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Die Gartenlaube (1858)/Heft 16

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 16. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Iffland.
Biographische Novelle von A. v. Sternberg.
(Fortsetzung.)

„Schweig!“ rief die Frau, nach einer Weile, „tadle nicht das Einzige, was vielleicht noch gut an mir ist. Seit ich mit Dir zusammenlebe, bin ich schlecht.“

„Nicht schlecht bist Du, Du bist klug; Du siehst die Welt an, wie ich sie ansehe, das heißt, angefüllt mit Schurken und Schwachköpfen; die ersteren dazu geschaffen, auf Kosten der Anderen zu leben. Ich war lange Zeit ein Schwachkopf, bis ich’s endlich weg hatte, ein Schurke zu sein. Wie lange hab’ ich mich von dem Schurken Iffland um meinen Ruhm, um mein Glück, um mein Leben betrügen lassen! jetzt, wenn ich heute aufträte, würde er an mir seinen Mann gefunden haben.“

„Nun so tritt auf; aber Du liebst die Flasche so sehr, daß Du nicht einen einzigen Abend kannst nüchtern sein. Ist das nicht Schwäche?“

„Seine besten Rollen hat er von mir! Was er als Hamlet und Lear leistet – ein schwaches Abbild ist es von mir! Und ich Thor – ich öffnete ihm, dem Jämmerlichen, noch die Pforten zum Ruhme.“

„Er ist ein edler Mann.“

„Weib!“ rief der Zürnende, indem er heftig aufsprang und die Fäuste ballte, „wenn wir gute Freunde bleiben sollen, so rede nicht so von dem Manne, den ich hasse, wie ein Mensch nur den andern hassen kann. Hier lieg ich im Staube, ein Zertretener, ein Vergessener, ein Verschmähter, während er triumphirt, während er bei den Großen, bei Hofe und in glänzenden Kreisen in der Stadt als Stern erster Größe glänzt. Und ich, von dem er hat, was er hat, ich gehe in Armuth und Elend unter. Und nun kommt diese Närrin und lobt ihn noch. Sage mir lieber, wie ich ihn vernichte, wie ich ihn todtmache, wie ich ihn unter meine Füße bringe, das stände Dir gut an, alte Gauklerin!“

„Wenn ich sage, daß dieses Gefühl Neid ist und daß der Neid Elende noch elender macht –“

„Schweig, Du verstehst davon nichts. Jeder große Mann ist neidisch und muß es sein; es gehört der Neid zur Größe. Aber laß uns von etwas Anderem sprechen. Wie viel hast Du in Casse?“

„Die paar Pfennige, die das Kind mir gestern gebracht.“

„Gib sie her.“

„Sie sollten dazu dienen, uns ein Abendbrod zu verschaffen.“

„Mich hungert nicht. Ich habe gestern eine Schenke entdeckt, in der man billig und gut eine Erfrischung zu sich nehmen kann.“

„So nimm, was da ist, aber bleibe nicht so lange aus. In der Einsamkeit und im Dunkeln hab’ ich so sonderbare Träume. Es naht sich mir mit Stimmen und spricht zu mir mit Gebehrden, als wollte die alte Zeit erstehen. Neulich sah ich sogar meinen Ottokar. O, da hab’ ich weinen müssen, bittere, unversiechbare Thränen; Thränen, wie sie Agrippina weinte auf den Aschenkrug ihres Unvergeßlichen.“

„Ottokar? Das war der Leichtfuß, der Dich sitzen ließ und der später Minister geworden ist?“

„Laß ihn,“ flüsterte die Kranke und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Wo er auch sei, es gehe ihm gut.“

„Dieses Weib ist, so wahr ein Gott lebt, zum Tollhause reif!“ tobte der Mann. „Ich könnte über diese kindische Seele lachen, wenn ich sie nicht hassen müßte. Wie hat doch der Himmel oder die Hölle, was gleichviel bedeutet, in den engen Raum dieser Dachkammer das schwächste Weib und den stärksten Mann zusammengeführt!“

Er machte sich fertig zum Gehen, dann blieb er stehen und es war, als zucke ihm etwas durch Gehirn und Glieder. Er hielt den Leuchter mit dem Lichtstümpfchen hoch empor, und indem er den Schein auf sein todtenfahles und verzerrtes Antlitz fallen ließ, begann er plötzlich in hohlen Tönen jenen schauervollen und gigantischen Monolog des Franz Moor zu declamiren, in welchem alle Schrecken der Phantasie zusammenwirken, um ein Bild des Tages des Weltgerichts zu geben. Er sprach sich immer mehr hinein und die Darstellung wurde so ergreifend, daß die Kranke sich im Bette aufrichtete, beide Hände vor das Gesicht schlug und weinend ausrief:

„Gott sei mir armen Sünderin gnädig!“

In der dunkeln Einfassung der Thüre stand ein Mann im Mantel unbeweglich und war Zuschauer dieser Scene, ohne daß sein Erscheinen von den Andern war bemerkt worden.

„Ha!“ brüllte plötzlich der Declamirende. „Da ist er!“

„Wer?“ fragte die Frau auf dem Bette.

„Wie kommt er hierher?“ stotterte der Bestürzte, indem er sich scheu und schüchtern bis in die Nähe des Bettes zurückzog und dann mit vorgehaltener Hand der Frau zuflüsterte: „Iffland!“ Die Frau stieß einen Schrei aus und wandte sich im Bette gegen die Wand, indem sie vor sich hinmurmelte:

„Ich will ihn nicht sehen; er soll mich nicht hier und in diesem Elende finden.“

Das Kind kam an das Bette der Frau und rief:

„Das ist der Herr, der Dich sehen und sprechen wollte, Mutter.“

Eine lange Pause herrschte im Zimmer, endlich trat Iffland [218] auf den Mann zu, der mit niedergeschlagenen Augen und in gebeugter Stellung an der Wand lehnte, und ihm die Hand reichend, rief er:

„Brav, Fellmer! Ich sehe, Du hast nichts vergessen, wenn Du auch nichts dazu gelernt hast.“

Ohne eine Antwort zu geben, wand sich der Angeredete an dem berühmten Schauspieler vorbei und entfloh aus der Thüre, die er heftig hinter sich zuwarf. Iffland war jetzt mit der Frau allein, die noch immer in ihrer abgewendeten Stellung beharrte. Er redete sie an, sie antwortete aber nicht; heimlich gab sie dem Kinde den Befehl, das Licht auszulöschen. Dieses wagte sich nicht zu dem Tische heran, wo der Fremde stand. Nochmals wurde die Frage wiederholt und jetzt stöhnte die Frau:

„Bemüht Euch nicht, mein Herr; eine kranke Frau dankt Euch für Euer Almosen, allein sie will nicht von Euch erforscht und erkannt sein. Geht, ich bitte Euch!“

Iffland richtete seinen Blick auf die Wände des Zimmers, sie waren mit ein paar Bildnissen geziert; das ihm zunächst befindliche stellte eine junge blühende Schöne vor, mit einem Strohkranze in den schwarzen Locken. Es war das Bild einer Schauspielerin in der Ophelia. Er sagte nichts, aber sein Entschluß stand fest, die Bewohnerin dieses Zimmers kennen zu lernen. Mild und freundlich trat er an das Lager und sprach nochmals seine Bitte aus, daß man ihm Antwort geben möchte; langsam wandte sich endlich die Liegende um und der Ruf „Florine!“ entglitt Ifflands Lippen.

„Ja, ich bin es!“ sagte die Kranke.

„Florine! Sie hier und in diesem Elende? Und ich habe nichts davon gewußt, ich, Ihr Freund, Ihr Bewunderer? Ist das recht gethan, gottloses Weib?“

Er nahm ihre Hand, legte sie auf sein Herz und sah sie mit seinen großen, hellen, freudigen Augen innig an. Die Frau zerfloß in Thränen.

„Mein geehrtester Herr Director –“

„Nichts von Director – Ihr Freund, Ihr Bruder, Florine.“

„Ach!“

„Armes, armes, leichtsinniges Weib! Wie grausam straft der Himmel! Seit Ihrem letzten Auftreten in Wien hab’ ich nichts von Ihnen gehört, Florine. Es ging Ihnen nicht gut, aber auch nicht gerade schlecht. Wie kamen Sie denn hierher und in diesen Zustand?“ –

„Meine Geschichte ist weder neu, noch erbaulich,“ sagte die Kranke mit einem bittern Lächeln auf den schmalen Lippen. „Ich habe mich selbst mit Absicht sinken lassen, weil mir das Leben gleichgültig geworden. Es ist weder großes Elend, noch großes Verbrechen in meinem Dasein.“

„In welchem Verhältnisse stehen sie zu dem Manne, der sich eben entfernte? Sind Sie mit ihm verheirathet?“

„Nein,“ entgegnete die Frau mit einem leichten Schauder – „er ist nicht mein Mann. Er hat sich zu mir gesellt und ich mag ihn nicht forttreiben, denn er ist noch elender, wie ich. Auch das Kind ist nicht das meinige. O, welche Erschütterung ist das! Mein Kopf hält’s nicht aus. Wie wunderlich ist der heutige Tag! Gerade vor einer Stunde mußte sich’s fügen, daß ich in den alten Briefen stöberte – gerade heute, gerade vor einer Stunde –“

„Beruhigen Sie sich; ich komme wieder.“

„Sie kommen nicht wieder. Wer besuchte wohl das Elend! Einmal verirrt man sich dahin, aber dann nicht wieder. Mann, Mann! Mann meiner schönen Jugendtage! nur eine Frage: lebt er? lebt Ottokar?“

„Er lebt!“ entgegnete Iffland mit fester Stimme. „Beruhigen Sie sich. Lassen Sie mich gehen und wiederkommen. O, armes Kind, wie haben Sie sich und Ihre Freunde so sehr vergessen können! Doch ich gehe; bald – bald sollen Sie Nachricht von mir haben. Gott mit Ihnen.“

Noch ein Händedruck und der Redliche verschwand in die Nacht zurück, aus der er aufgetaucht war. Unten auf der Straße angelangt, richtete Iffland einen Blick hinauf zu dem Fenster der Dachwohnung, aus der er soeben geschieden. Das Haus gehörte einem Kaufmanne, mit dem er hier und da Geschäfte gehabt. Er begab sich in den kleinen Laden, kaufte einige Vorräthe an Kaffee, Reis, Zucker, und ließ sie hinauftragen. Dem Kinde, das ihm gefolgt war, gab er Geld und bestellte es zu dem morgenden Tage zu sich. Dann verließ er die Vorstadt, und in einem der belebtesten Stadttheile angelangt, stieg er die mit Teppichen belegte und erleuchtete Treppe bei dem Ministerialrathe und Präsidenten von Blumenstein hinauf. Dort versammelte sich an diesem Abende stets eine kleine Zahl Männer und Frauen, die, mit Kunst und Wissenschaft vertraut, eine belebende, Geist und Gemüth bildende und fördernde Unterhaltung führten. Iffland gehörte diesem Kreise an, er war der Vertraute des Mannes und der Freund der jungen, liebenswürdigen Frau, die eine fleißige Theaterbesucherin war, wenn es ihr leidender Zustand nur irgend erlaubte. Mit großer Kunstfertigkeit spielte sie die Harfe, und soeben hatte sie die Freunde durch eine der einfachen und seelenvollen Compositionen Reichardt’s, die man für dieses Instrument gesetzt, erfreut, als hinter den Portieren der Thüre Iffland hervortrat. Der Präsident ging ihm entgegen und führte ihn in den Kreis der Freunde. Auch der Collaborator Roland war unter den Gästen. Als die ersten Begrüßungen abgethan waren, führte Iffland die Dame des Hauses ein wenig bei Seite und flüsterte ihr zu:

„Ich bleibe nicht lange, liebste Laura, ich fühle mich zu sehr bewegt. Welch’ ein trauriges Bild hat sich mir gezeigt! Und dort geht der Mann, so ahnungslos, – wenn er wüßte, von wem ich komme.“

„Und von wem kommen Sie?“

„Denken Sie, Laura, Florine lebt; sie lebt in Armuth, in Vergessenheit hier in dieser Stadt. Ich komme so eben von ihr.“

„Um Gotteswillen, leise!“ rief die schöne Frau, „daß nur der Freund dort nichts erfährt, nicht unvorbereitet erfährt.“

„Deshalb,“ entgegnete Iffland, „will ich’s vermeiden, mit ihm zu sprechen; so aufgeregt, wie ich bin, könnte ich mich verrathen. Dann noch etwas, Laura, ich bringe Ihnen in diesen Tagen „mein Mädchen“ –“

Die Präsidentin sah ihren Freund fragend und lächelnd an.

