettet, sondern sich mit einer silbernen Röhre versehen. – Sie sehen, wie er, einmal gehenkt, sich für den Henker bestimmt glaubte. Man sollte Verbrecher-Typen zu curiren suchen, aber nicht warten, bis sich ihre Mißbildungen entwickelt haben. – Solche Silberröhren hab’ ich schon in manchem Halse gefunden. Es ist bekannt, daß die schweren Verbrecher von Profession hartnäckig an den Nutzen dieser Röhren glauben, obgleich nie eine geholfen hat. nie helfen kann. Nachdem ich abgelehnt, hatte er mit dem Wärter verhandelt, der ihn ausgraben sollte. Der Wärter that es, und ich bekam ihn für einen civilen Preis.“

So lag selbst in diesem einzigen Falle, wo der Gefängnißgeistliche Fassung und Todesmuth gefunden zu haben glaubte, die geheime Hoffnung, mit dem Leben davon zu kommen, zu Grunde. – Der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen, und ein doppeltes, wenn er zuletzt noch angeblich zum Wohle desselben umgebracht wird.




Blätter und Blüthen.

„Was ist des Deutschen Vaterland?“ in London. Am 21. Februar Abends 8 Uhr traten in einem brillant erleuchteten, von Damen in voller Balltoilette und Herren mit schneeweißen Handschuhen reichlich gefüllten Saale den Westendes 38 stattliche deutsche Männer und Jünglinge, größtentheils charakteristische Köpfe und ausdrucksvolle, bärtige Physiognomien, in einem Halbkreise auf und fragten plötzlich mit vollem kräftigen Chor in das gemischte englisch-deutsche Publicum hinein:
  „Was ist des Deutschen Vaterland?“
Zufällig, aber doch just 38 deutsche Mitglieder des Islington-Gesangvereins – auf jeden deutschen Staat zu Hause Einer – fragten es und wiederholten die Frage immer zorniger und leidenschaftlicher, bis sie endlich in einem charakteristischen Piano die bekannte richtige Antwort gaben und dann stürmisch, schmetternd, zornig befehlend, kategorisch fordernd, in triumphirender Fuge wiederholend sich darin einigten: „Das soll es sein! Ja, das soll es sein!“ Wir wußten’s längst. Nachdem es der alte Arndt in großer, bewegter Zeit vor einem halben Jahrhundert zum ersten Male in aufflammendem patriotischen Zorne in’s deutsche Volk hineingefragt, haben wir’s zu unserer Nationalhymne, zu unserer Einheits-Standarte erhoben und immer gesungen, sobald uns das Herz für Deutschlands Ehre und Einheit schlug. Der alte Arndt ist neunzig Jahre alt geworden und hat es doch nicht erlebt, was er und seitdem Millionen mit ihm wohl millionenmal als unerläßlich und gar nicht mehr fraglich als Grundbedingung deutscher Einheit und Ehre forderten. Aber über seinem Grabe lebt es und klingt es hinaus, so weit die deutsche Zunge klingt, so weit man deutsche Lieder singt: in aller Herren Ländern, unter allen Längen- und Breitengraden regt sich und bewegt sich und verkörpert sich die alte Arndt’sche Forderung der Deutschen, die von einem andern Dichter, dem größten, universalsten, deutschesten, kosmopolitischen Schiller, in aller Welt zu sich gekommen, vereinigt, im deutschen Geiste erhoben und stolz geworden an der Verwirklichung eines einigen Deutschlands arbeiten, das vielleicht die Arndt’schen und des deutschen Volkes Forderungen einst glänzend und weit, weit um die Erde herum übertreffen wird. Die Deutschen, in aller [176] Welt, rund um die Erde herum zerstreut, haben sich nicht verloren, sind dem „Vaterlande“ nicht verloren, sondern haben alle, alle, wo nur einige Dutzende sich vereinigen konnten, in tausend Städten des weiten Amerika, in Sibirien, am Amur, in Moskau und Petersburg, in Smyrna, Athen und Constantinopel, in Rom und Turin, in Lissabon und Oporto, in London und Manchester und andern englischen Städten sich von ihrem größten Dichter zusammenrufen lassen und einen neuen Bund mit dem Vaterlande und seinen Einheitsbewegungen geschlossen.

