Die Gartenlaube (1857)/Heft 9
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No. 9. | 1857. | |
Ich höre trauern euch und klagen,
Daß kalt die Welt und liebeleer,
Und mitleidsvoll muß ich euch fragen:
Habt ihr denn keine Mutter mehr?
Das treue Herz, d’ran ihr geruht,
Den Schooß, d’rin ihr so weich gesessen,
So sicher, wie in Gottes Hut?
Die Mutter seht mit süßen Schauern,
So lange wird die Liebe dauern,
So lang’ ein Mutterherz noch schlägt!
O Mutterherz, du Born der Milde,
Du gottgeweihter, heil’ger Ort,
In dir weilt still die Liebe fort!
Du lebst nur in des Kindes Leben,
Sonnst dich in seiner Freuden Glanz,
Sein Leiden nur macht dich erbeben,
Gequält, gemartert und zerstochen,
Liebst du im herbsten Schmerze noch,
Vom Kinde frevelnd selbst gebrochen,
Im Brechen segnest du es doch!
Seid eigner Schuld ihr euch bewußt,
So lehnt die thränenfeuchten Wangen
An eurer Mutter treue Brust.
Und ist die Mutter euch geschieden,
O glaubt: ihr Herz ließ sie hienieden,
Es hält bei ihrem Kinde Wacht!
Albert Traeger.
Henriette trocknete wirklich zwei Thränen, die über ihre Wangen rannen. Es waren Thränen der Scham, und nicht des Schmerzes.
„Herr Präsident,“ sagte sie mit Würde, „ich war auf Alles gefaßt, selbst auf die Demüthigung, die in Ihrem Benehmen und in Ihren Worten liegt. Daß mich ein gewaltiger Grund trieb, Ihnen meine Bitte auszusprechen, müssen Sie wissen, da Sie mich kennen. Und da ich Sie kenne, weiß ich, daß Sie sich durch das Verfahren gegen den Rendanten an mir rächen wollen.“
„Madame!“
„Vor drei Jahren haben Sie meiner armen Mutter die Pension durch Ihren Einfluß entzogen, jetzt wollen Sie meinen Mann und seinen würdigen Freund verderben. Ich durchschaue Ihren Plan, aber ich zittere nicht, denn heute besitze ich Waffen, um mich zu vertheidigen.“
„Madame, Sie besitzen eine höchst gefährliche Waffe – Ihre Schönheit! Müßte ich mit Ihnen kämpfen, ich würde im voraus überzeugt sein, daß Sie siegten. Die schöne Henriette gehört zu den süßesten Erinnerungen meines Lebens – Madame Bergt ist mir gleichgültig, denn es wird sich für den Präsidenten nicht schicken, daß er der Rival seines Sekretairs ist. Sie sagten, daß mein Einfluß Ihrer Mutter die Pension entzogen habe – dieser Beschuldigung entgegenzutreten verschmähe ich; klagen Sie Ihren leichtsinnigen Vater an, dessen hinterlassene Papiere den Grund zu dem geben, dessen Sie mich beschuldigen.“
„Herr Präsident, verunglimpfen Sie die Ehre eines Todten nicht!“ rief die junge Frau. „Mein Vater war gut und brav, er hat nichts gethan, das ihn und seine Familie beschimpft, es sei denn, daß er so schwach war, aus Freundschaft einen Plan zu verschweigen, den ein gewisser Regierungsrath entworfen hatte, um eine gewisse Mündelkasse mit Sicherheit zu bestehlen. Sie berufen sich auf die hinterlassenen Papiere meines Vaters – auch ich berufe mich darauf! Und nun, Herr Präsident, beginnen Sie Ihr Vernichtungswerk; die schöne Henriette, wie Sie die Tochter Ihres
[114] verstorbenen Freundes zu nennen belieben, wird Ihnen mit einer höchst gefährlichen Waffe entgegentreten!“
Sie verneigte sich tief, und verließ rasch das Zimmer.
Der Präsident sah ihr nach, ohne sie zurückzuhalten.
„Was ist das?“ murmelte er bestürzt. „Sollten nicht alle Papiere in meine Hände gekommen sein?“
Dann ergriff er rasch ein Licht, eilte in das Nebenzimmer, öffnete einen Sekretair, und begann emsig die mit Papieren angefüllten Fächer desselben zu durchsuchen.
Der Rendant Ernesti hatte, bis zum Tode erschöpft, sein Haus betreten. Es war ihm unmöglich gewesen, so gern er es auch gemocht hätte, seiner Gattin die Gefahr zu verschweigen, die ihm bevorstand. Albert, sein ältester Sohn, hatte seit dem Nachmittage das Haus nicht betreten. Die beiden alten Leute saßen in stummer Verzweiflung neben einander, nachdem sie sich vergebens bemüht, einen Ausweg zu finden.
„Ich kann das Deficit decken,“ murmelte der alte Mann, „aber wenn es zu spät ist. Ach, meine Ehre, die ich dreißig Jahre lang gewahrt habe, ist dahin! Elisabeth, wir müssen mit Schande in die Grube fahren!“
„Ohne zu bedenken, daß unser Albert Offizier ist!“ schluchzte die greise Gattin.
„Wo ist Moritz, unser zweiter Sohn?“ fragte Ernesti rasch.
„Er bleibt heute ungewöhnlich lange – ach, mein Gott, ich bin so verwirrt, daß ich Alles vergesse. Unser Moritz begleitet ja den Fürsten auf der Jagdparthie nach L., er wird erst in einigen Tagen zurückkehren.“
Moritz Ernesti war Revierförster, der Fürst schätzte den kenntnißreichen jungen Mann, und es ließ sich nicht bezweifeln, daß er bei der ersten Gelegenheit zum Oberförster avancirte.
„Wäre er da,“ meinte die Mutter, „ich würde ihn diese Nacht noch zu meinem Bruder schicken, denn er kennt die Waldwege genau.“
„Dein Bruder, meine liebe Elisabeth, ist für den Augenblick ohne Geld; die Reise zu ihm wäre wahrlich unnütz. Doch, beruhige Dich nur, es ist ja möglich, daß Madame Bergt Hülfe bringt.“
Ernesti hatte auf die junge Frau wirklich einige Hoffnung gesetzt, und es läßt sich ermessen, wie ungeduldig er ihre Ankunft erwartete. Mehr als einmal versuchte er, in einem Register zu lesen, das auf dem Tische lag, aber stets trat er seufzend zurück, indem er murmelte: „es fehlen viertausend Thaler!“ Mutter Elisabeth schüttelte schmerzlich das greise Haupt, als sie die peinliche Unruhe ihres Manms sah.
„Du hättest Dich dem Fräulein von Hoym unumwunden entdecken sollen!“ sagte sie schüchtern.
„Ihr? Lieber dem Fürsten selbst!“
„Aber warum denn, lieber Mann?“
In diesem Augenblicke klopfte man hastig an die Thür, und gleich darauf trat Henriette athemlos ein.
„Herr Rendant,“ stammelte sie, „Fräulein von Hoym kann nicht helfen!“
„Mein Gott!“ riefen bestürzt die beiden alten Leute.
„Aber ich, ich bringe Hülfe!“
Sie sank auf einen Stuhl, um sich zu erholen.
„Ach, der Himmel lohne es Ihnen!“ sagte weinend Mutter Elisabeth.
Henriette legte ein Portefeuille auf den Tisch.
„Es enthält nur tausend Thaler,“ sagte sie. „Den Rest decken Sie durch diesen Brief. Lesen Sie ihn, lesen Sie ihn!“
Der Rendant nahm das Papier und las. Er rieb sich die Stirn, als ob er das, was er las, nicht recht fassen könnte.
„Und diesen Brief hat Seldorf geschrieben?“ rief er aus.
„An meinen verstorbenen Vater. Ich habe ihn aufbewahrt, weil ich schon lange fürchtete, daß er mir noch einmal nützlich sein würde. Bedienen Sie sich seiner, um einen gefährlichen Feind abzuschlagen. Der Präsident will Ihr Unglück, er ist unbeugsam und besteht darauf, daß morgenfrüh die Revision stattfinden soll.“
„Er wird eine Kommission senden.“
„Nein, er wird selbst kommen, denn ich habe in ihm die Befürchtung erweckt, daß etwas gegen ihn geschehen würde.“
„Doch, das ist nicht Alles – dieser Brief ist ein Dokument –“
Der alte Rendant konnte vor Aufregung nicht weiter reden; er starrte das Papier, das in seiner Hand zitterte, mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was ist es? Was ist es?“ fragten beide Frauen zugleich.
„Laßt mich, Kinder, laßt mich!“ murmelte der alte Mann, indem er eine abwehrende Bewegung mit der Hand machte, obgleich ihm Niemand den Brief nehmen wollte. „Gönnt mir Zeit, daß ich mich sammele. Ich soll Euch eine Erklärung geben? Weiß ich selbst doch in diesem Augenblicke nicht Alles zu fassen. Madame Bergt, Sie sind als eine Botin des Himmels in mein Haus gekommen – und der Herr Präsident – mag er meine Kasse revidiren!“ fügte er mit einem seltsamen Lächeln hinzu. „Es wäre mir selbst jetzt unangenehm, wenn die Revision unterbliebe, denn ich müßte angreifen, statt zu vertheidigen. Ihr Vater war Pupillen-Sekretair in K., Madame Bergt?“
„Ja!“
„Ach, das hat die Vorsehung gefügt! Mütterchen,“ wandte sich der Rendant zu seiner Frau, „um diesen Preis will ich die Schuld, fürstliche Gelder angegriffen zu haben, gern tragen. Wäre Bergt nicht in Verlegenheit gerathen, ich hätte ihm kein Geld geliehen, und dieser Brief wäre nicht in meine Hand gerathen. Kommen Sie, Herr Präsident, kommen Sie, ich fürchte Sie nicht mehr!“
„Mann, lieber Mann, was ist mit Dir?“ rief ängstlich Mutter Elisabeth.
„Laßt mich, laßt mich, ich muß die Kassenrevision vorbereiten! Laßt mich noch zwei Stunden arbeiten, dann will ich ruhig zu Bette gehen.“
Henriette schied mit den Worten:
„Ich hoffe, man wird Sie morgen nicht belästigen. Uebrigens verwenden Sie das Papier nach Gutdünken.“
Am folgenden Morgen betrat der Rendant zuerst das Kassenzimmer. Peters folgte ihm, ein großes Buch unter dem Arme tragend. Der Greis war ernst, fast feierlich gestimmt; gegen seine Gewohnheit sprach er kein Wort mit dem Diener, der ängstlich jede Bewegung seines Vorgesetzten beobachtete. Um acht Uhr war Alles bereit. Gegen neun Uhr kam der Präsident – allein.
„Herr Rendant,“ begann er, nachdem er höflich gegrüßt, „ich erfülle eine Pflicht, die mir meine Stellung auferlegt. Sie werden mir eine genaue Einsicht in das Kassenwesen gestatten, damit ich auch diesen Zweig der Verwaltung kennen lerne, deren Oberaufsicht mir unser gnädiger Fürst anvertraut hat. Dies ist der Grund der anberaumten Revision, die, wie ich erwarten darf, Sie nicht unvorbereitet findet. Da es sich in der Hauptsache um meine Information handelt, habe ich keine Kommission ernannt, sondern bin allein erschienen. Erlauben Sie mir, daß ich diesen Vormittag mit Ihnen arbeite.“
„Sie haben zu befehlen, Herr Präsident!“
Seldorf beobachtete den Rendanten, dessen Ruhe ihm auffiel, mit argwöhnischen Blicken.
„Sollte Bronner sich geirrt haben?“ fragte er sich. „Oder sollte es möglich gewesen sein, die fehlende Summe anzuschaffen? Oder sollte im dritten Falle Henriette Mittel geliefert haben, mich von einer Denunciation abzuschrecken?“
Ernesti beantwortete bald alle diese Fragen.
„Herr Präsident,“ begann er, „ich bin seit dreißig Jahren der Rendant der fürstlichen Regierungskasse, und es hat alljährlich eine Revision stattgefunden; aber stets an einem Termine, der mir lange vorher bekannt war.“
„Was wollen Sie sagen? Komme ich vielleicht ungelegen?“
„O nein; Sie haben das Recht, zu jeder Zeit zu kommen, und ich bin verpflichtet, Sie zu jeder Zeit zu empfangen. Hier liegt das Hauptbuch, und dort steht die Kasse. Um Ihnen das Revisionsgeschaft zu erleichtern, habe ich diese Nacht die Bilanz aufgestellt. Ich schwöre zu Gott, daß sie richtig ist.“
Er überreichte dem Präsidenten ein Papier. Dieser prüfte es.
„Wie,“ fragte Seldorf erstaunt, „Sie bekennen, daß dreitausend Thaler fehlen?“
„Ich habe sie einem bedrängten Freunde geliehen.“
„Aus fürstlichen Mitteln?“
„O, sie sind mir sicher!“ antwortete lächelnd der alte Mann. [115] „Die fürstlichen Mittel werden in einigen Tagen wieder vollständig sein. Glauben Sie mir, Herr Präsident, ich kann noch für dreitausend Thaler einstehen, obgleich ich kein bemittelter Mann bin.“
„Soviel ich weiß, haben Sie zweitausend Thaler Kaution bei Ihrer Einsetzung als Sportelkassirer gestellt.“
„Ganz recht; drei Jahre später ward ich Rendant, und trotzdem ich eine weit größere Kasse zu verwalten hatte, begnügte man sich dennoch mit dieser kleinen Kaution, meiner Ehrlichkeit trauend, die in diesem Augenblicke ein wenig in’s Gedränge gerathen ist. Ich befinde mich in einem ähnlichen Falle wie vor vier Jahren. Man hatte mich nämlich zum Vormunde eines elternlosen Mädchens bestellt, das ich nicht kannte. Meine Mündel lebte in Frankfurt a. M., wo ihre Mutter gestorben war. Ihr Vermögen von fünfundsechzigtausend Thalern stand in K., dem Geburtsorte der Mutter, bei dem Pupillengerichte, wo es der erste Vormund, der gestorben war, deponirt hatte. Ich hielt es für ersprießlicher, das Vermögen meiner Mündel in hiesiger Residenz unterzubringen, und reklamirte das Kapital in K. Ach, Herr Präsident, was für eine traurige Erfahrung mußte ich da machen! Meine Reklamation fiel gerade in die Zeit der unglücklichen Revolution, in welcher der gesetzliche Gang der Dinge vollständig unterbrochen war. Ich mußte selbst nach K. reisen. Man wies mich von Pontius zu Pilatus. Endlich erfuhr ich, daß das Geld bereits an mich abgegangen sei. Ich reise hierher zurück. Die Post wußte nichts von einer Geldsendung an mich. Nun gab ich einem Freunde in K. Vollmacht, die Sache zu betreiben. Nach einem längeren Briefwechsel trat ich wiederum eine Reise an. In K. zeigte mir das Gericht die Quittung meines Freundes, eines braven Advokaten; aber mein Freund lag auf dem Sterbebette, und als ich ihn befragen wollte, verschied er. An die Erben, die nichts besaßen, konnte ich mich nicht halten, und ich mußte mit leeren Taschen nach Hause reisen.“
Der Präsident hatte lächelnd zugehört.
„Zu welchem Zwecke erzählen Sie mir diese Unglücksgeschichte?“ fragte er.