„Sie hören, „mein Mädchen“, die Braut meines Anton. Haben Sie unsere Verabredung vergessen?“

„Wie sollte ich?“ entgegnete die Gefragte. „Und will sie dabei bleiben, die Rolle der Friederike zu geben? Ich denke, wir bringen sie noch von dem Entschlusse ab, die Breter zu betreten.“

„Und ich,“ rief Iffland entrüstet, „wo bleibe ich denn? Ich, der ihr den Entschluß eingeflößt, der ihr eine glückliche Zukunft versprochen? Ach, Laura, welche sonderbaren Launen beherrschen Sie!“

„Denken Sie an Florine, von der Sie eben kommen. Auch ihr versprach man eine glänzende Zukunft. Auch ihr –“

„Still, er beobachtet uns. Also auf Wiedersehen, vielleicht morgen schon.“

Als der Forteilende an den Männern vorüber wollte, hielt ihn einer derselben zurück, indem er rief:

„Iffland, man intriguirt gegen Sie; es bildet sich eine furchtbare Verschwörung, die damit umgeht, Ihnen am Abend Ihres Benefizes einen Streich zu spielen. Nehmen Sie sich in Acht. Gewisse Attaché’s gewisser Ambassaden sind auch dabei im Spiele.“

Der Kreis der Männer lachte.

„In allem Ernste, Theuerster,“ versicherte der Sprecher. „Der wüthige Attaché hat schon einen nicht geringen Anhang erworben. Die Verschwornen versammeln sich im Café français um die zehnte Stunde, jedes Mal nach dem Schauspiel. Es werden beispiellose Pläne geschmiedet.“

„Armer Iffland,“ klagte der Präsident, „um Deinen Ruhm ist’s geschehen!“

„Haltet mir nur die Kläffer in Euren Journalen vom Leibe, das Andere laßt meine Sorge sein,“ entgegnete der Schauspieler.

„Berlin kann nur durch Berlin bekämpft werden,“ nahm ein junger, hagerer Mann mit einem Ordensbande das Wort. „Man muß wissen, den Berlinern zu imponiren, und man gängelt sie, wie die Kinder. Aber, freilich, man muß mit dieser Stadt vertraut sein.“

„Es mag sein,“ rief Iffland gereizt; „allein, wie macht man’s, um den Treulosen treu, den Falschen offenherzig und bieder zu machen?“

„Der Berliner ist weder das Eine noch das Andere,“ sagte der Ernsthafte. „Ich kenne meine Vaterstadt. Die großen Männer der Nation kamen ohne Namen hierher und empfingen hier einen. Lessing, Mendelssohn, Gleim hat Berlin zuerst gekrönt, Deutschland folgte. Kant, obgleich Königsberger, ist doch ein Sohn der Intelligenz dieser Stadt, die ihm die ersten Schüler, die ihm die ersten Verbreiter seiner Lehre gab. Gehen wir noch früher zurück, so ist’s [219] Leibnitz, der, von dem kleinen Hofe zu Hannover sich abwendend, Trost, Erheiterung, Anerkennung bei der geistvollen Königin Charlotte fand. Demnach wäre der Berliner Boden keine Lüneburger Haide für das Talent, für das Genie. Freilich gibt’s aber Leute, die die Gemüthlichkeit und sanfte Einfachheit der Lüneburger Haide nach Berlin versetzen möchten. Für derlei Beginnen ist nun freilich kein günstiger Erfolg zu hoffen.“

Die Männer sahen sich an und Einige wandten sich mit Lächeln ab, Andere suchten dem beginnenden Streite dadurch vorzubeugen, daß sie mit vermittelnden Bemerkungen auftraten. Der Präsident ergriff das Richtige, indem er ausrief:

„Iffland ist der Unsere; wir haben ihn in unsere Mitte aufgenommen und lassen ihn nicht. Er soll uns lieben und schätzen lernen, so weit wollen wir’s noch bringen.“

Die Umstehenden drückten ihm die Hand und schnell besänftigt enteilte der berühmte Gast. Das einmal angeregte Gespräch wurde jedoch noch lebhaft fortgesetzt.

„Ich kann es nicht leiden,“ rief der Journalist und Kritiker, denn das war der Ernsthafte, „dieses ewige Schelten auf unsern kalten Verstand, unsern alles Schöne tödtenden Witz, unser Raisonnement. Es soll Einer nur unsterblich sein und wir werden ihn nicht zum Sterben bringen. Da kommen sie aber herüber zu uns, diese Gefühlsseligen, diese weichen Kindergemüther mit halber Kunst und ganzer Anmaßung, diese lyrischen Talente mit dem Lutschbeutel im Munde – Alles das will groß und einzig und völlig makellos sein und schreit Zeter, wenn wir nicht sogleich ihm entgegenlaufen.“

„Iffland brachte bereits einen wohlbegründeten Ruf mit,“ bemerkte der Präsident.

„Er brachte ihn mit,“ entgegnete der Journalist, „richtig; allein was hat er gethan, diesen Ruf auch bei uns zu begründen? Ist er weiter gestiegen in der Kunst, oder ist er stehen geblieben? Unbedingt das Letztere. Nennen Sie mir, meine Herren, eine einzige Rolle, die neu hinzugekommen ist zu seinem Repertoir. Und soll ich von seinen Verdiensten als Dichter sprechen? Kein einziges Stück, das er geschaffen, denn man kann kaum sagen, gedichtet, steht als Kunstwerk da; alle tragen den Stempel des Dilettantismus an sich, und was man allein an ihnen loben kann, ist die Kunst, bühnengerecht sich zu geben. Nehmen wir nur gleich das erste beste seiner Stücke, ja in der That das beste, wie das allgemeine Urtheil sagt: die Jäger, wo ist da in dem ganzen Stücke ein vernünftiger Plan zu sehen? Ich wenigstens sehe keinen. Die Motive wechseln wie die Kartenblätter. Ist, Anton die Hauptrolle? Nein. Ist’s der Doctor? Auch nicht. Das Stück zerfällt in drei Stücke. Zuerst Anton’s Liebe zu Friederiken. Dieses Stück endigt mit dem dritten Acte, denn nachdem die schwächliche Gegenwehr der Mutter, die zur Sprache gebrachte Glaubensverschiedenheit beider Liebenden rasch niedergetreten ist, steht der Vereinigung nichts im Wege. Das Mittelstück füllt der Streit der beiden Alten aus, und das dritte Stück bringt Antons Anklage und Freisprechung. Wenn wir’s genau nehmen, so ist an der ganzen Verhandlung nur der Streit der beiden Alten, des Oberförsters und des Amtmanns, von Wichtigkeit, denn diese Scene ist mit eben so großer Feinheit als Menschenkenntniß geschrieben; sie zeigt aufs Lebendigste die Sitten und die Denkungsart jener Classe von Menschen, um die es sich hier handelt, obgleich auch hier eine höhere Idee als Träger des Ganzen fehlt, und hinter des Amtmanns Ehrlichkeit keine tiefere Anschauung des Staates und der Bürgerpflichten sich versteckt. Da müßte aber unser Dichter mehr das Leben im weiteren Sinne, mit einem Worte mehr Politik eines großen Staates und das Treiben wichtiger Interessen im Volksverbande studirt haben.“

„Mit einem Worte,“ sagte der Präsident lachend, „er müßte neben dem Sophokles auch ein Solon und Perikles sein.“

„Die Charaktere in dem Schauspiel „die Jäger“ sind doch trefflich gezeichnet,“ nahm einer der Gäste das Wort. „Man sieht diese guten Leutchen vor sich. Die plaudernde alte Mutter, das herzige liebe Riekchen, das boshafte und verliebte Kordelchen, und vor allen Dingen der herrliche Ehrenmann, der Oberförster, das sind Kernnaturen.“

„Das sind sie,“ sagte der Recensent. „Auch sein „Spieler“ ist eine aus dem Leben mit großer Treue und drastischer Wirkung hervorgenommene Figur. Mag sich an diesen Gebilden erfreuen, wer da will, nur gehe man nicht zu weit, und gebe muthwillig Lorbeerkronen hin, die für andere Köpfe bestimmt sind. Wir haben einen Goethe, einen Schiller, einen Lessing – das ist Alles, was ich sagen wollte.“

Die kleine Gesellschaft setzte sich um die Abendtafel.




IV.

Der Tag des Benefizes nahte heran. In Iffland’s Wohnung, in einem freundlichen großen Salon, durch dessen Fenster die warme Frühlingsnachmittagssonne schien, standen zwei Lehnsessel zur Seite der Wand, sie bildeten die Sitze für das Publicum, und dieses bestand hier nur aus zwei Personen, aus Iffland und seiner Freundin Laura. Die junge Sophie Seelfeld, die Iffland für das Theater gewonnen hatte, eine reizende Erscheinung voll Jugend und Unschuld, war bereit, die Rolle der Friederike nochmals mit dem Meister durchzugehen, und sie und der Schauspieler, der den Anton machte, stellten sich in dem freien Raume auf vor den Stühlen. Der fünfte Auftritt im zweiten Acte, das erste Zusammentreffen Anton’s mit Friederiken in Gegenwart von Kordelchen war beendet, da wurde der junge Schauspieler, der den Anton gab, abgerufen wegen eines dringenden Geschäfts, das seiner zu Hause wartete. Iffland erlaubte ihm zu gehen, zugleich wandte er sich mit einiger Verlegenheit zu Laura, und diese, seine Miene richtig deutend, rief:

„Was machen wir nun? Wie soll unsere junge Freundin ohne Liebhaber eine Liebesscene spielen? Wenn wir auch Alles möglich machen, das machen wir doch nicht möglich.“

Iffland erwiderte lächelnd:

„Mein Kind, der muß ein schlechter Theaterdirector sein, der nicht stets eine Doublette bei der Hand hätte. So hab’ ich denn auch für diesen möglichen Fall für einen Liebhabersubstitut gesorgt. Soll er hervortreten?“

„Wer ist’s?“ fragten beide Damen neugierig.

„Ein ziemlich taugliches Subject,“ erwiderte Iffland einsylbig und trocken.

„Um’s Himmelswillen, theuerster Director, doch nicht Ihr Famulus, der Ihnen die Rollen abschreibt, der schielende kleine Rötling?“ rief Sophie, und klammerte sich an den Arm ihres Gönners, „unmöglich könnte ich mich entschließen, dem in die Arme zu fallen.“

„Eine Schauspielerin, mein Kind, muß Alles können,“ bemerkte der Meister ernst, „sie muß von keinem persönlichen Widerwillen sich leiten lassen. Für die zwei Stunden, die sie vor den Lampen steht, muß sie selbst ihrem Todfeinde glühende Liebe heucheln.“

„Ach!“ rief Sophie und lehnte, das Haupt verbergend, an die Schulter Laura’s, die ihr schmeichelnd und tröstend die dunkeln Locken von der Stirne strich.

„Nun, so lassen Sie ihn denn kommen, den Furchtbaren, den Entsetzlichen!“ stöhnte das Mädchen.

Iffland ging rasch zur Thüre und, sie öffnend, ließ er einen bildschönen, schlanken Jüngling von achtzehn Jahren, in die enge Uniform des Gardeschützenbataillons gekleidet, eintreten. Sophie fuhr freudig in die Höhe.

„Anton!“ rief sie – „Sie – Du – hier?!“

„Dies ist ein Substitut!“ rief Iffland triumphirend. „Hab’ ich’s nun gemacht? Wird Fräulein Friederike sich nun noch weigern, ihre Rolle mit all der nöthigen Kunst und Begeisterung zu spielen? Und Du, Freund Anton, hast Du, wie ich’s Dir angerathen, in Deiner Kaserne fleißig memorirt?“

„O, Herr Director,“ stotterte der junge Mann, indem eine helle Röthe seine Wangen färbte, „was das betrifft, die Worte, die ich zu sprechen habe – gehen mir aus der Seele.“

„Nun, so spielt, und wir – Laura – wir wollen das Götterschauspiel der Liebe mit anschauen, wollen die Flammen dieser jungen, unentweihten jungen Herzen gegeneinander auflodern sehen und dabei – unserer eigenen Jugend gedenken.“

„Still, Schwätzer,“ sagte die junge Frau leise, und machte eine abwehrende Bewegung mit dem Tuche. Iffland sah sie unendlich schalkhaft und gutmüthig lächelnd von der Seite an, indem er den Finger drohend emporhob.

Die Scene ging nicht ganz nach Wunsch; Anton wollte immer noch mehr sagen, als er zu sagen hatte, und Friederike vergaß mehr als einmal das Stichwort, indem sie auf seine improvisirten Zusätze lauschte. Was Anton jedoch nie vergaß, war, den Arm um Friederikens schlanke Taille zu legen, um sie mit inniger Gewalt an sich zu ziehen. Diesen Gestus machte er meisterhaft. Zuletzt ging auch [220] das Uebrige, nachdem zwei, drei Mal wiederholt worden. Iffland freute sich an der Innigkeit der Worte, die er niedergeschrieben, und die jungen Herzen vor ihm zeigten ihm, wie richtig er in die warme, blüthenreiche Seele der Jugend und Unschuld hineingeblickt. Die Liebe und die Poesie feierten zugleich ihren Triumph. Das Urbild hatte sich des Abbildes nicht zu schämen. Aber freilich, wie konnte auch auf den Bretern so gespielt werden, hier, wo die Natur selbst es übernahm, das Werk der Kunst zu vervollständigen! In einer immer höher steigenden Scala der Liebeslaute wuchs das schöne Concert zu einem entzückenden Wohllaut an.

