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Die Gartenlaube (1858)/Heft 51

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 51. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ich werde hingeh’n.


Ich werde hingeh’n wie der Strahl des Abends,
So wie der letzte Tageskuß verglüh’n;
Ich werde hingeh’n wie das Laub des Herbstes
Und nimmer mit dem Lenze neu erblüh’n.

Ich werde hingeh’n – Niemand wird es wissen
Und weinen um zerstörte Blüthenpracht:
Dies arme Herz, so jung und so zerrissen –
Wer hat bei seinem Leiden je gewacht?

Ich werde hingeh’n – Niemand wird es ahnen,
Daß auch ein Herz in diesem Busen schlug,
Das durch des Aethers unerforschte Bahnen
Des Geistes kühner, stolzer Fittich trug;

Daß auch ein Herz in diesem Busen glühte,
Für Gott und Menschen und Unsterblichkeit,
Und einst ein Leben in dem Leichnam sprühte,
Das keine Schranke kannt’ von Raum und Zeit.

Ich werde hingeh’n – Erde wird mich decken,
Und Alle geh’n vorüber, kalt und stumm;
Daß hier ein Leben im Erblüh’n gewelket,
Wer weiß es denn und wer – wer klagt darum?

Marie Wernicke.




Der Todtenbesuch am Skagerhorn.
Nach wirklichen Begebenheiten mitgetheilt von Ernst Willkomm.
(Fortsetzung.)


Die entsetzliche Oede von Skagenhorn, das bei dem Volke als eine von Gespenstern und Hexen bewohnte, jeglichem Menschen verderbenbringende Gegend verrufen ist, hält die abergläubigen Schiffer fern von dem mit vermorschenden Schiffsgerippen besäten Strande. Am allerwenigsten läßt sich ein Bewohner der weiter landwärts gelegenen Orte während eines Sturmes hier blicken. Und des Nachts flieht ihn vollends Jedermann. Das einzige menschliche Auge, das täglich und nächtlich auf diesen Graus fürchterlichster Zerstörung herabsieht, hat auf die Lampen des Leuchtthurmes zu achten. Für den Mann auf diesem Thurme gibt es vielleicht keine Schrecken mehr. Er ist so daran gewöhnt, daß ihm der Tag farblos und langweilig vorkommen mag, der ruhig und ohne einen Schiffbruch verläuft.

Vor uns, etwa eine Viertelstunde entfernt, sahen wir den stumpfen Thurm einer unscheinbaren Kirche oder Capelle. Der Ort war nicht eben hoch gelegen, doch mochte er nur bei hohen Sturmfluthen von den Meereswogen erreicht werden können. Auf dies Kirchlein, dessen Dach halb abgedeckt war, schritten wir jetzt zu.

Wir kamen aber nur langsam vorwärts, denn theils verhinderte uns die Wuth des Orkanes am Gehen, indem er uns wiederholt niederwarf oder doch zum Ausruhen nöthigte, um vom Luftdruck nicht erstickt zu werden, theils mußten wir über zahllose, aus dem Flugsande hervorragende Rippen und Planken zertrümmerter Schiffsreste klettern. So brauchten wir nahezu eine Stunde, ehe wir die Kirche erreichten.

Ein Kirchhof mit zerfallener Mauer zog sich um dieselbe. Er hatte, wie Alles, ein verödetes Aussehen und war offenbar schon mehrmals von brandenden Wellen überspült worden. Statt der Grabhügel sah man tief eingewühlte Gruben, die nur vom gierigen Wogenschwall der See herrühren konnten. Auch jetzt leckten die [730] Wellen wieder an den Mauertrümmern und oft spülte eine höher schwellende Woge darüber hin und verrann zischend in die Gruben oder plätscherte um die wenigen noch vorhandenen Grabhügel. Einige derselben konnten noch nicht sehr alt sein, obwohl es uns nicht recht einleuchten wollte, wie auf dieser so schauerlich öden Landspitze Jemand begraben sein mochte.

Mit einigem Erstaunen entdeckten wir, weiter schreitend, hinter der verfallenen Kirche ein einstöckiges, aus gelblichen Backsteinen aufgeführtes Haus, das, nach seinem Aeußeren zu schließen, bewohnt sein mußte. Es lag ziemlich geschützt gegen Nord- und Nordweststürme und fast in gleicher Höhe mit dem Kirchlein, das Meer dagegen mußte bei Hochfluthen allem Anscheine nach seine gefräßigen Wogen auch an den Wänden dieses einsiedlerischen Hauses zerschlagen.

Der Capitain klopfte stark an die fest verschlossene Thür. Im Innern des Hauses blieb es todtenstill. Das Klopfen ward stärker wiederholt. Nun zeigte sich ein Licht hinter dem verschlossenen Fensterladen und eine tiefe Baßstimme fragte, wer so spät in der Nacht Einlaß begehre.

„Arme Schiffbrüchige,“ lautete die Antwort des Capitains der „Olga“, worauf behutsam zwei Riegel zurückgeschoben, die Thür aufgeschlossen und nach innen geöffnet ward.

Vor uns auf schmaler Diele stand ein hagerer Mann mit schneeweißem langen Haar. Seine Tracht war mehr die eines Eremiten als eines Mannes aus dem Volke. Sie bestand aus einem grobtuchenen bräunlichen Talar und war in der Hüftengegend mittelst eines breiten Lederriemens gegürtet. Hals und Brust trug der Alte unbedeckt und nur sein langer, ebenfalls ganz weißer Bart gewährte der stark behaarten Brust einigen Schutz gegen Wind und Wetter.

„Könnt Ihr uns ein Obdach gewähren bis zum nächsten Morgen?“ fragte der Capitain, dem ehrwürdigen Alten, dessen Züge Menschenfreundlichkeit ausdrückten, die Hand zum Gruße reichend.

Der Bewohner des einsamen Hauses nahm sie, indem er das Windlicht höher hob, um die Schaar seiner unerwarteten Gäste besser überblicken zu können. Unsere Gesellschaft bestand im Ganzen aus zwölf Personen.

„Tretet ein in Frieden!“ gab er zur Antwort. „Was Niels Sturleson besitzt, steht Euch zu Diensten. Gott der Allmächtige segne und beschütze Euch!“

Er machte über uns Alle das Zeichen des Kreuzes und bald standen, saßen und lehnten wir in dem schmucklosen Raume, der zugleich Wohn- und Schlafzimmer des würdigen Einsiedlers war.

Auf dem Heerde glimmten noch einige Torfkohlen, das Feuer schien aber schon geraume Zeit ausgebrannt zu sein. Niels Sturleson, dessen eigenthümlicher Dialekt uns schon seine isländische Abstammung verrieth, hatte sich trotz des fürchterlichen Sturmwetters doch vertrauensvoll der Ruhe überlassen. Sein bescheidenes Lager war eingedrückt. Er bot es freundlich Henricksen, der stark angegriffen war, zur Benutzung an, was indessen mein Freund ablehnte.

Auf die Frage des Capitains, ob ihn denn dies Rasen der Elemente in seiner traurigen Einsamkeit nicht beunruhige, versetzte er lächelnd:

„Weshalb sollte ich mich beunruhigen? Wir stehen überall in der Hand des Allmächtigen, und wer, wie ich, von Jugend auf an furchtbare Naturerscheinungen gewöhnt ward, der ist, was sich immer ereignen möge, frei von jeglicher Furcht.“

Aus seinen weiteren Antworten auf an ihn gerichtete Fragen erfuhren wir, daß er keine Ahnung von den schrecklichen Scenen hatte, die wir so eben erst als Mitleidende und Zuschauer erleben mußten. Strandungen waren ihm nichts Neues, der Brand des Dreimasters aber mußte ihm unbekannt bleiben, da er bei fest geschlossenen Fenstern still in seinem Hause saß.

„Ich würde morgen früh die Verwüstungen der Elemente mit bebendem Herzen betrachtet haben,“ sprach der Greis, als er unsere Schilderung der erlebten Schrecknisse schweigend vernommen hatte. „Nach jedem nächtlichen Sturme durchwandere ich das Skagener Horn, um zwischen den verwitternden Leibern halb versunkener Schiffe nach menschlichen Leichnamen umherzuspähen, etwa noch Lebende, der Hülfe Bedürftige zu retten und die Todten christlichem Gebrauche nach nebenan auf dem Kirchhofe zu beerdigen. Diese Pflicht übe ich hier schon über zwanzig Jahre aus. Es gehört Entsagung dazu und ein unerschöpflicher Quell wahrer Menschenliebe, um das Amt eines Todtenbestatters – denn etwas Anderes liegt mir nicht ob – auf dieser von Menschen und Thieren geflohenen Sandzunge mit Liebe und ohne Murren zu verwalten. Als mein Vorgänger starb, wollte sich kein Geistlicher mehr finden, der die Stelle übernehmen mochte. Da entschloß ich mich dazu. Hatte ich doch immer einsam und zurückgezogen gelebt. Bedürfnisse feineren Lebens kannte ich nie, denn meine Eltern waren blutarme isländische Fischer. Im Darben bin ich erwachsen. Warum sollte ich nicht thun, was Andere mit Entsetzen erfüllte? Was ich zum Leben brauche, wird mir gebracht. Die wilde Natur, die Schrecken der Stürme und des langen Winters nöthigen mich stets zur Einkehr in mein Inneres, und so kann ich nicht sagen, daß ich anderswo als hier zu leben wünsche. Wer seinen Tod in der See findet und dann hier als Leichnam antreibt, den segne ich ein und bestatte ihn zu den Andern. Es finden sich da Menschen zusammen aus allen Nationen. Selbst ein Negerpaar habe ich einmal da drüben begraben.“

Der Mann ward beredt und wir hörten ihm Alle gern zu. Er trug auf, was sich in seiner Vorrathskammer fand: schwarzes Brod, Käse und eine Karaffe echten Schiedamer. Auch Feuer versuchte er anzuzünden, um ein heißes Getränk bereiten zu können, der mit gleicher Heftigkeit forttobende Sturm aber blies die Flammen immer wieder aus und erfüllte das ganze Haus mit so erstickendem Torfrauche, daß der gute Alte von seinem Vorhaben abstehen mußte.

Niels Sturleson war sonach Todtengräber und Geistlicher zu gleicher Zeit. Nur ein so einfacher, bedürfnißloser Mann, wie dieser ehrwürdige Isländer, konnte einem so schwierigen, ja abschreckenden Amte vorstehen. Selten nur sprach er Menschen, noch seltener glückliche Menschen. Wer an seine Thür klopfte, den verfolgte das Unglück. Und zitterte eine Thräne des Dankes an der Wimper solch’ eines Fremdlings, so trübte dies Dankgefühl doch gewiß ein Tropfen Wermuth. Er hatte entweder Verwandte oder Freunde verloren oder betrat doch, wenn allein, völlig mittellos die Wohnung des gottesfürchtigen Todtenbestatters.

Mehrere von der Mannschaft der „Olga“ äußerten ihre Verwunderung über Sturleson’s milde Freundlichkeit.

„Ich möchte hier nicht einmal todt sein, wie man wohl zu sagen pflegt,“ rief Henricksen aus.

„Es muß sich bei alledem hier doch ganz gut leben lassen,“ versetzte darauf mit seiner milden Ruhe der alte Isländer. „Mein Vorgänger war über neunzig Jahre alt, als Gott ihn abrief, und ich gehe auch schon in das neunundsiebzigste. Trotzdem fühle ich mich stets wohl und kräftig, und all’ die vielen Leiden glücklicher Städter, denen die Freuden und Genüsse der ganzen Welt zu Gebote stehen, fechten mich nicht an. Manchmal gibt es auch gar interessanten Besuch.“

„Von Schiffbrüchigen, die so glücklich waren, wie wir?“ warf ich ein. „Kann man das Glück nennen?“

Niels Sturleson schüttelte sein Silberhaar.

„Nicht von den Lebenden, nur von den Todten spreche ich,“ gab er zur Antwort.

„Von den Todten?“ rief Henricksen.

Der Alte sah ihn mißbilligend an.