Der Rendant trocknete den Schweiß von der Stirn, indem er antwortete:
„Ich bin sogleich zu Ende, mein lieber Herr. Der heillose Betrug machte Aufsehen. Wer hätte das wohl dem ehrlichen Clemens zugetraut? Seine Wittwe lebte kümmerlich von einer kleinen Pension – wohin hatte der Verstorbene die große Summe gebracht? Das war allen Leuten ein Räthsel. Man verdächtigte den armen Mann noch im Grabe und nahm seiner Wittwe die kleine Pension. Mein Herr,“ sagte der Rendant mit starker Stimme, „heute ist das Räthsel gelöst: Clemens hat das Geld einem Freunde geliehen, der es nur vierzehn Tage behalten wollte, um ein Familiengut zurückzukaufen. Aber nach acht Tagen schon starb der gute Mann, der Tod überraschte ihn, wie mich die Kassenrevision. Und was that der Freund? Er schwieg und behielt das Geld. Clemens nahm den Verdacht einer schändlichen Spitzbüberei mit sich in das Grab. Noch mehr: seine Tochter[WS 1], arm und verlassen, verheirathet sich; ihr Mann kommt um viertausend Thaler in Verlegenheit – ich leihe sie ihm aus meiner Kasse – da setzt derselbe Freund, der in der Zeit Präsident geworden, eine Kassenrevision an – –“
„Herr Rendant!“ rief Seldorf auffahrend.
„Nicht wahr, das ist eine wunderliche Geschichte?“ rief der alte Mann, am ganzen Körper zitternd. „Nichtsdestoweniger aber ist sie wahr, und ich kann die Wahrheit beweisen!“
Der Präsident zuckte leicht zusammen.
„Sie?“ fragte er, einen stechenden Blick auf Ernesti werfend.
„Und wodurch?“
„Durch einen Brief, in dem geschrieben steht: beruhige Dich, mein lieber Clemens, Deine fünfundsechzigtausend Thaler Mündelgelder, die Du mir geliehen hast, sind in meinen Händen eben so sicher, als in den Deinigen; mein Gut Seldorf mag Dir als Unterpfand dienen. Wollen Sie noch mehr wissen, Herr Präsident?“
„Genug!“
„Gut, so revidiren Sie meine Kasse, und denunciren sie mich als einen Dieb.“
Ernesti sank erschöpft auf einen Stuhl.
„Sie alter, wunderlicher Mann,“ begann nach einer Pause der Präsident, „wie kommen Sie auf den Gedanken, daß ich Ihre Ehrlichkeit in Zweifel ziehe?“
„Ihr Brief macht mich ehrlich, nicht wahr, Herr Präsident?“
„Wir müssen uns verständigen; die Sache ist sehr unbedeutend.“
„Verständigen Sie sich mit unserem Fürsten, denn jene Mündelgelder gehören seiner Tochter, die jetzt unter dem Namen Fräulein von Hoym in unserer Residenz lebt.“
Der Präsident erblaßte.
„Herr Rendant,“ sagte er stammelnd. „Sie sprechen Beschuldigungen gegen mich aus, die mich zu ernsten Schritten veranlassen. Der Brief, von dem Sie sprechen, ist falsch!“
„Der Fürst wird darüber entscheiden!“
„Wo ist das Papier?“
„In den Händen des Fräuleins von Hoym. Lassen Sie mich, lassen Sie mich!“ rief Ernesti. „Hier will ich gern ein Dieb sein, wenn ich nur dadurch die Ehre meines verstorbenen Freundes rette.“
„Wohlan, so wird das Criminalgericht mit Ihnen reden!“
Der Präsident verließ rasch das Kassenzimmer. Ernesti schloß seine Bücher und seine Kasse, und eilte zu Fräulein von Hoym, der er alle Vorgänge mittheilte. Der Tag verfloß, ohne daß der Präsident etwas unternahm. Denselben Abend saßen Henriette und Cäcilie plaudernd beisammen. Da trat der Fürst ein, der wegen des schlechten Jagdwetters zeitiger zurückgekehrt war.
„Mein Vater!“ rief Cäcilie, und warf sich dem Ankommenden in die Arme.
Der Landesherr ließ sich erzählen, was in seiner Abwesenheit geschehen, Cäcilie legte den Brief Seldorf’s vor, und Henriette ermangelte nicht, die nöthige Aufklärung zu geben. Ernst und nachdenkend verließ er das Haus seiner Tochter, die ihm vor zwanzig Jahren ein geliebtes Wesen geboren hatte. Am nächsten Morgen ließ er den Präsidenten zu sich bescheiden. Der Bote kam mit der Nachricht zurück, daß Herr von Seldorf in der Nacht verreist sei. Um Mittag legte man Beschlag auf die Papiere des Verreisten, der nie wieder in die Residenz zurückkehrte. Zwei Tage später übergab Cäcilie der Freundin eine Summe von viertausend Thalern.
„Mein Vater,“ sagte sie, „bezahlt den Brief Seldorf’s damit, durch den mir ohne Zweifel das Vermögen meiner Mutter erhalten wird.“
Henriette flog zu dem Rendanten. Als sie in das Zimmer trat, traf sie Lydia Spanier und Moritz, den zweiten Sohn Ernesti’s, an. Die junge Frau, entzückt über die glückliche Lösung der Wirren, schloß die schöne Jüdin in die Arme.
„Sie ist der Engel gewesen, der uns vor der drohenden Gefahr warnte!“ rief sie aus. „Wie kann ich Ihnen danken, meine liebe Freundin?“
„Dadurch,“ sagte lächelnd der Rendant, „daß Sie uns nächsten Sonntag nach dem Dorfe M. begleiten, in dessen Kirche Fräulein Lydia zum Christenthume übertritt, um sich mit dem fürstlichen Oberförster Moritz Ernesti trauen lassen zu können. Die gute Lydia war um die Ehre ihres künftigen Schwiegervaters besorgt, und deshalb benachrichtigte sie Sie von der mir drohenden Gefahr –“
„Und übergab mir tausend Thaler!“ fügte Henriette rasch hinzu.
„Ich würde mehr gegeben haben, wenn ich mehr gehabt hätte!“ flüsterte Lydia erröthend.
„Ich nehme den guten Willen für die That, mein liebes Kind!“ rief gerührt der Greis.
Am nächsten Sonntage ward Lydia die Gattin Moritz Ernesti’s. Der alte Spanier hatte ohne Widerstreben eingewilligt, da er mehr Geldmann als Jude war, und ihm seiner Tochter Heirath als ein rentables Geschäft erschien. Mehr als einmal hatte er zu Lydia gesagt: „ich werde Christ, wenn man mir den Titel Kommissionsrath gibt.“ Diese Hoffnung wird wahrscheinlich in Erfüllung gehen, da sich annehmen läßt, daß Lydia ihres Vaters Gesuch bei dem Fürsten unterstützt.
Fünf Monate noch war die Residenz über Cäcilie von Hoym im Unklaren, und allgemein schrieb man den plötzlichen Abgang des Präsidenten ihrem Einflusse zu, denn man erzählte sich, daß Seldorf ihre Hand ausgeschlagen, die ihm der Fürst zugedacht habe; den wahren Grund hat man aus Rücksicht für Ernesti und Bergt verschwiegen. Da war eines Tags Cäcilie von Hoym verschwunden, und zum allgemeinen Erstaunen bezog der Sekretair [116] Bergt mit seiner Gattin das schöne Haus am fürstlichen Parke. Der Lieutenant Albert Ernesti forderte und erhielt seinen Abschied. Auch er verschwand wie Cäcilie. Wohin? wird der Leser fragen. Folgen wir dem Sekretair Bergt, der mit seiner Gattin im Juli eine Reise macht. Die jungen Leute fuhren auf der Eisenbahn bis K., und dort nahmen sie einen Wagen, der gegen Abend vor einem stattlichen Rittergute anhielt.
„Wie heißt dieses Gut?“ fragte Bergt einen Landmann.
„Seldorf, Herr!“ war die Antwort.
„So sind wir am Ziele.“
Kaum hatten die Reisenden den geräumigen Hof betreten, als Cäcilie und Albert die Freitreppe vor dem Herrenhause herabeilten. Die Freundinnen schlossen sich laut jauchzend in die Arme. Bergt und Albert drückten sich herzlich die Hände.
„Unsere Frauen sind Freundinnen,“ sagte der junge Gutsbesitzer – „seien auch wir fortan Freunde!“
Ein vierwöchentlicher Aufenthalt auf Seldorf befestigte den neugeschlossenen Freundschaftsbund.
Der Präsident Seldorf ist gegenwärtig der Redakteur eines amerikanischen Journals, das er auf eigene Kosten gegründet hat.
Nach kurzer Rast eilten wir weiter und gelangten nach dreistündigem Ritte und vollbrachter Ueberschreitung der Kette aus dem Walde auf die Ebene, an deren vom Meere begrenzten Ufer wir Panama liegen sahen. Die Straße, welche wir auf der ganzen, sanft nach dem Meere abfallenden Ebene verfolgen konnten, glich hier in der That einem langen Zuge Ameisen, so dicht war sie bedeckt mit Kommenden und Gehenden, Transportzügen u. s. w. Nach kurzem Ritte hatten wir die Thore Panama’s passirt und froh, von der Mule zu kommen, sprangen wir ab, ließen das Thier laufen und kehrten in das uns empfohlene deutsche Hotel Louisiana ein, um unsere sehr ermatteten Glieder zu stärken. Mit großem Mißfallen hörten wir, daß ein zehntägiger Aufenthalt uns in Panama bevorstände, weil der Steamer, welcher an der Westküste Südamerika’s geht, bereits vor vier Tagen abgegangen war. Bei dieser unerträglichen Hitze (die Sonne stand fast senkrecht), in einer Stadt, wo das gelbe Fieber leider nur zu häufig wüthet, der Geist vollkommen erschlafft und die Zeit (wenigstens für uns) mit nichts auszufüllen war, konnte uns dieser lange gezwungene Aufenthalt nicht angenehm sein. Doch wir mußten uns fügen und beschlossen, durch Vereinigung aller unserer Kräfte dem Aufenthalte noch die beste Seite abzugewinnen.
Die Kühle des Abends verlockte uns bald zu einem Ausgange. Der erste Eindruck war allerdings kein günstiger. Die Straßen sind schmutzig und übelriechend, denn sie sind der Ort, wo alles und jedes Unbrauchbare hingeworfen wird. Schaaren von Hunden mit und ohne Herren durchstreifen die Stadt, Alles verzehrend, was irgend für sie genießbar ist und mit großen schwarzen geierartigen Vögeln das Amt der Straßenreinigung vollziehend. Besonders sind es letztere, deren Dienste so anerkannt sind, daß auf ihre Tödtung Strafe gesetzt ist. Sie sind in so außerordentlicher Anzahl vorhanden, daß zuweilen Häuser oder Bäume buchstäblich von ihnen bedeckt sind. Schnell eilten wir die Straßen entlang, um auf dem Walle die frische reine Meeresluft zu athmen und der schönen Aussicht zu genießen, welche der Golf von Panama mit seinen grünen Inseln darbietet, die ihrem Namen (Perleninseln) in der That entsprechen, da sie wie Perlen in das blaue Meer gestreut sind. Der Wall ist der einzige Ort, wo die Einwohner Panama’s nach der drückenden Hitze des Tages sich erholen können, und nur hier, in den Abendstunden, sieht man das schöne Geschlecht in einfachen weißen Toiletten sich öffentlich zeigen. Die nahe am Walde stehende Citadelle ist noch der einzige Ueberrest der früheren Festungswerke und beherbergt die unbedeutende Besatzung, zusammengesetzt aus Menschen von allen Hautfarben. Die wenigen Kanonen (unter denen einige sehr schöne), welche früher [117] die Wälle vertheidigten, liegen unbeachtet auf ihren morschen, geborstenen Lafetten oder im Sande, und haben jetzt nur noch die friedliche Bestimmung als Sitze zu dienen. Bei unserer Rückkehr in das Hotel hatten wir die Freude, einen unserer Reisegefährten noch anlangen zu sehen. Derselbe war, von der Hitze ohnmächtig, mehrmals vom Maulthiere gestürzt, und hatte schließlich auf einer hastig aus Aesten hergestellten Trage von Indianern nach Panama getragen werden müssen. Doch erholte er sich hier bald in der Abendkühle und zu unserer Aller Stärkung begaben wir uns zeitig zur Ruhe, um durch einen guten Schlaf die Reisestrapazen zu vergessen. Aber die Moskito’s hatten es anders beschlossen.
Wer je eine Nacht an einem Orte zugebracht hat, wo die Sonne fast senkrecht steht und die Moskito’s in unzähligen Schaaren den Schlafsuchenden überfallen, der kann sich unsere hülflose Lage vorstellen. Anfangs kämpfend gegen diese unsichtbaren Feinde, deren Gesumme schon Grauen erregt und in wirklich nervöse Aufregung versetzt, verzichtet man bald auf jede Vertheidigung und ergibt sich auf Gnade und Ungnade. Es ist merkwürdig, daß besonders die Neuangekommenen zu leiden haben und es scheint, als ob das frische Blut, welches sie mitbringen, den Moskito’s besonders munde. Indeß die Natur forderte von uns ihre Rechte und wir verfielen endlich in Schlaf, aus dem wir allerdings als vollkommene Opfer der Moskito’s erwachten. Die frische Morgenluft, welche ungefähr der Mittagshitze unserer deutschen Sommertage glich, lud uns zu einem Spaziergange ein, welchen wir in Panama’s Straßen vollzogen, um eine Ansicht der Stadt zu haben. Wie alle Städte Amerika’s, die von Spaniern angelegt sind oder unter deren Herrschaft gestanden haben, ist auch Panama sehr reich an Kirchen, von denen jetzt allerdings nur noch wenige benutzt werden; die meisten sind zerfallen und bilden mitunter, wenn auch keine großartigen, doch recht schöne Ruinen. So bietet das ehemalige Jesuitenkloster in seinen zerfallenen Hallen und geborstenen Säulen, von Palmen überschattet und mit Schlingpflanzen umgrünt, einen schönen Anblick dar und zeigt von früherer Blüthe und Pracht. Die noch jetzt benutzte Kathedrale ist einfacher und nur die Thürme haben etwas Besonderes; sie sind nämlich vollständig mit Muscheln bekleidet. Im übrigen ist Panama sowohl im äußern Ansehen als auch in inneren städtischen Einrichtungen bedeutend zurück gegen andre Städte Südamerika’s von viel geringerer Wichtigkeit.
Unsre Wanderung durch die Stadt war sehr bald beendigt und schleunigst eilten wir zurück, um uns vor der fast sengenden Hitze (es war erst 9 Uhr Morgens) zu schützen. Wir zogen vor, vom Balkon aus den Strom Wanderer ankommen zu sehen, welcher drei Tage hintereinander ununterbrochen an unserem Hotel vorüberfluthete. – Er glich in der That einer kleinen Völkerwanderung, denn sowohl von Nordamerika als auch von Europa waren über 3000 Auswanderer angelangt, deren gemeinschaftliches Ziel Kalifornien war. Dazu kamen noch die von dort Zurückkehrenden, welche, obgleich in geringerer Anzahl, doch auch zur Vergrößerung des Gewühls beitrugen. Es war eine förmliche Menschenüberschwemmung. Viele kampirten in den Straßen und richteten sich in Zelten oder anderswie häuslich ein, um den Abgang des nächsten Schiffes zu erwarten. Alle Gasthöfe waren überfüllt und in Privathäusern war kein Unterkommen zu finden. Dies dauerte glücklicherweise nur drei Tage. Leicht hätte sich bei einer derartigen Ueberfüllung und zu dieser Jahreszeit das gelbe Fieber entwickeln können. So viel uns bekannt, kam nur ein einziger Fall vor; unser Stubennachbar, ein Franzose, fiel als Opfer. Sein Kranksein währte nicht über zwanzig Stunden. Gegen Abend fing er an zu stöhnen, seine Glieder wurden steif und gegen Mittag war er bereits im Hospital (einem alten, an den Strand gezogenen Schiffe), wohin man ihn am Morgen geschafft, gestorben. Es war dies wirklich keine angenehme Nachbarschaft, die Schmerzenslaute des Unglücklichen verscheuchten jeden Schlaf und brachten die Gedanken immer wieder auf diese Geißel der tropischen Gegenden, des gelben Fiebers und auf die Gefahr, ihr zu unterliegen, zurück. Wir suchten deshalb auch so wenig wie möglich in der verpesteten Luft Panama’s zu leben und unternahmen zu diesem Zwecke täglich Wanderungen in die Umgegend.