Als das seelenvolle Mädchen die Worte sprach: „Anton – mein ganzes Leben ist in Dir! Wäre es möglich, daß Du einmal mich weniger liebtest, als heute? Wenn ich Eltern hätte, sie würden Dich an meiner Stelle fragen; nun bin ich eine Waise, und mein Leben ist in Deiner Hand. Wäre es möglich, so laß uns gleich abbrechen. Es wird mir das Leben kosten, das weiß ich, aber ich sterbe doch sanfter, als wenn – Ach, Anton“ und er darauf erwiderte, indem er ihre Hand an seine Brust drückte: „Riekchen, Riekchen, sieh mich an! Gott weiß es, es ist kein Falsch in mir!“ sprang Iffland auf, und von seinem Gefühle hingerissen, schloß er seine Arme um beide Liebende. Dann umfaßte er noch besonders den Jüngling, und indem er einen Kuß auf die vollen, unentweihten Lippen seines schönen Lieblings drückte, rief er:

„So recht, mein Junge, flamme mit Deinen Augen, flöße mit Deinen Küssen das Gebot der Liebe allmächtig in ihr Herz. So will es die Natur, so will es Gott! Sei ganz glücklich, Du darfst es sein, mich aber laß an Deiner Brust weinen, daß Du junger Seraph mich so tief unter Dir zurücklässest, in den Nebeln und Dämpfen der Erde! Komm herbei, Laura, komm herbei, nimm auch Du einen Kuß von diesen Lippen, sie sind in diesem Augenblicke geheiligte Priesterlippen der Liebe, heiße, milde Flammenrosen, die mit ihrer Gluth alte, verschüttete Altäre neu mit Feuerregen überschütten können.“ Und in seinem Enthusiasmus zog der begeisterte Mann die Freundin heran und der junge Soldat, verwirrt und beschämt, nicht wissend, ob er den abgeforderten Kuß geben dürfe, neigte sich zu der kleinen zarten Hand der Präsidentin und berührte sie ehrfurchtsvoll mit seinen Lippen. Iffland schwelgte in immer neuen Aufwallungen. Die Liebesscene hatte ihn so erschüttert, daß er abwechselnd von den beiden Liebenden zu der Freundin flog, bald seine Wangen an die Schulter Sophiens legte, bald mit der Hand in den dunkeln Locken des Jünglings wühlte, bald vor der Präsidentin niederfiel, und ihr knieend eine Liebeserklärung machte. Mit feiner Gewandtheit verstand es Laura, die Aufregung des Freundes nach und nach auf ein anderes Feld hinüberzuspielen, indem sie von den Forderungen des wirklichen Lebens, von den Erwartungen, die das Theaterpublicum hegte, zu sprechen begann. Iffland ernüchterte sich schnell.

„Ihr müßt nun gehen,“ sagte er zu der Präsidentin und Sophien, „noch ist es hell, und der Weg durch den Thiergarten steht auch noch offen. Finge es an zu dunkeln, so möchte ich Euch nicht ohne männliche Begleitung gehen lassen. Unser Kriegsheld muß rasch in seine Kaserne zurück, wir dürfen seine Zeit keinen Augenblick weiter in Anspruch nehmen. Also lebt wohl, Ihr Theuren, auf Wiedersehen.“

Der große breite Gang, der mitten durch den Thiergarten führt, war noch ziemlich belebt, als die beiden Frauen ihren Weg antraten. Der milde Abend bewog die Präsidentin, sich bald bei dieser, bald bei jener Baumgruppe zu verweilen, um die knospende Fülle des jungen Frühlings zu betrachten. Sophie trieb zur Eile.

Aus einem Seitengange hervortretend, sahen sie drei junge Männer, wie es den Anschein hatte, den höhern Ständen angehörend, auf sich zukommen. Die kecken Spaziergänger vertraten den Damen den Weg und einer derselben, Sophien den Arm anbietend, rief:

„Meine Schöne, es dunkelt bereits, erlauben Sie, daß ich Sie beschütze und nach Hause geleite.“

Der zweite dieser Wildfänge reichte der Präsidentin den Arm, und der dritte machte Miene, sich an den noch freien Arm Sophiens zu hängen. Weigerungen und Abweisungen halfen nichts. Die kleine Gruppe bewegte sich unter lautem Lachen vorwärts. Die Präsidentin ließ ihre Blicke spähend umherirren, ob sie nicht unter den wenigen Spaziergängern zufällig einen Bekannten fände, doch vergebens. Es war das Beste, gute Miene zum bösen Spiele zu machen, und einstweilen die Ungebühr zu dulden, da man ihr nicht entgehen konnte; das Thor war nicht mehr weit entfernt. Die fortwährend sich umschauende Präsidentin bemerkte endlich zu ihrer nicht geringen Freude wenige Schritte hinter sich den General Xavier kommen, dem sie in letzterer Zeit häufig in Gesellschaft begegnet war. Sie blieb sogleich stehen, und als der General grüßend an sie herantrat, bat sie sich dessen Arm aus, indem sie zugleich eine höfliche verabschiedende Verbeugung gegen ihre aufgedrungenen Begleiter machte. Diese hatten aber nicht den Willen, dem neuen Ankömmling zu weichen; es gab einige scharfe Reden, endlich sagte der General in einem festen Tone:

„Meine Herren, diese Damen vertrauen sich, wie Sie sehen, meinem Schutze, daraus scheint mir zu folgen, daß jede andere Begleitung hier überflüssig ist.“

„Darf ich um Ihren Namen bitten?“ fragte einer der jungen Männer.

„Ich sehe keine Gründe, ihn zu verheimlichen, ich bin der General Xavier,“ entgegnete der Gefragte.

(Fortsetzung folgt.)



Leben und Sterben eines deutschen Dichters.[1]

Es war am 20. November des Jahres 1811, an einem jener seltenen schönen Herbsttage, wo die scheidende Natur noch einmal wie ein Licht im Erlöschen ihren ganzen Glanz über die Landschaft ausgießt, als ein Berliner Fuhrwerk vor dem dicht bei dem Wansee gelegenen neuen Kruge hielt. Aus dem Wagen stiegen ein Herr und eine Dame von leidendem Aussehen. Sie verlangten von dem herbeigeeilten Wirth zwei besondere Zimmer in der oberen Etage mit der Aussicht auf den See und ein Mittagbrod. Nachdem sie das letztere eingenommen hatten, ließen sie sich den Weg nach dem jenseitigen Ufer weisen, wohin sie ihre Schritte lenkten. Weder in ihrem Benehmen noch in ihren Zügen that sich der außerordentliche Entschluß kund, den sie bei ihrer Abreise von Berlin gefaßt hatten.

Es mochte ungefähr einige Wochen her sein, daß die innig Befreundeten in dem Zimmer der Dame saßen, welche Henriette hieß, und die Frau eines angesehenen und wohlhabenden Beamten war. Sie litt nach der Aussage des Hausarztes an einem unheilbaren Uebel, weit mehr aber an einem großen Lebensüberdrusse, der Folge eines reizbaren Nervensystems und einer hochgespannten Phantasie, welche keine Befriedigung in der Wirklichkeit und ihrer Umgebung fand. Eine ähnliche Verstimmung beherrschte ihren Freund, und Beide fühlten sich dadurch bald zu einander hingezogen. Er war eine jener tiefen und genialen Naturen, welche das Unglück gleichsam als die Dornenkrone ihrer geistigen Größe tragen müssen. Ein unwiderstehlicher Drang nach Wissen ließ ihn seine militärische Laufbahn mit der Universität vertauschen. Bald aber fühlte er auch hier nicht die gehoffte Befriedigung, und statt der anfänglichen Lust an philosophischen Studien erfaßte ihn ein Ekel vor der Schulweisheit, welche die ewigen Räthsel des Daseins und die ungestümen Fragen seiner nach Offenbarung lechzenden Seele nicht zu lösen im Stande war. Die Liebe eines unschuldigen und trefflichen Mädchens schien ihm einen Ersatz bieten zu wollen, aber mit selbstquälerischer Unruhe zerstörte er sein Glück, indem er an die Geliebte die überspanntesten Forderungen stellte und Opfer verlangte, die sie trotz ihrer aufrichtigen Neigung zu ihm nicht zu bringen vermochte. Gekränkt zog er sich von ihr zurück, um sich von nun an ausschließlich der Kunst zu widmen. Aber auch hier hatte er mit dem Widerstand der schnöden Welt zu kämpfen. Obgleich wie wenige begabt und ein Dichter, den Deutschland gegenwärtig zu den ersten der Nation zählt, war es ihm nicht vergönnt, die Anerkennung seiner Zeitgenossen zu erleben. Seine Schöpfungen waren zu gediegen, zu gewichtig, um mit [221] dem oberflächlichen Strom zu schwimmen. Er verschmähte es, dem Geschmack der Menge zu huldigen, und gefiel sich auch hier in einer fast gänzlich isolirten Stellung. Aber weit mächtiger war sein Schmerz um das Vaterland, welches damals unter Napoleon’s kriegerischem Despotismus die Tage seiner größten Schmach erduldete, und ohne Aussicht schien, sich jemals wieder daraus zu erheben. Kein Wunder, daß der Unglückliche verzweifelte und vom Ekel des Daseins tief erfüllt war.

Ernst und fast düster hatte er nach seiner Gewohnheit an jenem Abende neben der Freundin gesessen, als diese, um dem beängstigenden Schweigen zu entgehen, vom Sopha aufstand und an das Clavier trat. Mit wohltönender Stimme sang sie einen Psalm, die Composition eines alten italiänischen Meisters.

Als sie geendet hatte, sprang er plötzlich von seinem Stuhle auf.

„O!“ rief er mit einem aus seiner militairischen Carriere überbliebenem Ausdrucke uniformirter Begeisterung; „das war zum Erschießen schön.“

Henriette sah ihn einen Augenblick bedeutungsvoll an, und erwiderte kein Wort; nur um ihre feinen, blassen Lippen spielte ein eigenthümliches Lächeln.

Bei seinem nächsten Besuche kam sie in einer einsamen Stunde auf diese ihm entschlüpfte Aeußerung zurück. „Erinnern Sie sich,“ fragte sie ihn, „daß Sie mir ihr ernstes Versprechen gegeben haben, im Falle, daß ich Sie darum bitten sollte, jeden, selbst den größten Freundschaftsdienst zu leisten?“

Heinrich von Kleist.


„Gewiß erinnere ich mich,“ antwortete er mit einem Anstriche von galanter Ritterlichkeit. „Ich bin auch heut wie jeder Zeit bereit, Alles zu thun, was Sie von mir fordern.“

„Wohlan!“ rief das unglückliche Weib, „so tödten Sie mich! Meine Leiden haben mich dahin geführt, daß ich das Leben nicht mehr zu ertragen vermag.“

Er antwortete nicht und schien, in tiefe Gedanken versunken, kaum zu hören, was die Freundin sprach. Sie hielt sein Stillschweigen für eine Weigerung, auf die sie auch gefaßt war.

„Es ist freilich nicht wahrscheinlich,“ setzte sie mit leisem Spott hinzu, „daß Sie dies thun werden, da es keine Männer mehr auf Erden gibt; – allein – – –“

„Ich werde es thun,“ fiel der Dichter ihr in’s Wort, „ich bin ein Mann, der sein Wort hält!“

„Und Sie?“ –

„Ich werde mit Ihnen sterben. Wunderbar! Ich ging schon lange Zeit mit demselben Gedanken um, und zögerte nur mit der Ausführung, weil mir das Leben so vollkommen gleichgültig geworden ist, daß ich nicht einmal das Pulver daran verschwenden wollte. Auch täuschte ich mich noch immer mit der Hoffnung, für irgend eine große Idee mich aufzuopfern. Doch wo ist eine solche auf der Welt zu finden? – Wäre das Vaterland aufgestanden, so hätte ich wenigstens Gelegenheit gefunden, mein Blut für dasselbe zu verspritzen. Aber dies erbärmliche Geschlecht wird sich nie zu einer bedeutenden That aufraffen. Es verdient, noch mehr geknechtet zu werden, als es bereits ist.“ Eine unnennbare Trauer schwebte wie eine dunkle Wolke über das nicht unschöne Gesicht, welches einen fast kindlichen Ausdruck annehmen konnte, wenn der Dichter in heiterer Stimmung, was freilich selten geschah, einmal lächelte.

Nach dieser merkwürdigen Unterredung stand in Beiden der Entschluß fest, freiwillig ihrem Leben ein Ende zu machen. Der Dichter, welcher kein anderer, als der Verfasser des „Käthchen von Heilbronn“ und „des Prinzen von Homburg“, der später gefeierte Heinrich von Kleist war, verließ seine Freundin, und begab sich nach seiner Wohnung, um hier die nöthigen Vorbereitungen zu treffen, und seine irdischen Angelegenheiten zu ordnen.