Das Schillerfest im Krystall-Palaste in London war grandios und glänzend mit einer Schaar von etwa 14,000 Theilnehmenden. Wir erwarteten auch dauernde Wirkungen und Früchte davon. Die Krystall-Palast-Compagnie zahlte dem Comité ein Drittel der großen Einnahme. Damit ließ sich, wie allgemein gehofft ward, viel Gutes und Schönes begründen, wenigstens die „Schiller-Anstalt“ (deutsche Bibliothek, deutsche Vorträge, Concerte u. s. w.), die Dr. H. Beta schon beim Zusammentritt des ersten Comité’s am 11. October in ihren Grundrissen vorlegte. Aber die Vorbereitungen zum Feste und die Nachwehen, durch die Frechheit eines Vorsitzenden und nicht wieder loszuwerdenden Morgenländers in Mißstimmungen und Täuschungen auslaufend, unter Anderem in die, daß von der Einnahme nicht nur nichts übrig blieb, sondern auch noch nachgezahlt werden mußte, ohne daß jemals speciell Rechnung abgelegt ward, die Ängstlichkeit Anderer, die eine Schiller-Anstalt mit großem Namen und viel Capital haben wollten, verschleppten und tödteten die Anstalt. Nach vielen Wochen traten mehrere Deutsche wieder zur Bildung eines Schiller-Vereins zusammen und zwar ganz mit dem Zwecke und Plane der Schiller-Anstalt. Sie nannten gar keine Namen, geschweige große, forderten aber 300 Pfund, um anzufangen. Wie ich höre, sind zu diesem Zwecke von den 100,000 Deutschen in London fünf Pfund (von einem Einzigen) gezeichnet worden, außerdem etwa vierzig Pfund bedingungsweise von Comité-Mitgliedern. Beispielsweise führe ich an, daß Jemand fünf Pfund beizutragen versprach, wenn die 300 Pfund beisammen wären. In Manchester, mit nicht halb so viel Deutschen, fing man den Schillerverein beim Schillerfeste mit 600 Pfund an und erfreut sich seitdem der segensreichsten Wirkungen.

Die so zerstreuten und verstimmten Einheitsbedürfnisse der Deutschen in London suchen sich inzwischen nach andern Richtungen und in andern Formen geltend zu machen. Man arbeitet an der Begründung eines großen deutschen Central-Hotels, spricht von dem Baue einer deutschen Bierbrauerei (der Mangel an deutschem Bier hier hat große Schuld an deutscher Zerfahrenheit), und ein respectabler Verein „Erholung“ ruft deutsche Familien zu gemeinschaftlichen Abendessen und Bällen zusammen. Die mancherlei einzelnen deutschen Vereine haben durch das Schillerfest an Wärme, Zahl und Wirksamkeit zugenommen. Auch an einer politischen Vereinigung der Parteien zum Anschluß an die deutsche Einheitsbewegung wird jetzt gearbeitet. Manche Vertreter extremer politischer Richtungen haben bereits erklärt, daß sie dem großen Radical-Zwecke, der Einheit, alle sonstige Partei-Interessen freudig opfern würden, so daß wir Hoffnung haben, Republikaner und Royalisten, Demokraten und Constitutionelle in den einen großen deutschen Geist der Einheitbestrebungen verschmelzen zu sehen.

Auch das 38fach ertönende „deutsche Vaterland“ in einem der fashionabelsten Säle des Westendes war ein edler deutscher Einheitston vor einem gewählten englischen und deutschen Publicum, der Anfang eines „deutschen Concerts“, des ersten in London, veranstaltet von dem deutschen Ehrenmanne und Trombone-Virtuosen, Herrn Moritz Nabich, und durchweg gespielt und gelungen von deutschen Künstlern und Künstlerinnen ersten Ranges. Mit Herrn Nabich wirkten die Herren E. Pauer, Componist der Freiligrath’schen Schiller-Cantate, dem englische Anerkennung kurz darauf den Professortitel verlieh, Weiß, Pape, Svendsen und de Becker, die Damen Rudersdorff und Weiß, lauter Namen, die seit Jahren in London geehrt sind und auf englischen Concert-Programms glänzen. Wir wollen hier kein Concert-Referat liefern, sondern den Abend des 21. Februar in London nur als eine schöne, volle Blüthe deutscher Kunst und Cultur, deutschen Einheitsbedürfnisses, deutscher Anerkennung vor dem englischen Publicum verzeichnen und hinzusetzen, daß Herr Nabich und seine deutschen künstlerischen Freunde diesen Abend als den Anfang anderweitiger deutscher Kunstgenüsse betrachten, die demnächst dem Schillervereine zu Gute kommen sollen.