Besonders reizte uns die Aussicht, welche man vom Gipfel eines hinter Panama gelegenen Berges haben sollte und wir beschlossen sofortige Besteigung. Gut bewaffnet mit Revolvern, Messern, Stöcken, Einige von uns noch ausgerüstet mit Stecknadeln und anderen dergleichen Hülfsmitteln, um harmlose Thiere ihrem naturwissenschaftlichen Hunger zu opfern, machten wir uns auf den Weg. Drei Mal schon hatten wir versucht vorzudringen, immer führte uns der Weg nur bis zu einigen Indianerhütten, die mitten im Walde lagen. Ungefähr ein Dritttheil des Weges hatten wir erreicht, aber dann umgab uns fast undurchdringliches Dickicht, und obgleich wir ein gutes Stück in demselben vordrangen, den Pfaden von Maulthieren folgend, nirgend fanden wir den Weg. Daß es einen solchen gäbe, sahen wir am Fuße des Berges; denn man konnte vom Gipfel herab einen schmalen Steig ein Stück abwärts verfolgen. Aber für die Fruchtlosigkeit unserer Versuche wurden wir entschädigt durch die Pracht der Natur, durch die Herrlichkeit dieses Waldes, der noch in unangetasteter jungfräulicher Schönheit prangte. Mahagoni- und andere mit dem üppigsten Grün belaubte Bäume bildeten ein dichtes Dach, durch welches die schlanken Palmen wie Säulen brachen, um über ihm mit ihren schwankenden Kronen ein zweites luftiges Gewölbe zu schlagen, durch dessen Zwischenräume das dunkle Himmelsblau leuchtete. Wo das Auge hinblickte, fiel es auf Blüthen, von denen eine die andere an Schönheit und Pracht der Farben, an Mannigfaltigkeit der Gestaltung, an süßem Dufte übertraf. [118] Große purpurne Passionsblumen, schon von ferne leuchtend, schmückten die grünen Wände, welche ihre biegsamen Ranken zwischen den Stämmen gewoben hatten. Die Orchideen schwangen sich durch das dunkele Laub und rankten sich empor zu den im Winde sich wiegenden Palmen, von einer zur andern sich schlingend und ihre Blüthenbüschel wie Quasten herunterhängen lassend. Hohe Bäume, über und über bedeckt mit großen rothen oder weißen Blüthen, welche zu zehn und mehr straußartig beieinander stehend nur hier und da das frische Grün durchblicken ließen, bildeten den herrlichsten Kontrast mit den unter der Last ihrer Früchte sich beugenden Orangenbäumen. Die großen gelben Blüthen einer Art Baumwollenstaude glänzten schon von Ferne wie Gold. Ananas würzten die Luft mit dem köstlichsten Aroma und luden mit ihren saftigen Früchten zum kühlenden Mahle. Ueppige Farrnkräuter bedeckten den Boden, dem Auge die zierlichsten Blattformen darbietend und in ihrem frischen Grün die goldenen Orangen verbergend. Buntgefleckte Eidechsen schlüpften hin und her, Leguane von drei Fuß Länge guckten uns neugierig an und verschwanden rasch im dichten Laube. Schmetterlinge von den prächtigsten Farben, der große Atlas, der herrliche blaue Achilles, flogen von Blüthe zu Blüthe, ihnen durch die eigne Schönheit noch höheren Reiz verleihend.
An lichten, blumenreichen Stellen erkannte man an den unerkenntlichen hin- und herschwirrenden Punkten, welche die Blüthen umgaben, daß Kolibri’s ihr Spiel trieben, während die andern größern Vögel, als Beutelmeisen u. s. w. ganz furchtlos in der Nähe blieben, oder in ihre so eigenthümlich gebauten und aufgehangenen Nester schlüpften. Richtete man, durch ein kreischendes Geschrei aufmerksam gemacht, das Auge aufwärts, so erblickte man die bunten Gefieder der Papageien, welche mit schwerem Flügelschlage dahinflogen. Es war in der That entzückend schön in diesem Walde, und beneidenswerth erschien das Loos der Bewohner der Hütten, daß sie diese Fülle von Schönheit täglich genießen und bewundern können. Mißtrauisch betrachteten sie die Eindringlinge; doch unsre Revolver flößten Respekt ein und ungehindert ließen sie uns ihr Gebiet durchstreifen.
Obgleich nun schon drei Versuche mißglückt waren, beschlossen wir doch noch, einen vierten zu wagen. Rasch ging es vorwärts zum schon früher erreichten Orte. Hier nahmen wir die Richtung nach dem Gipfel, und muthig drangen wir in das Dickicht. Schwer war es allerdings, sich den Weg zu bahnen durch das dichte Gewebe der Schlingpflanzen, aber unverdrossen schritten wir weiter. Plötzlich versank vor unsern Augen der Vorangehende, und der Letzte der Reihe sah Einen nach dem Andern verschwinden, bis er selbst nachfolgte. Wir sanken ungefähr sieben Fuß tief hinab, nicht wenig erstaunt über diese neue Art theatralischer Versenkungen. Wir befanden uns vollkommen im Dunklen, doch, wie wir erkennen konnten, auf festem Erdboden. Wie groß war unsere Verwunderung, als wir fanden, daß, anstatt auf der Erde zu gehen, wir ganz ahnungslos auf dem Geflechte der Schlingpflanzen hingegangen waren, welches so dicht sich verwoben hatte, daß es uns wie fester Boden, nur durch die Bedeckung von Moos und Blättern elastisch geworden, dünkte, die aber an einer weniger dichten Stelle unter unserer Last durchgebrochen war. Jetzt allerdings war guter Rath theuer. Wir hatten unsere Richtung verloren, und wußten auch nicht, wie wir in dieser Dunkelheit gehen sollten. Auf die Schlingpflanzendecke konnten wir nicht mehr, und wohl oder übel mußten wir im Dunkeln uns fortzuhelfen suchen. Mit den Händen gegen die Zweige kämpfend, welche wie Schlangen sich um Gesicht und Körper wanden, arbeiteten wir uns unter unausgesetztem militärischen Abzählen, damit sich Keiner verliere, vorwärts. Unsere Lage war nicht sehr beneidenswerth. Hatten wir nicht bald das Glück, eine Lichtung zu finden, oder wenigstens aus diesem Pflanzennetze herauszukommen, so konnten wir leicht eine höchst unangenehme Nacht verbringen müssen. Doch nach ungefähr zweistündiger Arbeit gelangten wir aus diesem Gewirre in den freien Wald, allerdings mit Hinterlassung manches Stückchens Haut und Tuch.
Um die Richtung entweder nach vorwärts oder rückwärts wo möglich wiederzufinden, mußte Einer von uns auf eine Palme klettern, von welcher aus sich eine freie Aussicht erwarten ließ. Dieses mühevolle Unternehmen wurde mit dem besten Erfolge gekrönt, denn nach Aussage des kühnen Kletterers hatten wir nur wenige Schritte zu thun, um eine Lichtung zu erreichen, von welcher aus sich ein Pfad zum ersehnten Gipfel wand. Mit erneuerten Kräften ging es nun vorwärts, und bald waren wir am Ziele unserer Wanderung. Wäre unsre Mühe doppelt und dreifach größer gewesen, die Aussicht hätte sie uns überreich vergolten.
Hinter uns lag die dicht bewaldete Hügelkette, durchschnitten von tiefen Thälern und dunklen Schluchten, aus denen der Fluß, nur an wenig Stellen hervortretend, wie ein Silberblick glänzte. Links zog sich die Straße nach Panama hin, das zu unsern Füßen lag; und vor uns breitete sich das unendliche Meer aus mit seinen grünen Inseln und den es durch furchenden Schiffen. Lange verweilten wir, uns an diesem herrlichen Bilde ergötzend, bis uns die einbrechende Dunkelheit zum eiligen Rückzuge nöthigte; denn die Nacht tritt in den Tropengegenden fast ohne die den Uebergang von Tag vermittelnde Dämmerung ein. Da wir jetzt den Pfad verfolgen konnten, ging unsere Rückkehr schnell von Statten, wenn auch der mitunter sehr steile Weg uns nur mit größter Vorsicht schreiten ließ. Wohlbehalten langten wir in Panama an, aber zu aufgeregt, um Schlaf finden zu können, beschlossen wir, die schöne Nacht auf dem Walle zu genießen, da der Himmel uns ein prächtiges Schauspiel zu versprechen schien. Schwarze Wolken stiegen vom Horizonte wie aus dem Meere empor, wälzten und drängten sich in wirrem Kampfe, eine die andere überstürzend oder vor sich hertreibend. EInem Feuerregen gleich durchzuckten Blitze die Nacht, mit ihrem Scheine die dunklen Massen erleuchtend, denen die Phantasie unwillkürlich besondere Gestaltung verlieh. ALs ob die Wassermassen der Wolken und des Meeres gegen einander in Kampf entbrannt wären, schickten sie die feurigen Zungen nach allen Richtungen gegen einander. Leider dauerte diese nächtliche Scene nur kurze Zeit; der schöne sanfte Himmel der Tropen hüllte Alles wieder in Ruhe und Frieden.
Die nach dem Gewitter eintretende Kühle lockte Viele zu einem Spaziergange, und auch uns verleitete die herrliche Nacht, erst gegen Morgen das Lager zu suchen. Wir konnten dies um so eher thun, als der kommende Tag der letzte war, den wir in Panama zuzubringen hatten. Unser Steamer war bereits angekommen, und in zwei Tagen sollte die Fortsetzung unserer Reise stattfinden. WIr suchten daher die in der Nacht verschmähte Ruhe am Tage, beschließend, nach Einbruch der Nacht (es war Sonnabends) in das Indianerdorf zu gehen, um daselbst die eigenthümlichen Vergnügungen des jungen Volkes mit anzusehen.
Als wir anlangten, hatte der Tanz bereits begonnen. Der Tanzplatz war so schön, wie ihn nur die Natur zu schaffen vermag. Auf einem freien Platze, umgeben von lind rauschenden Palmen, bestrahlt vom sanften und doch so hellen Mondeslichte, bewegten sich in größter Lebhaftigkeit die dunkeln Gestalten. Auf der Erde saßen drei alte Neger mit langem weißen Bart- und Haupthaar (allerdings ein etwas komischer Anblick), deren jeder zwischen den Knieen einen ausgehöhlten und mit einem Fell überzogenen Klotz hielt, jedoch alle drei von verschiedener Länge. Das Fell schlugen sie auf eine höchst eigenthümliche Weise mit den Ballen der Hand oder strichen mit den Fingerspitzen darüber hin. Ein Vierter schlug auf einem ebenfalls ausgehöhlten und überzogenen Klotz, der als Pauke diente, den Takt. Die dadurch hervorgebrachte Musik war zwar sehr charakteristisch, aber weniger angenehm für unser Ohr. Dazu sangen die Umstehenden und klatschten taktmäßig in die Hände, während in ihrem Kreise eine Indianerin und ein Indianer tanzten. Der Tanz war eine Unterhaltung mit Fragen und Antworten, durch wirklich gar nicht ungraziöse Bewegungen ausgedrückt, wenn auch nicht ganz unsern europäischen Ansichten von Tanz entsprechend. Das Ganze machte einen höchst eigenthümlichen Eindruck. Diese dunklen Gestalten in den phantastischen Bewegungen, der monotone Gesang, nur von Zeit zu Zeit durch schrillende AUsbrücke gehoben, das Rauschen der Palmen, der entzückend blaue Himmel – Alles dies versetzte in das magische, geheimnißvolle Treiben der Zigeuner.
Bei dieser Gelegenheit konnten wir uns genauer mit den Eigenthümlichkeiten der Eingebornen bekannt machen. Die Tracht der jungen Indianerinnen ist fast ganz europäisch, die Kleider sehr reich mit Falbeln und Fransen besetzt. Ein langer Shawl, den sie mit ganz besonderer Geschicklichkeit umzuwerfen verstehen, hebt ihre hohe schlanke Gestalt sehr vortheilhaft hervor. Ihre langen schwarzen Haare flechten sie entweder in breite Zöpfe, die von der halben Länge an in Locken sich auflösen, oder sie schlingen dieselben für gewöhnlich um den Kopf. Den auffallendsten Haarputz hatten [119] mehrere junge Mädchen. Der Kopf war in viele Quadrate getheilt und das eines jeden einzelnen für sich zu einem Zöpfchen verflochten. Der Anblick dieser vielen kleinen aufrechtstehenden Zöpfchen war in der That höchst komisch.
Unter den Indianerinnen hatten wir einige bemerkt, deren Halsschmuck von den feurigsten Brillanten zu sein schien, so hell und schön leuchtend spielte er in allen Farben. Wir sprachen unser Erstaunen darüber einem jungen Indianer aus, welcher auch sofort die Freundlichkeit hatte, uns zu seiner Braut zu führen und diese zu bitten, ihre Halskette uns zur genaueren Besichtigung in die Hände zu geben. Wie groß war unsere Verwunderung, in diesen vermeintlichen Brillanten nur Käfer zu erblicken! Sie waren über zollgroß und gehörten zu dem Geschlechte der sogenannten Schmidte, welche, auf den Rücken gelegt, sich aufschnellen. Sie waren natürlich lebendig, mit Fädchen an einander gereiht, und um den Hals geschlungen, wobei sie die Freundlichkeit hatten, für die Dauer ihres Dienstes die Beine einzuziehen, und sich auch sonst ganz still zu verhalten. Den Tag über werden sie in Flaschen mit etwas Zucker aufbewahrt. Ihr Leuchten übertrifft das Licht der hellsten Brillanten in allen Farben und ist auf sehr große Entfernung sichtbar. So gibt die Natur den dortigen Schönen umsonst einen Schmuck, um dessen Pracht die europäischen Damen sie beneiden können.
Bis fast gegen Morgen währte dieses Treiben, als endlich sowohl Tänzer wie Musikanten und Zuschauer ermüdet sich zurückzogen. Wir verzichteten auf das Vergnügen, den Moskito’s noch die letzte Nacht als Spielwerk zu dienen, und benutzten die wenige Zeit bis zum Tagesanbruche, unser Gepäck zu ordnen. Mit den ersten Strahlen der Sonne schifften wir uns ein, und mit freudigem Herzen betraten wir den Steamer Bogota, der uns in seinen fürstlich eingerichteten Räumen gastlich aufnahm. In wenig Stunden war Alles zur Abfahrt bereit; der Kapitain gab die nöthigen Befehle und der Koloß setzte sich in Bewegung. Erst langsam, dann immer schneller schlugen die mächtigen Räder die Wellen, und bald war Panama, das im Stillen gefürchtete Panama, unsern Blicken entschwunden.
Das Missionswerk hat die Herrnhuter auf die kirchliche Stellung geführt, welche sie einnehmen. Sie bekennen sich zur Augsburgischen Confession, ob sie gleich jedes menschliche System der göttlichen Wahrheit als unvollkommen gelten lassen, und lange vor dem Philosophen von Sanssouci schon die Forderung stellten, daß Jeder nach seiner Façon selig werden solle. Die Sünderschaft des Menschen gegenüber dem Versöhnungstode Gottes ist ihnen Anfang und Ende und der Mittelpunkt ihrer ganzen Glaubenslehre, und die Früchte des Glaubens sind ihnen – nach einem Ausspruche Zinzendorf’s – „nicht Pflichten der Gläubigen, sondern Vorrechte zur Jesusähnlichkeit.“ Für diesen Inhalt, den die Missionäre in Grönland zuerst erkannten, wurde die Form des mährischen Kirchenthums hervorgesucht, als die Missionäre in Westindien der Ordination bedurften, um sakramentale Handlungen gültig verrichten zu können, die Augsburgischen Confessionsverwandten aber herrnhutische Missionäre nicht ordiniren mochten. Indem das Herrnhuterthum sich als Fortsetzung der alten, aus hussitischer Parteizerklüftung 1457 hervorgegangenen Brüderkirche erklärte, gewann es zugleich die Ueberlegenheit historischen Bestandes und die Unabhängigkeit vom Grolle orthodoxer wie pietistischer Eiferer. Mit den bischöflichen Weihen, welche Oberhofprediger Jablonsky in Berlin, des alten Commenius letzter Nachkomme, am 13. März 1735 dem Zimmergesellen David Nitschmann ertheilte, war das Missionswerk der Herrnhuter erst gesichert.