Das Zimmer war klein und ärmlich, denn Kleist befand sich damals in der drückendsten Lage. Sein kleines Vermögen war auf Studien und Reisen draufgegangen; er besaß kaum so viel, um sein Leben kümmerlich zu fristen; auch war er zu stolz, um seine Freunde anzusprechen, oder seine Muse zum Sclavendienste um das tägliche Brod zu erniedrigen. Zu allen seinen Leiden kam noch das Gefühl der drohenden Noth. Was sollte ihm ein Leben, das er nicht zu ertragen, was nützte ihm das Genie, welches ihn vor dem Elend der Armuth nicht zu schützen vermochte? Er hatte den Versuch gemacht, und war in den Staatsdienst getreten, aber sein Geist schien nicht dazu geeignet, die unausbleiblichen Beschränkungen eines Amtes und die geforderte regelmäßige Thätigkeit eines solchen auf die Länge zu dulden. Eine Unterstützung von Seiten des Staates, welche Freunde für ihn vermittelten, stieß auf mannichfache Hindernisse und verzögerte sich, weil der damalige Staatskanzler Hardenberg Gründe zu haben glaubte, diese Wohlthat vorläufig zu verweigern. Mit seiner Familie war Kleist zerfallen, und seine ihm auch geistig verwandte Schwester Ulrike, ein Mädchen von ausgezeichneten Eigenschaften, früher seine stete Begleiterin auf vielfachen Reisen, hatte sich von ihm getrennt.

Er stand allein, fast dem Mangel preisgegeben.

Dieser Umstand war zwar nicht die Ursache seines schrecklichen Vorhabens, aber es wurde wenigstens dadurch bestärkt.

Mit einem bittern Lächeln musterte er sein übrig gebliebenes Eigenthum, das zum großen Theile in einigen Büchern und in seinen Manuskripten bestand. Darunter befanden sich zwei unvollendete Trauerspiele, „Leopold von Oesterreich“ und „Robert Guiscard“, seine liebste Schöpfung, die er drei Mal umgearbeitet und immer wieder, sich selber am wenigsten genügend, vernichtet hat. Bei einem Besuche, den er in Osmannstädt dem alten Wieland abgestattet, las er dem greisen Dichter einige Bruchstücke dieser Tragödie vor, über die sich der Dichter des „Oberon“ folgendermaßen äußerte:

„Wenn die Geister des Aeschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen: sie würde das sein, was Kleist’s Tod Guiscards des Normannen, sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich damals hören ließ. Von diesem [222] Augenblicke war es bei mir entschieden, Kleist sei dazu geboren, die große Lücke in unserer Literatur auszufüllen, die, nach meiner Meinung wenigstens, selbst von Schiller und Goethe nicht ausgefüllt worden ist.“

Nicht minder enthusiastisch lautete das Lob, welches der verstorbene Generallieutenaut Rühle von Lilienstern und der noch lebende frühere Minister von Pfuel, die intimsten Freunde des unglücklichen Dichters, seinem Trauerspiele „Leopold von Oesterreich“ zollten. Nach mündlichen Mitteilungen des Letzteren an den Schreiber dieser Zeilen gehörte die Exposition dieses Stückes zu den großartigsten Schöpfungen der neueren Poesie.

Kleist konnte nicht einen leisen Seufzer unterdrücken, als er die vielfach durchstrichenen Manuscripte in die Hand nahm. Es war ihm zu Muthe, als wären es seine Kinder, die er verlassen sollte. Ein bitteres Gefühl überkam ihn mit einem Male, wenn er an die daran geknüpften Hoffnungen und Aussichten dachte, welche sich nie verwirklichen sollten. Hatte er nicht von einer idealen Bühne geträumt, von einem frischen Lorbeerkranze, das Haupt des Dichters zu schmücken?

Sie waren unvollendet geblieben, nicht weil der Schöpferdrang in ihm erstorben war, sondern weil der Schmerz um das verloren geglaubte Vaterland an seiner Seele nagte und die Schwingen des Genius lähmte. Er besaß nicht jene objectiv ruhige Natur eines Goethe, der zur Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands sich mit Osteologie beschäftigte und über die Natur der Wirbelknochen die Schmach und das Elend seines Volkes vergessen konnte.

Kleist nahm den lebendigsten Antheil an den welterschütternden Vorgängen in seiner Nähe. Schon im Jahre 1805 vor der Katastrophe bei Jena hatte er seinem Freunde Rühle mit vorahnendem Geiste geschrieben:

„So wie die Dinge stehen, kann man kaum auf viel mehr rechnen, als auf einen schönen Untergang. Was ist das für eine Maßregel, den Krieg mit einem Winterquartiere und der langwierigen Einschließung einer Festung anzufangen! Bist Du nicht mit mir überzeugt, daß die Franzosen uns angreifen werden, in diesem Winter noch angreifen werden, wenn wir noch vier Wochen fortfahren, mit den Waffen in der Hand drohend an der Pforte ihres Rückzuges aus Oesterreichs zu stehen? Wie kann man außerordentlichen Kräften mit einer so gemeinen und alltäglichen Reaction begegnen!

„Warum hat der König nicht gleich bei Gelegenheit des Durchbruchs der Franzosen durch das Fränkische seine Stände zusammenberufen, warum ihnen nicht in einer rührenden Rede – der bloße Schmerz hätte sie rührend gemacht! – seine Lage eröffnet? Wenn er blos ihrem eigenen Ehrgefühle anheimgestellt hätte, ob sie von einem gemißhandelten Könige regiert sein wollten oder nicht, würde sich nicht etwas von Nationalgeist bei ihnen geregt haben? Und wenn sich diese Regung gezeigt hätte, wäre dies nicht die Gelegenheit gewesen, ihnen zu erklären, daß es hier gar nicht auf einen gemeinen Krieg ankomme? Es gelte Sein und Nichtsein; und wenn er seine Arme nicht um 300,000 Mann vermehren könne, bliebe ihm nichts übrig, als ehrenvoll zu sterben. Meinst Du nicht, daß eine solche Erschaffung zu Stande hätte kommen können?

„Wenn er all’ seine goldenen und silbernen Geschirre prägen lassen, seine Kammerherrn und Pferde abgeschafft hätte, seine ganze Familie ihm gefolgt wäre, und er nach diesem Beispiele gefragt hätte, was die Nation zu thun Willens sei! – – Was ist dabei zu thun? Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen und wir werden davon nichts, als den Umsturz des Alten erleben. Es wird sich aus dem ganzen cultivirten Theile von Europa ein einziges großes System von Reichen bilden und die Throne mit neuen von Frankreich abhängigen Fürstendynastien besetzt werden. Aus dem Oesterreichischen geht dieser glückgekrönte Abenteurer, falls ihm nur das Glück treu bleibt, gewiß nicht heraus. –

„Warum sich nur nicht Einer findet, der diesem bösen Geiste der Welt die Kugel durch den Kopf jagt! Ich möchte wissen, was so ein Emigrant zu thun hat? Für die Kunst, siehst Du wohl ein, war vielleicht der Zeitpunkt noch niemals günstig. Man hat immer gesagt, daß sie betteln geht; aber jetzt läßt die Zeit sie verhungern.“

Der Haß gegen die Unterdrücker des Vaterlandes steigerte sich in ihm gegen das Ende des Jahres zum heftigsten Schmerze. Er war jetzt öfters völlig außer sich, hatte keinen andern Gedanken mehr, als diesen, und sah alle Schrecken, die noch kommen sollten, mit Gewißheit voraus. Er selbst sollte ein Opfer der französischen Willkür werden und ihre Tyrannei an sich erfahren.

Im Jahre 1807 wanderte Kleist, gerade zu der Zeit, als nach der Schlacht von Eylau die Parteigänger in Preußen auftauchten, mit seinem Freunde Pfuel und zwei andern Officieren nach Berlin. Pfuel trennte sich von seinen Begleitern kurz vor der Stadt, um nach Neundorf zu Fouqué zu gehen. Die drei Andern wurden am Thore angehalten und Kleist, da er ohne Paß war und nur seinen Abschied als Lieutenant bei sich führte, als vermeintlicher Schill’scher Officier ohne Weiteres gefangen genommen und nach Fort de Joux in Frankreich gebracht. Hier saß er ein halbes Jahr in demselben Gefängnisse, das den bekannten Negerhäuptling Toussaint Louverture umschloß. Von Jour wurde Kleist nach Chalons sur Marne gebracht und endlich nach vielfachen Bemühungen seiner Freunde auf gesandtschaftliche Verwendung freigegeben und nach Preußen entlassen.

Daß sein Haß gegen die Franzosen und Napoleon durch diese unverschuldete Behandlung nur genährt werden konnte, war natürlich. Es ist sogar mehr als wahrscheinlich, daß Kleist selbst ernstlich mit dem Plane umging, sein Vaterland von dem Tyrannen zu befreien und ihn aus dem Wege zu räumen. Wenigstens erzählt Friedrich Laun in seinen Memoiren von einem derartigen Vorhaben, das Kleist jedoch bei reiflichem Nachdenken aufgegeben zu haben scheint. – Dagegen eilte er, als ein neuer Krieg zwischen Oesterreich und Frankreich im Jahre 1809 ausbrach, in das Hauptquartier des Erzherzogs Karl und wohnte der Schlacht bei Aspern bei, in der Absicht, der guten Sache seinen Arm und Kopf zu weihen. Durch den traurigen Ausgang des Feldzuges und den bald darauf erfolgten schmählichen Frieden, zu dem sich Oesterreich gezwungen sah, erlosch auch diese Aussicht, seine letzte und einzige Hoffnung.

Beseelt von dem glühendsten Patriotismus hatte Kleist bereits früher ein Drama, „Hermann“, geschrieben, das bei den damaligen Verhältnissen unter dem Siegel des Schweigens als Manuscript von Hand zu Hand ging. Er wollte damit den gesunkenen Muth seines Volkes zur neuen Thatkraft beleben. Es war kein Schauspiel, um der Unterhaltung eines müßigen Publicums zu dienen, sondern eine eherne Mahnung voll gewaltiger, fast wild zu nennender Gedanken. Ein zorniger Geist wehte aus der Dichtung, wie zündende Flammen; aber noch war die Zeit nicht gekommen, um den späten, so schön und mächtig emporlodernden Brand vaterländischer Begeisterung zu entfachen. Kleist’s Hermann blieb eine Stimme in der Wüste, welche kein Echo erweckte und fast ungehört verhallte. Eben so wenig gelang sein Versuch, in seinem Meisterwerke „der Prinz von Homburg“ das specifisch preußische Gefühl zu erwecken. Vergebens beschwor er die erhabene Heroengestalt des großen Kurfürsten, der durch die Schlacht von Fehrbellin die übermüthigen Schweden aus der Mark vertrieb, umsonst zeigte er sein unvergleichliches dramatisch Talent in einer der wunderbarsten Schöpfungen der deutschen Bühne, worin selbst die phantastischen Verirrungen des Dichters nur wie Nebel und Wolken dazu dienen, den Sieg des lichten Sonnengenius zu verherrlichen. Das Publicum nahm dieses Dichterwerk mit unverzeihlicher Kälte auf, fast erschrocken über die geschichtliche Größe und den gewaltigen Geist, der darin waltete.

Der Dichter Kleist hätte vielleicht dies Mißgeschick ertragen, aber der Patriot in ihm erlag verzweifelnd an der Kraft und dem Aufschwunge des deutschen Volkes. Die Herzen seiner Landsleute wurden erst warm, als das seinige zu schlagen aufgehört; ihr Geist raffte sich zum Kampfe empor, als der seinige bereits für immer geschieden war. Hätte er nur noch einige Jahre gewartet, so wäre er Zeuge jener allgemeinen Erhebung gewesen. Er besaß nicht jene passive Ausdauer und griff dem Schicksal vor, wie ein alter Römer sich in sein Schwert stürzend, da er die Freiheit verloren gab. – Vielleicht hätte ihn die Liebe zu einem jungen, liebenswürdigen und reichen Mädchen noch einmal retten können. Bei seinem Aufenthalte in Dresden lernte er in dem Körner’schen Hause bei den Eltern des Dichters Theodor Körner, den Freunden Schillers, ein holdes weibliches Wesen kennen, mit dem ihn bald die innigste Neigung verband. Es schien ihrer Verbindung nichts im Wege zu stehen, aber Kleist stellte auch in diesem Verhältnisse, wie in seinem früheren, zu hoch gespannte Forderungen an die Geliebte.

So verlangte er unter Anderem, daß sie ihm ohne Wissen ihres Vormundes oder Oheims schreiben sollte. Sie schlug ihm [223] diese Bitte ab, er wiederholte dieselbe in drei Tagen, in denen er sie nicht besuchte, darauf nach eben so vielen Wochen und Monaten und löste zuletzt das Verhältniß auf diese Weise völlig.