„Von ihnen können wir oft mehr lernen, als von den Lebendigen,“ fuhr er fort. „Was steht nicht Alles geschrieben in dem Antlitze eines Verstorbenen, den der Tod unerwartet überrascht, der aber, bevor er dessen Beute wird, diesem Stunden lang in das unerbittlich kalte, hohle Auge schauen muß? O, wie klein, wie hinfällig, wie ganz machtlos erscheint der Mensch in solch’ entscheidenden Augenblicken! Da bricht der Stolzeste in sich zusammen und schreit, oft nur aus Verzweiflung, um Erbarmen, während der Demüthige nur sanft die Lippe bewegt und zum letzten Dank- und Bittgebet die Hände faltet. Die vielen Jahre her, die ich nun auf diesem wüsten Erdflecke Todtenbestatter bin, habe ich die Gesichtszüge so vieler Todten studirt, daß ich mir getraue, jedes so rasch Verstorbenen Lebenslauf daraus zu entziffern. Nur weil sie todt sind, unterlasse ich es, denn wem möchte es nützen, wenn ich auftreten und sagen wollte: der da mit der schlaff herabhängenden Lippe, mit den offenen stieren Augen, mit den krampfhaft ineinander geflochtenen Händen war ein Mann mit bösem Gewissen? Er hatte betrogen, verleumdet, heimliche Sünden getrieben oder Mord lastete auf seiner Seele? Nein, ich schweige, schweige immer und [731] trete nur zugleich mit dem Geiste des Abgeschiedenen als Fürbitter vor den Thron des Höchsten, ihn seiner Gnade und Barmherzigkeit empfehlend.“

Diese Rede machte auf uns Alle einen fast erschütternden Eindruck. Ich mußte unwillkürlich an das dämonisch verzerrte Gesicht des Unglücklichen denken, der mit dem stürzenden Maste des brennenden Schiffes sein Grab im Meere fand. Wenn die See morgen oder übermorgen diesen Todten an’s Land spülte und Niels Sturleson fand den Leichnam zwischen zerbrochenen und halb verbrannten Schiffstrümmern, welche Verbrechen, welch’ ein wild und leidenschaftlich durchrastes Leben las er dann heraus aus seinem mit dem Siegel des fürchterlichsten Entsetzens, der qualvollsten Seelenpein bezeichneten Antlitz?

In diesem Augenblicke ließ sich ein Geräusch vernehmen, das uns Alle verstummen machte. Es war ein Laut, der wie der Schrei eines verzweifelten Menschen klang. Nur die Todesangst vermag solche Töne der Menschenbrust zu entlocken. Aber er verhallte in dem Gepfeife des Windes, in dem Donner des Meeres, das seine hoch aufgethürmten Brandungswogen gegen die Küste und die zerbröckelnden Trümmer des wüsten Kirchhofes schleuderte.

„Es ist ein Mensch in Todesnoth,“ sprach Niels Sturleson und entzündete das bereitstehende Windlicht. „Mein Amt gebietet mir, zu helfen, wenn Hülfe noch möglich ist. Wer von Euch will mich begleiten?“

Der Capitain, Henricksen und ich standen gleichzeitig neben ihm.

„Dort sind Lichter,“ sprach er. „bedient Euch.“

Abermals wimmerte der fast heulende Schrei durch das Rasen des Sturmes.

Niels Sturleson entriegelte die Thür und stieß sie auf. Der Schein unserer Lichter fiel blendend hinaus in die Nacht und erhellte einen Theil der Kirche und des Todtenackers. Der Anblick, welchen jetzt die nächste Umgebung bot, war düster und beunruhigend. So weit das Auge reichte, sahen wir nichts, als eine schaumbedeckte Fläche die sich strudelnd hob und senkte. Ueber die Mauern des Kirchhofes stürzten Ströme salzigen Wassers, umstrudelten die Grabhügel und zerwühlten den lockern Sandboden. Die Sturmfluth peitschte das Meer weit über das ganze Flachland des gespenstigen Skagerhorn. Und mitten in dieser stürmenden Brandung, die auch schon an den Wänden des Hauses leckte, das uns jetzt Schutz gewährte, stand einsam eine Menschengestalt. Langes, wirres Haar flatterte um ein angstverzerrtes Gesicht, er klammerte sich um ein zerbrochenes Ruder, das er fest in den Sand gebohrt hatte, um von den sich schnell folgenden Spritzwellen der Brandungen, die ihn fort und fort mit Schaum überschütteten, nicht fortgerissen zu werden. Die verlöschenden Lohen des Schiffes beleuchteten ihn, daß er einer glühenden Statue glich.

Der Anblick unserer Windlichter gab ihm Muth. Sturleson rief und winkte ihm zu. Er verstand die Andeutungen des ehrwürdigen Greises, riß das zerbrochene Ruder aus der Erde und watete dem Hause zu, wobei das strudelnde Wasser ihm bis über die Hüften reichte. Es war der Mann vom brennenden Dreimaster, den wir zugleich mit dem Maste in’s Meer stürzen sahen.

Züge und Augen wie dieses Schiffbrüchigen hatte ich nie zuvor erblickt, auch sind sie mir später nicht wieder vorgekommen. So etwa, denke ich, müßte der Fürst der Hölle aussehen, wenn er sein flammendes Reich zu Grunde gehen sieht. Des Isländers Worte fielen mir wieder ein, und daß auch Niels Sturleson von dem Anblicke des eben dem Tode Entronnenen erschreckt ward, konnte ich an dem Zittern seiner Hand bemerken.

„Tretet ein in Frieden,“ redete der Greis ihn an und bot ihm die Hand.

Der Fremde folgte der Einladung, die dargebotene Hand aber nahm er nicht an. Ein fürchterliches Hohnlächeln zuckte auf seinem Antlitze, als er die Schwelle mit seinen nackten Füßen berührte.

„Verdammt sei das Feuer, das aus den Wolken herabfiel auf den Isaak!“ rief er fluchend. „Es hat die ganze Mannschaft gefressen, und verdammt will ich sein, wenn ich und die zwei Ratten, die mit mir zugleich über Bord gingen, nicht die einzigen Creaturen sind, die der Alte nicht zu packen kriegte. Gebt mir ein Glas steifen Grog, oder die Gebeine fallen mir auseinander, wie das Gestein da auf Eurer dummen Kirche und das Erdreich über den Särgen. Die Todten müssen aufwachen bei diesem Sturme oder ich weiß nicht, was Blasen heißt!“

Sturleson verstummte vor dieser sündhaften Rede. Er trat zurück in das Zimmer, dem Schiffbrüchigen den Vortritt lassend.

„Laßt Euch genügen an dem, was diese Männer, die ebenfalls Schiffbruch gelitten haben, bei mir fanden,“ sagte der Isländer nach kurzem Besinnen. „Gott will nicht, daß die Heerdflamme brennen soll, wenn seine Boten auf Flügeln des Sturmwindes über Länder und Meere schweben!“

Der Fremde lachte verächtlich und hob drohend die Hand gen Himmel.

„Wollte, sie wären ersoffen oder hätten sich die Flügel verbrannt an unsern flammenden Masten!“ grollte der wüste Mensch.

„Wer seid Ihr, Mann, daß Ihr Euch nicht entblödet, kaum dem Tode entronnen, den Allmächtigen zu lästern?“ sprach Sturleson mit strafendem Ernst. Seine Worte machten indeß auf den Fremdling durchaus keinen Eindruck.

„Wer ich bin?“ erwiderte er. „Nun, ich denke, ein Kerl, wie sie nicht alle Tage geboren werden! Ich fürchte mich vor Niemand, weder vor Menschen, noch vor Gott und Teufel, und darum hab’ ich auch immer Glück gehabt!“

Er sah sich während dieser Worte rund im Kreise um, und warf uns Allen einen scheuen, aber scharfen Blick zu.

„Denke hier unter Männer zu kommen,“ fuhr er fort, „nicht unter schwachsinnige Betschwestern, und meine, wir Alle, die der Satanswind hier zusammengeweht hat, wir wollen, wenn er sich müde und matt geblasen, am nächsten Tage oder übermorgen die verlorenen Schätze wieder zusammentragen, die am Strande aufgehäuft liegen müssen. Der Isaak, Gott straf mich, hatte über eine Million Werth an Bord!“

„Betet lieber und danket Gott, daß er Euch aus so großer Noth gnädig errettete!“ ermahnte Sturleson.

„Still, alter Narr!“ rief der Fremdling. „Bete meinetwegen, so viel Du willst, wenn es Dir Spaß macht, mir kann das Geplärr nichts nützen. Dein Genever ist mir lieber. Der wärmt und macht Leib und Seele wieder geschmeidig. Hand her!“ rief er mir zu. „Seid mein Camerad, und helft mir den Strand plündern! Ich thu’ es, Gott straf’ mich, denn es ist beim helllichten Teufel das beste Geschäft, und ich versteh’ es, denk’ ich, aus dem Grunde!“

Er fiel wieder in ein rohes, wüstes Lachen, vor dem wohl den Meisten unter uns graute.

Da ich seine Hand nicht annahm, reichte er sie dem neben mir stehenden Henricksen. Er sah ihn dabei gerad’ an, konnte aber den Blick, dem er begegnete, nicht aushalten, und schlug sogleich die Augen wieder zu Boden.

„Raub und Plünderung also ist Euer Gewerbe?“ sprach Niels Sturleson voll Abscheu. „Fürchtet Ihr Euch denn nicht der Sünde, armer Mann?“

„Sünde?“ versetzte dieser. „Thun die Großen der Erde was Anderes? Narrheiten! Klug ist nur der, der an sich reißt, was er bekommen kann, und wer es versteht, am meisten zusammen zu raffen, der gelangt zu Ansehen und Macht, und kann das Geplärr der Pfaffen verlachen!“

Henricksen entzog ihm ebenfalls seine Hand.

„Wollt auch nicht?“ fuhr er fort. „Nun so gedenk’s Euch der Teufel!“

Er kehrte sich um und griff nach der Flasche, um sein Glas auf’s Neue zu füllen.

„Wie heißt Ihr denn?“ fragte Henricksen. „Man will doch erst wissen, mit wem man zu thun hat, ehe man einen Entschluß faßt.“

„Wie ich heiße? … Ha, ha, ha, ha! … O Ihr grundehrlicher Mann! Wahrhaftig, vor Euch könnt’ ich mich demüthigen, wenn ich überhaupt vor irgend Jemand Respect hätte! Wollt Ihr meinen ganzen Namen wissen?“

„Mit dem halben wäre mir nicht gedient,“ sagte Henricksen kühl.

„Nun, da paßt ’mal richtig auf, grundehrlicher Mann! Ich heiße Jan Philipp Wetterhahn oder, wenn Euch das besser paßt: John Niclas Peter Bobbleton, oder falls Ihr einen längeren Namen vorziehen solltet: Peter Paul Orlof Nikolajewitsch, oder auch, damit jede Nation etwas abbekommt und sich nicht über mich beschweren darf: Don Carlos Juan de los Muellos y Be–“

Ein Sausen und Brausen, vor dem das ganze Haus erzitterte, machte den unheimlichen Mann plötzlich verstummen. Der Zug des starren Entsetzens, der seinen Zügen tief eingeprägt war, zeigte sich wieder deutlicher auf seinem Gesicht, und aus kaltem, [732] glanzlosem Auge flatterten irre Blicke von Einem zum Andern. Es war doch, als kenne der wüste Mensch nicht nur die Furcht, sondern als werde er sogar bisweilen ganz von ihr gefangen genommen.

„Was kann das sein?“ fragte er den Greis, der mit gefalteten Händen gen Himmel blickte.

„Gott ist es, der sich uns nähert in Feuerflammen, in Windesbrausen und auf Meereswellen!“ gab Sturleson ernst zur Antwort. „Die Fluth schlägt an mein Haus – ich kenne ihre Stimme. Sie wird es zerschmettern, und die aufgehende Sonne wird auch uns als entseelte Leichname auf dem Meere treiben sehen!“

Welche Veränderung bei diesen Worten des Greises in dem Antlitze des ruchlosen Räubers – denn dafür mußten wir ihn allesammt halten – vorging, ist nicht zu beschreiben. Sein Muth war dahin, sein freches Lachen verstummte. Er zitterte, wie ein hinfälliges, lebensmüdes Mütterchen. Seine Augen rollten und stierten dann wieder glanzlos in’s Leere, und wenn das verhängnißvolle Dröhnen des anschlagenden Schwalles sich wieder hören ließ, bebte er zusammen.

Durch die Ritzen der Fenster träufelte nach jedem solchen Schwalle Wasser, rieselte an den Wänden nieder und überströmte bald auch den Zimmerraum. Niels Sturleson hatte die Wahrheit gesprochen. Die Heftigkeit des Sturmes thürmte die Wogen des Meeres zu ungewöhnlicher Höhe auf, und wir Alle mußten uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß uns diese schreckenvolle Nacht doch wohl noch den Tod geben werde.

In so ernsten Augenblicken ist der echte Seemann ruhig und sieht ergeben seinem Schicksale entgegen. Retten konnten wir uns nicht, wenn das schwache Backsteingebäude von dem Anprall der Wellen zerschlagen ward. Eine sicherere Zufluchtsstätte gab es für uns nicht, wenn es nicht möglich war, den höheren und festeren Thurm der Kirche zu erreichen.

Unser Capitain trat mit dem Vorschlage hervor, diesen Versuch zu machen.

Niels Sturleson schüttelte sein Silberhaupt.

„Es würde fruchtlos sein,“ sprach er. „Die Kirche liegt gegen achtzig Schritt von hier entfernt, und zwischen diesem Hause und ihr wälzt sich jetzt schon ein reißender Meerstrom. Empfehlen wir unsere Seelen Gott, ersteigen dann das Dach und erwarten da, was der Allmächtige über uns verhängt hat!“

Er bedeutete uns, niederzuknieen. Wir folgten Alle seinem Winke. Auch der Mann mit den vielen Namen sank halb betäubt in die Kniee. Niels Sturleson sprach nun mit erhobener Stimme ein Gebet, das wir andächtig wiederholten. Der Fremde lallte nur, während ihm die Zähne klapperten.