Freilich ist die Fiction einer erneuerten Brüderkirche etwas Gewagtes und das Herrnhuterthum von der alten Brüderkirche etwas wesentlich Verschiedenes. So wenig den Grubenheimern, wie die alten Brüder in Böhmen und Mähren vom Volke genannt wurden, die „Bluttheologie“ des Herrnhuterthums zur „einigen und alleinigen Glaubensmaterie“ entwickelt erschien, ebensowenig war ihnen das Chorwesen, der Kultus und die Verfassung des Herrnhuterthums bekannt; am allerwenigsten hatten sie einen Begriff von dem „Oekonomikum,“ mittelst dessen die Herrnhuter als industrielle Korporation den Bedarf ihrer kirchlichen Stellung decken, und von welchem schon die Synode von 1769 so richtig erkannte als redlich bekannte, daß es „den Ruf in Christo zu schmälern, den Charakter einer Gemeine Jesu zu entstellen“ geeignet sei.
Von der alten Brüderkirche haben die Herrnhuter vorzugsweise nur ihre Kirchenzucht und die Kirchengrade fortgesetzt. Die Kirchenzucht ist bestimmt, christliche Sitte in den Gemeinen aufrecht zu erhalten, und von heilsamem Einfluß, ob sie gleich oft nur schlaff und nicht immer parteilos gehandhabt wird. Sie kann sich von verschwiegener Zurechtweisung bis zu öffentlichem Sprechen vor dem Aufseherkollegium, vom Ausschluß aus der Zahl der Abendmahlsgenossen bis zum Ausschluß aus der Zahl der Gemeinemitglieder steigern.
Den obersten Kirchengrad nehmen die Bischöfe ein, die jedoch nicht wie in der alten Brüderkirche besondere Kirchensprengel verwalten, sondern nur die Ordination verrichten. Zu Kirchenvorstehern werden in der Regel die Gemeinprediger ordinirt. Diakonen sind die angehenden Diener der Gemeine, die als Gehülfen beim Predigen, bei Verwaltung der Sakramente und bei sonstigen Kirchenhandlungen oder Gemeinegeschäften gebraucht werden. Die Annahme zu niedern Kirchendienst besteht in der Verpflichtung zu tüchtigem und willigem Schul-, Anstalts- oder Gemeindienst mittelst Handschlags. Brüder oder Schwestern, welche zum ersten Mal in ein Pfleger- oder Vorsteheramt eintreten, empfangen dazu die Einsegnung. Jedes Kirchenamt ist für jeden Bruder erreichbar, auch wenn er nicht im Pädagogium zu Niesky, im Seminar zu Gnadenfeld studirt hat, und Aeltester, Arbeiter oder Diener, wie die Herrnhuter ihren Klerus nennen, kann jeder Handwerker werden, auch wenn er nicht, wie einst der Töpfergesell Martin Dober, das alte Testament in der hebräischen, das neue in der griechischen Ursprache zu lesen versteht. Geeignete „Herzensstellung“ und gehörige „Herzenserfahrung“ befähigt zur Ordination und der Klerus, den die Herrnhuter noch im ursprünglichen Werth inne haben, insofern ihre Aemterbesetzung nach dem Loos erfolgt, ist keine Innung, in welche nur aufgenommen wird, wer zünftig gelernt hat.
Es war drei Uhr Nachmittags, als ich aus dem Brüderhaus in’s Gemeinlogis zurückkehrte. Eben rief Glockengeläut die Gemeine zum Chorliebesmahl der ledigen Schwestern zusammen. Der Wirth im Gemeinlogis nahm mich mit sich. Der Gemeinsaal ist wie der Chorsaal, den ich im Brüderhause sah, nur von vergrößertem Maßstab, eine lichte und schlichte, freundliche Räumlichkeit, ohne alle Zierrathen der Kunst. In der Mitte saß auf langen Bänken mit hohen Lehnen das festfeiernde Chor, junonische Gestalten neben welken, verwitterten Matronen, alle in dunklen Kleidern mit dem weißen Häubchen und der rothen Bandschleife daran. Auf den Bänken seitwärts waren die zu Gaste geladenen Chöre, dem festfeiernden Chore gegenüber auf etwas erhöhten Sitzen die Arbeiter und zwischen diesen der „Liturgus“ (Geistlichkeit) hinter einem weiß behangenen, mit hellrothem Band umkränzten Tisch. Die Feier bestand in Wechselgesängen zwischen Liturgus, Gästen und Festgeberinnen über den jungfräulichen Beruf der letzteren und ihr Brautverhältniß zu Christo, wozu jedem Anwesenden ein Milchbrötchen mit zwei Tassen Thee gereicht wurde. Die gesungenen Lieder hatten wenig poetischen Werth, aber die musikalische Begleitung, unter welcher sie gesungen wurden, war überaus sanft und in ihrer edlen Einfachheit wahrhaft ergreifend.
Die Liebesmahle der Herrnhuter sind denen der alten Christen nachgeahmt. Im Jahr 1731 waren nach einem Abendmahl noch sieben kleine Gesellschaften beisammen geblieben, und der Graf Zinzendorf hatte ihnen aus seiner Küche Essen geschickt, damit sie nicht auseinander zu gehen brauchten. Dieser Anlaß führte auf Erneuerung der Agapen (religiösen Mahlzeiten bei den ersten Christen). Wenn irgend ein Bruder Geburtstag hatte, wenn er auf einen Posten abreiste oder davon zurückkehrte, wenn sonst ein Gemeinfest war, wurden Liebesmahle [120] gehalten. Anfänglich wurden stets warme Speisen, später Wasser und Wein mit Brot und Salz gereicht, und wechselseitige Unterredung, Austausch von Erfahrungen gegenwärtiger oder abwesender Mitglieder füllte damals den größten Theil der Feier aus. Gegen Ende seines Lebens hielt Zinzendorf jeden Mittwoch und Sonnabend mit seinen Hausgenossen ein Liebesmahl, wozu er die Arbeiter und einzelne Gemeinmitglieder einlud und mit Nachrichten aus dem Reiche Gottes unterhielt. Nach seinem Tode beschränkte man die Feier der Liebesmahle, wie sie gegenwärtig stattfindet, auf die Verbindung mit besonderen Festtagen der Gemeine und mit dem Genuß des heiligen Abendmahls.
In dieser Verbindung werden die Liebesmahle von den Herrnhutern zum „Liturgikum“ gezählt. Das Liturgikum oder der Inbegriff aller gottesdienstlichen Einrichtungen und Gebräuche soll herzansprechende Einfalt zum Charakter haben und dasjenige, was außer dem Herrnhuterthum oft nur Privatsache für Einzelne sei, zum Gegenstand öffentlichen, gemeinschaftlichen Genusses machen. Die Verbreitung christlicher Erkenntniß soll in den Vorträgen mit Förderung der Gefühlsinnigkeit Hand in Hand gehen. Auf die letztere zweckt namentlich die gemüthvolle Art und Weise ab, wie von allgemeinen Kirchenfesten die Advents- und Passionszeit gefeiert wird. Außer den allgemeinen Kirchenfesten, dem Jahreswechsel, Erntefest und den bereits erwähnten Chorfesten begehen die Herrnhuter auch die Gedenktage ihrer besonderen Kirchengeschichte mit religiöser Andacht. Der Sonntagspredigt geht früh das Gebet der Kirchenlitanei voraus und Abends folgt ihr gewöhnlich eine „Gemeinstunde.“ Neben den Gemeinstunden sind Singstunden, Liturgieen (Wechselgesänge zwischen den einzelnen Chören), Bibellectionen (mit untermischter Erklärung der heil. Schrift) und das Verlesen von Gemeinnachrichten oder Lebensläufen Gegenstand der Abendversammlungen. Mit dem Jahr 1731 wird das Abendmahl alle vier Wochen, Abends, gefeiert und mit dem sogenannten Sprechen eingeleitet, einer Art Privatbeichte, welche die Vorbereitung der Herzen auf den bevorstehenden Abendmahlsgenuß zum nächsten Zweck, die Unterhaltung gegenseitiger Bekanntschaft zwischen den Chorarbeitern und ihren Pflegebefohlenen zum eigentlichen Endziel hat.
Die Herrnhuter huldigen dem liberalen Grundsatz, daß keine Form den Geist bindet, daß jede Form wegfalle, sobald der Geist daraus entwich. Dieser Grundsatz ist auf Verfassung und selbst auf Einzelheiten der Lehre nicht ohne Einfluß geblieben, seine meiste Anwendung hat er auf das Liturgikum gefunden. Die Herrnhuter bezeichnen es selbst als ein Kleinod ihrer Kirche, daß sie die Freiheit habe und behalte, in ihrer gottesdienstlichen Weise nach den Umständen und Bedürfnissen zu ändern und zu bessern. So theilten sich seit dem 27. August 1727 je 24 Personen in die 24 Stunden des Tages und beteten jedes während ausgelooster Stunde für alle Diejenigen, deren Anliegen ihnen eigens dazu in einer wöchentlichen Versammlung bekannt gemacht wurden. Als aber der Drang der Fürbitte nachgelassen und der Abschiedsbrief des alten Wattewille an die Synode von 1769 die Erkenntniß ausgesprochen hatte, daß „das Stundengebet zu einem bloßen Ehrenamt mehr ausgeartet und kaum etwas als der Name davon übrig war,“ so wurde nicht gezögert, mit dem Ehrenamt auch den Namen zu beseitigen und nur ein Nachklang jener liturgischen Einrichtung ist in den allgemeinen und engeren Beterversammlungen der Gegenwart zurückgeblieben. Um dieselbe Zeit wie das Stundengebet und gleich dem Liebesmahl eine Nachahmung apostolischer Sitte wurde auch das Fußwaschen eingeführt, zuerst von Einzelnen gegen Einzelne bei beliebigem Anlaß geübt, später chorweise vor jedem Genuß des Abendmahls vollzogen, zuletzt auf die Feier des Gründonnerstags beschränkt. Mit dem demüthig einfältigen Sinn aber, der im Fußwaschen seinen symbolischen Ausdruck suchte, kam auch das Fußwaschen selbst in Abnahme und endlich in Wegfall, wie mit der schwärmerischen Zeitströmung von 1745 bis 1750 auch die Illuminationen und Prozessionen des „Seitenhöhlchens“ und all’ die anstößigen Ueberschwenglichkeiten in Lehre und Leben vorüberströmten, welche die Herrnhuter selbst am schärfsten verurtheilen und die sie anfangs zwar „Niedlichkeiten,“ bald aber ihre „Sichtungszeit“ nannten.
Von den Gedenktagen der besonderen Kirchengeschichte ist der 13. November weitaus am wichtigsten. Es ist der Jahrestag der Herrnhutischen Verfassung. Nicht sowohl ihres Ausbaues, als ihrer Grundsteinlegung. Das Herrnhuterthum ist eine Hierarchie. Jede einzelne Gemeine wird durch die Gemeinkonferenzen verwaltet. Obenan steht die Aeltestenkonferenz, welcher die inneren und äußeren Angelegenheiten der Gemeine zum Zweck einheitlicher Leitung übertragen sind und welche deshalb die für das Innere und Aeußere angestellten „Diener und Dienerinnen der Gemeine resp. ihrer Chöre“ in sich vereinigt. Mit den für das Aeußere der Gemeine angestellten Dienern zusammen bildet eine Vertretung der Bürgerschaft das Aufseherkollegium, das sich mehr mit Gegenständen polizeilicher Natur beschäftigt. Das Aufseherkollegium hat zugleich die Streitigkeiten zwischen einzelnen Gemeinmitgliedern schiedsrichterlich zu vermitteln, denn alles unnöthige erbitterte Prozessiren gilt als unverträglich mit dem Brüdercharakter, und die allgemeine Almosenpflege zu besorgen, in welcher der brüderliche Charakter des Herrnhuterthums sich am reichsten und reinsten kund gibt. Die Mitglieder der Aeltestenkonferenz und des Aufseherkollegiums bilden mit einer weiteren Anzahl gewählter Vertrauensmänner den Gemeinrath, wo nicht etwa wie in den sächsischen Gemeinen sämmtliche volljährigen Bruder zu demselben gehören. Der Gemeinrath entscheidet in allen die bürgerliche Kommune betreffenden Angelegenheiten. Den Vorsitz in der Aeltestenkonferenz führt der „Gemeinhelfer,“ im Aufseherkollegium der Gemeinvorsteher, im Gemeinrath einer von beiden je nach der Natur des Gegenstandes, der berathen wird. Sämmtliche Gemeinen bilden miteinander die Unität. An der Spitze der Unität steht die Unitätsältestenkonferenz, welche in Berthelsdorf residirt. Sie theilt sich in drei Departements. Das Helfer- und Erziehungsdepartement berathet den inneren Gemeingang in Lehre und Leben, das Schul- und Erziehungswesen; das Vorsteherdepartement verwaltet die ökonomischen Angelegenheiten und das Missionsdepartement beaufsichtigt das Missionswerk. Die Unitätsältestenkonferenz wurde auf der Synode von 1769 geschaffen, als mit dem Tode des Grafen Zinzendorf „die mittelbare Weise aufgehört hatte, in welcher der Generalälteste der Brüderkirche mit derselben durch seinen Jünger bis dahin verhandeln konnte.“ Ueber der Unitätsältestenkonferenz stehen die Synoden, welche 1736 aus der alten Brüderkirche entnommen wurden. Sie sind der legislative, die Unitätsältestenkonferenz ist der exekutive Faktor Herrnhutischen Verfassungslebens. Dem Klerus ist auf den Synoden prinzipiell das Uebergewicht gesichert, obgleich auch den verständigen Vorschlägen des Laien die willigste Folge gegeben wird.[1] Seit 1736 sind bis jetzt 27 Generalsynoden gehalten worden. Alles aber – Synoden, Unitätsältestenkonferenzen, Gemeinkonferenzen und jedes einzelne Gemeinmitglied – wird unter dem speziellen Kirchenregiment des Heilands stehend gedacht, der, um Menschenherrschaft fern zu halten, am 13. November 1741 „von Stuhl und Stab der Brüderkirche als deren Generalältester Besitz genommen habe.“ In zweifelhaften Fällen, wo weder die biblische Anweisung noch das innere Gefühl und die äußeren Umstände hinreichen seinen Willen zu erkennen, forscht man danach mittelst des Looses; doch ist das Loos nur für Diejenigen verbindlich, welche es befragen.
Ich besuchte nach dem Liebesmahl den Gottesacker, der auf der östlichen Seite von Christiansfeld angelegt ist. Schmucklos und ohne Gepränge, aber wohlgeordnet liegen die langen Reihen der Gräber am Fuße der Linden; einfache Leichensteine zeigen gleichförmig über dem Reichen wie über dem Armen und ohne Ruhmredigkeit an, wie er heißt, wo und wenn er geboren war, wenn er „heimgegangen“ ist und selbst im Tode noch sind die Geschlechter geschieden. Nur auf der Brüderseite erhebt sich in einem Winkel ein Denkmal von Sandstein, mit schwarzem Kreuz darüber und dänischer Inschrift darauf; es ist von Dänemark den dänischen Kriegern gesetzt, die nach der Schlacht von Kolding zu Christiansfeld im Lazareth verstarben. Leichensteine, wie sie die Brüder haben, bezeichnen das Grab der deutschen Kämpfer aus jener Zeit. Erhebend aber mag an der Stätte die Feier des Ostermorgens sein, wenn bei den ersten Strahlen der Frühlingssonne die ganze Gemeine sich versammelt und zwischen den Gräbern ihrer Entschlafenen das Gedächtniß des Auferstandenen begeht im Gedanken der Auferstehung.