Noch während des Zerwürfnisses mit der Geliebten begann er das „Käthchen von Heilbronn“, diese Perle unserer dramatischen Poesie, zu bearbeiten; im wahren und vollkommenen Sinne eine Perle, die in dem krankhaft erregten Dichtergeiste, wie die Perle in der kranken Muschel sich bildete. Kleist wollte in seinem Drama der ungetreuen, von fremden Einflüsterungen bestimmten Geliebten gleichsam ein Ideal hinstellen, wie man lieben müsse. So entstand jenes bezaubernde Bild Käthchens, deren Liebe gleichsam eine Naturnotwendigkeit, ein magnetischer Instinct ist voll rührender Hingebung und fast übermenschlicher Treue. Der Glaube, daß eine andere Dame seine Verbindung zumeist aus Abneigung gegen ihn gestört habe, vermochte ihn, ihren Charakter verzerrt und übertrieben als intriguante, boshafte Kunigunde seinem Schauspiele zu verflechten. – Auch diese süße Schöpfung des Dichters, das reizende Käthchen, fand bei der ersten Aufführung nur wenig oder gar keine Theilnahme und erst nach seinem Tode die gerechte Anerkennung. Verstimmt und gebeugt durch das fortwährende Unglück des Vaterlandes gesellte sich noch dazu die tiefe Kränkung, daß seine bisher erschienenen Dichtungen so wenig Eingang gefunden hatten. Als er einst mit einer intimen Freundin nach jahrelanger Trennung zusammentraf, sagte er ihr zufällig im Laufe des Gesprächs eine Strophe aus einem Gedichte her. Sie gefiel ihr außerordentlich und sie fragte ihn, von wem das sei. Darüber schlug er sich mit beiden Händen vor die Stirn und sagte im tiefsten Schmerz: „Auch Sie kennen es nicht? O, mein Gott, warum mache ich denn Gedichte?“

(Schluß folgt.)




Der Tod im Casernen-Fleischkessel.

In England, wo die Preßfreiheit und Legionen unbeschränkter Schriftsteller und Zeitschriften alle socialen, politischen und überhaupt öffentlichen Angelegenheiten mit Argusaugen bewachen und Alles, was sie sehen und zu tadeln finden, nach Belieben schonungslos aufdecken können, kommen doch oft Uebel- und Mißstände der ärgsten Art zu hohen Jahren, ehe die Presse und die Oeffentlichkeit nur Notiz davon nehmen. Sie wissen, sie erfahren nichts davon. Nur irgend ein Aufsehen erregendes Ereigniß, das sie beleuchtet, eine Special-Untersuchungs-Commission, specielles langjähriges Studium (wie das Mayhew’s über „Londoner Arbeit und Armuth“, jetzt viele dicke Bände) wirft dieses und jenes grauhaarige, grausame, arge Uebel einmal auf eine Zeitlang an’s Tageslicht. Man spricht, schreibt, parlamentirt selbst darüber und läßt es dann wieder von einem neuaufgescheuchten Schrecken in die Vergessenheit hinabdrücken. Die Entdeckungen, welche Mayhew unter den Armen und Arbeitern Londons gemacht hatte und veröffentlichte, waren in London selbst ganz unbekannt gewesen. Niemand erschrak mehr über diese Londoner Zustände, als – London. Dies erscheint bei dieser Oeffentlichkeit, unbeschränkten Rede-, Versammlungs- und Preßfreiheit dem Uneingeweihten gewiß unerklärlich. Es weiß auch eigentlich Niemand so recht, wie das zugeht. Warum sieht und sagt man Jahre lang nichts von den schreiendsten Uebeln? Für die, welche darunter leiden, existirt keine Preß-, Rede- und Versammlungsfreiheit. Sie können nicht reden, nicht lesen, nicht schreiben, sich nicht versammeln. Oben sieht man’s nicht. Man hat keine Zeit, kein Auge dafür. Man kommt gar nicht in die Residenzen dieser Unterwelt der Verdammten. Es gibt von einander abgeschlossene Gesellschaftsschichten. Keine weiß von der andern, keine versteht die andere, keine will von der andern etwas wissen. „Das ist die Rücksicht, die Elend läßt zu hohen Jahren kommen,“ wenigstens theilweise, denn erklärt ist damit noch nicht Alles.

Es wird uns dabei immer noch in Erstaunen setzen, was jetzt durch eine königliche, parlamentarische und sachverständige, gründliche Untersuchungs-Commission, bestehend aus Sidney Herbert, ehemals Kriegsminister, Dr. Stafford, Chef der Untersuchungs-Commission in den Krim-Hospitälern furchtbaren Andenkens, Dr. A. Smith, Director des Militair-Medicin-Departements, Dr. Sutherland und andere Autoritäten, aus einem Actenstücke von mehreren Tausend Fragen und Antworten an’s Tageslicht, in die Presse und vor’s Parlament kam, nämlich daß die englischen Soldaten zu Hause, im Frieden seit undenklichen Zeiten stets mehr wie doppelt so rasch starben und sterben, als alle Volksclassen ohne Uniform. Das ist das allgemeine, in günstigster Form ausgedrückte Facit der Untersuchungs-Commission, die, aus Beamten und hochgestellten, patriotischen, mit dem Militairwesen verbundenen Personen bestehend, jede Veranlassung hatte, das Uebel in der günstigsten Form auszudrücken. In näherer Beleuchtung ergibt sich zunächst, daß unter den englischen Soldaten aller Waffengattungen eine mehr als doppelt so große Sterblichkeit herrscht, als unter der in Gesundheitssachen am schlechtesten gestellten Classe von Civil-Arbeitern, den Druckern und Setzern, welche nur bei Nacht arbeiten (für alle Morgenzeitungen).

Die Commission macht diese Thatsache noch deutlicher durch weitere angestellte Vergleichungen. Danach ergab sich, daß von je eintausend männlichen Civilpersonen im Alter der mit ihnen verglichenen Soldaten in den gesündesten Districten 7 7/10 Procent starben, von je Tausend Soldaten aber 17 Procent. Die Durchschnittssterblichkeit von je 1000 Civilpersonen ist 8, von je 1000 Soldaten 17 bis 18. Noch näher. Von je 1000 Civilpersonen 25 bis 30 Jahre alt starben 4, von je 1000 Soldaten desselben Alters 18. Dieselbe Vergleichung für das Alter 30 bis 35 Jahre gibt für erstere 10, für letztere wieder 18; für das Alter von 35 bis 40 im erstern Falle 11, im letztern 19. Auch das Verhältniß der Sterblichkeit unter einzelnen Truppengattungen hat man ermittelt. Von je 1000 Mann Leibgarde starben 11, Dragoner 13, Linien-Infanterie 17, Fußgarde, diese Blume der Armee, 20. Uebersichtlich genommen starben in den letzten 15 Jahren (bis zu 1853) von eben so vielen Civilpersonen, als es Soldaten gab, und im Soldatenalter 16,211, von der Soldatenzahl aber 41,928. Es starben 42,000 Soldaten mehr, als nach dem Sterblichkeitsdurchschnitte unter Civilpersonen.

Wer hat diese Armee von 42,000 Mann mitten im Frieden unter den Rasen gebracht? Wer war dieser furchtbare Feind, der eine Armee von 42,000 englischen Soldaten zu Hause, im Frieden vernichtete? (Notabene sind alle außerhalb beschäftigten Truppen und deren Sterblichkeit ganz von der Untersuchung der Commission ausgeschlossen geblieben.) Es war keine Revolution, kein Bürgerkrieg zu Hause, kein Feind in London. Nun, wer ist’s gewesen? England selbst, das militärische Gesetz Englands, die Caserne, die Casernenküche.

Die 42,000 Mann sind an ihrer Nahrung gestorben, blos an ihrer Nahrung. Die Commission sagt’s und über 3000 Antworten auf mehr als 3000 Fragen bestätigen es. Auch sind’s viel mehr als 42,000 Mann, wie die Times in einem ihrer kaustischen Leitartikel darüber auseinander setzte. Wilde Völkerstämme, sagt sie, sind oft vortheilhaft durch ihre ausnahmslose Gesundheit und Kraft aufgefallen: sie tödten jedes schwächliche oder mißgestaltete Kind. Daher kommt’s. Unsere Militärbehörden, fährt sie fort, machen’s eben so, nur in einer anständigeren und nicht gut zu umgehenden Form. Der gekaufte englische Soldat verkauft sich allemal auf 21 Jahre (Cavallerie 24). Wer sich aber in den ersten drei Jahren nicht kräftigt, schwach oder dauernd kränklich wird, den verabschiedet man. So sichert man sich eine gesunde, kräftige, auserlesene Armee. Unter den in Vergleich gekommenen Civilpersonen findet keine solche Ausrangirung statt, im Gegentheil, die kranken, verabschiedeten Soldaten zählen unter ihnen mit. Unter gleichen Verhältnissen würde sich daher die im Durchschnitt mehr als doppelte Sterblichkeit unter den Soldaten (2,2) gegen die unter Civilpersonen etwa auf’s Dreifache stellen.

Also dies kommt aus der Küche. Diese 42,000 Soldaten mußten sich auf Commando todt essen. So ist’s.

Die Commission sagt: Wenn der Gesundheitszustand unserer Armee eben so gut wäre, als der der Leute, aus welchen sie rekrutirt wird (den niedrigste-, ärmsten, entbehrendsten Classen), würden [224] über die Hälfte weniger sterben. Darauf führt sie in langen Armeen von Beweisen und Aussagen Ursachen dieser überdoppelten Sterblichkeit an. Sie dampfen alle wie eine Reihe stinkender Würgeengel aus dem Fleischkessel der Caserne.

Die Times macht dies wieder auf eine drastische Weise anschaulich. Sie führt das grandiose Bild des großen englischen Küchen-Reformators, Alexis Soyer, von der Consumtionskraft und der Tischmannichfaltigkeit eines englischen Aristokraten an. Wenn so ein englischer Aristokrat, etwa im sechsten Jahre, sagt er, alle die lebendige Schöpfung, die er bis zur Erreichung des englischen aristokratischen Durchschnittsalters verzehren wird, auf einmal um sich sähe, würden ihn 30 Ochsen mißtrauisch anstieren, 200 Schafe, 100 Kälber und 200 Lämmer anblöken, 50 Schweine umquieken, 1000 geflügelte Hausthiere umflattern, außerdem 300 Truthühner, 150 Gänse, 400 junge Enten, 300 Tauben, 1400 Rebhühner, Fasanen, Hasel- und Birkhühner, 600 Waldschnepfen, 600 wilde Enten, kleine Kriech- und rothhalsige Pfeifenten, 450 Kibitze, Reefs und Ruffs, 800 Wachteln, Fettammern, Mornellen und Wasserhühner, 120 Perlhühner, 10 Pfaue, 360 Stück wildes Geflügel von fremden Ländern; 500 Hasen und 40 Hirsche würden todesahnend um ihn her zittern; im Wasser würden 400 Lachse, 120 Kabeljaus, 260 Forellen, 400 Makrelen, 300 Weißfische, 800 Solen, 400 Flundern, 400 rothe Mullets, 200 Aale, 150 Haddocks, 400 Heringe, 20 Schildkröten, 30,000 Austern, 1500 Hummern, 300,000 Shrimps und Prawns und 120 Steinbutten seine Nähe zu meiden suchen, jede Creatur in Furcht, daß sie zuerst auf seine Tafel spazieren müsse. An Flüssigkeiten würden sich vor ihm aufthürmen 50 Oxhoft Wein, 1368 Gallonen Bier und 5849 Gallonen Spirituosen ohne die 342 Gallonen Liqueurs. Dabei hat er noch keinen Löffel voll Gemüse, keinen Bissen Brod, keinen Pudding, keine Pastete, kein Stückchen Kuchen.

Dies würde der junge Aristokrat Alles für sein irdisches Leben vor sich sehen!

Und was würde der englische Soldat für seine einundzwanzigjährige Dienstzeit vor sich sehen? Einen Berg gekochtes, zähes, strähniges Rindfleisch von 7665 Pfund, kein Schafohr, keine Schweinepfote, keinen Kalbsfuß, kein Hasenbein, geschweige einen Reef- oder Ruff-Flügel. Selbst der Flügelmann bekommt während der einundzwanzig Jahre nichts davon zu sehen.

Immer gekochtes Rindfleisch, einundzwanzig Jahre lang alle Tage gekochtes Rindfleisch aus dem großen Casernenkessel, jedes Stück mit einem Hosenknopf, einem Stückchen Uniform, einer Lichtscheere (Siehe: Soyer) oder sonst genial gezeichnet. Jeden Tag 21 Jahre lang? Nein. Bald hungert er aus Ekel, dann ißt er wieder mit Ekel gegen das Verhungern und so fort, 21 Jahre lang, was den 42,000 Mann, die eher – mit kühner Metapher gesagt, doppelt und 1/5 – starben, zu lange war, so daß sie eben mit der doppelten und 1/5 Geschwindigkeit der größten Civilsterblichkeit lieber in’s Gras beißen, als in den Berg gekochten Rindfleisches. Warum brieten, schmorten, rösteten sie nicht zur Abwechselung? Durften nicht. Kochen, ausnahmsloses Kochen alle Tage Tagesbefehl. Doch nun wird’s besser. Der Fortschritt bleibt nun gewiß nicht aus. Er war „besonnen“ und ist „parlamentarisch.“ Die lebenden Soldaten werden als Belohnung für die 42,000 Todten künftig wahrscheinlich Erlaubniß bekommen, ihr Rindfleisch auch zu braten oder wohl gar zu schmoren.




Ein Besuch der Officin von Brockhaus in Leipzig.
Mitgeteilt von Albert Rottner.
(Fortsetzung.)


Die Buchdruckerei.