(Schluß folgt.)




Eine Rattenschlacht.

In dem Glauben, daß ich schon Alles kenne, was London Interessantes in sich schlösse, machte ich mich eben zur Abreise bereit, als mein gefälliger Cicerone, Mr. Thompson, mich fragte, ob es mir vielleicht angenehm wäre, mit anzusehen, wie Ratten von Bullenbeißern erwürgt würden; und als er das Erstaunen und den Widerwillen bemerkte, mit welchem ich seinen Vorschlag anhörte, setzte er hinzu:

„Sie haben in der That einen sehr feinen Geschmack, mein Herr; indessen gehört gerade dieser Zeitvertreib zu den Unterhaltungen, die von den geachtetsten Leuten unserer Stadt gesucht werden!“

Dieser Ueberredungsgrund bestimmte mich, und außerdem war ich überzeugt, daß meine Anwesenheit keiner einzigen Ratte mehr als sonst das Leben rauben würde.

Ich machte es nun ganz so, wie Mr. Thompson, ich zog einen schlechten Kittel an und bedeckte mein Haar mit einer schottischen Mütze. In diesem Aufputz lenkten wir unsere Schritte nach den finstersten Straßen und den ungesundesten Quartieren des bevölkertsten Stadttheiles, nicht weit vom Tunnel.

„Die Polizei,“ so sagte mir Mr. Thompson, „widersetzt sich allen Vergnügungen dieser Art, und aus diesem Grunde suchen dieselben nur da ihren Schauplatz aufzuschlagen, wohin jene ihnen kaum zu folgen vermag.“

Wir traten in ein erbärmliches Haus ein, wo eine Frau, die sonst beinahe ohne alle Kleidung, aber doch mit dem unvermeidlichen schmutzigen Hute versehen war, einigen am Tische sitzenden Männern Branntwein einschenkte; sie wies uns mit einer Handbewegung, ohne daß sie sich erst die Mühe nahm, uns anzusehen, nach dem Schauspielsaale, welcher von dem traurigen Scheine der in seiner Mitte aufgehangenen Lampen etwas eingeräuchert war. Der Sandplatz, welcher unter der Beleuchtung war, bildete ein Viereck von ungefähr zwölf Meter im Umfange, und war mit einer aus Planken fest zusammengefügten Scheidewand, ein Meter hoch, umgeben.

Der Director des Etablissements, ein kräftiger Mann mit rothen Haaren, erwartete mit Gleichmuth sein Publicum; er saß vor der Hand auf einem Kasten, welcher eine Anzahl von 50 Ratten enthielt, und diese Thiere liefen in der größten Unordnung in ihrem engen Gefängnisse umher.

„Aber woher,“ rief ich aus, „so viel Ratten, um den Verlust, der sich täglich wiederholt, auszugleichen?“

„Man verschafft sich dieselben,“ antwortete mir Mr. Thomson, „bei den armen Leuten, deren einziger Erwerbszweig darin besteht, daß sie diesen Thieren gestatten, sich in ihren Häusern möglichst zu vermehren; und zu diesem Zwecke ist es auch nöthig, sie gut mit Futter zu versehen, damit sie sich nicht etwa unter einander selbst auffressen. Und ihr Unterhalt ist nicht theuer, denn so viel man weiß, sind diese lustigen Thierchen nicht eben sehr schwierig in der Wahl ihrer Nahrungsmittel.“

Während dieser Auseinandersetzung sahen wir acht bis zehn Herren von vornehmem und ernstem Gesichtsausdrucke eintreten und uns gegenüber Platz nehmen; sie waren aber alle gekleidet wie gemeine Leute.

Mr. Thompson neigte sich an mein Ohr und sagte: „Unter den Neuangekommenen ist der Herr mit den weißen Haaren, der schottischen Mütze und dem grünen Mäntelchen Lord G…; der Herr links von ihm ist Lord S… Die andern Zuschauer sind mir zwar unbekannt, aber nach ihrem vornehmen Benehmen und nach der Ungezwungenheit zu urtheilen, mit welcher sie zu den Lords reden, müssen sie eine hohe Stellung bekleiden.“

„In diesem Falle,“ meinte ich, „ist das Glück des Rattenmannes sicher gemacht …“

„Sie glauben doch nicht,“ erwiderte Mr. Thompson, „daß unsere Lords sich von andern Menschen unterscheiden, die nur dann großmüthig sind, wenn die Oeffentlichkeit sie für ihre Edelthaten mit Ruhm bezahlt? Diese Herren werden wie wir sechs Pence für jeden Rattenkopf bezahlen, mehr nicht!“

In diesem Augenblicke trat der Mann in den Circus ein, verschloß die Thüre desselben sorgfältig, und zog den Boden des Rattenkäfigs, den er zwischen seinen Händen hielt, heraus, so daß die darin befindlichen Schlachtopfer auf den Erdboden herabstürzten. Das gab ein unerhörtes Durcheinander; die unglückseligen Ratten durchstöberten den ganzen Raum des Sandplatzes, in der Hoffnung, einen Ausweg zu finden, und rannten in schrecklicher Weise an einander; man hätte glauben mögen, sie hätten eine Art von Vorahnung ihres gräßlichen Endes empfunden. Ich fragte mich im Stillen, welches Vergnügen Jemand an diesem barbarischen Schauspiel finden könnte, welches nur den Anblick eines plötzlichen Hinwürgens ohne einen möglichen Kampf darböte; zugleich aber lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Zuschauer, welche der Elite einer Nation angehörten, die auf ihre humanen Gesetze stolz ist.

Unterdessen setzten die Ratten mit der Unordnung, die eine Folge des Schreckens war, ihre früheren Entdeckungsreisen fort. Einige von ihnen indeß schienen weniger aufgeregt und beschnoberten einander, wo sie sich trafen, so daß es fast schien, als wollten sie sich gegenseitig guten Rath geben oder auch auf ewig Abschied von einander nehmen, denn bereits ließ sich das Gebell der Hunde vernehmen. Da fielen uns drei Ratten in die Augen, die sich nicht von der Stelle bewegten, sondern sich eng an einander drängten und in gerader Linie aufstellten, wie zur Musterung. Die größte von ihnen, die in der Mitte zwischen den andern saß, schien von dem ganzen Lärm unberührt zu bleiben; ihre gebleichte

[733]

Eine Rattenschlacht.

Schnauze kündigte ihr hohes Alter an, ihre matten Augen ließen vermuthen, daß sie blind wäre. Desto mehr Bewegung zeigten aber ihre beiden Gefährten, die sich an ihre Seite drängten, in ihren Barthaaren und ihren blitzenden Augen.

Jetzt erschien der Director des Etablissements wieder, die Hemdenärmel bis über die Ellenbogen zurückgestreift; er hielt in jeder Hand einen mittelgroßen Bullenbeißer, den er am Halsfelle gepackt hatte. Diese Hunde boten den Anblick der Wuth und Wildheit und stürzten sich jetzt wie toll auf ihre Opfer, so daß sich in kurzer Zeit der Sandplatz mit Leichen und Blut bedeckte.

Die drei Ratten waren gerade durch ihre Unbeweglichkeit dem allgemeinen Blutbade entronnen; aber nun kamen auch sie an die Reihe. Sie schienen es zu wissen, und indem sie ihr Gebiß sehen ließen, zeigten sie große Entschlossenheit. Der eine von den beiden Hunden war von dem Schauplatze entfernt worden; der andere, der zurückblieb, stürzte sich auf die Ratte in der Mitte; aber in dem nämlichen Augenblicke wurde er auf jeder Seite seines Maules von den Zähnen derer gepackt, die die Obhut über die alte Ratte auf sich genommen hatten. Jetzt schüttelte der Hund wüthend seinen Kopf und befreite sich so ohne große Mühe von dem sonderbaren Schnurrbart, den ihm seine beiden Gegner angesetzt hatten, als sie sich an seiner Nase festbissen; sodann stieß er einen wilden Schrei aus und erneuerte seinen Angriff; aber die beiden Ratten sprangen zu und bissen sich an derselben Stelle, wie früher, ein, so daß dem Hunde das Blut die Backen herablief. Dadurch wurde [734] die Wuth des Bullenbeißers nur verdoppelt; er blieb fast unempfindlich bei diesem neuen Angriffe, zermalmte die alte Ratte zwischen seinen furchtbaren Kinnbacken und entledigte sich seiner Feinde wieder, indem er wüthend den Kopf schüttelte. Nun wollte er eben eine von den andern beiden packen, als dieselbe, die Bewegung des Hundes beobachtend, ihm plötzlich auf den Rücken sprang, denselben als Sprungbret benutzte und sich von da auf die Barriere hinaufschwang, die den Lords als Stütze diente, so daß dieselben sich erschrocken zurückbeugten. Von diesem Platze aus prüfte das keuchende Thier, wie ein Beobachter, was sich ereignen möchte, und mußte unmittelbar darauf mit ansehen, wie die Knochen seines Waffenbruders zermalmt wurden.

Lord S. bewegte unwillkürlich seine Hand schützend nach der beobachtenden Ratte, als hatte er den verzweifelten Entschluß des armen Thieres errathen; aber dieses Gefühl der Theilnahme war von keinem Nutzen: der letzte Märtyrer sprang schnell hinab auf den Sandplatz; er wollte ohne Zweifel diejenigen nicht überleben, die ihm theuer gewesen waren.

Die Folge dieser Thatsache war ein allgemeiner Ausruf der Verwunderung. Lord S. streckte seine Arme nach dem Circus hinab, befahl dem Director, die todten Körper der drei Ratten aufzuheben, um sie ausstopfen zu lassen und sie zum Andenken an ihre Tapferkeit aufzubewahren. Alsdann gab der edle Engländer einem Diener einen Wink und schickte ihn mit einem Auftrage weg. Sowie sich derselbe entfernte, bat er die Zuschauer, sie möchten noch einige Minuten verweilen, wenn sie wünschten, daß das Schauspiel einen allgemein befriedigenden Schluß gewähre. Bald darauf kam der Diener zurück und brachte einen kräftigen Bullenbeißer mit, den man zu dem Rattentödter hineinließ. Der Kampf, der sich jetzt zwischen den beiden Hunden entspann, war nicht von langer Dauer; nach wenigen dumpfen Gurgeltönen lag das Thier auf dem Fußboden ausgestreckt und die Ratten waren gerächt.

Der Leichnam des kleinen Hundes durfte sich mit seinen Schlachtopfern in die Ehre theilen, ausgestopft zu werden, und der Künstler, der mit dieser Arbeit betraut wurde, gruppirte diese Thiere so, daß ihre Stellung an das vorhergegangene Ereigniß erinnerte. Diese Gruppe hat aber natürlich in der Gallerie von Natur- und Kunstgegenständen, deren Besitzer Lord S. ist, einen geeigneten Platz gefunden. –




Ein aufgelöstes Räthsel.
Von E. Pirazzi in Offenbach.
(Fortsetzung.)


Der Ort der Aussetzung. – Besuche bei Carolinen. – Ihr Betragen und ihre Aeußerungen. – Ihre Flucht aus dem K.’schen Hause. – Der Artikel in der Gartenlaube und dessen Folgen. – Caroline kommt in das Eck’sche Haus. – Die Lüge und die Katastrophe. – Die Flucht.

Dieser Versuch, den Wald und das Dorf ausfindig zu machen, wo sie nach ihrer Aussetzung durch Bertha hingelangt war, ist auch, und zwar bereits im März 1856, mit Carolinen unter Anführung des Herrn Eck und in Begleitung seiner Tochter und eines Gensd’armerie-Brigadiers gemacht worden. Auch er trug nur dazu bei, Carolinens Wahrhaftigkeit auf’s Neue und Vollständigste zu beglaubigen; in Bezug auf die Wiedererlangung des ihr auf ihrer früheren Irrfahrt angeblich entwendeten Medaillons mit dem Bildniß ihrer Mutter (eigentlich Hauptzweck der ganzen Inspectionsreise) ergab sich indeß trotz der eifrigsten Nachforschungen kein Resultat. Aber es gelang, die Mehrzahl der Orte festzustellen, durch die sie damals gekommen war, und wo man sich zum Theil der seltsamen, kein Deutsch verstehenden Person noch erinnerte. Als jener Ort, bei dem Caroline „ein groß Wasser“ auf einer Brücke passirt hatte, ergab sich unzweifelhaft Aschaffenburg am Main; von da war ihr Zug in’s Hessische hinübergegangen, jenseits Aschaffenburg aber verlor sich alle Spur. Auch fand sich nach Carolinens Beschreibung sogar der Ort wieder, worin sie in einem einzelnstehenden Hause übernachtet haben und bestohlen worden sein wollte: es war in dem bairischen Dorfe Stockstadt a. M. Jenes Haus war damals auch wirklich, wie sich ergab, von Weibspersonen nicht des besten Rufes, und ziemlich mit Carolinens Beschreibung stimmend, bewohnt gewesen, diese aber leider jetzt theils gestorben, theils fortgezogen.