[121] Die Gemeinstunde hielt Abends ein Redner, der, wie er sagte, in der Wildniß zu Hause und an Handarbeit gewöhnt war. Er hielt einen freien Vortrag über die Loosung des Tages. Frei war nämlich der Vortrag von aller Logik und in der Reihenfolge seiner Gedanken war die Wildniß allerdings zu Hause. Doch fiel das weniger auf. Denn für einen „gemeinmäßigen“ Vortrag kommt es nicht sowohl auf klares und scharfes Denken, als vielmehr auf Anregung der gewohnten Vorstellungen innerhalb der gewohnten Ausdrucksweise an.
Die täglichen Loosungen und Lehrtexte sind Bibelsprüche, von denen jene aus dem alten, diese aus dem neuen Testament für jeden Tag des Jahres ausgeloost und beide mit einer nicht immer zutreffenden Collekte aus dem Brüdergesangbuch begleitet werden. Sie schlingen ein neues Band der Gemeinschaft um alle Mitglieder des Herrnhuterthums. An demselben Tage werden über denselben Bibelspruch die Betrachtungen im europäischen Betsaal wie zwischen dem Rohrgeflecht der Indianerhütten, bei der Thranlampe der Eskimo’s und unter dem tropischen Sternenhimmel der Plantagenneger angestellt; der Diasporaarbeiter, der vom Fichtel- oder Rhöngebirge herabsteigt, die Vogesen oder Karpathen durchstreift, behandelt zu gleicher Zeit wie sein Arbeitsgenosse auf den Niederungen des Ostseegestades den gleichen Stoff der Hausandacht für seine „erweckten Geschwister,“ und das schüchterne Mädchen, das in stiller Abgeschiedenheit des Schwesternhauses einen Antrag zur Ehe bekömmt oder einen Ruf auf Posten erhält, sucht ebenda einen bestätigenden, warnenden oder – tröstenden Fingerzeig ihrer Bestimmung, wo ihn für sein Wagniß der greise Missionär findet, der als Dolmetscher die englische Nordpolexpedition begleiten soll.
Die Loosungen, die seit 1731 zusammen auf ein ganzes Jahr im Voraus gedruckt werden, vor 1731 aber nur von einem Tag zum andern in den Abendsingstunden bekannt gemacht oder frühmorgens durch den besuchenden „Helfer“ Haus für Haus angesagt wurden, sind eine Erfindung des Grafen Zinzendorf. Indem er sein „Kirchlein in der Kirche“ wie ein Heerlager gegen Sünde und Versuchung, seine „Kinder Gottes“ wie Vorposten gegen den Unglauben und Aberglauben ansah, war der Gedanke ihm nah gelegt, auch eine Parole auszugeben. Und die Parole gibt der Anführer aus. So hat denn auch Zinzendorf, so lange er lebte, die Loosungen allein bestimmt; sie waren die letzte Arbeit seiner letzten Lebenstage und seit seinem Tode sind sie Sache derjenigen geworden, die nach ihm an die Spitze des Heerlagers traten.
Ich verließ Christiansfeld nach der Gemeinstunde, indem ich einen entschieden vortheilhaften Eindruck von der Gemeine mit mir nahm.
Unter den mannigfachen Berührungen mit bekannteren Personen, die sich theils durch den Salonbesuch, theils bei anderen Gelegenheiten für mich nach meiner Rückkehr in Paris darboten, war die Balzac’s eine der interessantesten. Der berühmte Romanschriftsteller, Marschall der Literatur, zerstörte durch seinen persönlichen Eindruck jede Illusion, welche sich die Phantasie von einem Autor machen mußte, der in seinen Romanen eine schreckenerregende Kenntniß der Frauenherzen an den Tag legte, und eine graziöse Eleganz, die man vergeblich in der Person Balzac’s und in seinem Benehmen suchte. Als ich diesen berühmten Mann zum ersten Male sah und sprach, glaubte ich viel eher einen alten penslonirten Offizier vor mir zu sehen, denn einen der liebenswürdigsten Autoren. Groß, stark und fast eckig gebaut, trugen alle Manieren Balzac’s den Stempel einer derben Rauheit, obwohl man in dem tiefen Blick dieses Mannes eine bald sanfte, bald leidenschaftliche Gefühlswelt deutlich ergründen konnte. Aber nicht die geringste Spur von Eleganz des Benehmens oder von Feinheit der Tournüre war in dem Wesen dieses gleichwohl geistvollsten Schriftstellers; er stand, an’s Fenster gelehnt, mit der einen Hand die Lehne eines Sessels trommelnd, ganze Stunden lang in irgend einer Fensternische und schien förmlich mit Ueberdruß die Huldigungen entgegenzunehmen, welche sowohl Herren wie Damen ihm unausgesetzt darbrachten. Trotzdem war Balzac eine der interessantesten Personen; die kurze Antwort, welche er auf an ihn gerichtete Fragen gab und der Sarkasmus, der sehr oft darin lag, konnte Niemanden kränken, sobald man wußte, wer sie aussprach. Am originellsten schien mir die Art und Weise zu sein, mit der Balzac die Damen behandelte, deren tiefste Herzensgeheimnisse er veröffentlicht und deren Aufmerksamkeit ihm nicht das geringste Interesse verursachten. Das Originelle dieses Mannes war die an den Tag gelegte Gleichgültigkeit gegen das schöne Geschlecht, dem er gleichwohl so liebliche Kränze gewunden und welches das Studium seiner gesammten Werke bildet. Er hat von den Huldigungen der Damen, die ihn trotz der Indifferenz Balzac’s, wie ein verzogenes Kind behandelten und noch in seinem vorgerückten Alter die Liebe ihres Vernichters zu erstreben trachteten, niemals besondere Notiz genommen, sondern mit der größten Seelenruhe ihnen eröffnet, daß die Frauen die interessantesten Gegenstände für die Schriftsteller, aber viel weniger für die Männer seien.
Am meisten war es Balzac unangenehm, wenn man ihn nach den Motiven zu seinen Schilderungen fragte. Eines Abends trat lächelnd die junge Frau eines Künstlers zu ihm hin.
„Wissen Sie, Herr von Balzac,“ sagte sie und setzte sich ohne Weiteres neben den berühmten Autor, „daß ich mich gar nicht vor Ihnen fürchte, und nach Ihren Werken, die ich jetzt zum ersten Male gelesen, mir auch nicht denken kann, daß Sie, wie man sagt, unausstehlich ungalant seien?“
Herr von Balzac sah das reizende Weib betroffen an.
„Glauben Sie denn, daß ich glaube, was man von Ihnen erzählt?“
„Was erzählt man denn von mir?“
„Sie könnten nicht lieben.“
„Ah! der Teufel, Madame, man scheint Sie belogen zu haben.“
„Nicht wahr? Und überdies,“ fuhr sie schalkhaft fort, indem sie ihre Stimme dämpfte, „die Gräfin R… straft dieser Behauptung Lügen.“
Balzac erröthete.
„Madame,“ sagte er kurz, „ist das Alles, was Sie mir zu sagen haben?“
„Nicht doch, Herr von Balzac; aber ich frage Sie Alle, meine Herren,“ entgegnete sie und wandte sich zu den Umstehenden, „ob man die Frauen so beschreiben kann, wenn man nicht ihre Geheimnisse besitzt?“
„Madame,“ sagte Balzac, „ich besitzt keineswegs Ihre Geheimnisse; aber vielleicht habe ich die Ehre, sie noch einmal zu beschreiben.“
„Als eine Frau von zwanzig Jahren etwa?“
„Nein, als eine Frau à l’enfant.“
Die junge Dame lachte recht herzlich darüber und bat sich diesen projektirten Roman aus, wenn Herr von Balzac ihn habe drucken lassen.
Es mag sein, daß Balzac den Salon und die Damen desselben nicht liebte; denn er besuchte deren nur sehr selten und pflegte am liebsten in seiner Wohnung zu bleiben, die er mit einem fürstlichen Luxus und orientalischer Pracht ausgestattet hatte. Seine Leidenschaft für Gold und Reichthum war außerordentlich, ohne jedoch mit der Habsucht eine Spur von Geiz zu verbinden. Mit fieberhafter Glut trachtete Balzac danach, Gold zu erwerben und zog sich einsam Wochen lang in die großartige Pracht seiner Wohnung zurück, um zu arbeiten. Wie ein Kind freute er sich an dem blanken und gelben Glanz der Goldstücke, packte sie Stunden lang und legte sie mit innigem Behagen in allerhand Figuren auf dem Tische zusammen. Dann aber schien ihm dieser Reichthum Skrupel [122] zu verursachen und mit der Seelenruhe eines Nabob verschwendete er in kurzer Zeit die Summen Goldes, deren Erwerb ihn kurz zuvor zu dem größten Fleiß und den anhaltendsten Anstrengungen getrieben hatte. War das Gold von den Geschenken, die er armen Teufeln mit fürstlicher Generosität machte oder von den lucullischen Gastmählern, die er gab, bis auf den letzten Sou verausgabt, so pflegte Balzac in seinem glänzenden Negligee, die Hände in den Taschen und die Haare weit nach hinten gestrichen, durch die Reihe seiner prächtigen Zimmer zu schreiten und den Teppich mit einer Art von Verzweiflung zu stampfen. Ohne Gewissensbisse über den Leichtsinn seiner Verschwendung zu empfinden, fühlte er sich gleichwohl als der unglücklichste aller Menschen und erregte seine Phantasie mit den Hoffnungen auf noch zu erwerbenden Reichthum, die sich nie anders als auf dem Piedestal von Millionen erhoben. Kam irgend Jemand in diesen Tagen zu Balzac, so konnte er sicherlich den Anblick eines der ärmsten Teufel genießen, der mit der ganzen Gesellschaft in Hader, die mährchenhaftesten Träume von Reichthum und Luxus zum Besten gab. Auch ließ er alsdann nichts von der Pracht seiner Wohnung erblicken.
Ich wurde gerade in einem solchen Momente zu Balzac eingeführt, und war erstaunt, von ihm in dem reichsten Morgenanzuge aber in einem so bescheiden möblirten Zimmer empfangen zu werden, daß ich die Mittheilungen von der Pracht seiner Wohnung für eine Phantasie Derjenigen hielt, die sie mir gemacht. Ueberhaupt zeigte sich Balzac sehr unglücklich und rechtete mit dem Himmel, der ihm Schätze verweigere für die Arbeiten, die er geliefert; er entschuldigte sich, nur mit einer Tasse Bouillon aufwarten zu können und lud mich zur Entschädigung dafür, mit demselben Athemzuge, zu einem Gastmahle ein, welches er nach acht Tagen geben werde. In der That hatte Balzac bis zu jener Zeit wieder Schätze gesammelt; seine Prachtzimmer waren geöffnet; die Grooms bedienten wie kleine Gnomen und bei dem lucullischen Mahle, inmitten der Parfüms und Blumendüfte war Balzac der glücklichste Marschall aller Marschälle, deren Stab ein Gänsekiel bildet.
Dem Leser der Sue’schen Romane mußte, ebenso wie bei Balzac, eine große Ueberraschung geboten werden, wenn er das Glück erreichte, in die Wohnung dieses Sozialisten zu treten, der in seinen Schriften so viel Theorie für die Armuth entwickelt und so unendliche Schuld auf die Reichen häuft. Wie? fragt man sich geblendet und verwundert, wohnt hier Herr Eugen Sue, hier in dem Palais des Faubourg St. Honoré, hier, wo der Flur ein prachtvolles Vorgemach ist und Diener in seidenen Strümpfen und fein aristokratischen Livreen empfangen?
In der That, hier wohnt Herr Eugen Sue, Sozialist, sagt man darauf.
Eugen Sue war 1850 noch überdies Volksrepräsentant; ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als der Diener meine Visitenkarte auf silbernem Teller und mit weißen Handschuhen dem Verächter und Richter des Reichthums, des Luxus und der Verschwendung hineintrug. Herr Eugen Sue schien mir ein sehr ausgebildeter Aristokrat zu sein.
Der Reichthum seiner Wohnung mußte etwas unangenehm berühren, wenn man die Anathemata kannte, welche Sue in seinen Schriften gegen den Reichthum schleudert. Wie ein Fürst hatte dieser Socialist sein Haus dekorirt, hinter dem ein reizender Garten lag; die Zimmer waren durch die schwerseidenen Fenstervorhänge und die reichen Blumen in jenem echt aristokratischen Dunkel gehalten, welches einen bedeutenden Vorschub der Sinnlichkeit bildet; die Möbel waren die glänzendsten, die je einen Salon des legitimistischen Faubourg geziert haben; große Oelgemälde, Statuen und Skulpturen schmückten die tapezirten Wände jeder Piece, die ich sah, und eine kostbare Gallerie von Vasen, Zierräthen, Porzellan und Nippsachen war auf den Tafeln der Kommoden, den Tischen und Spinden, welche die Zimmer mit ihrer Sauberkeit und ihrer luxuriösen Arbeit verschönten. Ein lieblicher Wohlgeruch herrschte im ganzen Hause und überhaupt zeigte sich in Allem ein so ausgebildeter Aristokratismus, daß mir die sozialistische Brandfackel, welche Sue so wild in seinen Romanen schwang, der schmachvollste Hohn zu sein schien, den je ein Talent gegen das arme Volk ausgeübt.
Endlich führte mich der Diener in das Arbeitskabinet des sozialistischen Marschalls der Literatur.
Eugen Sue war früher ein Abgott der Damen gewesen, man sagt, wegen seiner Schönheit, die zu dem Calembourg le beau Sue (bossu) Anlaß gegeben. Mein Erstaunen war deshalb nicht gering, als ich, dicht vor dem gezähmten Autor, in eine der unangenehmsten und häßlichsten Physiognomien blickte. Das ganze Gesicht hatte eine lächerliche Aehnlichkeit mit dem eines Laubfrosches; breit und ohne feine Züge, sah eine gewisse Stupidität aus den Augen, eine aufgeblasene Vornehmheit, die mehr zum Lachen als zum Imponiren reizte. Trotz aller Eleganz, welche Eugen Sue in seiner Garderobe entfaltete, sah man dennoch einen plebejischen Aristokraten heraus, dessen Manirirtheit einen sehr widerlichen Eindruck macht. Die Haare waren parfümirt und frisirt, aber ihre Tracht kleidete durchaus nicht dem Antlitz, welches durch einen sauber gepflegten Backenbart noch breiter gemacht wurde. Die blendend weißen Kragen, die seidene Kravatte, das weiße Vorhemd und die Weste, waren gewiß tadellos; aber ich mußte auf die Lippen beißen, als ich den Sozialisten mit den feinsten Jouoin’schen Handschuhen bekleidet fand und zwar mit der Feder zwischen den Fingern. Sue treibt die aristokratische Noblesse so weit, daß er seine Theorien für die Armuth, seine sozialistischen Reformen und seinen Haß gegen den Luxus und Reichthum nicht anders als mit Glacehandschuhen auf den Fingern niederschreibt, als habe er Furcht, daß er sich mit seinem Stoff die Hände beschmutze. Freilich verdient der Verfasser der Geheimnisse von Paris so riesige Summen jährlich durch seine berühmte Feder und besitzt selber ein so bedeutendes Vermögen, daß man es ihm nicht verdenken kann, sich mit allem raffinirten Luxus zu umgeben; schade nur, daß er diesen Luxus selbst in seinen Schriften gebrandmarkt hat und daß dieser Freund des Volkes, so verschwenderisch im Almosengeben seiner Theorien, so geizig im Wohlthun mit seinem Reichthum ist.