Musik, die schöne, flüssige Kunst, Stimmungen hervorzurufen, zu erwärmen, zu veredeln und zu beleben und diese im Leben zu fixiren, auszubauen (weshalb Jean Paul die Baukunst „gefrorne Musik“ nennt), hat in der Posaune des Herrn Nabich gewiß einen gewaltigen Baumeister gefunden, dem bereits vor Jahren die höchsten Autoritäten musikalischer Kritik, Spohr in Deutschland, Berlioz in Paris, Balfe in London etc. erste Preise ihrer Anerkennung zusprachen. Freilich das große Publicum, obgleich auch an jenem Abende ungemein enthusiastisch, muß erst lernen, verwöhnt wie es ist durch Virtuosen-Künste, diese Kunst des reinen, weichen, gesungenen Tones, der jeder Kraft und Stimmung, vom leisesten Hauche bis zum Todte erweckenden Mozart’schen „dies irae“-Donner, fähig ist, verurtheilsfrei und mit Verständniß zu würdigen. Nur solche Musik kann zur Baukunst gefrieren. Wir hoffen, daß die Nabich’sche Posaune Material zur „deutschen Vereinshalle“ in London liefere.




Ein nützliches Buch. Die Hunderte kleiner und großer Bedürfnisse des häuslichen Lebens erfordern nicht nur mancherlei Wissen, sondern auch ein vielseitiges Können, wenn wir nicht alle Augenblicke abhängig sein wollen von dem berufsmäßigen Beistande Anderer. Wer auf dem Gebiete des Könnens erfahren ist, steht in seinem Hauswesen weit selbstständiger und gesicherter da, als Andere, die sich in den tausend kleinen Verlegenheiten des Lebens „nicht zu helfen wissen.“ Ein überaus brauchbarer Rathgeber zur Erlangung dieser Unabhängigkeit ist das jetzt lieferungsweise in dritter Auflage erscheinende „Hauslexikon, herausgegeben unter Mitwirkung namhafter Gelehrter und Techniker von Dr. Heinrich Hirzel“ (Leipzig, bei Breitkopf und Härtel). Erfreute sich schon die erste und zweite Auflage des großen Beifalls, auf welchen der Name des Herausgebers Professor Dr. Fechner im Voraus die gerechtesten Ansprüche begründete, so erfreut sich die dritte Auflage erheblicher Vorzüge, welche neben der Vortrefflichkeit der Artikel das große Verdienst des Herausgebers sind, der die Redaction und den Plan des Ganzen mit musterhafter Umsicht leitet und für die chemischen und viele damit verwandten Artikel auch der befähigtste Verfasser ist. Nicht leicht können wir daher unseren Lesern und namentlich auch den Hausfrauen unter unseren Leserinnen ein nützlicheres Buch empfehlen, als das „Hauslexikon“, welches in keiner Hauswirthschaft fehlen sollte. Von den achtzehn Lieferungen (zu 20 Sgr.) sind bisher sieben erschienen. Neuerdings hat die Buchhandlung von F. A. Brockhaus in Leipzig durch ein „illustrirtes Haus- und Familien-Lexikon“ eine Mitbewerbung begonnen, welche jedoch trotz der Illustrationen dem Hirzel’schen Buche weit nachsteht und namentlich an Ungleichmäßigkeit und Planlosigkeit leidet, wenn wir auch den einzelnen Artikeln ihren Werth nicht absprechen wollen. In dem erschienenen ersten Hefte des zweiten Hauslexikons sind auf Seite 1–80 (Aachener Bäder – Accent) nur 33 Artikel, während derselbe Buchstabenumfang (Aal–Acceptation) auf 30 Seiten 63 Artikel im Hirzel’sehen Hauslexikon darbietet. Beim Aufschlagen des Brockhaus’schen Lexikons möchte man glauben, es sei auf ein naturwissenschaftliches Lexikon abgesehen, denn billig wundert man sich in einem „Handbuche für das praktische Leben“, wie es sich im Prospectus nennt, einen 8 Seiten langen Artikel über „Aasgeier“ mit 4 Holzschnitten zu finden, die, nebenbei gesagt, sehr uncorrekt und schlecht gedruckt sind. Eben so wenig erwartet man hier Abbildungen chirurgischer Instrumente, wie im Artikel „Abbinden.“




Kluge Gänse. In einem früheren kleinen Beitrage für die Gartenlaube bat ich die Leser dieses vortrefflichen Blattes, mir allerlei kleine Geschichten und Anekdoten aus dem Thierleben zusenden zu wollen, um mich dadurch in den Stand zu setzen, dieselben einem großen Leserkreise mittheilen zu können. Nachstehende verbürgte Thatsachen darf ich als Ergebniß dieser Bitte betrachten. Ich verdanke ihre Mittheilung einem Manne, welcher längst bekannt geworden ist im Vaterlande, wenn auch nicht als fleißiger, aufmerksamer Beobachter der Natur, wie ich ihn kenne. Möchten doch noch Andere bald seinem Beispiele folgen und derartige Züge aus dem Thierleben, welche auf die geistige Wirksamkeit der Thiere ein so helles Licht werfen, sammeln und veröffentlichen oder mir zur Veröffentlichung übergeben! – Diesmal mögen Beobachtungen hier Platz finden, welche der Redensart „dumme Gans“ ihren so oft mißbrauchten Stachel einigermaßen abstumpfen werden.