Neugierde und Interesse trieb viele Personen nach Offenbach, die Caroline zu sehen begehrten. Diese fanden sich jedoch von ihrer äußern Erscheinung meist sehr enttäuscht und abgestoßen, weil sie sich vielleicht von dem Mädchen mit der romantischen Geschichte auch in dieser Hinsicht etwas Besonderes erwartet hatten. Indeß trugen ihre Züge weder den Stempel adliger Geburt noch solcher Gesinnung, sie waren scharf und grob geschnitten, der Mund groß, die Figur untersetzt und von schlechter Haltung, obwohl sie das Köpfchen gelegentlich recht hoch zu tragen wußte. Ihre gebogene Nase, wie sie bei uns allerdings selten vorkommt, schien uns ein sprechendes Zeichen ihrer ungarischen Abkunft, und ihr zeitweilig hervortretender starrer Eigensinn war von Kennern ganz speciell für „echt ungarisch“ erklärt, während wir darin noch obendrein die, so zu sagen, unbewußte Empörung des edlen Blutes in ihr gegen den Druck der sie umgebenden, ihrer unwürdigen Verhältnisse zu sehen liebten.

Sie mochte es durchaus nicht leiden, sich von Fremden besucht zu sehen, vielleicht weil sie fürchtete, von einem derselben einmal erkannt zu werden, und that dann auch alles Mögliche, die Besucher bald wieder zu verscheuchen. Ihre Erscheinung war dann so uninteressant und unliebenswürdig wie möglich. Sie stand da, die Augen niedergeschlagen, mit einer wahren Armensünder- und Idiotenmiene, spielte mit den Händen verlegen an den Säumen ihrer Schürze, weinte vielleicht stille in sich hinein (über Thränen hatte sie überhaupt jeder Zeit mit voller Freiheit zu verfügen), gab auf die eindringlichsten Fragen im besten Fall eine leise, flüsternde Antwort, kurz, erschien von einer fast blödsinnigen Blödigkeit, Menschenscheu und Stupidität, mit keinem Zuge die ihr innewohnende Intelligenz verrathend.

Indeß traten ihre häuslichen Untugenden immer schärfer hervor. Eigensinn, der sich oft bis zum Starrsinn steigerte; übertriebene Empfindlichkeit, Launenhaftigkeit, Unempfänglichkeit für empfangene Wohlthaten, Unanstelligkeit, ein gewisser verschrobener Dünkel, endlich, wir dürfen es nicht verschweigen, eine immer entschiedener hervortretende Neigung zur Heuchelei und zur Lüge. Ebensowenig aber darf verschwiegen werden, daß sie im Punkte des Eigenthums durchaus ehrlich war, nie auch nur das Geringste veruntreute, sowie, daß sie stets einen züchtigen Wandel führte.

Ihr Lehrer war zwar keineswegs blind für gewisse ausgesprochene Unarten und Untugenden seiner Schülerin, allein in seinem natürlichen und nur zu erklärlichen Wohlwollen gegen sie immer geneigt, sie aus der Natur der Verhältnisse und, wie gesagt, theilweise unrichtiger Behandlung herzuleiten, folglich zu entschuldigen. Auch hatte sie eine treffliche Art, allen gegen sie bei Herrn Eck sich vorbereitenden Klagen bei ihm damit zuvorzukommen, daß sie eine betrübte Miene aufsteckte, auf sein dringendes Befragen nach der Ursache derselben dann meist in Thränen und zuletzt gewöhnlich in die Worte ausbrach: „Die Menschen seien so schlecht, verleumdeten sie, weil sie sie nicht verständen, legten ihr Dinge zur Last, an die ihr Herz nicht denke“ – u. s. w., und zuletzt hatte Herr Eck alle Mühe, sie zu beruhigen. Vor allen Dingen glaubte er nicht an ihre angebliche Neigung zur Unwahrheit! Von ihm selbst hatte die Kluge sich wohlweislich nie auf einer solchen betreten lassen, und was ihm von anderer Seite darüber geklagt wurde, stellte sich ihm später immer als Mißverständniß heraus. Man klagte ferner über ihr finsteres, mürrisches Wesen, über ihre Unliebenswürdigkeit! Aber war, wenn sie in Sehnsucht ihrer verlorenen Mutter gedachte (und dies that sie ja so oft) eine heitere Stimmung möglich?

Zur schärferen Charakterisirung ihres Herrn Eck gegenüber so meisterhaft befolgten Umgarnungssystems mögen hier wenige interessante Auszüge aus dem über sie geführten Tagebuche des Ersteren folgen.

2. April 1856. Heute erklärte ich im Schulreligionsunterricht die Pflichten der Kinder gegen ihre Eltern. Caroline sagte mir nach der Stunde: „O, wenn ich bei meinen Eltern wäre, wie gerne würde ich ihnen so danken, wie Sie heute in der Schule gesagt haben!“

23. April. Eine Dienstmagd sagte Carolinen dieser Tage, daß [735] sie nur recht freundlich gegen die Leute sein müsse, wenn es ihr auch nicht so um’s Herz sei. Caroline sagte mir dies und daß sie darauf erwidert: dies wäre ja geheuchelt und „heucheln könne sie nicht,“ sie wolle lieber „den ganzen Tag ein Gesicht machen.“ (Provinzialismus für: ein unfreundliches Gesicht machen.)

26. Mai. Caroline gab mir heute wieder zu, daß sie sich jetzt immer glücklicher fühle, nur erfahre sie so viel Unangenehmes im Leben. So wisse sie auch jetzt, daß die Menschen lügen könnten! „Daß die Menschen so lügen können und auch betrügen,“ setzte sie mit ganzem Unwillen hinzu, „das thut mich so empören!“

10. Decbr. Daß ich gestern Carolinen des Mangels an Vertrauen zu mir beschuldigte, hat sie, wie sie mir heute gestand, in eine außerordentliche Betrübniß versetzt. Darüber äußerte sie mir heute, noch immer tief betrübt: „Ich mußte Sie verstehen, als glaubten Sie, ich hätte mein Wohlwollen und Vertrauen zu Ihnen erheuchelt. Ich heuchle nicht, die scheinheiligen Menschen sind mir selbst zuwider, und weil Sie glauben, ich wäre auch so, wie die scheinheiligen Menschen, deshalb bin und war ich so unglücklich, daß ich gestern Abend bis ein Uhr weinen mußte. Ich habe geglaubt, mein Herz ging in lauter Stückchen; noch nie war ich so unglücklich!“

An gelegentlichen schönen, sinnigen Phrasen hat es ihr überhaupt nie gefehlt. So sagte sie Herrn Eck oft, ihr „stolzes“ Herz könne es nicht ertragen, sich von andern Leuten erhalten zu wissen; sie sei gesund, wolle und könne arbeiten und ihr Brod selbst verdienen. Zuweilen war ihre Sprache auch blumenreich und sententiös; so schrieb sie einmal an ihre Frankfurter Beschützerin u. A.: „Gleig (gleich) dem Garten sehe ich recht des Menschen Leben. Wie der Gärtner die Blumen pflegt das sie an Wachstum und schönheit zunemen So müßen auch die Kindlein gepflegt werden, das auch sie an Körper und Geist zunemen. Auch ich bin gepflegt worden an Körper aber nicht an Geist und Gemüht das ist still und ruhig geblieben. Darum ist mein Gemüht so empfindlich das ich manches zu dulten habe. Gute Frau Sie werden manchen fehler finden aber ich hoffe Ihre Liebe zu mir wird es mir zu gut halten.“

Ganz aus diesem Gesichtspunkte beurtheilte sie eben Herr Eck, und seine Besorgnisse um ihre zarte Behandlung mehrten sich, als sie ihm gelegentlich Andeutungen fallen ließ, die er auf Flucht- oder Selbstmordgedanken beziehen konnte. So wußte sie ihm eines Tages eine Art letztwilliger Verfügung in die Hände zu spielen. Mit solchen Taktiken und mit ihren Thränen hatte sie viel Macht über ihn. In Bezug auf die Schwächen ihrer Umgebung hatte sie überhaupt einen außerordentlich scharfen Blick, dem nichts so leicht entging. Wie sehr sie es aber verstand, mit schönen Gefühlen zu kokettiren, beweist u. A. auch folgender Fall:

Eines Sonntags erschien sie äußerst betrübt nach dem Gottesdienst. Als man sie darum befragte, erklärte sie dies damit, daß der Pfarrer heut gepredigt habe, nach dem Tode würden die Guten belohnt, die Bösen bestraft; und nun werde sie ihre Mama, die nicht gut an ihr gehandelt, doch schwerlich im Himmel wiedersehen!! Und darüber betrübte sie sich herzinniglich!!!

Am 2. Januar sprach Caroline gegen ihren Lehrer die Bitte aus, ihn ferner „Papa“, seine Frau „Mama“, seine beiden Kinder „Bruder“ und „Schwester“ – sie Alle „Du“ nennen zu dürfen, was ihr auch gern zugestanden wurde. Sie äußerte darauf, daß sie jetzt in Hinsicht ihrer wirklichen Eltern keinen Wunsch mehr habe. „Ich habe ja meinen Papa und meine Mama gefunden. Meine Freude ist jetzt so groß, daß sie mich mehr drückt, wie ein Leid; lassen Sie mich jetzt nicht sprechen!“

Indeß, die Wahrheit des Spruches: „Der Frosch hüpft wieder in den Pfuhl, und säß’ er auch auf goldnem Stuhl!“ sollte sich auch an ihr erfüllen. Nachdem sie Herrn Eck schon öfter ihre Absicht kundgegeben, im K.’schen Hause nicht länger bleiben zu wollen, von ihm aber immer wieder zum Bleiben gedrängt worden war – verließ sie es eigenmächtig in der Frühe des 5. Mai 1857.

Und wohin wandte sie sich? In’s Gefängniß zu ihrer Deutsch-Mama zurück, mit der sie auch in der Zwischenzeit stets lebhaften Verkehr unterhalten, und der sie stets eine besondere Anhänglichkeit bewahrt hatte. Da ihre Rückkehr in’s K.’sche Haus nicht mehr wohl zu bewerkstelligen war, so ließ man sie bei ihrer Deutsch-Mama bis zum 21. October, wo sie dann bei der Familie eines Damenschneiders neuerdings in Kost gegeben wurde.

Die selbstständige Entfernung aus dem K.’schen Hause schadete ihr ungemein in den Augen aller Wohldenkenden. Doch mochte sie Herr Eck um deswillen nicht schon gleich aufgeben. Er veranlaßte sie auch zu der Bereiterklärung, die K.’s um Verzeihung zu bitten, worauf diese jedoch gern verzichteten.

Noch ein Mal sollte sie die Oeffentlichkeit bewegen – das letzte Mal!

Seit Mitte August 1857 war der Religionsunterricht des Mädchens aus Eck’s Händen in die eines würdigen protestantischen Geistlichen übergegangen, der sie nunmehr für ihre bevorstehende Aufnahme in die Christenheit – durch die Taufe – und in die evangelische Kirche – durch die Confirmation – vorbereiten sollte. Für diese Kirche hatte sie von Anfang an eine entschiedene Vorliebe bekundet, sich dagegen über gewisse Ceremonien und Bräuche der römisch katholischen Kirche (Ablaß, Knieen, Bekreuzigen, Anrufung der Heiligen etc.) so entschieden verächtlich und wegwerfend geäußert, daß dies einigermaßen auffiel, und um so mehr, als ihr bisher weder durch ihren Lehrer, noch durch ihre Umgebung derartige confessionelle Sympathien und Antipathien irgend eingeflößt worden waren.

Im Januar 1858 erschien aus uns unbekannter Feder der Artikel über Caroline in der „Gartenlaube“, und dieser Artikel hätte fast noch dem Schicksale unserer Heldin eine ganz andere Wendung gegeben. Ein wackerer und humaner Mann in einer großen Stadt Böhmens hatte sich nämlich dadurch für Carolinens Schicksale so sehr theilnehmend anregen lassen, daß er sich sofort mit ihrem Lehrer in Correspondenz setzte und den ernsten Willen kundgab, für ihre Zukunft etwas Entschiedenes zu thun. Die Eröffnung dieser Correspondenz geschah im März 1858 und Anfangs Juni trat er bestimmt mit folgenden Vorschlägen auf: Als verheiratheter, aber noch nicht mit Kindern gesegneter Mann in den besten Jahren und zugleich im Besitz eines sicheren und unabhängigen Vermögens erklärte er sich, im Einverständniß mit seiner Frau, bereit, Caroline wie „eine liebe und gute Schwester“ bei sich aufzunehmen, ihr in seinem Hause eine neue Heimath zu begründen, wo sie des Lebens Freud’ und Leid mit ihnen theilen solle; und für den Fall seines oder seiner Frau Ableben würde ihr eine feste, lebenslängliche Rente von 100 fl. C.-Mze. hypothekarisch sicher gestellt werden, wenn man sich nicht vielleicht im Laufe der Zeit veranlaßt sähe, noch mehr für sie zu thun.