Das Nabobthum eines änderen literarischen Marschalles, Alexander Dumas, welches sich vornehmlich in dem grotesken Schlosse Monte Christo zeigte, hat dagegen gar nichts Beleidigendes für die übrigen armen Teufel. Alexander Dumas hat bewiesen, wieweit es ein industrielles Talent in allen Zweigen zu bringen vermag, und selbst auf dem hungrigen Gebiet der Literatur, auf dem mehr Proletarier des Geistes vor Elend umgekommen sind, als irgendwo anders. Es ist wahr, daß derjenige ein dummer Kerl ist, der aus Ehrgeiz und um des Nachruhms willen hienieden hungert; aber wer kann für diese Schwäche? Alexander Dumas hat dergleichen nie gekannt; er hat in der Literatur einen Marschallsstab erhalten und Millionen erworben, die ihm selbst die Ausführung eines Planes seiner grotesken Phantasie gestatteten und den glücklichen Chef des literarischen Industrialismus erlaubten, bei St. Germain die berühmte Villa Monte Christo zu bauen, dessen sonderbare Bauart sie beim ersten Anblick sogleich für das Kind eines wilden phantastischen Kopfes erkennen ließ.
Diese Villa, zu deren Bau die fabelhaftesten Summen von Dumas erworben werden mußten, enthielt Alles, was die Phantasie einem Nabob nur in den Sinn kommen ließ. Dumas berief selbst zwei Araber zu sich, welche ihm ein Zimmer ganz in maurischer Manier auszieren mußten, die Wände desselben mit Koransprüchen beschrieben und sich schriftlich verpflichteten, niemals eine ähnliche Arbeit in Europa auszuführen. Die feenhafte Pracht von Monte Christo mit seinen kostbaren Malereien, gothischen Pavillons, Glockenthürmen, Irrgärten, Inseln, Wasserfällen und jenem berühmten Kiosk inmitten dieser Krösusschöpfung, in welchem Dumas zu arbeiten pflegte und dessen Wände mit reich gemeiselten Medaillons geziert waren, deren jedes den Titel seiner Werke trug, ragte mit aller Sonderbarkeit wie ein Monument des literarischen Schelmenthums in die Luft, dem Millionen vernünftige und gebildete Kreaturen Weihrauch streuten, was beweist, daß das wahre Verdienst Eselsohren hat und die große Masse vor demjenigen sich beugt, der es am besten an der Nase umherführt.
Die Villa Monte Christo, deren bloße Unterhaltung jährlich eines fürstlichen Vermögens bedurfte, hatte ein Atelier für die Maler, zwölf Besuchszimmer, einen kleinen, aber kostbaren Palast für die Affen, nämlich die vierbeinigen; ein reizendes Haus für die Papageien, nämlich die gefiederten; ein drittes Schlößchen für die Hunde, nämlich die angenehmen; einen königlichen Marstall mit recht kostbaren Pferden, Wagenhäuser mit Tilbury’s und Kabriolets.
Der große Salon der Villa bot unglaubliche Pracht dar, sowohl in der Dekorirung, wie auch in dem Reichthum der Ornamente; [123] im Boudoir waren die Gardinen von wunderschönem Cachemir. Bilder mit den kostbarsten Rahmen, Statuen, vergoldeten Möbeln und bizarren Merkwürdigkeiten begegnete das Auge überall und um diese Pracht zu bewundern, war St. Germain, sonst ein unbesuchtes Dörfchen, während Dumas’ Residenz daselbst zu einem Wallfahrtsort der Fremden und Pariser, zu einer nobeln Villegiatur der Aristokratie geworden.
Ein schönes und reiches Theater wurde im Schlosse Monte Christo gebaut und hat in der ersten Zeit, als „Thèatre historique“ die Neugier aller Pariser gefesselt. Da aber Dumas, welcher eine kolossale Summe für die Unterhaltung des Theaters verbrauchte, nur Stücke von sich aufführen lies;, so gab es bald nur noch spärliche Besucher und endlich eine so bedeutende Schuldenlast, daß zuerst das Theater, dann das Schloß Monte Christo dem Gerichtshammer verfiel und verkauft wurde.
Alexander Dumas selbst ist eine der imposantesten Persönlichkeiten, dessen Abstammung von einer Negerin sich sehr deutlich markirt. Die schwarzen, gekräuselten Haare, der dunkle Teint des Gesichts, die großen Augen, welche in den Augenblicken der Aufregung wie glühende Feuerkugeln aus dem Weiß hervorleuchten, die starke, aber schön geformte Nase und die angeschwollenen Lippen gaben der Physiognomie den Urtypus eines Farbigen, verbunden mit den edlern Formen eines Europäers. Ueberdies zeigt Dumas in seinem ganzen Habitus und in seiner Tracht diese eigenthümliche Vorliebe für den auffallenden Prunk, welche den farbigen Naturen gehört. Er liebt leidenschaftlich das orientalische Kostüm und pflegt gemeinhin in einem weiten, faltenreichen Mantel nach griechischem Schnitt in seinen mit sinnlicher Pracht möblirten Zimmern zu erscheinen; eitel, und von sich selbst eingenommen, liebt er die Orden und Ordensbänder, welche ihm die Fürsten mancher Länder zum Zeichen ihrer Hochachtung gegeben haben, und im Jahre 1848 konnte es keinen stattlicheren Kommandanten der Nationalgarde von St. Germain geben, als den französischen Lope de Vega in seinem glänzenden Kostüm. Diese Vorliebe für die Pracht und den Glanz herrscht auch in seiner Häuslichkeit; die schwellenden Ottomanen, die reichen Teppiche und die Parfüms sind Zeugen von der ewig erregten Sinnlichkeit dieser glühenden Natur, welche nichtsdestoweniger in Gesellschaften eine seltene Liebenswürdigkeit und ein Erzählungstalent besitzt, welches den aristokratischen Cirkeln, die Dumas mit Eifer besucht, manche sonst mangelnde Würze verleiht.
Die immensen Summen, welche Dumas durch seine kaum noch zu zählenden Romane verdient hat, genügten gleichwohl nicht der Prachtliebe und Verschwendungssucht dieses Mannes, der überdies mit der Generosität eines Krösus seine Wohlthaten, oft über die Gebühr, zu spenden liebt. So schnell wie er große Summen verdient, ebenso schnell schmelzen sie auch in seinen Händen und überwiesen ihn für einige Zeit dem Kredit, den manche arme Teufel wie ihre gute Fee aufsuchen, ohne ihn finden zu können.
Zur Zeit, als Dumas durch die Residenz in seiner Villa Monte Christo St. Germain mit vielen Besuchern belebte, errichtete dort ein spekulativer Kopf ein Café. Der Besitzer hielt natürlich große Stücke auf Dumas, der für ihn der Grund seines schönen Geschäfts war und lieferte den Champagner oder das Eis an seinen Mäcen, ohne jemals die Unverschämtheit zu haben, eine Rechnung dafür an Dumas einzusenden. Selbstverständlich, daß er deswegen auch niemals Zahlung bekam.
Da der Winter ohne Frost gewesen war, so mangelte es bei den Restauranten an Eis und der Wirth des Café Monte Christo reservirte deshalb sein Weniges für den etwaigen Bedarf Alexander Dumas. Nichtsdestoweniger fühlten sich eines Tages einige Besucher so erhitzt, daß sie um jeden Preis sich durch Eis abkühlen wollten. Sie schickten deshalb ihren Diener zum Restauranten und glaubten auf jeden Fall ihren Wunsch befriedigt zu sehen, wenn sie im Namen Dumas das Eis verlangten.
In der That holte der Wirth das Verlangte ohne Zögern; Dumas war sein König.
„Wie viel kostet es?“ fragte der Diener, und legte ein Goldstück auf den Tisch.
„Ah!“ rief der Wirth, und griff schnell nach dem Eise; „Sie kommen sicherlich nicht von Seiten Alexander Dumas!“
„Wie so?“ fragte der bestürzte Diener.
„Bah, mein Lieber; Sie müssen wissen, daß Alexander Dumas niemals bezahlt.“
Der Diener mußte mit seinem Gelde ohne Eis zurückwandern.
Alexander Dumas ist bekanntlich der Chef einer großen literarischen Fabrik, welche unzählige Werke veröffentlicht hat, von denen der berühmte Autor keine einzige Zeile oder höchstens nur einige Kapitel geschrieben hat. Dumas selbst arbeitet mit unglaublicher Geschwindigkeit; aber er arrangirt mehr die Romane, welche seinen Namen tragen, als daß er sie schreibt. Marschall der französischen Literatur ist ihm Alles erlaubt und selbst die Kopien, welche er mit liebenswürdiger Freiheit aus den Werken Anderer macht, um sie als seine Originalarbeit auszugeben, erregt keinen Anstoß mehr, da er ein berühmter Mann ist und die Gloire noch viel mehr trügerischen Glanz besitzt, als der deutsche Ruhm, der für Poeten und Schriftsteller keine schönen Schlafstellen schafft. Das Haus Alexander Dumas und Kompagnie ist einzig in seiner Art in der Literatur und, gibt es deren noch mehr, so hat es jenes auch zu einer kaum glaublichen Ausdehnung gebracht. Todte und lebendige Schriftsteller arbeiten für den literarischen Marschall und Alle nur für seinen Ruhm und Säckel allein. Er entwirft einen Roman, schneidet den Stoff in Kapitel, gibt das eine diesem Autor zur Ausarbeitung, das andere jenem; heut schneidert er einen Roman aus irgend einem längst vergessenen Buche; morgen ein Theaterstück aus einem alten Roman oder mit den Scenen irgend eines Stückes von irgend einem längst begrabenen Literaten, wie der selige Shakespeare oder auch Schiller, wie Walter Scott oder auch Goethe. Mitten in diesem Arrangiren neuer romantischer Fabrikate schreibt er Mahnbriefe oder galante Korrespondenzen, dazwischen einen Feuilletonartikel, auch eine Scene von einem neuen Stück, oder einige Seiten von einem Roman; dann setzt er den Plan zu einer Erzählung auf, stempelt ein eingeliefertes Produkt mit seinem Namen, um es sogleich drucken zu lassen, liest eine Korrektur, empfängt Besuche, plaudert und redigirt dabei den Roman irgend eines seiner Mitarbeiter. Das ist der Schriftsteller Alexander Dumas.
Wenn es auch allgemein bekannt ist, daß der berühmte Autor dergleichen Fabrikarbeit unternimmt, so ist es doch von Interesse, die Namen der Verfasser oder die Kopien, die Dumas als Originale gemacht, aufzuführen. Von seinen Dramen will ich nicht reden, denn es ist bekannt, in welcher Weise er dabei Schiller, W. Scott, V. Hugo, da Vigny bestohlen, und wie die besten Stücke von andern Autoren geschrieben wurden.
Interessanter noch ist in seinem literarischen Atelier die Fabrikation der Romane. Alexander Dumas stempelte mit seinem Namen Corriculo und Speronare, welche beide von Fiorentino verfaßt sind; ebenso Ascanio, Amaury und die beiden Dianen, welche Paul Maurice geschrieben hat. Mallefille schrieb den Roman „Georges“ von einem Ende bis zum anderen und ließ ihn Alexander Dumas signiren; August Marquet, der fruchtbarste aller literarischen Collaborateure für den romantischen Industriehelden, lieferte demselben mehr wie fünfzig Bände; darunter die drei Musketiere, zwanzig Jahre später, der Vicomte von Bragelonne, Sylvandire, der Graf von Monte Christo, der überdies ganze Kapitel aus den Mémoires tirés des archives de la police von Peuchet enthält; ferner der Frauenkrieg, Königin Margot, der Chevalier von Maisonrouge und die Dame von Montsereau: – das heißt also alle diejenigen Werke, welche am bekanntesten sind und welche Dumas zu einem Wunder der Erfindungskraft und zu einem Autor dieses Jahrhunderts erhoben, dessen Fruchtbarkeit ohne Gleichen sei.
Das Stück „Romulus,“ welches seiner Zeit viel Glück auf dem Theater der Rue Richelieu machte, ist vollständig einem Romane des guten Lafontaine entnommen, den Paul Borage zum dramatischen Leben verhalf und welchen Dumas zeichnete, ohue ein Wort davon zu kennen. Als Romulus gelesen wurde, war der Verfasser desselben, der es aber nicht geschrieben, in Brüssel. Alexander Dumas macht aus dergleichen Dingen gar keine großen Geheimnisse. „Die Menschen,“ sagt er, „nicht der Mensch erfindet; Jeder bemächtigt sich der bekannten Sachen, setzt sie durch neue Zusammenstellungen wieder zurecht, und bringt damit seinen Theil zur Summe der menschlichen Kenntnisse. Eine vollständige Schöpfung einer Sache ist unmöglich; man nimmt das Gute, wo man es findet, denn der Mann von Genie stiehlt nicht, er erobert. Ich sage dies, weil, ohne die Schönheiten meiner neuen Scenerien anzuerkennen, man mich des Diebstahls und Plagiats [124] beschuldigt; es ist wahr und das tröstet mich, daß ich hierin Shakespeare und Molière ähnle.“
Diesem Grundsatz getreu florirt das Haus Dumas und Kompagnie. –
Bei Gelegenheit eines glänzenden Künstlerfestes, zu welchem ich eingeladen war, sah ich inmitten der gefeierten Maler eine Dame von etwa neunundzwanzig Jahren, von mittelmäßigem Wuchs, aber mit den interessantesten Augen, die sich denken lassen.
„Wer ist denn diese Dame hier inmitten der Künstler?“ fragte ich einen meiner Freunde, der eben mit ihr gesprochen.
„Sie kennen sie nicht? O das ist einer der liebenswürdigsten und gefeiertsten Pinsel Frankreichs, Rosa Bonheur.“
Diese seit mehreren Jahren schon berühmte und durch ihre Thierstücke gefeierte Malerin hatte sehr regelmäßige, doch etwas harte und strenge Züge; auf ihrer schönen Stirn aber thronte der Geist als alleiniger Herrscher. Die Linien ihres Profils drückten eine hervorragende Stärke des Charakters aus; die braunen Augen glänzten in sanftem Feuer und die Hände waren klein, aber nervig. Ueberdies war ihre Toilette ebenso einfach, als originell. Sie trug über einem dunkeln Rock eine Art lange englische Jacke, einen feinen Hemdkragen darauf, der ihren Hals ziemlich frei ließ und dem Kopfe mit einer liebenswürdigen Frisur à la Titus sofort etwas Künstlerisches verlieh.
Rosa Bonheur war zuerst im Jahre 1843 mit kleinen Thierstücken aufgetreten und das Glück begünstigte diesen Debut so sehr, daß ihre Gemälde weit und breit begehrt wurden. Ihr Talent, sorgsam von ihrem alten Vater gepflegt, ist eins der natürlichsten und naivsten, welche je den Pinsel geführt; ihre einfachen Gemälde überraschen durch die Natürlichkeit, welche sie beseelt, und man kann sich nichts Wahrheitsgetreueres denken, als ihre Ochsen und Pferde, die friedlich weidenden Hammelheerden, oder die lagernden Kühe, welche ihr genialer Pinsel malt. Es scheint, als lehre ihr Pinsel uns in dem Buche der Natur lesen, aber man muß auch die Leidenschaft kennen, welche dieses ganz der Kunst sich widmende Mädchen für die Natur, den Wald, das Feld und die Landschaften empfindet, die sie häufig Tage lang, als Mann gekleidet, durchstreift.