Dumme Gans! Ja wohl! wenn man die Gans auf dem festen Lande watscheln sieht und sie dann und wann den Kopf schief hält, gewährt sie den Anblick einer in sich vollendeten Dummheit. – Daß aber Schlauheit sich recht gut mit Dummheit verbinden kann, dafür dient folgendes Geschichtchen zum Beleg. In unserm Dorfe, in K., sitzt im Thorweg des obern Gasthofs seit undenklichen Zeiten immer eine Obsthökerin. Eine Gans sah eines Tags die schönen Aepfel im Korb und wurde lüstern danach. Sie faßte Muth, trat keck an den Korb, wollte einen Apfel stehlen, wurde aber erwischt und bekam einen Schlag auf den Kopf. Sie schlich betrübt von dannen. Aber – sie kehrte bald zurück, drückte sich an die Wand des Gasthofs und schlich langsam dem Thorweg näher. An der Ecke stand sie still. Plötzlich fuhr sie mit ihrem langen Hals herum, blitzschnell in den Korb hinein, packte einen Apfel und eilte mit ausgebreiteten Flügeln von dannen. Aus einem Hause, das dem Gasthofe gegenüberliegt, und das einen Seitenflügel des fürstlichen Schlosses bildet, hatte mein Vater die „schlaue Gans“ beobachtet, und wer die Gans „dumm“ schalt, der mußte sich von ihm die Geschichte der schlauen Gans erzählen lassen, er mochte sie anhören wollen oder nicht.

Herr Baron von M. auf St. ritt einst durch ein Dorf. Zufällig bemerkt er, wie eine Gans nach einem Riemen in die Höhe springt, der an einer Thüre hängt. Sie packt den Riemen, die Thür geht auf und die Gans wackelt in das Haus hinein. Der Beobachter reitet auf das Haus zu, fragt der klugen Gans nach und erfährt, daß dieselbe wahrscheinlich durch einen Zufall entdeckt hat, daß die Thür aufgeht, wenn an dem Riemen gezogen wird; seitdem pflegte die Gans ihr Kunststück täglich zu üben.

Ich kann diesen Geschichtchen noch eine unserer Beobachtungen beifügen, welche ebensosehr für die Klugheit der Gänse spricht. Sie betrifft einen Gansert, welcher außerordentlich gern naschte und namentlich in den Getreidefeldern seine Lüsternheit zu befriedigen suchte. Natürlich wurde er und die übrigen Gänse regelmäßig bald vertrieben, gewöhnlich vermittelst eines Hundes, welcher seine Pflicht vortrefflich erfüllte. Die Gänse lernten das ihnen feindselige Thier sehr bald kennen und fürchten, und es kam bald so weit, daß sie sich augenblicklich auf die Flucht begaben, wenn dem Hunde gerufen und er aufgefordert wurde, die Näscher zu verjagen, während sie sonst doch bei anderem Lärm ganz ruhig fortweideten. Beweist nun dieses schon die Schlauheit der Thiere, so beweist sie das Betragen des einen Ganserts noch viel mehr. Derselbe entfloh nämlich keineswegs mit seinen Genossen, sondern duckte sich so tief zwischen die Halmen des Getreides, daß er den Blicken vollkommen entschwand, blieb hier ruhig liegen und fraß weiter. Ja, zuletzt trieb er sein Versteckenspielen so weit, daß er auch die ihm geltenden Lockungen verachtete und selbst die Dorfgänseheerde an sich vorübertreiben ließ, ohne sich zu rühren. Erst wenn er gänzlich sicher zu sein glaubte, zeigte er sich wieder. – Nun spreche mir noch Einer von dummen Gänsen!
Dr. Brehm.


Für „Vater Arndt“
gingen bis heute bei Unterzeichnetem aus Leipzig ein: 5 Thlr. von Prof. Bock – 1 Thlr. L. Hofmann – 3 Thlr. Adolf Gumprecht – 1 Thlr. Dr. Steger – 1 Thlr. A. Bernsdorf – 3 Thlr. Adv. Gelbke – 1 Thlr. A. Abel – 10 Thlr. E. Keil – 1 Thlr. B. Senff – 15 Ngr. Alfred Keil – 1 Thlr. eine deutsche Frau – 4 Thlr. Alex. Wiede.
E. Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Horch, die Glocken hallen dumpf zusammen!
    Und der Zeiger hat vollbracht den Lauf!
     (Schiller’s „Kindesmörderin“.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sucht
  2. Vorlage: Todestheils