Dies waren in Kurzem die Anerbietungen, welche der Ehrenmann in Bezug auf Caroline machte und die gewiß der höchsten Anerkennung werth sind. Aus jeder Zeile seiner Briefe spricht das edelste Wohlwollen, der uneigennützigste Edelmuth, das reinste Mitleid und zugleich eine Bildung, die das Beste für Carolinens Zukunft aus dem Umgange mit einem solchen Manne hoffen ließ. Von ihr verlangte er nur, daß Herz und Gemüth noch unverdorben und ihre Gestalt und Züge, wenn auch nicht eben schön und regelmäßig, doch auch nicht mißfällig, und insbesondere der Gesichtsausdruck nicht ohne geistiges Leben sei. Inwiefern Caroline diesen Anforderungen entsprach oder nicht, bleibe dem Leser nach dem Bisherigen selbst zu entscheiden anheimgestellt. Herr Eck, der sich natürlich verpflichtet fühlte, die sich seinem Schützling bietende Aussicht in eine freundliche Zukunft möglichst realisiren zu helfen, der aber doch, bei aller Vorliebe für dieselbe, sich gewisse Bedenken nicht verhehlen mochte, Herr Eck war so gewissenhaft, jenem Menschenfreunde im „beiderseitigen“ Interesse vorzuschlagen: Carolinen erst auf einige Zeit zur Probe in sein Haus zu nehmen, bevor er sich endgültig über sie entscheide; ein Vorschlag, der auch andererseits volle Zustimmung fand. Wie sehr sich der treffliche Mann dabei auf den rein menschlichen Standpunkt erhob, beweise unter Anderem die Thatsache, daß er bei seinen Bedingungen die religiöse, resp. confessionelle Seite auch mit keiner Sylbe berührte!

Als Herr Eck Carolinen die erste Mittheilung von dem ihr bevorstehenden Glücke machte, rollten, wie gewöhnlich, reichliche Thränen über ihre Wangen, Seine Frage, ob sie auf das gütige Anerbieten eingehe, bejahte sie entschieden. Weiter äußerte sie ihre Meinung dahin: „Ich zweifle nicht, daß ich die Leute liebgewinne; das sind ja so gute Menschen, daß ich sie jetzt schon liebe. Und wenn man weiß, daß man so liebevoll aufgenommen wird, wie diese Leute schreiben, so muß man ja, man kann nicht anders, diese Liebe mit Liebe erwidern. Darauf, wie man behandelt wird, kommt Alles an!“ Auf Herrn Eck’s Veranlassung schrieb sie auch sogleich ohne alle Beihülfe in diesem Sinne an das ihr so geneigte Ehepaar nach Böhmen. Ihre Reise dorthin sollte stattfinden, sobald sie durch ihre bevorstehende Confirmation (bei welcher Gelegenheit sie zugleich zum ersten Male das Abendmahl empfangen sollte) in [736] die evangelische Kirche aufgenommen sein würde, nachdem sie zuvor durch die Taufe in die christliche Gemeinschaft im weitesten Sinne Aufnahme gefunden. Ihre Fortschritte in Erkenntniß und Aufnahme der evangelischen Lehre waren so erfreuliche, und ihr Geistlicher war auch hier so sehr mit ihr zufrieden, daß ihre Confirmation bereits für den Schluß des ersten Jahres ihres genossenen Confirmationsunterrichts – also für Mitte August 1858 – in Aussicht gestellt werden konnte. Allein es sollte ganz anders kommen.

Es kam nämlich zwischen Carolinen und ihren dermaligen Kosthaltern zu so ernstlichen Mißhelligkeiten, daß ein längeres Verbleiben bei ihnen für beide Theile unthunlich erschien. Besonders war es der nähere und vertraute Umgang mit mehreren Personen außer dem Hause (jedoch kein Umgang unerlaubter Art mit Personen anderen Geschlechts), von dem man eben nicht den besten Einfluß auf sie erwarten durfte und den Caroline, trotz des Verbotes sowohl des Hausherrn als ihres Lehrers, dennoch fortunterhielt, welcher störend auf ihr gutes Einvernehmen mit Ersterem und dessen Frau hinwirkte. Daß dieser ihr einst im Unmuthe äußerte: „sie könne unmöglich von hoher Abkunft sein, sie sei eine Abenteurerin“, hat sie ihm, wie natürlich, sehr übel aufgenommen und nie vergessen können.

Nachdem es aber eines Tages zu ernstlichen Conflicten zwischen ihr und ihren dermaligen Kosthaltern gekommen war, fand sich Herr Eck veranlaßt, auch diesem unhaltbaren Zustande ein Ende zu machen und Caroline bis auf Weiteres, mit Erlaubniß der städtischen Behörde, in sein eigenes Haus aufzunehmen, und zwar auch hauptsächlich in der Absicht, sich einmal aus eigner Erfahrung und Anschauung davon zu überzeugen, ob denn die Aufführung Carolinens wirklich der Art sei, daß sie zu fortwährenden Klagen gegründeten Anlaß gäbe – ein Schritt, zu dem er sich auch ganz besonders jenem Herrn in Böhmen gegenüber moralisch verpflichtet fühlte, der Carolinen adoptiren wollte. Am 12. Juli 1858 nahm Eck seine Schülerin zu sich in die eigene Familie, und damit beginnt der letzte Act in dem Drama ihres hiesigen Lebens. Es war der Anfang vom Ende.

Eck fand nur zu sehr, daß manche der über Carolinen geführten Klagen allerdings begründet war, wenn schon er sich immer noch geneigt zeigte, manchen ihrer Fehler aus den eigenthümlichen und vielfach traurigen Schicksalen ihres Lebens herzuleiten und demgemäß zu entschuldigen. Auch war sie ihm gegenüber noch ganz besonders auf der Hut, wohl wissend, daß mit ihm ihr letzter Rückhalt stand und fiel, und hatte sich auch bis dahin, was besonders zu berücksichtigen ist, von ihm noch nie auf einer Unwahrheit ertappen lassen.

Inzwischen hatte der Gemeinderath Carolinen zu Ende Juni 1858 das Heimathsrecht der Stadt Offenbach, wie schon Anfangs in Aussicht gestellt, zuerkannt, und es nahte nunmehr die Zeit ihrer Taufe und Confirmation heran. In ersterer wünschte, sie den Namen ihres „Papa“ Eck zu empfangen, da dies jedoch aus verschiedenen Gründen unthunlich erschien, so wurde beschlossen, vor den Namen „Eck“ noch einfach das „B“ zu setzen, womit ihr mehrerwähntes Halstuch gezeichnet war („Caroline B“), und sie auf den Namen „Caroline Beck“ zu taufen. Diese Namensannahme wurde dem Ministerium, in dem man sich ebenfalls für den Findling lebhaft interessirte, zur Gutheißung vorgelegt, der man denn auch täglich entgegensah. Inzwischen hatte sie ihre Frankfurter Gönnerin in einem rührenden, echt kindlichen Briefe eingeladen, ihr bei der Taufe Pathin zu stehen; der uns, wie alle übrigen, im Original vorliegende Brief ist kalligraphisch sehr schön, aber in etwas großen, schulmäßigen Zügen geschrieben.

Die Dame hatte auch bereitwilligst die Pathenstelle angenommen, und sie mit einem schönen Confirmationskleide und sechs feinen Hemden beschenkt.

Da Herr Eck sich indeß nicht verhehlen konnte, daß Carolinens Betragen doch nicht der Art sei, sie schon jetzt mit gutem Gewissen in ihre neue Heimath nach Böhmen entlassen zu können, so beschloß er, sie noch bis zum nächsten Frühjahr unter seiner speciellen Aufsicht und Zucht im eignen Hause zu behalten, und wollte eben in diesem Sinne dorthin schreiben, als bei ihm (Mitte Juli) ein Brief von da eintraf, worin ihm Carolinens zukünftiger Adoptator anzeigte, daß ein plötzlicher Todesfall in seiner Verwandtschaft es ihm leider für’s Erste unmöglich mache, sein Vorhaben bezüglich ihrer auszuführen, indem jetzt seine Hülfe nach anderer Seite hin nothwendig werde. Aufgeschoben sei indeß nicht aufgehoben, und er sei bereit, Caroline, wenn sie ferner noch den Wunsch hege, zu ihm nach Böhmen zu kommen, und ihre Existenz für die Zukunft in Offenbach nicht genügend gesichert sei, schon allenfalls im nächsten Jahre zu sich nehmen; inzwischen bleibe es Caroline unbenommen, sich jederzeit mit billigen Anliegen und Wünschen selbst an ihn zu wenden, in welchem Falle er immer geneigt sein würde, ihr mit der wärmsten Theilnahme die Freundeshand zu bieten.

Dieser Aufschub kam Herrn Eck ganz erwünscht. Caroline selbst nahm ihn mit jener stumpfen Ruhe und anscheinenden Gleichmüthigkeit auf, die ihr eigen war, und schien weder sehr betrübt, noch sehr erfreut darüber. Ob und wie die Uebersiedlung nach Böhmen überhaupt in ihre Pläne paßte oder nicht, was in Bezug hierauf im Grunde ihrer Seele eigentlich vorging, – wer wollte es sagen?!…

Wenige Tage darauf erfolgte die unerwartete Katastrophe.

Es war am Sonntag den 25. Juli, daß Herr Eck seine Schülerin auf einer eclatanten Lüge betraf, für seine Ueberzeugung das erste Mal. Sie leugnete ihm auf’s Bestimmteste die Unterredung mit einer Person ab, von der er selbst aus der Ferne ungesehen Zeuge gewesen war, und sie leugnete hartnäckig.

Man kann sich leicht denken, was bei dieser Entdeckung Alles in Eck’s Seele vorging! Mit dieser Einen Lüge schien der ganze kühne Aufbau seiner Hoffnungen und seiner Ueberzeugungen in Betreff Carolinens plötzlich wie ein leichtes Kartenhaus in Trümmer zu sinken – ein Bau, an dem er fast vier Jahre hindurch mit liebevoller, uneigennütziger Hingebung gearbeitet, für dessen feste Begründung er öffentlich mit seinem Namen in die Schranken getreten war!

Diese jähe Enttäuschung lieh Herrn Eck Worte der äußersten sittlichen Entrüstung gegenüber der falschen Betrügerin. Auf einer so frechen Lüge ertappt, äußerte er ihr, vermöge er jetzt auch keinen Augenblick an ihre sonstige Wahrhaftigkeit zu glauben. Ihre ganze Geschichte, Alles, was er in seiner Schrift veröffentlicht, müsse er jetzt für Lüge erkennen. Sie sei nun entlarvt, ihre Rolle zu Ende gespielt. Er werde ihr ferner keinen Unterricht mehr ertheilen, auch seine Hand ganz von ihr abziehen.

Caroline stand zerknirscht und niedergeschmettert. Sie versuchte keine Entschuldigung und ging später auf ihr Zimmer. Nach einiger Zeit kam sie zurück, setzte sich auf das Sopha, legte den Kopf auf die Seitenlehne, verbarg ihr Gesicht und schien zu weinen. Auf ihrem Zimmer hatte sie nachstehende Worte mit Bleistift niedergeschrieben und das Blatt, anscheinend auch von Thränen befeuchtet, offenbar in großer Aufregung geschrieben, wie die Schriftzüge verrathen, ihrem Lehrer übergeben; es ist die letzte schriftliche Aeußerung, welche wir von ihr besitzen:

 „Lieber Papa
„thue wie ich nach mein vergehen vertiend habe ich habe keine hoffnung bei der Mama ihre Liebe und verthraun (Vertrauen) zu gewinnen habt auch weiter kein mitleit mit mir verßtoßt mich es mach (mag) aus mir wärn (werden) was da will denn eine Bitte wache (wage) ich nicht zu thun“ (Ohne Datum und Unterschrift.)

Herr Eck, bei dem sich inzwischen die erste Aufwallung gelegt, war doch nicht der Mann dazu, seinen ihm so sehr an’s Herz gewachsenen Pflegling um der ersten Lüge willen gleich fallen zu lassen. Er sah ihre äußerste Zerknirschung, er las jene Zeilen, in denen sie sich ihm gleichsam auf Gnade und Ungnade überlieferte; zu alle dem kam auch noch seine schon früher mitgetheilte Besorgniß, sie möchte sich ein Leid anthun und ihr Leben vielleicht durch Selbstmord enden. Er hielt es also für Pflicht, noch einmal am Abend desselben Tages Worte der Beruhigung und ernsten Ermahnung an Caroline zu richten und ihr zu sagen, daß noch Alles gut werden könne, wenn sie ernstlich Besserung gelobe. Anscheinend etwas beruhigter wurde sie darauf von ihm zur Ruhe entlassen.

In später Nachtstunde noch hörte sie Herr Eck die Treppen herabkommen und versuchen, die Hausthüre zu öffnen; sie schien unwillig, daß sie dieselbe fest verschlossen fand.

Am nächsten Morgen (26. Juli 1858) erschien sie wie gewöhnlich beim Frühstück der Familie; man bemerkte nichts Ungewöhnliches an ihr, sie war still und in sich gekehrt, wie sie das oft war. Sie strickte. Gegen halb zehn Uhr legte sie den Strickstrumpf bei Seite und verließ das Zimmer, um nicht mehr zurückzukehren. Als ihr Ausbleiben nach einiger Zeit auffiel und man im Hause nach ihr suchte, war sie nirgends aufzufinden. Sie war und blieb verschwunden.