Für diese Excursionen zieht Rosa Bonheur ganz tüchtige Männerstiefel auf ihre kleinen Füße, nimmt Zuflucht zu männlichen Unaussprechlichen, legt um ihre schlanke Brust das profane Gewand eines Ueberrocks und stülpt einen anständigen Cylinder von Belpel, jenen Fluch des Männergeschlechts, auf ihren reizenden Kopf. Rosa Bonheur ist in dieser Tracht ein junger Mann comme il faut, sogar ein sehr hübscher junger Mann, dem drolliger Weise manches hübsche Kind holde Sehnsuchtsblicke zuwerfen mag; aber es ist sehr wohl anzunehmen, daß Rosa Bonheur unempfindlich für diese Verfänglichkeiten ist, um so mehr, als sie der Kunst zur Liebe in die Männergarderobe flüchtet.
Ohne daß man vermag, auf der Straße ihr Geschlecht zu errathen, geht sie mit festem und schnellem Schritt, den Kopf gesenkt, ohne Jemanden anzusehen, und stets mit irgend einem Gedanken beschäftigt. Zwei große Hunde begleiten sie, und machen mit ihrer Gebieterin die Landparthieen, welche Rosa Bonheur unternimmt, um die Felder zu besuchen, die Meiereien, die Ställe und Schäfereien, die Pferdemärkte und Pachthöfe. Ein solches Studium würde in Frauentracht unternommen, mannigfache Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten darbieten, während ein junger Maler, so hübsch wie Rosa, überall Wohlwollen bei den Bauern findet und noch bei weitem mehr bei den Bäuerinnen. Aus diesem Grunde geht die geniale Malerin niemals außerhalb der Befestigungen von Paris, als in Männertracht.
Die kleine ländliche Wohnung, welche Rosa Bonheur inne hatte, zeigte ihre Vorliebe für die Natur schon durch den kleinen, reich mit Blumen gezierten Garten. Ein Affe und ein Papagei hießen den Besucher willkommen. Das Atelier wies alle die seltsamen weiblichen Koketterieen auf, die den Frauen allein bei der Möblirung und Dekorirung ihrer Zimmer zu Gebote stehen, und zwischen denen sich die aufgehängten Croquis und Skizzen sonderbar contrastirend ausnahmen. Nur an einem einzigen Tage der Woche gestattete die überaus fleißige Künstlerin Besuche in ihrem Heiligthume, und auch dann selbst gab sie ihrem Pinsel keine Ruhe. Indem sie auf das Liebenswürdigste empfängt und sich mit dem Besuche unterhält, arbeitet sie fort und zwar mit einer Ausdauer, die in Erstaunen setzen muß, und welche keineswegs aus der Sucht nach Geldgewinn sich motivirte, wie bei den drei Marschällen der Literatur.
Schreiber dieses dankt dem Himmel, daß er kein junges Mädchen geworden, das sich, à tout prix, hätte verlieben müssen in einen Helden, irgend einen der heutigen Mode, wie sie sich auf Straßen und Plätzen, in Salons und Tabagien sehen lassen. Wir dürfen es mit diesen hochgebietenden Herren nicht verderben, daher wollen wir nur ganz leise auf ihre Schwächen antippen, immer nur in dem edlen Bestreben, ihnen zu zeigen, wie viel mehr Eindruck sie machen würden, wenn sie sich bestreben wollten, nur ein weniges von der albernen Unsitte der Mode, die das Häßliche auf den Thron setzt, der der Schönheit gebührt. Wir wollen uns erkühnen gegen drei Dinge zu Felde zu ziehen, gegen die „Brillen,“ die „Bärte“ und die „Cigarren!“ Der Himmel und alle schönen Frauen – ein zweiter Himmel also – mögen uns beistehen.
Erstlich die Brille. Es ist eine unleugbare Thatsache, daß Viele, die jetzt Brillen tragen, es nicht thun, um besser sehen zu können, sondern lediglich, um eine Modethorheit mitzumachen. Wer wirklich eine Brille nöthig hat, verschiebt den Zeitpunkt, wo er sie aufsetzt, so lange wie möglich und aus sehr weisen Gründen, weil jedes schwachsehende Auge, so lange es nur irgend geht, nicht durch künstliche Mittel nicht noch schwächer gemacht werden soll. Die siebzehnjährigen jungen Burschen, die wir mit Brillengläsern herumlaufen sehen, wollen sich dadurch ein Ansehen von Alter und Gereiftheit geben, das ihnen doch Niemand glaubt. Sie verunstalten nur ihr Gesicht und verderben, wenn wirklich optisch geschliffene Gläser in der Brille stecken, ihre Sehkraft. Eltern und Erzieher können nicht genug gegen diesen Unsinn zu Felde ziehen. Eine Brille verunziert das Gesicht auf das widerwärtigste. Goethe gestand offen ein, daß er keine Brille sehen könne, weil sie ihm den Spiegel der Seele, das Auge, raube und durch einen falschen Glasschein die ganze Fülle und Schönheit gerade dieses edelsten und sprechendsten Theiles des menschlichen Antlitzes verdecke. Dies war eine Brille damaliger Zeit, aber wie viel mehr verhäßlichen die Brillen, wie [125] sie heutzutage Mode sind. Wir sagen Mode, denn ein Bedürfniß ist es auch hier – vielleicht in tausend Fällen einen ausgenommen – nicht. Die alten Brillen waren in Silber gefaßt, hielten auf dem Kopfe still, wenn sie einmal aufgesetzt waren, und durch das helle Metall wurde wenigstens keine störende Linie in’s Gesicht gebracht; die neumodischen sind in schwarzer Einfassung und bestehen in zwei Sorten, die gleich entstellend sind, in der sogen. „Kneifbrille“ und in dem „Nasenhalter.“ Die Kneifbrille besteht aus einem runden Glase und wird in die rechte Augenhöhle hineingedrückt und von den das Auge umschließenden Muskeln gehalten, also eingekniffen. Es läßt sich leicht denken, daß, um dieses häßliche Ding zu halten, man nothwendig eine Fratze schneiden muß, und unsere jungen Modenarren scheinen sich das Wort gegeben zu haben zu erforschen, wer von ihnen die ärgste Verzerrung zu Stande bringen kann. Schon mit einem Glase „fixirt“ zu werden hat für den, der betrachtet wird, etwas, wenn auch nicht Beleidigendes, doch jedenfalls Störendes und Unangenehmes.
Nun aber noch dazu diese ganz infame Grimasse zu sehen, dieses in allen Muskeln verzerrte Gesicht, das auf uns gerichtet ist, man muß gestehen, dies gibt dem Dinge etwas, das kaum zu ertragen ist. Man muß schnell wegsehen, um nur rasch den Eindruck dieses häßlichen Spektakels loszuwerden. Und dazu erniedrigt sich ein ursprünglich gutgeformtes Gesicht; denn fällt die Brille und ihr schwarzes Band ab, so kommen unverzerrt jugendliche und sogar oft hübsche Züge zum Vorschein.
Die zweite Art Modebrille ist der „Nasenhalter.“ Es ist dies dieselbe Brillensorte, die früher die alten Weiber trugen, und die in zwei Gläsern besteht, die mit einem Sattel verbunden auf den obern Theil der Nase festgeklemmt werden. Abgesehen davon, daß die Form der Nase nothwendig durch ein solches Gepäck, das man ihr aufladet, leiden muß, so will es auch hier die einfältige Mode, daß die Brilleneinfassung schwarz ist, und da die Gläser groß, rund und dicht bei einander sind, so erhält auch durch diese Brille das Gesicht einen fratzenhaften Ausdruck, aber noch bei weitem nicht so schlimm, als bei der Kneifbrille. Warum, wenn denn doch ein solcher Modeartikel soll in Gebrauch kommen, kehrt man nicht zu der Lorgnette zurück, die, zeitweise vor’s Auge gebracht, vollkommen, ohne das Gesicht zu entstellen, die Dienste leistete, die sie sollte, wenn überhaupt hier von einem Dienste, der dem schwachen Auge geleistet werden soll, die Rede ist.
Wir gehen zum Barte über. Die Engländer und dann die Franzosen, natürlich nach ihnen alle andern Nationen, haben schon seit zwanzig Jahren angefangen, den weitgehendsten Unfug mit den Bärten zu treiben. Als wenn im Barte an und für sich ein Symbol der [126] Männlichkeit und Würde läge! Napoleon hatte keinen, Goethe keinen, Kant, Lessing – sie waren alle unbebärtet und waren – Männer, die die Welt umgestalteten. Doch immerhin! Wem das Haar um Kinn und Wange Freude macht, möge nehmen was und wie viel die Natur ihm gibt. Doch immer die Schönheit beachtet! Barbaren wollen wir doch auf keine Art sein und heißen. Ein junger Mann mit vollem, aber in die Schranken der Schönheit gehaltenem Barte und der entsprechenden Kleidung, wie unsere Abbildung darstellt, ein ältlicher männlicher Kopf, ein sog. Apostelkopf, sind mit vollem Barte schön, auch bei dem Soldatenstande, besonders wenn der mittelalterliche Helm, der zugleich an den antiken, griechisch-römischen mahnt, auf dem Haupte sitzt, ist der volle Bart schön zu nennen, aber bei einem Frack, weißer Halsbinde und hellgelben Handschuhen ist er – lächerlich. Ein kleiner Lippenbart kann einem schönen jugendlichen Munde noch einen Reiz mehr geben, aber niemals kann ein kolossaler und nach allen Seiten hin sträubender Backenbart, oder ein grimassirter Kinnbart von enormer Länge die Zierde eines Gesichts sein. Schon wie viele einnehmende belebte und sprechende, feine Züge versteckt der dicke, wirre Bart um Mund und Wangen! Die Mundwinkel, die Oberlippe, das Lächeln, das die Wange rundet, alle diese Reize der Jugend, gehen durch den Bart dem Auge verloren. Die Bewegung des Kopfes wird ungeschickt, der Halskragen, das Halstuch, selbst der Rock, nichts kann so anliegen, wie es anliegen soll, und was muß es für den, der Reinlichkeit liebt, für eine Plage sein, täglich vier oder fünf Mal diese üppige Waldparthie mit Kamm und Scheere zu bearbeiten und sie in den gehörigen Schranken zu halten, die bei jedem Mittagsmahle das Ihrige, wie eine mitessende gefräßige Bestie, verlangt und zu sich nimmt. Nicht doch, wir verwerfen den Bart nicht, aber diese Uebertreibungen sind lächerlich und albern.
Nun zur Cigarre. An und für sich ist die Cigarre nicht entstellend, sie ist es weniger, als die Pfeife es bei unsern Alten war, besonders die kurze Art Pfeifen, die mit den Zähnen gehalten werden mußten, und Zähne, Lippen und Sprache zugleich entstellten. Jedoch hat die Mode auch hier ein Mittel gefunden, die Cigarre, im Bunde mit Bart und Brille, zu einem alle Schönheit, alle Natürlichkeit und jeden Reiz tödtenden kleinen Instrument zu machen. Hielte man die Cigarre ohne Zwang im Munde, so würde dem Ausdruck des Gesichts und des Mundes namentlich nicht so sehr geschadet; allein die Mode will, daß man seine Cigarre „mit Impertinenz“ rauche, das heißt, daß man dazu ein Gesicht schneide, das, in Worte übersetzt, etwa so lautet: „Ich bin der Erste in der Gesellschaft, alles Uebrige ist tief unter mir, ich rauche ein feines Blatt, und überhaupt – ich bin ein nobler und eleganter Herr!“ Mit diesem Ausdrucke wird die feine Cigarre an den Mund gebracht, dessen Lippen sich dabei höhnend und geringschätzend verziehen. Diese Grimasse gilt für vornehm. Wollte man ein feines Blatt rauchen und dabei artig, gegen seinen Nachbar nicht beleidigend, gegen alle Welt nicht herausfordernd sein, so wäre es nicht das feine Blatt, und es wäre nicht der noble Raucher. Die Stellung des Körpers ist dabei nie eine sitzende, sondern immer eine flegelhaft liegende, oder weithin ausgestreckte, wo möglich werden dabei kostbare Stoffe von Sopha’s und Stühlen mit Andenken der Stiefel bedacht. Die Cigarre auf diese Weise „in’s Gesicht gesteckt,“ macht einen schwarzen Strich mehr in dasselbe und harmonirt auch dergestalt mit dem schwarzen Bande, an dem das Augenglas hängt, und das sich über die Wange hinzieht. Nimmt man nun noch hinzu ein mit Bart überwachsenes Gesicht, in welchem zwei glitzernde Glasaugen blinken, so ist die wahrhaft scheußliche Karrikatur fertig, zu der sich unsere jungen Herren selbst herabdrängen und zwängen.
O, großer Apoll, du der du die ewige Jugend und Schönheit bist, errette uns von dem Uebel dieser abscheulichen Modenarrheiten!
Wenn ein Kranker lange Zeit hindurch eine Menge Kuren gebraucht hat, ohne daß es irgend besser mit ihm werden will, so sollte man meinen, er müsse am Ende von der ganzen Quacksalberei nichts mehr wissen wollen. Denn so viel könnte er nachgerade merken, daß ihm die Herren mit ihren theuern Tränken und Pulvern keine neue Konstitution machen können. Anstatt daher bei jedem Magendrücken und Kopfweh, bei jedem Reißen oder Husten nach einem Recept zu schreien, müßte er anfangen, auf sich selbst Acht zu geben, zu merken, was ihm bekommt, und was er nicht vertragen kann; was er also thun und lassen muß. Da sich seine Konstitution nun einmal nicht nach seiner Lebensweise richten will, so bleibt ihm ja doch nichts Anderes übrig, als sich mit seiner Lebensweise nach seiner Konstitution zu richten, und, damit er dies könne, die letztere gehörig zu studiren.
Aber, wie nahe dies auch zu liegen scheint, trifft es doch in der Wirklichkeit nicht zu. So überwiegend ist bei der Mehrzahl der Menschen die Trägheit und Bequemlichkeit, so gering Einsicht und Willenskraft, daß sie es selten über sich vermögen, von dem altgewohnten Schlendrian, von ihren Gelüsten und Liebhabereien zu lassen, obschon darin allein der Grund des Uebels liegt. Vielmehr verlangen sie in der Regel, von diesem Uebel unter Beibehaltung ihrer alten dasselbe hervorrufenden Lebensweise, geheilt zu werden, ohne alles Zuthun ihrerseits, ohne eine einzige ihrer schlechten Gewohnheiten abzulegen, und werfen sich jeder Wunderkur in die Arme, welche ihnen dergleichen Unsinn vorspiegelt.
Dies gilt nun nicht etwa blos für körperliche Leiden, sondern auch in einer Menge anderer Beziehungen, wo es darauf ankommt, alte, eingewurzelte Uebelstände zu beseitigen. Besonders hartnäckig ist dieser Hang auf sozialem Gebiet, wo wir es mit den so wichtigen Bedingungen der materiellen Existenz, der Beschaffung der Mittel zu unserem Dasein zu thun haben. Große, wesentliche Uebelstände, an welchen unleugbar ganze, zahlreiche Klassen der Gesellschaft siechen, rufen eine Menge der widersprechendsten und verkehrtesten Heilmethoden hervor. Aber den Gründen des Uebels in dem gesellschaftlichen Organismus tiefer nachzuspüren, damit halten sich jene unberufenen Heilkünstler nur in den seltensten Fällen auf. Freilich erfordert dies auch ein eben so gewissenhaftes und mühsames Studium, als man von einem tüchtig gebildeten Arzt hinsichtlich des menschlichen Körpers verlangt. Wie das Leben des einzelnen Menschen von einer Menge organischer Verrichtungen bedingt ist, welche in inniger Wechselbeziehung von Ursache und Wirkung zu einander stehen; wie alle diese Verrichtungen und dadurch hervorgerufene Erscheinungen nach bestimmten Gesetzen vor sich gehen, deren Störung unausbleiblich Krankheit, ja Tod zur Folge hat; eben so innig in einander greifend, eben so bestimmten Gesetzen gehorchend, treten die Erscheinungen auf volkswirthschaftlichem Gebiete im Leben und Haushalt der Gesellschaft auf, und dieser Gesammtorganismus der menschlichen Gesellschaft ist eben so verwickelt, verlangt ein eben so sorgsames Studium, um die ihn bewegenden Kräfte und beherrschenden Gesetze, die Ursachen des Heils wie des Uebels, kennen zu lernen, wie der Leib des einzelnen Menschen.