Wir haben nun die Produktion des zur Herstellung des Schriftsatzes erforderlichen Materials kennen gelernt und wenden uns den Arbeitsstätten zu, wo dasselbe praktische Anwendung findet.

Das technische Verfahren der Buchdruckerkunst theilt sich in zwei Hauptmomente: das Anfertigen der Druckformen und die Bewerkstelligung des Druckes selbst.

Wir treten also zuerst, um uns über das Anfertigen der Druckformen zu unterrichten, in den Setzersaal, der von beiden Seiten das Tageslicht empfängt und durch einen von Säulen getragenen Mittelgang in zwei Hauptabtheilungen getheilt ist. Hier erblicken wir in symmetrischer Ordnung Reihen von Regalen, die sich von den Fenstern nach dem Mittelgang hinziehen und mit den sogenannten Schriftkästen bedeckt sind, an denen die Setzer ihre Arbeit verrichten.

Um von dieser sinnreichen Manipulation, welche durch die Gewandtheit und Schnelligkeit, mit der sie ausgeführt wird, unsere Bewunderung erregt, einen klaren Begriff zu bekommen, müssen wir uns hier etwas verweilen und uns über die einzelnen Bestandtheile des Materials, wie über die Handhabung desselben unterrichten lassen.

Wir müssen nämlich zuvörderst nochmals auf die Schriften selbst zurückkommen, die wir in der Schriftgießerei nur in so weit kennen gelernt haben, als es zum Verständniß dieser Operation erforderlich war.

Es wird Jedem schon aufgefallen sein, daß es in den Schriften eine außerordentliche Verschiedenheit gibt, sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch ihrer Größe.

In erster Beziehung haben wir zwei Hauptgattungen zu unterscheiden: die gewöhnliche deutsche Schrift, in der Kunstsprache Fractur genannt, und die lateinische Schrift, wovon man zwei Arten hat: die geradstehende, Antiqua, und die schrägliegende, Cursiv. Die Schriften in den übrigen Sprachen werden nach der ihnen zugehörigen Sprache benannt, z. B. griechisch, hebräisch, syrisch, armenisch etc.

Jede Schrift enthält zunächst die großen oder Anfangsbuchstaben, Versalien, und dann die kleinen, die man gemeine Buchstaben nennt, außerdem aber noch die zehn Zahlzeichen. Unter den zufälligen Bezeichnungen sind die Interpunctionen die unentbehrlichsten. Andere Zeichen sind: Sternchen, Kreuzchen, Paragraphzeichen, Nachweisungszeichen, arithmetische, mathematische, kaufmännische und ähnliche Zeichen. Außer diesen Typen, auf denen das Schriftzeichen, welches sie ausdrücken, erhaben dargestellt ist, gibt es aber noch andere, welche dazu bestimmt sind, die leeren Zwischenräume zwischen den Buchstaben, Wörtern, Zeilen etc. auszufüllen, denn in einem Schriftsätze muß Alles, auch das, was weiß bleiben soll, mit Metall ausgefüllt sein, so daß jede Columne oder gesetzte Seite eine zusammenhängende, obwohl aus lauter einzelnen Stückchen bestehende, ununterbrochene Metallmasse, also ein geschlossenes Ganze bildet. Diese Typen nun, welche niedriger sind, als die übrigen, damit sie eben nicht mit abgedruckt werden, nennt man Ausschließungen.

Wir haben noch den Größenunterschied der Schriften unter sich in Betracht zu ziehen und erwähnen hierüber nur im Allgemeinen, daß dieser jetzt nach sogenannten typographischen Punkten bestimmt wird, von denen 6 Punkte = 1 Linie und 72 Punkte = 1 Zoll sind. Auf Grund dieses Maßes werden die verschiedenen Größenverhältnisse der Schriften, welche man den Kegel der Schrift nennt, näher bestimmt, deren ursprüngliche Benennungen aber fast allgemein noch beibehalten werden. Die wichtigsten Schriftkegel sind in aufsteigenden Größenverhältnissen ihrer Benennung nach folgende: Diamant (4 typographische Punkte), Perl, Nonpareille, Colonel, Petit, Bourgeois, Corpus, Cicero, Mittel, Tertia und so fort bis zu dem größten Imperial, welches 108 typographische Punkte enthält.

Wir treten nun vor den Schriftkasten, um uns dessen sinnreiche Einrichtung erklären zu lassen. Bei dem Lesen einer Schrift muß es uns gleich auffallen, daß einige Buchstaben, wie a, e, d, m, i, n etc. sehr häufig vorkommen, während andere seltener gebraucht werden. Auf diesem Bedürfniß beruht nun auch die Einrichtung des Schriftkastens, in welchem für jeden Buchstaben und überhaupt für jedes typographische Zeichen, auch für die Ausschließungen, ein verhältnißmäßig großes Fach sich befindet. In dem Schriftkasten liegen, was in dem ersten Augenblick auffallend erscheint, die Lettern nicht nach der alphabetischen Folge, sondern eben nach dem durch Erfahrung festgestellten Verhältniß, so daß also diejenige, Typen, [225] welche am häufigsten gebraucht werden, dem Setzer am nächsten zur Hand liegen. Der Setzer steht nun vor dem Schriftkasten und steckt das Manuskript vermittelst des Tenakels auf demselben fest. In seiner linken Hand hält er den Winkelhaken, in welchem er 8 bis 10 Zeilen aneinander reihen kann, und ergreift, nachdem er mehrere Worte des Manuskriptes gelesen hat, mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand eine Letter nach der andern, um sie in gleichmäßiger Richtung in dem Winkelhaken aufzustellen. Ist derselbe ganz angefüllt, so werden die Zeilen vermittelst der Setzlinie in das Schiff gestellt und der Winkelhaken von Neuem vollgesetzt. So wird mit der Arbeit fortgefahren, bis die zu einer Columne erforderliche Anzahl Zeilen aufgestellt ist, die dann, um sie gegen das Auseinanderfallen zu sichern, mittelst eines Bindfadens, der Columnenschnur, zu einem Ganzen vereinigt oder, wie der Buchdrucker sagt, ausgebunden wird.

Der Druckersaal.

Wenn wir die Seiten eines in ein beliebiges Format zusammengelegten Bogens mit fortlaufenden Ziffern versehen und den Bogen dann ausbreiten, so werden wir die Seiten in mehreren Reihen übereinander erblicken, aber nicht mehr in derselben Ordnung, wie vorher, sondern eine jede nimmt den Platz ein, den sie haben muß, um, wenn der Bogen wieder zusammengebrochen wird, ein fortlaufendes Ganze zu bilden und gelesen werden zu können. In dieser Ordnung nun müssen auch die gesetzten Seiten einer Druckform aufgestellt oder, wie die Buchdrucker sagen, ausgeschossen werden. Zu einem Bogen, der auf beiden Seiten bedruckt wird, gehören zwei Formen. Die erste Seite, welche mit der fortlaufenden Ziffer der Bogenzahl (Signatur) versehen ist, wird zuerst gedruckt und heißt der Schöndruck; der darauf folgende Druck der andern Seite führt den Namen Widerdruck. Das Größenverhältniß, welches durch die Anzahl Blätter und Seiten bestimmt wird, die sich auf einem der Signatur nach bezeichneten Bogen befinden, nennt man das Format der Bücher. Die gebräuchlichsten Formate sind: Folio, 2 Blätter oder 4 Seiten, Quart, 4 Blätter oder 8 Seiten, Octav, 8 Blätter oder 16 Seiten, Duodez, 12 Blätter oder 24 Seiten, Sedez, 16 Blätter oder 32 Seiten und so fort bis zu dem kleinsten vorkommenden Hundertachtundzwanziger-Format aus 128 Blättern oder 256 Seiten.

Nachdem alle Columnen, die zu einem Bogen in dem ihm gegebenen Formate gehören, auf die beiden Setzbreter zum Schön- und Widerdruck richtig ausgeschossen sind, wird die Form gebildet. Betrachten wir einen gedruckten Bogen, so sehen wir, daß die Schriftzeilen der Columnen nicht bis an das äußere Ende laufen, sondern nach allen vier Seiten von einem weißen Rande umgeben sind. Dieser weiße Rand wird durch die Stege hervorgebracht, welche aus hölzernen oder metallenen Leisten bestehen, die aber, damit der Raum, den sie einnehmen, bei dem Drucke auf dem Papiere weiß bleibt, niedriger sind, als die Schrift. Ist die Form in allen einzelnen Theilen nach den richtigen Verhältnissen zusammengestellt, so wird sie geschlossen, wozu man sich eiserner Rahmen bedient, und dadurch wird sie nun mit einer solchen Festigkeit vereinigt, daß dieselbe gleichsam als eine einzige Metallmasse zu betrachten und zu gebrauchen ist.

Viele unserer Leser werden glauben, daß die Form nun zum Drucke gelangen kann, sie würden sich aber in diesem Falle bei dem Lesen der Bücher über die vielen Fehler sehr beklagen, welche sich in dem Satze noch vorfänden; denn da bei dem Setzen das Herausnehmen der Lettern aus den Fächern des Setzkastens gleichsam mechanisch geschieht, so ist es nicht zu vermeiden, daß dabei Versehen vorkommen. Die Mehrzahl der Fehler entsteht aber schon früher durch das Ablegen der Schrift. Es ist dies jene Operation, bei welcher, nachdem die ausgedruckte Form auseinander genommen, die einzelnen Typen sogleich wieder in die ihnen zugehörigen Fächer des Schriftkastens gebracht werden. Bei der Schnelligkeit, mit welcher die Lettern aus der Hand des Setzers in die Fächer gleiten, ist es aber nur zu leicht, daß einzelne Buchstaben in unrichtige Fächer gerathen, wodurch dann später bei dem Setzen die Fehler entstehen.

Um nun die hierdurch und in Folge anderer Versehen in den Satz gekommenen Fehler zu berichtigen, ist es unerläßlich, daß, bevor der Druck eines gesetzten Bogens in der ganzen Auflage erfolgen kann, ein Abzug davon mit dem Manuskripte genau verglichen werde, um die in ersterem enthaltenen Fehler zu corrigiren. Diesen Abzug, der auf Schreibpapier gemacht wird, nennt man den Correcturbogen, die Correctur, und denjenigen, der sich dieser Arbeit unterzieht, den Corrector. Gewöhnlich werden von dem Satze eines Buches zwei, öfters auch drei solcher Correcturen gelesen.

Nachdem nun der Satz in allen seinen Theilen vollendet und druckfertig ist, gelangen wir zu dem zweiten Hauptmomente der Herstellung, zu der Bewerkstelligung des Druckes selbst.

Um von dem Schriftsatze Abdrücke zu gewinnen, bedient man sich einer Maschine, welche Presse oder Buchdruckerpresse genannt [226] wird. Seit der Erfindung der Buchdruckerkunst bis zum Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts hatte die Buchdruckerpresse in der ursprünglichen einfachen Form, welche ihr das Bedürfniß sogleich bei ihrer ersten Anwendung gab, wenig Veränderungen erfahren; von diesem Zeitpunkte an hat man aber ihrer Construction eine vorzügliche Aufmerksamkeit gewidmet, und namentlich haben die Engländer und Deutschen eine nicht unbedeutende Anzahl im Princip von einander abweichender Constructionen geliefert, welche entweder einen schärferen Druck bei geringerer Kraftanstrengung des Arbeiters oder einen gleichmäßigeren Druck selbst bei größeren Formaten und überhaupt auch eine Beschleunigung der Arbeit an und für sich bezwecken. Wie bedeutend aber auch die Verbesserungen waren, welche die Buchdruckerpresse seit Anfang dieses Jahrhunderts erfahren hat, so trat mit der größern Ausbreitung der Literatur und der dadurch herbeigeführten Vermehrung der Production das Verlangen nach einer beschleunigten Herstellung der Druckerzeugnisse immer dringender hervor und hieß auf neue Mittel sinnen, um Alles zu übertreffen, was bisher erreicht worden war. Dieses Bestreben führte zu dem Triumphe aller Fortschritte der Typographie, zur Erfindung der Druckmaschinen oder Schnellpressen.

Wir verdanken diese Erfindung einem Deutschen, Friedrich König aus Eisleben, der seit 1804 seine geniale Idee unermüdlich verfolgte und nach vielfachen Hindernissen zuerst in England 1810 auf eine Flachdruckpresse ein Patent erhielt. Die von ihm in Verein mit seinem Landsmanns Andr. Friedrich Bauer aus Stuttgart unter der Firma König und Bauer in Kloster Oberzell bei Würzburg begründete Maschinenbaufabrik ist noch heute eine der bedeutendsten.

Mit dieser Erfindung theilt sich nun die technische Ausführung des Druckes in zwei Verfahren: in den Druck auf Pressen, welche durch die Hand bewegt werden (Handpressen), und in den Druck auf Schnellpressen oder solchen mechanischen Vorrichtungen, welche mittelst Cylinder drucken und entweder mittelst des Schwungrades durch Menschenhände, oder auch durch eine größere Kraft, z. B. eine Dampfmaschine, in Bewegung gesetzt werden.