(Schluß folgt.)




[737]
Die Privat-Irrenanstalten.
Von Dr. juris Thesmar in Köln.
(Schluß.)


„Wir erwähnten und haben gerade darauf immer das stärkere Gewicht für die ganze Beurtheilung dieses unseligen Handels gelegt, daß Schuhmacher ohne alle und jede vorgängige Rechtsprocedur in ein Irrenhaus versetzt wurde; denn darin, gerade darin glauben wir den Grund für die tiefe und schmerzliche Verletzung zu erkennen, von der sich das öffentliche Bewußtsein in diesem Falle getroffen fühlte, sodann aber auch den Grund überhaupt, warum Hergänge, wie diese, in einer Zeit, wie der unsrigen, überhaupt noch möglich gemacht werden können. Wahrhaftig, wer es nicht erlebt und mit angesehen, der würde es trotz tausend heiliger Betheuerungen nicht glauben wollen, daß noch im Jahre 1858 des Herrn, mitten im Schooße der humanisirten und bis auf minutiöse Heimlichkeiten polizirten Gesellschaft und unter den Augen der Gesetze, der Erste der Beste auserwählt, zu einer Spazierfahrt eingeladen oder gar ergriffen und geknebelt, in einen bereitstehenden Wagen gesetzt und an den Pforten irgend einer unheimlichen Spelunke, die sich Privat-Irrenhaus nennt, abgesetzt, hineingeschoben und, so zu sagen, lebendig todtgemacht werden könne. Und doch ist gerade diese Procedur diejenige, zu der die arglistigen Künste der Ungerechtigkeit darum am allerhäufigsten greifen, weil sie sich damit ohne gar große Mühe in den Vortheil eines fait accompli, nämlich jener vollendeten Thatsache setzen, daß ihr Opfer von vorn herein für verrückt angesehen und erklärt wird. Denn wer nur erst zu Verrückten gesperrt worden, wer nur erst einmal die Unbilden erfahren, von irgend welchem, ob auch nur mit einem Quentchen von Competenz versehenen sogenannten Seelenarzte für irrsinnig oder selbst nur für einen solchen erklärt zu sein, mit dem es „nicht ganz richtig“ sei, für den müßte der barmherzige Gott selbst vom Himmel steigen, um zu verhindern, daß er nicht verrückt, daß nicht sein Denken und Empfinden, sein ganzes intellectuelles Vermögen bis auf die Fasern heimgesucht und vollständig getrübt und zerrüttet würde. Ist man mit dem armen Opfer nur erst dahin gekommen, daß man es thatsächlich unter Schloß und Riegel eines Irrenhauses hat, daß es für irrsinnig angesehen, als ein irrsinniges Geschöpf behandelt wird, dann hat es um alles Andere keine sonderliche Noth; man hat es durch die Barbarei dieser schreienden Ungerechtigkeit dann schon halb um sein Selbst gebracht und nebenher das allgemeine Urtheil in Beschlag genommen, es unsicher und befangen gemacht, und auf viel mehr kommt es in allen solchen Fällen nicht an, um das desperateste aller Majestätsverbrechen an der menschlichen Natur zuletzt dennoch durchzusetzen und, was unendlich beklagenswerther ist, jedenfalls straflos davon zu kommen. Man hat, wie die Sache auch komme, dann doch immer schon einen Arzt, wenn nicht selbst zwei, welche die Wahnsinns-Erklärung aufrecht erhalten, und mit dieser Wendung sieht sich das Gesetz in ein unentwirrbares Labyrinth versetzt.

„Man sollte kaum glauben, daß das möglich sei, und doch ist es möglich und geschieht alle Tage. Referent wäre in der Lage, an diesem Orte ein Stückchen aus seinen eigenen unmittelbaren, noch ganz frischen Erlebnissen zum Nachdenken empfehlen zu können. Allein er verzichtet darauf, zumal es gelungen ist, das in diesem Falle ausersehene Opfer, eine Dame von großer Bildung des Geistes und Herzens, die Mutter von Kindern, die langjährige Dulderin einer unglaublich harten Schickung, dem hereingebrochenen Verhängnisse wieder zu entreißen. Auch ist es nicht dieser oder jener einzelne Fall, auf den es hier ankommt; es handelt sich vielmehr zunächst um die Frage, wie es überhaupt möglich ist, daß dergleichen noch geschehe, und diese Frage allein schon treibt jedem Denkenden die Schamröthe in’s Gesicht; denn sie deutet auf eine Lücke in der Gesetzgebung, die sich wahrlich seltsam genug ansieht gegenüber allem dem seltsamen Gerede über die dermalige Vollkommenheit der Staatseinrichtungen! – Traurige Vollkommenheit, die es zuläßt, daß ein Staatsangehöriger am hellen Tage und bei nüchternen Sinnen moralisch todt erklärt werde, ohne daß die Gesetze, ohne daß Richter beordert werden, sich an seine Seite zu verfügen.

„Man nimmt Anstand, den Menschen für dispositionsunfähig, für einen Verschwender, einen Bankerottirer zu erklären, ohne ihn vorher vor Gericht gestellt und gehört zu haben; man weiß den Richter wohl zu finden, wenn es darauf ankommt, seine persönliche Freiheit zu beschränken, und wehe demjenigen, der sie ihm ohne die richterliche Ermächtigung auch nur auf einige Stunden entzöge. Aber denselben bürgerlich und moralisch todt machen, ihn in einem Irrenhause lebendig begraben, das kann man alle Tage und nach Belieben, dazu bedarf es keines Richters und keiner Ermächtigung, dazu tritt das richterliche Befinden noch immer zeitig genug ein, wenn das Attentat bereits vollbracht ist, wenn er einseitig bereits für irrsinnig erklärt und begraben ist. Dazu ist nichts weiter nöthig, als ein Medicus und eine unendlich kostspielige Pensionsanstalt, „Irrenhaus“ genannt, dessen Inhaber, wie sich von selbst versteht, in der Regel den Titel eines „Irrenarztes“ führt, kurz, diese ganze, moralisch und bürgerlich und wie oft auch physisch vernichtende Procedur kann so recht privatim, nach Umständen sogar privatissime abgemacht werden, ohne daß man dem öffentlichen Rechte, der öffentlichen Ordnung mehr schuldig wäre, als die Meldung des eingetretenen Wohnungswechsels: – „N. N. ist wegen Blödsinnes von hier in die Irrenanstalt versetzt worden.“ Wie oft schließt in dieser nichtssagenden Formel das furchtbarste Drama ab, in dessen Mittelpunkt eine menschliche Seele verloren ist! Der nach der That angerufene Richter gleicht in allen solchen Fällen einem Manne, dem eine Arbeit übertragen wurde, zu deren Vollendung er zweier Arme und zweier Hände bedürfte und der doch nur über einen Arm verfügt. Der Richter soll in diesem Falle einen Menschen aus dem Abgrunde emporheben, in den er gestürzt wurde – und auch mit dem ernstlichsten Willen ist er dazu mit dem einen Arme nicht im Stande. Denn man hat an den Hinabgestürzten ein Gewicht gehängt, und dieses Gewicht heißt: vorweg abgegebenes Sachverständigen-Urtheil.

„Mit dieser vorweg gegebenen Thatsache ist ein Cirkel geschlagen, aus dem, wie die Gesetze zur Zeit noch geartet sind, auch die gewissenhafteste richterliche Anstrengung nur sehr selten herauszukommen vermag. Das ganze Unglück liegt eben darin, daß der Richter, wie es sich in der Praxis gestaltet hat, weniger gerufen wird, um zu erforschen und zu entscheiden, ob der Eingesperrte wirklich wahnsinnig, wirklich einsperrungsbedürftig sei, sondern weit mehr, um nach Beseitigung einiger gesetzlichen Formen anzuordnen, daß dem Eingesperrten ein Vormund oder Curator bestellt werde. Die Thatsache, daß der Eingesperrte wahnsinnig sei, wird bei diesem Interdictions-Verfahren bereits halb und halb zugegeben. Sollen aber Verbrechen verhütet, soll die Unbilde unmöglich gemacht werden, so ist es ziemlich unbedeutend, daß der Richter fragen darf: soll der Eingesperrte eingesperrt bleiben? Denn das heißt in gar vielen Fällen nichts Anderes, als durch die heimliche Oeffnung zur Sache steigen, die eben von der Gewalt und Arglist mit so glücklichem Geschick gemacht wurde, und ein Mehreres bedeutet die richterliche Frage nicht: ist der Eingesperrte wirklich wahnsinnig? In allen diesen und ähnlichen Fällen kommt es vielmehr und vor allen Dingen darauf an, daß gefragt werde: wie und mit welchem Rechte ist dieser Eingesperrte eingesperrt worden? wie ist es dabei zugegangen? welcher Mittel hat man sich dabei bedient? wer sind diejenigen, welche dies verübten, die deren Ausführung unterstützten, dieselbe guthießen, und von welchen Beweggründen wurden die Einen und die Anderen dabei geleitet? Sollen Verbrechen verhütet, soll die Unversehrbarkeit des öffentlichen Rechtes, an das auch die am schwächsten erleuchtete Menschenseele, an das selbst der Halbblödsinnige aus tiefstem Herzensdrange noch mit ganzer, voller Zuversicht zu denken wagt, woran er sich klammert, worauf er sich zu verlassen den Muth hat, soll dieser heilige Glaube, daß Recht und Gerechtigkeit im Staate walten, nicht getrübt und verdunkelt werden: so ist es die Pflicht zumal derer, welche über das Ansehen des Gesetzes wachen, daß sie überall und in allen Fällen da einschreiten, wo die öffentliche Stimme oder andere ungewöhnliche Merkmale dafür sprechen, daß eine Gewaltthat verübt worden sei.

„Es ist nicht unsere Absicht, von dem, was wir über die Lage und das persönliche Verhalten des Greises ungesucht und unausgesetzt erfahren, für jetzt Gebrauch zu machen; aber vollkommen geeignet ist es, ein Menschenherz bis auf’s Tiefste zu [738] erschüttern, wenn wir der Worte gedenken, womit der Gefangene den von einem Freunde eingeleiteten Fluchtversuch ablehnte. Der ihn dazu Einladende war kein solcher, dem er jemals hätte Wohlthaten erweisen können, eben so wenig einer von denen, die aus seinen Liebhabereien und Eigenheiten irgendwie Vortheile gezogen haben; er war ein im Auslande lebender Ehrenmann, den der Ruf von dem Verhängnisse des Greises in seine Nahe gerufen hatte.

„Wie,“ antwortete der seltsamste aller Irrsinnigen, „wie, lieber Freund, können Sie mir nur einen solchen Vorschlag machen? Sehen Sie mich an! Ich bin ein alter und halbgelähmter Mann; ich habe nicht mehr die Kraft zu Abenteuern, auch wenn ich den Willen dazu hätte. Und was würde die Welt dazu sagen? Glauben Sie mir und verlassen Sie sich darauf, daß ich diese Treppen auf gesetzmäßigem Wege hinabsteigen werde!“ Fürwahr Worte, eines preußischen Richters würdig! Und dieser Mann sitzt im Irrenhause und wird fort und fort darin festgehalten!

„Nun bemerkten wir oben, daß der vorliegende Fall sich durchaus als einen solchen zu erkennen gebe, bei dem es darauf ankomme, daß vor allem und jedem weiteren Verfahren die gegebene Thatsache, wir meinen die Versetzung Schuhmacher’s in ein Irrenhaus, aufgehoben und jene restitutio in integrum verfügt werde. Der vorliegende Fall gibt sich als solchen zu erkennen, einmal durch die Art und Weise, wie dieser Mann aus dem Stande der Freiheit und Selbstständigkeit enthoben und einem Irrenhause einverleibt wurde, sodann aber auch durch die öffentliche Stimme, die nie in einem anderen Falle sich je mit größerer Entschiedenheit ausgesprochen hat und noch fort und fort ausspricht. Kaum nämlich war in der Stadt bekannt geworden, daß der Greis sich im Irrenhause befinde, als auch sofort die allerentschiedenste Entrüstung sich überall kundgab. Denn selbst diejenigen, welche den Mann nicht gekannt hatten und aus diesem Grunde es dahingestellt sein lassen mußten, ob er wirklich irrsinnig sei, fühlten sich durch die Handlung selbst auf das Aeußerste verletzt und betroffen. Wie, hörte man auf dieser Seite durchgehends fragen, ist der Mann darum so alt, darum der Besitzer eines so ansehnlichen Vermögens geworden, daß dasselbe auf die schmähliche Verpflegung seiner letzten Tage in einem Irrenhause verwendet werde? ist er denn wirklich bis zu dem Grade irrsinnig, daß der Genuß seiner Freiheit ihm mißgönnt und verweigert werden muß? ihm entzogen werden kann und darf? ist er denn gefährlich im Zustande der Freiheit? ist er tobsüchtig? leidet er an einer verbrecherischen, die allgemeine Sicherheit gefährdenden Manie? Und wenn das Alles wäre, reicht dann sein Vermögen nicht aus, daß ihm eine ehrenhafte, standesmäßige und edle Subsistenz in der Freiheit gesichert werde? Was kostet diese Verpflegung in einem Privat-Irrenhause und was würde jede andere, mit dem Genusse der vollen freien äußerlichen Unabhängigkeit verbunden, kosten? Wer ferner hat ein näheres und unbedingteres Recht auf den vollen Genuß seiner Mittel, als er? Oder hat er aufgehört, der rechtmäßige Herr seines Vermögens und das Oberhaupt seiner Familie zu sein?!

„So urtheilten und äußerten sich alle diejenigen, welche den Mann nicht kannten, noch ihn je gesehen hatten! Aber davon, daß der Greis irrsinnig, daß er selbst nur dispositionsunfähig wäre, wollte von den vielen Hunderten und Tausenden, die den Mann seit einer langen Reihe von Jahren gekannt und beobachtet und von denen Viele bis auf den letzten Augenblick mit ihm verkehrt hatten, Keiner je das Mindeste wahrgenommen haben.

„Er hat Schwächen, hörte man von dieser Seite sagen, aber er hat auch ein Recht dazu, ihnen nachzugeben, und er darf sie haben, denn er verletzt und beleidigt, verkürzt und verkümmert dadurch Niemand in höheren, besser begründeten Rechten. Die Befriedigung seiner Liebhabereien war jederzeit von einer sehr besonnenen Erwägung begleitet, und diese Liebhabereien waren unschuldig, ja sie charakterisirten sich gemeinhin als Eingebungen und Ausflüsse eines großmüthigen und edlen Herzens. Wenn er dagegen auch einmal zu seinem Nachtheile einen Gutskauf gemacht, wenn er bei seiner Liebhaberei für Pferde im Kauf und Verkauf derselben da und dort hintergangen worden, wenn er für Solche etwas gethan, die sich ihm, dem in seiner engeren Umgebung keineswegs glücklichen Greise, angenehm und gefällig zu zeigen bemüht waren: so könnte aus diesen Dingen eine Anwartschaft auf das Irrenhaus doch erst dann mit einem Scheine von gesetzlicher Gleichheit gegen ihn gefolgert werden, wenn das Gesetz festgestellt hätte, daß ich als selbstständiger Mann mit dem Meinen nicht mehr machen könne, was ich will; wenn das Gesetz an Stelle der väterlichen und hausherrlichen Gewalt das Princip der Familienempörung gegen den Hausherrn aufgerichtet und geheiligt, wenn endlich zum Gesetze geworden, daß alle an der Börse speculirenden Kaufleute, die Tag für Tag das Wohl und das Wehe, den Flor und den Ruin ihrer Familien auf die Wette setzen, als irrsinnig in ein Irrenhaus versetzt werden sollen.

„So sprach man auf Seiten derer, die den Mann kannten, und auch hierin hatte man Recht.

„Unsererseits zählen wir zu denen, die den Greis nie gekannt, noch ihn jemals gesehen haben, mithin ist auch unser Urtheil ein anderes. Wir lassen beide Ansichten dahin gestellt, aber indem wir in Folge eines rasch hingeworfenen Wortes uns wider unser Wollen in den Mittelpunkt der traurigen Scene versetzt sehen, und von allen Seiten in der Neigung unseres Herzens ermuntert werden, die so tief wunde Sache nicht ruhen zu lassen, wollen wir wenigstens aussprechen, was wir unsererseits urtheilen. Wir verlangen einfach, daß der Greis restituirt werde und daß, wenn sein Geist in der That getrübt und seine Dispositionsfreiheit zu beschränken wäre, ihm eine Wartung und Pflege im Genusse seiner vollen freien äußerlichen Unabhängigkeit gegönnt und gesichert werde. Dieser Genuß seiner äußerlichen Freiheit ist unter allen Umständen das Mindeste, was ihm in seiner Eigenschaft als Oberhaupt seiner Familie, was der Ehrwürdigkeit seines Alters, der persönlichen Güte seines vielbelobten Charakters, seiner gesellschaftlichen Stellung und der öffentlichen Meinung zugestanden werden muß.“

Zum Schlusse erwähne ich noch den trefflichen Artikel der Times über die Zustände in England und Schottland, welcher in eigenthümlicher Fügung mit dem meinigen sich kreuzte, und am Schlusse das Resultat in folgenden Worten zusammenfaßt: „Man braucht blos einem Advocaten 300 Pf. St., die Privatgeschichte eines Mannes und als Secundanten zwei oder drei Irrenärzte zu geben, und man kann fast jeden Menschen unter einem oder dem anderen Vorwande einsperen lassen.“

Das öffentliche Interesse ist aus diesen sehr natürlichen Gründen der Entwicklung dieser für die Menschheit wichtigen Angelegenheit und insbesondere dem Ergebnisse der gegen Lennartz schwebenden Criminaluntersuchung in hohem Grade zugewendet, welche fortwährend die Gemüther bewegt, und die Legislatur wird demnächst auch in diesem Zweige ihre Schuldigkeit zu thun haben.“[1]

Köln, den 15. November 1858.




Die Pozzi im Dogenpalaste zu Venedig.
Von G. R.

Es gibt hie und da Orte in Europa, welche die grausamen Thaten vergangener Jahrhunderte mit besonders blutiger Schrift erzählen, Orte, an deren Wänden das Blut der hier Gemordeten immer wieder zum Vorschein kommt, so oft man sie auch übertüncht hat. Ich war kürzlich auf einem alten Jagdschloß im Blühnbachthal, welches die Erzbischöfe von Salzburg bewohnten, als sie mit Folterwerkzeugen und mit dem Schwert des Henkers die Reformation in den Salzburger Alpen ausrotteten. Ein Schauder überlief mich, als ich in diesen düstern Räumen umherging und daran dachte, welche fürchterliche Thaten sie mit angesehen haben. Die Peinigungen der Opfer mußten hier zur Erholung nach den Freuden der Jagd und der Tafel dienen; ihr Geschrei und ihr [739] Sterberöcheln vermischte sich mit den Hörnerfanfaren und mit den Freudengesängen derer, welche sie verurtheilt hatten, und aus goldenen Bechern sich den rothen Wein zutranken. Aehnliche Gefühle beschleichen mich unwillkürlich, wenn ich im Tower zu London bin, oder durch die Säle des Louvre wandere. Die gold- und silberdurchwirkten Tapeten und die goldenen Bilderrahmen sind nicht im Stande, diese Erinnerungen in mir auszulöschen. Das Mene Tekel der Geschichte ist mit unauslöschlicher Schrift geschrieben, so sehr auch hie und da neuere Schriftsteller versucht haben, es hinwegzuwischen.

So ist die Geschichte des Dogenpalastes zu Venedig mit blutigen Lettern auf seine Mauern gezeichnet. Die rothen Porphyrsäulen an der dem Marcusplatz zugekehrten Façade, die Sala della Bussola, die Sala del Consiglio dei Dieci, die jetzt fortgenommenen Löwenrachen, in deren Mündung man von draußen die anonymen Denunciationen hineinwarf, sind noch heute redende Zeugen der Schreckensherrschaft des furchtbaren Rathes der Zehn, „der Alles wußte und Nichts verzieh.“ Die schreckliche Inschrift C. D. X. scheint noch heute an den vergoldeten Plafonds und auf den mit Tintoretto’s und Tizian’s Meisterwerken geschmückten Wänden zu leuchten. Die fürchterlichen Piombi hat der Sturm der französischen Revolution vernichtet, aber die Pozzi, diese in die dicken Mauern eingesprengten steinernen Gefängniß-Särge, haben allen Stürmen der Zeit widerstanden, und erzählen in grauser Nacktheit fürchterliche Thaten. Neuere Schriftsteller haben auch sie mit einer modernen Tünche zu überkleiden versucht.

Ein alter Mann, der sie noch zu den Zeiten der venetianischen Republik sah, eines Namens, den sich eine der grausamsten Aristokratenherrschaften Jahrhunderte hindurch fälschlicherweise borgte, führte mich in dieselben hinab. Er hatte einen echt venetianischen Kopf, wie man ihn heut zu Tage noch zuweilen unter den Gondolieren an der Piazzetta sieht. Der einzige Zugang war früher durch einen geheimen Gang, der auf den Saal der Häupter des Rathes der Zehn mündete. Jetzt steigt man durch eine früher nicht dort befindliche Thür aus der großen Gallerie des Palastes hinunter. Er zündete eine Fackel an, und bei ihrem rothen Schein sah ich die enge, steinerne Treppe, über welche die politischen Gefangenen, welche in den Pozzi eingekerkert waren, in das Verhörzimmer des Rathes der Zehn geführt wurden. Es ist irrig, daß sie über die Ponte dei Sospiri gingen. Die Seufzerbrücke verband die jenseits des Canals liegenden Gefängnisse mit dem Verhörzimmer des Rathes der Zehn. Sie waren für nicht politische Gefangene bestimmt, waren aber lange nicht so furchtbar, wie die Pozzi.

Nun stiegen wir eine schmale, steinerne Treppe hinab, an der die Spuren mehrerer schwerer, eiserner Thore noch heute zu sehen sind, und kamen in die obere Etage der Pozzi. Diese liegt noch über dem Niveau des Hofes des Dogenpalastes. Rund um die Gefängnisse läuft ein schmaler Gang, welcher durch kleine mit starken eisernen Stangen vergitterte Fenster ein schwaches Dämmerlicht erhält. Die Gefängnisse sind in die dicke Mauer eingegraben. Durch eine ungefähr einen halben Fuß über dem Boden befindliche niedrige Oeffnung steigt man in sie hinein. Sie sind ganz dunkel. Nur ein rundes, in die Mauer gesprengtes Loch oberhalb der Thüre gibt ihnen Luft, und schwächt das Dämmerlicht des Ganges so sehr, daß Nacht und Tag da drinnen kaum zu unterscheiden sind. Früher hatten sie sämmtlich eine starke Holzbekleidung. Jetzt befindet sich nur noch eins der Gefängnisse in dem ursprünglichen Zustande. Bei dem Schein der Fackel stiegen wir in dasselbe hinab. Der steinerne Fußboden, die Wände und die gewölbte Decke waren mit Holz bekleidet. Auf dem Boden war eine Erhöhung von Eichenholz in der Höhe von ungefähr einem halben Fuß errichtet. Hier war das Strohlager des Gefangenen, Als einziges Möblement diente ein starkes, eichenes Bret, welches an der Wand angebracht war, und auf dem der Wasserkrug des Gefangenen seinen Platz fand.

In diese obere Etage der Pozzi wurden die Gefangenen gebracht, so lange sie in Untersuchungshaft waren. Nach ihrem Geständniß oder nach ihrer Verurtheilung führte man sie in die untern Pozzi. Der Boden derselben lag gerade über dem Niveau des Wassers des Canals an der hintern Seite des Palastes. Daß das Wasser bei steigender Fluth in sie hineindrang, ist also eine Fabel. Ueber zwei steinerne Stiegen, welche abermals durch schwere eiserne Thore von einander getrennt waren, stiegen wir hinunter. Ein schmaler Gang umgibt sie, wie die oberen Gefängnisse, ebenfalls von zwei Seiten, der ebenso, wie in der obern Etage, durch vergitterte, kleine Fenster ein schwaches Dämmerlicht erhält. An der Ecke, wo beide Gänge zusammenstoßen, führt ein kurzer Gang noch einige Schritte gerade aus, und bildet so einen kleinen, mit einer eisernen Thüre früher abgeschlossenen Platz, wo der Sessel stand, auf dem die Gefangenen hingerichtet wurden. So wie der Unglückliche auf dem Stuhl saß, wurde ihm ein Strick von hinten um den Hals gelegt und er mit demselben erdrosselt. An der linken Seite des Stuhls war eine Thür, welche auf den Canal führte. Sie ist jetzt zugemauert, aber ihr Dasein ist noch heute ganz deutlich zu erkennen. Vor derselben lag die schwarze Gondel mit der Inschrift C. D. X. (Consiglio dei Dieci), in der der Leichnam des Getödteten nach einem in der Nähe der Kirche San Giovanni e Paolo befindlichen Friedhofe geführt wurde.

Der Kerker, in den wir jetzt gebückten Hauptes hineinstiegen, war von derselben Beschaffenheit, wie die Pozzi des obern Stockwerkes, nur, daß blos die Wände, nicht aber die Decke und der Fußboden mit Holz bekleidet waren, und die hölzerne Bettstatt fehlte. Licht und Luft erhielt dieser steinerne Sarg ebenfalls durch ein rundes, über der Thüre in der Mauer befindliches Loch. Als der Führer mit der Fackel der Decke nahe kam, erschienen dort eine Reihe von Schriftzügen und Charakteren, welche wahrscheinlich mit einem Stein oder mit einem Nagel eingegraben waren. Ich ließ die Fackel näher Hinhalten und entzifferte aus den Schriftzügen, denen man es ansah, daß sie im Dunkeln geschrieben waren, mehrere Zeilen in gutem Italienisch, mit einigen Eigenthümlichkeiten im Dialekt und in der Stellung der Worte. Sie lauteten folgendermaßen:

Un parlare poco et un
negare pronto et un
pensare il fine poi dar la vita
a noi altri Meschini.      1605
 Ego Joannes Baptista arciprete
 ecclesiae cortellariae
.

zu deutsch:

Wenig sprechen und
geschickt leugnen und
das Ende überlegen kann das Leben geben
uns armen Elenden.      1605.
 Ich Johannes Baptista, Erzpriester von Cortellara.