Wir besuchen zuerst den Druckersaal, in welchem die Handpressen thätig sind. Hier erblicken wir 23 Handpressen, je zwei und zwei in vier Reihen aufgestellt und durch einen Säulengang in zwei Abtheilungen gesondert; unter diesen eine Handpresse größten Placatformats und eine kleine Accidenzpresse, sowie eine Numerirmaschine. Außerdem besitzt die Druckerei noch eine Zifferndruckmaschine, vermittelst welcher die fortlaufenden Nummern auf Werthpapieren etc. hergestellt werden.

Zu einer vollen oder ganzen Presse gehören zwei Arbeiter, der eine wurde früher der Preßmeister und der andere der Ballen- oder Walzenmeister genannt.

Die Farbe, deren man sich allgemein zum Drucken bedient, ist eine Oelfarbe, nur daß derselben statt des reinen Oels der durch Sieden erzeugte Firniß als Bindemittel beigesetzt wird. Nachdem der Preßmeister die vorher angefeuchteten weißen Bogen neben der Presse zurechtgelegt, sticht derselbe einen solchen auf die Punktirstifte, legt das Rähmchen um, befestigt es mit der Deckelschnalle und schließt den Deckel. Indem er mit der linken Hand die Kurbel dreht und so den Karren führt, ergreift er mit der rechten den Preßbengel und zieht ihn mit Gewalt gegen sich, wodurch der Abdruck der Form bewirkt wird. Durch Rückwärtsdrehen der Kurbel bewegt er den Karren zurück, schlägt den Deckel und das Rähmchen auf, nimmt den gedruckten Bogen heraus und steckt einen neuen weißen Bogen auf die Punktirstifte. Während dem hat der Walzenmeister das Einschwärzen der Form wieder besorgt und der Abdruck wird nun von dem Preßmeister auf’s Neue ausgeführt, so daß Beide ununterbrochen beschäftigt sind. Sobald eine Form ausgedruckt ist muß sie, damit die Farbe nicht antrocknet, gewaschen werden. Die rein gewaschene Form wird dann dem Setzer übergeben, der sie ausschließt, die Stege abnimmt und den Satz ablegt.

Nach erfolgtem Drucke der ganzen Auflage werden die Bogen in einem luftigen Raume, dem Trockenboden, auf abgerundeten Latten oder auf Leinen (sogenannten Uhrleinen) aufgehängt, damit das gefeuchtete Papier und die frisch aufgetragene Druckerschwärze gehörig trocknen. Von dem Maschinensaale des Souterrains aus führt durch alle Etagen des Druckereigebäudes ein Aufzug bis auf den Trockenboden, der, durch die Dampfmaschine gehoben, eine Last von 10 Centnern in Bewegung setzt. Vermittelst dieser Vorrichtung werden die ausgedruckten Bogen auf den Trockenboden geschafft, der die obersten Räume des ganzen Gebäudes einnimmt.

Da durch den Druck der Presse die Buchstaben bei dem Abdrucke der Form in die ebene Fläche des Papiers eingedrückt und die dadurch hervorgebrachten Schattirungen auf der andern Seite sichtbar werden, so läßt man bessere Druckwerke, nachdem sie gehörig getrocknet sind, glätten. Dies geschieht, indem man die einzelnen Bogen zwischen Glanzpappen (Preßspähne) legt und hierauf in die Glättpresse bringt, in welcher sie je nach Verhältniß der größern oder geringern Kraftanwendung derselben eine Zeit lang stehen bleiben. Zu diesem Behufe gelangen sie in die unter dem Trockenboden gelegene sogenannte Bücherstube, wo 6 Glättpressen aufgestellt sind, worunter 2 hydraulische Pressen mit vereintem Pumpwerk und 4 Schraubenpressen.

Bevor das Papier zum Drucke gelangt, läßt man es häufig satiniren, um ihm dadurch einen erhöhten Glanz zu verleihen; die einzelnen Bogen werden zwischen Zinkplatten gelegt, die man durch die zwei gußeisernen, geschliffenen Cylinder der Satinirmaschine laufen läßt. Soll dieses Verfahren angewendet werden, nachdem das Papier bedruckt ist, so muß die Druckerschwärze vorher vollständig trocken sein, weil diese sonst sehr leicht abschmieren würde. Dieser Bestimmung gemäß befinden sich 3 Satinirmaschinen in unmittelbarer Nähe der Handpressen und Druckmaschinen. Die einzelnen Bogen eines Buches werden alsdann zusammengetragen oder completirt, d. h. nach der Reihenfolge ihrer Signaturen in Lagen gebracht, so daß 5, 6 oder 7 Bogen eine Lage ausmachen. Sämmtliche Bogen, die zu einem Buche gehören, bilden ein Exemplar. In neuerer Zeit, wo die meisten Bücher broschirt oder gebunden ausgegeben werden, liefern die Druckereien häufig die einzelnen Bogen, ohne sie zu Exemplaren zu completiren, ab.

(Schluß folgt.)




Blätter aus der Krisis.
Von Ludwig Rein.
Nr. 1. Fabrikantenbrod.
(Schluß.)


Zurück jetzt zu dem Werkführer, den wir vorhin schnell fallen ließen. Auch er dachte sich, als er vor dem alten Herrn erschien, so halb und halb, wie es sein mochte – nämlich mit den Briefen aus Amerika, die der alte Herr noch in der Hand hielt.

„Wie viel sind von den Ballen gepackt, welche mit der Signatur „St. in Hamburg“ abgehen sollten?“ fragte er den Werkführer.

„Zweiundzwanzig,“ antwortete dieser.

„Bleiben liegen, – wird weiter nichts gepackt, – den gepackten keine Signatur gegeben.“

Nach diesem ausgesprochenen Befehl ging der alte Herr zu seinem Sohn, der Werkführer auf die Packstube.

„Du siehst wohl mehr, als eigentlich zu sehen ist, Vater,“ sagte der Sohn, nachdem er die Briefe gelesen.

„Ich lese zwischen den Zeilen, – die Dinge können nicht besonders stehen, – Karl, Karl, wenn wir in einen Schwindel geriethen!“

„St. in Hamburg wird sicher gehen, – wir können getrost die Waare an dieses Haus verabfolgen lassen. Wie wollen wir sonst Geschäfte machen, – und wie können wir überhaupt glänzende Vortheile gewinnen, wenn wir Mißtrauen schöpfen aus großen drängenden Aufträgen? – Zu Deiner Beruhigung aber will ich unserm Hause St. in Hamburg noch besonders und eindringlich schreiben, mit Vorsicht zu verfahren.“

Während Karl so sprach, ging der alte Herr überlegend auf und ab, und recitirte einige Zeilen aus dem bekannten Gedicht des „Ernst Heiter.“

[227] Und das Resultat der Besprechung? – Auf die Packstube wurde ein Gegenbefehl gegeben, – die Ballen erhielten die Signatur, – neue Ballen wurden gepackt, – nach einigen Tagen ging die Waare nach Hamburg.

Nach einigen Tagen kam auch Fräulein Cölestine angefahren mit ihrem Vater, Beide stiegen aus und besahen den Bau nicht nur, sondern das ganze Etablissement. Karl und sein Vater waren zugegen, und Beide schlossen an Beide sich an, – und als man besehen hatte, setzte man sich zu Tisch.

Auch das war vorbei. Da zog der alte Herr den Bräutigam auf die Seite und sagte: „Karl, wir müssen allein sprechen.“

Und als sie allein waren, hob der Sohn an: „Du scheinst verstimmt zu sein, Vater, – nichts von Mathilden!“

„Nichts von ihr, Karl, – aber sie wäre doch ein ganz anderes Kind für mich,– also nichts von ihr, nichts! Von etwas Anderem, Karl.“ Er zog einige Rechnungen aus der Rocktasche und fuhr fort: „Hier, Karl, der Bedarf wächst, – nur auf Abschlag für Maurer und Zimmerleute! und dann, Karl, wenn die Maschinen kommen, sofort wieder auf Abschlag! – Du hattest doch Hoffnung, man würde Dir heute ebenfalls eine Zahlung auf Abschlag –“

„Ich habe sie noch, – aber sei nicht verstimmt, Vater, dränge nicht,“ bat der Sohn. Und der Alte drängte nicht, er wurde Herr über seine Verstimmung.

Die Zeit verging, – der Wagen stand bespannt im Hofe,– die erwünschte Offerte zeigte sich nicht. Gewandt brachte Karl es an seinen künftigen Schwiegervater, daß er viele Papiere in den Händen habe, welche erst nach einigen Monaten zahlbar würden,– wie das einigermaßen genire beim Bau, – aber die Offerte kam nicht. Man stieg in den Wagen, man fuhr ab, und der alte Herr ging mit schnellen Schritten in den Garten, und sagte lächelnd und doch entrüstet: „„und deine Zettel, deine Lumpen blüh’n!““




Wir rücken ein kleines Stück weiter in der Zeit. Die Leipziger Michaelismesse war vorbei. Schöne, sonnige Herbsttage gab’s, aber am Horizont der Handelswelt war das Ungewitter längst aufgestiegen, weiter und weiter breitete es sich am Himmel aus, näher und näher zog es auf Deutschland heran. Der „große Krach“, welcher in Amerika geschehen war, erschütterte natürlich auch Europa, – und wie konnte da Deutschland, welches so innig und tausendfach mit Amerika verbunden ist, von der Erschütterung verschont bleiben?

Bald nach der Leipziger Michaelismesse schon hatte ein harter Schlag auch unsern alten Herrn getroffen. Noch hielt sich das Geschäft, – der Bau aber gerieth in’s Stocken. Karl bemühte sich, die zu erwartende Mitgift seiner Braut wenigstens theilweise herbei zu bringen, – es war vergebens, – Cölestine wich aus, ihr Vater wich aus. – Nun stieg die Verlegenheit für den alten Herrn und seinen Sohn von Tag zu Tag. Die Papiere, welche sie besaßen, waren jetzt zwar zahlbar, aber viele davon mußten sie schon früher mit Verlust verwerthen, die noch übrigen und die etwa einlaufenden Zahlungen reichten kaum hin, das Geschäft im Gange zu erhalten.

Da kam der verhängnißvolle December. In der Natur noch immer heitere Tage, – aber Sturm, Blitz und Wetterschlag entluden sich über Hamburg, Berlin, Wien, Stettin und fast allen Groß- und Mittelhandelsstädten Deutschlands.

Die „Krisis“ war da, und zog wie ein Würgeengel von Platz zu Platz, und schlug über Nacht.

Gleich in den ersten Würgnächten war auch das Haus St. in Hamburg gefallen. Schnell kam die Todespost in’s Thal zu unserm alten Herrn und dessen Sohn. Todesangst ergriff sie, – sie lagen getroffen von einem ungeheuren Verlust.

Armer, alter Herr! – Wir wollen nicht erzählen, in welch sonderbare, oft komische Ausbrüche und Ergießungen Du verfielst, – Deine Lage ist zu ernst und traurig.

Und Karl, – betrachten wir ihn genau, wir werden kein hartes Urtheil über ihn fällen. Er ist jung, ist Kaufmann, hat sich ein Strebziel gestellt, gehört einer Zeitperiode an, die so manchen Rechtlichen verlockte, der älter und erfahrener war, als er.

Der jetzige Schlag hat ihn gebeugt, aber er erhebt sich, er verzagt nicht. Schnell ordnet er, was zu ordnen ist, sitzt und arbeitet die Nächte hindurch, läßt den Bau gänzlich still stehen und – so weh es ihm und dem Vater thut – er reducirt die Zahl der Fabrikarbeiter auf die Hälfte.

Es versteht sich von selbst, daß er oft hinüber reitet zu seiner Braut. Auch können wir annehmen, daß in der Umgegend das Gerücht geht: „L. und Sohn werden doch noch falliren.“

Sie fallirten nicht, so nah sie auch daran waren.

Fünf Tage aber nach den eingetretenen Reducirungen, Entlassungen und Veränderungen kam ein höflicher Brief vom Vater Cölestine’s, ein höflicher Rücktrittsbrief.

Es ist gut, daß wir Cölestine nicht beschrieben, nicht geschildert haben. Schön war sie nicht, von Herzen weder gut noch schlecht, – übrigens verwöhnt durch die vielen Bewerbungen um ihre Hand, – im Ganzen eine weiche Treibhauspflanze.

Immerhin aber fühlte der alte Herr und sein Sohn den neuen Schlag gar sehr. Eine beschleunigte Heirath konnte Alles in den frühern Stand bringen, – vielleicht nur die Vollendung des Baues mußte eine Zeit lang verschoben werden. Jetzt stellte sich’s anders. Es war keine Möglichkeit, das volle gangbare Zeug in der Fabrik fortzubeschäftigen, – ein Theil der Maschinen mußte abermals stehen, und von den Arbeitern – das wurde in strenger Stille abgemacht – behielt man größtentheils nur diejenigen, welche mit der Zahlung des Lohnes in Geduld stehen konnten. Die übrigen mußten Feierabend machen.