Non ti fidar d’alcuno pensa e tacce
Se fuggir vuoi de spioni insidie e tacce
Il pentirti, il pentirti nulla giova
.

zu deutsch:

Traue Niemandem, denke und schweige,
Wenn Du den Nachforschungen der Spione entfliehen willst, schweige,
Die Reue, die Reue ist keine Hülfe.


De chi mi fido, guarda me Iddio
De chi no mi fido, me guardaro io
.

zu deutsch:

Auf den ich baue, vor dem schütze mich Gott,
Auf den ich nicht baue, vor dem werde ich mich selbst schützen.

Ist in diesen wenigen Zeilen nicht das ganze System des Spionirwesens und des Inquisitionsverfahrens des schrecklichen Rathes der Zehn ausgesprochen? Welches Ende mögen die Unglücklichen genommen haben, welche sie schrieben? Wahrscheinlich wurden sie an den Säulen des Dogenpalastes oder zwischen den Säulen der Piazzetta, auf dem gewöhnlichen Hinrichtungsplatze von Venedig, aufgehängt. Oder die schreckliche Garotta machte ihren Leiden auf dem oben beschriebenen Stuhle ein Ende und die geheimnißvolle Gondel brachte ihre Leichen in dunkler Nacht zu dem stillen Friedhofe von San Giovanni e Paolo.

Von Byron wird erzählt, er sei bei der Besichtigung der Pozzi in Begleitung einer größeren Gesellschaft zufällig in diesem Kerker zurückgelassen worden und habe darin mehrere Tage, weil man ihn nicht vermißt habe, zubringen müssen, bis der Führer aus dem Palaste, der die Gefängnisse zu zeigen pflegt, mit einem andern Fremden wieder hierher gekommen sei. Die Geschichte ist eine Fabel. Der alte Mann, der mir die Pozzi zeigte und der seit fast einem halben Jahrhundert dies Geschäft versieht, war auch der Führer des Lord. Byron that nur das, was ich jetzt that; er schickte den Führer fort mit dem Auftrage, ihn nach einiger Zeit wieder abzuholen, und blieb eine halbe Stunde in dem Kerker allein. Ich begleitete den Führer bis in die obere Etage der Pozzi, schickte ihn dann mit seiner Fackel fort und befahl ihm, nach einer halben Stunde mich wieder abzuholen, so lange aber keinen Besucher hinunterzuführen. Ich wünschte den Eindruck zu [740] empfinden, den die schrecklichen Kerker in der Einsamkeit und in ihrer Dunkelheit auf mich machten.

Allein stieg ich nun die beiden steinernen Stiegen wieder hinab. Eine Todtenstille umgab mich, ich hörte kein Geräusch, als den eintönigen Schlag der Wellen des Canals, welche an der Mauer des Palastes branden. Die mit dicken Eisenstangen vergitterten Fenster ließen nur ein schwaches Dämmerlicht in den Gang fallen. Ich stellte mich auf den Platz, wo einst der Hinrichtungsstuhl mit der schrecklichen Garotta stand, und blickte auf die geheimnißvolle Thür, welche von hier in den Canal führte. Ich sah den schrecklichen Stuhl vor mir; dann hörte ich, wie die Eisenthür des Kerkers sich knarrend öffnete, und zwei Henker, schwarze Masken vor dem Gesicht, führten einen bleichen Mann, dessen Hände gefesselt waren, durch den Gang zu dem Stuhle. Ein hoher Mann, in der Amtstracht der Inquisitoren, ebenfalls maskirt, begleitete sie. Als der Gefangene auf dem Stuhle saß, zog der Inquisitor eine Schrift aus dem Gewände und hielt sie dem Gefangenen vor das Gesicht. Es waren wenige Zeilen darauf geschrieben, die ich nicht entziffern konnte, die Unterschrift fehlte, nur oben in der Ecke des Pergaments bemerkte ich deutlich mit rother Schrift die Buchstaben C. D. X. Der Gefangene zitterte, als er die wohlbekannten schrecklichen Zeichen erblickte; sein kerkerbleiches Gesicht wurde noch bleicher. Dann wurde ihm von hinten ein Strick über den Kopf geworfen, ich hörte deutlich das Krachen der Halswirbel. Wie durch einen Zauber öffnete sich nun die geheimnißvolle Thüre in der Mauer und vor ihren Stufen erschien die schwarze Gondel auf dem Wasser. Deutlich sah ich an ihrem Hintertheil mit rothen Buchstaben die fürchterliche Inschrift.

War es ein Traum oder sah ich dies Alles wirklich? Ich rief, um in dieser Einsamkeit meine eigene Stimme zu hören, ich ging auf dem engen Raume hin und her, ich fühlte mit der Hand nach der vermauerten Thür, um mich zu überzeugen, daß sie nicht existirte. Nach und nach beruhigte sich meine erhitzte Einbildungskraft, und die schrecklichen Gestalten verschwanden; ich sah, daß ich allein war an diesem fürchterlichen Orte. Dann ging ich durch den Gang und stieg in den Kerker hinab, an dessen Wänden ich bei dem Scheine der Fackel die Inschriften gelesen hatte. Es war ganz dunkel. Das Dämmerlicht, das durch die obere, runde Oeffnung fiel, war so schwach, daß kaum die Umrisse der Wände zu erkennen waren. Die Luft war dick, feucht und dunstig, eine wahre Kerkerluft. Ich habe auch Jahre lang einen Kerker bewohnt, den man zu den schrecklichen zu zählen pflegte; aber seine Luft war wahrer Frühlingsodem gegen diese Moderluft. Sie kam mir vor, wie die Luft eines steinernen Grabes. Ich ging auf dem engen Raume hin und her; er gestattete mir kaum, vier Schritte zu machen. Ich berührte mit der Hand die Decke und die Steinplatten des Fußbodens; sie fühlten sich an, wie die feuchte, kalte Haut einer Eidechse. Wiederum begannen eine Reihe Schreckensgestalten aus der Geschichte des Palastes vor meinem geistigen Auge zu erscheinen, dann dachte ich unwillkürlich an die Folterwerkzeuge, die ich Tags zuvor im Arsenal gesehen, an die eiserne Haube, an den vergifteten Schlüssel, an den Schraubstock, der die Finger des Gefolterten zerquetschte, Erfindungen des Tyrannen von Padua. Gewaltsam suchte ich die Erinnerungen niederzudrücken, um nicht wieder in den früheren aufgeregten Zustand zu gerathen – da sah ich den Gang von einer rothen Fackel erleuchtet und zu mir herein blickten die schwarzen Augen meines Führers, der gekommen war, um mich abzuholen. Er schüttelte über meine sonderbare Grille, hier allein zu bleiben, den Kopf, und als ich ihm erzählte, was ich Alles gesehen, machte er ein Gesicht, als wenn er dächte, es sei in meinem Gehirn wohl nicht Alles in der gehörigen Ordnung. Langsam stiegen wir wieder hinauf, und als ich wieder auf der Piazzetta am Molo stand, leuchtete die Octobersonne mir noch einmal so heiter und so golden. Dr. Keesbacher kam gerade über die Riva bei Schiavoni von einem ärztlichen Besuche, den er bei einer russischen Fürstin gemacht hatte. Wir stiegen in eine Barke, nahmen vier Ruderer und fuhren am Lido vorüber hinaus auf das adriatische Meer, welches heute wie ein stahlblauer venetianischer Spiegel glänzte.




Blätter und Blüthen.

Die Novara-Expedition. Die österreichische Fregatte „Novara“, welche, wie Sie wissen, bestimmt ist, eine wissenschaftliche Expedition um die Welt zu führen, ist, nachdem sie die Capstadt, die Inseln St. Paul und Neuamsterdam, Ceylon etc. berührt, am 2. August d. J. in Shanghai auf der Ostküste China’s angekommen. Von hier aus ist der letzte Bericht nach Europa gelangt, dem wir Folgendes entnehmen: Unsere Abreise nach Sydney (an der Ostküste von Neu-Süd-Wales in Australien) wird wahrscheinlich am 8. oder 9. August statthaben. Diesmal werden die zahlreichen Freunde, welche den Novara-Reisenden mit so theilnehmenden Herzen folgen, lange nichts von uns zu hören bekommen. Die Fahrt von Shanghai nach Sydney dürfte mindestens drei Monate in Anspruch nehmen, um so mehr, als Commodore Wüllerstorff unterwegs die Mariannen und Carolinen, sowie die Salomonsgruppe zu besuchen gedenkt. Sie dürfen durchaus nicht beunruhigt sein, wenn Sie mehrere Monate lang kein Sterbenswörtlein von uns hören, auch dann nicht, wenn Sie zufällig d’Urville’s Reisewerk in die Hand bekommen, und darin von der sonderbaren Sitte der Eingeborenen der Salomonsgruppe lesen sollten, gebratene Stücke Menschenfleisch dem fremden Gaste als Speise vorzusetzen. Obwohl die Bewohner dieser Insel Anthropophagen genannt werden müssen, so sind sie dies doch nur bis zu einem gewissen Grade; sie verzehren nämlich nur das Fleisch ihrer Kriegsgefangenen und der ihnen feindlichen Volksstämme. Gegen Weiße sollen sie ungemein zuvorkommend und freundlich sein. Aber wenn auch dies nicht der Fall wäre, so ist die Gefahr, von wilden Völkerschaften verspeist zu werden, für Reisende auf einem Kriegsschiff nicht sehr groß. Obschon unser Aufenthalt in China in die ungünstigste Periode fiel, sowohl in Bezug auf die Jahreszeit, mitten im heißesten Sommer, als auch wegen der politischen Verhältnisse, welche der Naturforschung so viele Schwierigkeiten in den Weg legten: so dürfte doch jeder von uns, mit Hinblick auf das Gesehene, Erfahrene, Erlebte und Erworbene, mit großer Befriedigung der Tage in China gedenken. Ein großer Vortheil war es für die Reisenden der Expedition in Shanghai, Männer wie Will Williams, Meadows, Muishead, Hobson, Montigny, Fortune, Swinhow zu treffen, welche sich durch ihre gründliche Kenntniß des Landes von großem Nutzen erwiesen. Nur durch solche Theilnahme ist es möglich, in einer so kurzen Zeit unter so grauenhaften klimatischen Verhältnissen, wo der geringste Exceß den Tod bringt, so Erfreuliches zu erzielen, wie es uns in den verschiedensten Zweigen gelungen ist. – Vorausgesetzt, die Fahrt der Novara von Shanghai bis Sydney dauere drei Monate, so ist sie Anfang dieses Monats (November) am Orte ihrer Bestimmung; wir würden dann die nächste Nachricht von Sydney aus im Januar 1859 zu erwarten haben.




Nicht zu übersehen!

Mit der nächsten Nummer schließt das vierte Quartal und der Jahrgang 1858 und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen für das nächste Jahr schleunigst aufgeben zu wollen.

Im nächsten Quartal kommen außer den trefflichen Beiträgen von Bock, Roßmäßler, Beta in London, A. Brehm etc. etc. zum Abdruck:

„Er betet“. Erzählung von Temme (Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder“). – Westphälische Erinnerungen von Heinrich Koenig: „Die geheime Polizei“. – Berliner Bilder von Ernst Kossak. – Reise-Erlebnisse in Rußland von Wilh. Hamm, mit Abbildungen. – Die Jagd auf den Hochalpen von Guido Hammer, mit Abbildungen. — Ein Parvenu des vorigen Jahrhunderts von L. Storch, mit Abbildung. – Ein Besuch bei Kane, dem Nordpolfahrer. – Preußische Licht- und Schattenbilder von Max Ring: Bischoffswerder und Wöllner. — Humoristische Vorlesung über die Philosophie des Luxus und der Mode. Ungedruckte Reliquie von Carl Herloßsohn. – Eisenbahnfahrt über den Semmering. – Ein Burschentag in Bamberg. — Johanna’s (Wagner) erste Lorbeeren. Von Alb. Traeger.

Gleich den früheren Jahren sind auch für den Jahrgang 1858 höchst

geschmackvolle Decken mit Golddruck

nach eigens dazu angefertigter Zeichnung zum Einbinden durch uns zu beziehen. Alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem billigen Preise von à 13 Ngr. zu liefern. Zu den Jahrgängen 1854 bis 1857 stehen ebenfalls Decken zu den gleichen Bedingungen zu Diensten.

Die Verlagshandlung.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es sind uns mit Bezug auf diesen Artikel einige Mittheilungen zugegangen, die wir in einer der nächsten Nummern im Auszug veröffentlichen werden. D. Red.