Der neunte December kam, – der Geburtstag des alten Herrn. Vater und Sohn blieben jetzt stets in der Fabrik, – der Schimmel stand ruhig im Stalle, sollte verkauft werden, sobald sich ein Käufer fände. Der junge Herr hat es selbst so bestimmt, dem alten Herrn thut es leid, daß der fleißige, jetzt fort und fort arbeitende Sohn sich trennen soll von dem Thier. Doch es thut ihm noch Anderes leid, und mehr leid als das. Er fühlt die Erschütterung seiner Finna tiefer, als ein Zweiter sie fühlen kann. Durch Thätigkeit, Umsicht, günstige Conjuncturen war er gewachsen. Kaufmännische Ehrenhaftigkeit stellte von Jahr zu Jahr seine Firma höher, und trotz der blendenden, aber seichten Grundsätze, welche sich in neuerer Zeit der Handelswelt bemächtigten, hielt er die alten, soliden Ansichten fest. Nur seit einem Jahre war er, größtentheils genöthigt durch Umstände oder auch mit verleitet durch Karl, davon abgewichen. Oft faßte ihn darüber tiefe Besorgniß, – er sah, was da kommen konnte, – es war nun gekommen.

Jetzt sitzt er rechnend und schreibend oben auf seinem Zimmer. Er muß schon lange gearbeitet haben, es liegen viele fertige Briefe vor ihm.

„Aus nun!“ spricht er vor sich hin, legt die Feder weg und siegelt die Briefe, und gibt ihnen die Adresse. „Geburtstag heute,“ fährt er fort, als er auch dieses Geschäft vollendet hat, und steht auf und tritt an’s Fenster, durch welches die winterliche Abendsonne blickt, „Geburtstag, wie er noch nie gekommen, Geburtstag ohne Freude, – die Freude weg durch’s amerikanische Schwindelthum!“

Er sah hinüber nach dem Garten, – gedankenvoll nach dem längst verblühten Blumenbeete links und rechts, wo soeben ein Arbeiter eine schützende Einhüllung gegen Frost und Schnee, welche nun täglich eintreten konnten, anbrachte.

„Ist auch spät damit, – Alles außer Ordnung,“ fährt er fort, „würde anders sein, längst geschehen sein, wenn Anderes nicht geschehen wäre, – und sonst war Mathilde dort, – jene zwei Beete pflegte sie gern.“

Er steht, – er sinnt. Ein Anflug von Freude legt sich auf sein Gesicht. Aus dem Sinnen und Denken scheint eine Neigung, – aus der Neigung ein Entschluß zu erwachsen.

„Warum sollt’ ich das nicht?“ spricht er weiter, „dieses Angebinde kann ich mir zu meinem Geburtstage schon machen, – und ich will’s, ich will’s!“

Er sieht nach der Uhr, die auf dem Schreibepulte steht, er nimmt Stock und Hut, rafft die gesiegelten Briefe zusammen.

„Diese Briefe müssen noch zur Post,“ sagt er draußen zu einem Werkführer, „also hin damit, zu meinem Sohne! Ist er noch auf seiner Schreibstube?“

Der Werkführer bejaht es und geht. Der Alte geht auch, – an dem Treppenhause, wo der Weg hinter nach Karl’s Schreibstube führt, bleibt er stehen.

„Nichts da, – braucht gar nichts zu wissen!“ entscheidet er schnell, „Geburtstagsfreiheit, – Geburtstagsfreude, – hält mich sonst zurück – – ich gehe! – ’s kann seinen Nutzen haben, – tritt vielleicht wieder ein als Arbeiterin, braucht nicht augenblickliche Zahlung, würde in Geduld stehen auf Rechnung. – wenn sie wiederkäme! – er hat sie ja lieb, lieb noch, – o Gott und Herr! [228] – sie ist ja auch nicht ganz arm – und ohne Schwindel – was könnte diese Summe!“

Diese letzten Worte seufzt er mehr, als daß er sie spricht, und dennoch wird der Anflug von Freude, welchen wir schon vorher auf seinem Angesicht bemerkten, ein warmer Strich von Begeisterung. Fort, fort läuft er jetzt, rasch geht’s aus dem Thale den Berg hinaus, – Geburtstagsfreude, Geburtstagshoffnung ziehen unter der rothen Abendsonne funkelnd durch das alte, kindliche Herz.

Und er kommt an das letzte Haus des Dorfes, – er steigt die Treppe hinan, – er klopft, er tritt hinein, die Fensterscheiben glühen in der Abendsonne, – Mathildens Wangen in Erschrecken und Freude, in der Sonne der Erinnerung, der Sonne, welche nicht untergeht. Er streckte ihr die Hand entgegegen.

„Ist mein Geburtstag heute, mein neunundsechzigster, – mußte kommen, Mathilde!“ sagte der Alte nach Gruß – „mußte kommen, da Du nicht kommst, hatte Dir geschrieben, Du möchtest wieder eintreten, – geschrieben, wo Alles noch gut stand, – jetzt steht es schlecht, Mathilde, da wirst Du vollends nicht kommen, – weißt wohl, wie es steht? – aus dem Bau nichts, mit den Maschinen nichts, mit der Braut nichts, – Schwindel, Schwindel!“

Er seufzte und sprach dann weiter:

„Haben zwei Drittel der Arbeiter entlassen, können blos solche brauchen, welche nicht augenblicklich Geld brauchen, – bezahlt wird ehrlich, nur nicht sogleich, dachte da an Dich, Mathilde, – und nicht deshalb allein, ich dachte an Dich auch in anderer – wirst wohl nicht kommen?“

Mathilde stand gebeugt, – unter schmerzlichem Lächeln schüttelte sie ihr Haupt.

„Also nicht, nicht, Mathilde,“ klagte der Alte; „schlimme Antwort für mich, hatte einige Hoffnung vorhin, sah hinüber nach den abgeblühten Beeten rechts und links, – wurden gerade eingehüllt in Stroh, – da dachte ich an Dich, an Alles, – an das Blumenbeet links, Mathilde, – und ich machte mich auf, ich ging, – aber Karl weiß nichts davon, Mathilde, – ich ging still, still, – will auch still bleiben, da Du nicht kommst.“

„Kommen nicht,“ sprach leise Mathilde, „aber wenn ich helfen könnte, –“

Die Fenster glühten roth, – die Wangen noch röther, – sie erhob das Haupt, ging, schloß die bunte Truhe auf, gab dem alten Herrn einen Bogen und sprach:

„Mein Onkel wird Ihnen die Papiere sofort aushändigen; ich will an ihn schreiben oder selbst in die Stadt gehen.“

Der Bogen aber enthielt die schriftliche und untersiegelte Erklärung, daß der Onkel fünftausend Thaler in preußischen Staatsschuldscheinen zur Aufbewahrung von Mathilden übernommen habe und zur Rückgabe jeden Tag bereit sei.

Als der alte Herr gelesen, zitterte der Bogen in seiner Hand. Dann stand er eine Weile, – er konnte nicht sprechen, – und als aus seinen Augen einige Thränen auf den Bogen fielen, da faltete er denselben zusammen, steckte ihn ein, reichte schweigend dem Fabrikmädchen die Hand und eilte fort.

Draußen aber auf dem kleinen Vorsaal blieb er stehen, lehnte den Kopf an den Essensims und weinte laut und rief:

„Karl, o Karl! als sie heimlich fortging, hast Du gerührt und liebend gesagt: „sie handelt groß und schön!“ und nun, und jetzt – Karl, o Karl! o, immer größer, immer schöner! – fort, fort mit dem Schwindel! o komm, mein Junge, Du liebst sie ja, ’s ist Dir ja schwer an’s Herz gegangen! – „Groß und schön!“ – immer größer, immer schöner!“

Noch lange stand er weinend am Essensims, – sprach in seiner Weise noch Manches aus dem überfließenden Herzen mit überfließenden Augen, sprach’s laut genug, – und drinnen hörte man’s, – drinnen weinte es leise.

Als der alte Herr heim kam, war das Abendroth hinabgebrannt am kalten, grauen Decemberhimmel, aber bald brannte ein schönes Morgenroth auf, – der alte Herr sprach mit dem Sohne, und in dem aufgegangenen Morgenroth feierten Beide noch den Geburtstag, – glücklich, entschieden, Brust an Brust.




Eine andere Geburtstagsfeier wurde zwei Wochen später von vielen Millionen begangen. Auch in einem der Fabriksäle leuchtete ein Christbaum, wie dies schon in früherer Zeit zu Weihnachten stets der Fall war. Hatten sich auch für das Geschäft die Wunden noch nicht ausgeheilt, war auch der Neubau noch nicht wieder in Angriff genommen und ragte auch der eine neue Schornstein ohne Dampf empor; im Ganzen stand doch Alles viel besser, als einige Wochen vorher. Durch kluges Verfahren hatte sich der in Amerika eingetretene Verlust etwas abmindern lassen, mehrfache, schon verloren gegebene Zahlungen waren eingegangen, und vor Allem – die Fünftausend brachten eine gar wirksame, von Tag zu Tag wachsende Hülfe. – Die Fabriksäle hatten sich wieder gefüllt mit dem sämmtlichen frühern Arbeiterpersonal, alle Löhne waren bezahlt, bedeutende Wollvorräthe wieder vorhanden und jeder Saal, jeder Arbeitsraum verkündete es, daß die Wunden wenigstens verharschten und einer weitern Ausheilung entgegengingen.

So durfte denn am „heiligen“ Abend der Christbaum und ein kleines Geschenk für die Arbeiter auch diesmal nicht fehlen.

Der alte Herr ordnete noch auf den Tischen und Tafeln. Und er nicht allein, – an seiner Seite schafften und ordneten so fleißig, wie er, Karl und Mathilde.

„Herein! Alle herein!“ rief der alte Herr und öffnete den Saal.

Werkführer und Arbeiter, Frauen und Mädchen traten herein und Allen wurde der Platz angewiesen. Nicht nur der Christbaum, auch die Arbeitslampen brannten und viele Lichter an den Wänden und auf den Tafeln, so daß der Saal ganz hell war.

„Nur einige Worte!“ hob der alte Herr an. „Vorhin war’s finster hier, aber es ist nun hell geworden. Und weiter! Vor einiger Zeit war’s finster, sehr finster im ganzen Hause, im ganzen Geschäft – finster durch’s Schwindelthum! Aber, Gott sei Dank, es wird ja wieder hell, und ich denke, ’s wird immer heller werden, viel heller! Nur fort, fort! hinaus aus der ganzen Welt mit dem Schwindel!

„Und weiter noch! Alle Welt, die da einst finster und im Schwindelthum begraben lag, die wurde erleuchtet und gebessert durch den Eingeborenen. Diese freudige Botschaft verkündete der Engel zuerst den armen Hirten auf dem Felde, ’s war kein Schwindel, – die Hirten fanden das Kind, das neugeborene. Nun will ich Euch auch etwas verkünden, auch eine freudige Botschaft, und Euch zuerst, Euch armen Fabrikarbeitern! Und was ich Euch sage, ist auch kein Schwindel, – Ihr werdet zwei Kinder finden, meine Kinder, nicht in der Krippe, aber in der Fabrik, täglich in der Fabrik! Hier sind sie! Verkündet es allem Volk: sie sind Braut und Bräutigam! Gott segne sie, sie und unsere Fabrik!“

Freudig überrascht standen Alle, – freudig auch das Brautpaar und der alte Herr, aber überrascht nicht, denn die Drei wußten es ja lange vorher, wußten es schon bald nach dem Geburtstage des alten Herrn.

Als der Saal wieder leer war, ging der alte Herr zu seinen Kindern. Er sah sie an, – er lächelte.

„Karl, Karl,“ fuhr er dann fort, „nun behältst Du auch den Schimmel.“

Geschäftig putzte er die Lichter am Christbaume, stieg behend hinauf nach den Wandleuchtern und sprach dabei weiter:

„Gott sei Dank! wie es jetzt steht, Kinder, können wir den Schimmel auch ohne Schwindel behalten!“

Die Kinder antworteten nichts, denn sie hörten nichts, – sie gingen Arm in Arm, Aug’ in Auge, Herz in Herz im Saale hin und her, – – o stilles, seliges Versunkensein!

Erst, als der alte Herr von Neuem redete, erwachten sie aus dem glücklichen Halbträumen. Karl strich seine Stirn und sagte zerstreut:

„Ich glaube, Du sprachst von – – nun ja, ganz richtig, lieber Vater, – um den süßen Kern des Geschäftslebens legt sich nun einmal zuweilen durch ungünstige Conjunctur eine bittere Schale, – aber durch günstige Conjunctur wird die Schale gebrochen, der süße Kern noch erreicht –“

„Karl, Karl, ich sprach ja vom Schimmel, – aber laß gut sein, Karl, – und auch Du, Mathilde, – o Kinder, wie sind wir so glücklich!“

Sie waren es, – sie sind es noch heute. Die hohen Schornsteine im Thale dampfen, – es schnurrt und surrt in den Sälen, – vielleicht, daß der Neubau nach einigen Jahren vollendet steht.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir finden uns zu der Bemerkung veranlaßt, daß obige Darstellung auf authentischen Ueberlieferungen beruht, von denen einige hier zum ersten Male mitgetheilt werden.  D. Redact.