Mit dieser Vorklage gehen wir an eine der wichtigsten Fragen auf dem berührten Gebiet, die Handwerkerfrage, der sich seit einer Reihe von Jahren die Theilnahme des Publikums entschieden zuwendet. Nicht nur sehen wir die Betheiligten, die Handwerker selbst in reger Bewegung, auch die Regierungen schreiten ihnen zu Gunsten in mehreren deutschen Ländern ein, und von allen Seiten wird der Erhaltung einer so zahlreichen und achtungswerthen Klasse von Bürgern, welche Jahrhunderte lang, als Kern des deutschen Mittelstandes, eine Hauptstütze der Kultur und Gesittung der Nation war, das lebhafteste Interesse gezollt. Auch ist das Gefühl der bedrohten Existenz, welches unsere Handwerker aus langer Ruhe aufrüttelt, nur zu wichtig, [127] und die täglich überhand nehmende Verkommenheit ihres Gewerbs- und Nahrungsstandes drängt sich in erschreckender Weise auf. Aber eben so unbestreitbar, wie der Nothstand, steht auf der andern Seite auch die Unzulänglichkeit der bisher dagegen ergriffenen Maßregeln fest, was Niemandem Wunder nehmen wird, der das Getriebe einigermaßen durchschaut. Eben hier tritt das oben Gesagte ein, daß die Patienten den unerläßlichen Bedingungen der Heilung sich nicht fügen mögen, weil sie am wenigsten die erforderliche Besonnenheit besitzen, über das Nächste, was sie unmittelbar bedrückt, hinweg die entfernteren Beziehungen und Quellen der Zustände in das Auge zu fassen. Die neuere Zeit, mit ihren ungeheuren gewerblichen Hülfsmitteln ist an ihnen vorübergeschritten, und anstatt ihr zu folgen, sich die Vortheile der gegenwärtigen Gewerbskunst zu eigen zu machen, sind sie auf ihrem alten Standpunkte stehen geblieben, und rufen der unaufhaltsam Vordringenden umsonst ihr schwaches Halt zu, das im Gebrause der ungeheuren Triebräder der heutigen Industrie ungehört verklingt. Aber trotz aller trauriger Erfahrungen beharren sie dabei und fordern, daß der Lauf der Dinge sich verkehre, damit sie im alten Schlendrian ihr Wesen nach wie vor treiben mögen.
Folgen wir ihnen daher zunächst in den Kreis ihrer eigenen Vorstellungen und sehen zu, wohin die von ihnen vorgeschlagenen Wege zur Abstellung des Uebels am letzten Ende führen. Die ganze Sache ist, wenn man auf die Leute hört, überaus einfach und macht sich eigentlich von selbst. Ein paar gewerbepolizeiliche Maßregeln, einige unschuldige Einschränkungen und Verbote der Staatsgewalt, und ihnen ist geholfen. Daß dies nicht längst geschehen, ist daher unverantwortlich. So viel steht bei ihnen ein für allemal fest: daß sie ihre Produkte schwerer und – mindestens im Verhältniß zum Preise der Rohstoffe – nur zu niedrigern Preisen abzusetzen vermögen, als dies ihren Vorfahren vor 30 bis 40 Jahren möglich war. Von dieser Abnahme der Kundschaft und dem Sinken der Preise, in welchen beiden Erscheinungen sich die ganze Frage für sie erschöpft, finden sie nun den Grund darin:
- einmal, daß die Zahl der Handwerker unverhältnißmäßig zugenommen habe, und sodann, daß die von ihnen gefertigten Waaren auch von Andern, namentlich den Fabrikanten, geliefert und auf den Markt gebracht wurden, welche meist billigere Preise als sie zu stellen im Stande seien.
So gelangen sie ganz folgerichtig zu dem Schlusse: daß wenn man die Zahl der Handwerker beschränkt, und allen Nichthandwerkern verbietet, sich mit der Verfertigung und dem Verlauf von Handwerkerwaaren zu befassen, Kundschaft und Preise sich zu ihren Gunsten heben müßten. Und das, meinen sie, läßt sich ganz gut machen, das sind keine leeren Hirngespinnste, deren so war es ja früher, eine solche goldene Zeit hat es ja für sie gegeben, die Zeit des Zunftzwangs und was damit zusammenhing. Erst nachdem man diese heilsame Einrichtung verlassen hat, ist die Noth in ihre Reihen eingebrochen, und nur vermittelst der Rückkehr dazu ist die Regeneration des Handwerks möglich. Deshalb frisch eingelenkt, ohne Zaudern, und ihnen ist geholfen!
Daß ein so scheinbares Räsonnement allgemein Eingang in die Kreise der Handwerker findet, ist nicht zu verwundern. Sie sind der leidende Theil, und da geht es ihnen, wie den meisten Patienten, welche die äußern Anzeichen (Symptome) des Uebels für das Uebel selbst nehmen, und auf Mittel zu deren Abstellung dringen, ohne sich um die weitern Folgen solchen einseitigen Eingreifens für den ganzen Organismus zu kümmern. Patient hat Kopfschmerz, darüber läßt sich nicht mit ihm streiten, und der Kopfschmerz kommt vom Andrang des Blutes nach dem Kopfe. Also Aderlaß, und das Uebel ist beseitigt. Gerade so unsere Handwerker. Absatz und Preise ihrer Produkte sind gedrückt wegen der großen Konkurrenz unter ihnen selbst und besonders der Fabrikanten. Daher fort mit den überflüssigen Handwerkern, fort mit den Fabrikanten und deren Waaren von ihrem Markt, dann muß das Publikum wohl zu ihnen kommen und kaufen.
Zunächst drängen sich gegen ein solches Verfahren schon auf den ersten flüchtigen Blick ganz im Allgemeinen sehr erhebliche Bedenken auf. Es mag sein, daß sich die Vorfahren der Handwerker vor einer Reihe von Jahren bei der vollen Geltung der Zunftverfassung wohl befunden haben. Daraus läßt sich aber vernünftiger Weise weiter Nichts folgern, als daß diese Verfassung den damaligen Verhältnissen entsprach, daß sie für jene Zeit paßte. Aber muß dies deshalb auch in Bezug auf die Gegenwart der Fall sein? Vermag man mit jener alten Form zugleich, mit jenen Einrichtungen einer vergangenen Zeit auch diese Zeit selbst zurückzurufen nebst dem ganzen damaligen Zuschnitt des bürgerlichen und häuslichen Lebens, den mäßigen Ansprüchen des Publikums, den beschränkten Hülfsmitteln der Produktion und des Verkehrs? Das wäre gerade so, als ob sich Jemand einbildete, man könnte einen erwachsenen Menschen dadurch, daß man ihm seine abgelegten Kinderkleider aufzwängte, wieder zum Kinde machen. Sodann kann man doch das Handwerk nicht so für sich allein, als ein Institut auffassen, welches weiter keinen Zweck hätte, als einer Anzahl von Menschen ihr Brot zu geben. Vielmehr bildet es immer nur einen Theil derjenigen Bestrebungen und Thätigkeiten, welche die Bestimmung haben, die menschliche Gesellschaft mit den zur Existenz nöthigen, nützlichen und angenehmen Gegenständen zu versehen, mit einem Worte der Industrie. In fast sämmtlichen Gewerbszweigen hat man aber seit 40 bis 50 Jahren ungeheure Fortschritte und Entdeckungen gemacht, welche die Produktion leichter und billiger machen. Natürlich bringt dies neue Betriebsreformen der mannigfachsten Art hervor, wie die Verschmelzung früher getrennter Gewerbe oder umgekehrt, welche sich in die alten, beengenden Zunfteinrichtungen nicht schicken, sondern den jemaligen Bedürfnissen gemäß sich zu gestalten die Freiheit haben müssen, sollen sie nicht im Keime verkümmern.
Doch greifen wir der weitern Ausführung jener allgemeinen Bedenken, mit der wir es an einer andern Stelle zu thun bekommen, nicht vor, und kehren zunächst auf den Standpunkt der Handwerker selbst zurück.
Also: „Verminderung der Zahl der Handwerker“ und „Verbot der Fertigung von Handwerkerwaaren, durch andere, als zünftige Meister.“ Diese beiden Maßregeln müssen Hand in Hand zusammengehen, wenn der Zweck erreicht werden soll, darüber sind sich die Handwerker klar. Denn was hülfe ihnen die Verminderung ihrer Zahl, wenn ihre Kunden die Waaren von anders woher z. B. aus den Fabriken erhalten können? Und eben so wie der Gesammtheit der Handwerker gegenüber alle Nichthandwerker von der Konkurrenz mit ihnen ausgeschlossen werden müssen, stehen sich wiederum die einzelnen Zünfte einander entgegen, so daß bestimmte Waaren stets das Monopol einer bestimmten Zunft sein müssen. Andernfalls wäre die ganze Veranstaltung wiederum wirkungslos. Dürften z. B. die Schmiede Schlosserarbeit, die Zimmerleute Tischlerarbeit, die Riemer Beutlerarbeit machen, so nützte natürlich den Schlossern, Tischlern, Beutlern ihre Beschränkung auf eine mindere Zahl Nichts, weil ihre Kunden dann stets im Stande wären, sie zu umgehen. Die strenge Abgrenzung der Arbeitsgebiete unter den einzelnen Zünften steht daher im nothwendigen Zusammenhang mit dem ganzen System, vermöge deren jeder Meister nur die seiner Zunft zugesicherten Artikel fertigen darf. Dennoch ist die Sache auch damit noch nicht abgethan. Denn sind auch alle diese Maßregeln in das Werk gesetzt, die Zahl der Handwerker an jedem Orte beschränkt, alle Nichthandwerker von der Konkurrenz ausgeschlossen, die Arbeitsgebiete der Zünfte genau bestimmt: immer kann das Publikum alles dies umgehen, wenn es sein Bedürfniß an Handwerkerwaaren von auswärts bezieht. Also: Sperrung nach Außen, Verbot fremder Handwerkerwaaren, möglichste Abschließung und Beschränkung der einzelnen Orte mit ihrem Bedürfniß auf die eigne Produktion; insbesondere Verbot des Handelns der Kaufleute mit Handwerkerwaaren, weil gerade durch die Vermittlung dieses Handels der Ankauf auswärts produzirter Artikel dem Publikum am bequemsten dargeboten wird.
Dies sind so aus dem Gröbsten die Glieder der Kette, wodurch die alte Blüthe und Geltung des Handwerks wiederum befestigt werden soll, und wir wollen dabei gleich einem Einwurfe begegnen, der uns aus den eignen Reihen der Handwerker etwa gemacht werden möchte. „Wir wollen ja gar nicht so weit mit unsern Einrichtungen in der Zeit zurück“ – so spricht mancher wackere Mann, der selbst die Bedenken gegen die geforderten Maßregeln nicht ganz abzuweisen vermag. „Wir wollen die eingeschlichenen Mißbräuche im Zunftwesen gern aufgeben, und den Fortschritten der Gegenwart auch Rechnung tragen, wenn nur der unbeschränkten Konkurrenz, der gewerblichen Anarchie (das sind so die Hauptschlagworte) gesteuert, und uns die Möglichkeit des Bestehens gesichert wird u. s. w.“ – Allerdings kommt auch der hartnäckigste Anhänger des Alten, so bald an [128] Verwirklichung der obigen Vorschläge praktisch Hand angelegt werden soll, in den Fall, einen Theil davon aufgeben zu müssen, weil bei ihrer völligen Durchführung ein Zusammenstoß mit einer solchen Menge von Interessen, die inzwischen ebenmäßig im bürgerlichen Leben zur Geltung gekommen sind, Statt finden würde, daß die Folgen gar nicht abzusehen wären. Dies ist auch der Grund, weshalb man überall, wo die Staatsgewalt auf die Wünsche der Handwerker einging, es nicht weiter, als bis zu einzelnen Concessionen, nirgend aber das ganze System in Ausführung gebracht hat. Aber eben die bisherige Praxis in diesen Ländern, besonders in Preußen, welches für sehr entgegengesetzte Versuche das beste Erfahrungsmaterial bietet, hat gezeigt, wie durch solche halbe Maßregeln nicht das Mindeste für die Verbesserung der Handwerkerzustände gewonnen wird. Da haben wir die Abhängigkeit des Etablissements von der Aufnahme in die Innung oder dem Bestehen der Meisterprüfung, da haben wir die Abgrenzung der Arbeitsgebiete, die Regelung des Lehrlings- und des Gesellenwesens, das Verbot, daß andere als geprüfte Meister Arbeiten ihres Fachs übernehmen oder Gesellen halten, mit geringen Ausnahmen zu Gunsten der Fabriken; da kann selbst das Beziehen der Wochenmärkte und das Halten von Magazinen zum Verkauf fertiger Handwerkerwaaren andern als Handwerksmeistern ortsweise untersagt werden. Aber daß sich durch alle diese Beschränkungen seit Erlaß der neuern Gewerbeordnungen die Zustände der Handwerker nur im Mindesten gebessert oder gehoben hätten, wird Niemand, der mit diesen Dingen vertraut ist, behaupten, am wenigsten die Handwerker selbst, welche fortwährend nach neuen, weitern Konzessionen schreien, eben weil sie fühlen, daß jene halben Maßregeln ihnen zu gar Nichts helfen. Weder ist durch die Nothwendigkeit des Beitritts zur Innung oder des Bestehens der Prüfung der Zustand zum selbstständigen Handwerksbetrieb geringer geworden, noch durch die andern Beschränkungen die Konkurrenz der Fabrikanten und Kaufleute abgewehrt. Schlimmsten Falls, wenn man es auch noch strenger nehmen wollte, finden sich zurückgekommene Handwerker im Ueberfluß, welche den Handelsleuten und Kapitalisten Namen und Dienst zur Verfügung stellen. Kurz, am Ende behalten diejenigen unter den Handwerkern, welche die völlige Umkehr zu den alten Zuständen fordern, in ihrer Art Recht. Wenn einmal auf dem Wege der Umkehr zum Alten die Verbesserung der Lage der Handwerker erreicht werden, wenn die vorgeschlagenen Beschränkungen zu Gunsten der Handwerker überhaupt einen Effekt haben sollen, so müssen sämmtliche angedeutete Maßregeln ohne alle Abschwächung und in ihrem nothwendigen Zusammenhange in das Werk gesetzt werden, oder das ganze System wird dergestalt durchlöchert und unhaltbar, daß es zu gar Nichts taugt.
Sehen wir in unserem nächsten Artikel die hierher gehörigen Forderungen der Handwerker im Einzelnen, rücksichtlich ihrer Ausführbarkeit etwas näher an.
Der große Bauernkrieg. „Man hat in dem Völker- und Staatenleben die Krankheitszustände, ihre Ursachen und Heilungen bisher viel weniger erforscht und dargestellt, als die Zeiten den Blühens und der gesunden Kraft. Weit zu wenig zur Erkenntniß des Gottesgerichtes, das sich in der Geschichte vollzieht, hat man die inneren Kämpfe und Entwickelungen, und am wenigsten das untersucht und unbefangen gewürdigt, was in der Tiefe der Gesellschaft lebte, webte und litt, was in ihr gährte und aus ihr heraufrang, in Europa überhaupt, und ins besondere im deutschen Reiche. Und doch ist ohne das Verständniß diesen Lebens und Regens in den Tiefen ein richtiges Verständniß der Geschichte den Ganzen nicht möglich.“
Mit diesen zu allen Zeiten, aber ganz besonders in der Gegenwart im höchsten Grade beherzigenswerthen Worten beginnt Dr. Wilhelm Zimmermann die Vorrede zur neuen ganz umgearbeiteten Auflage seiner „Geschichte des großen Bauernkrieges“ (Stuttgart; Rieger’sche Buchhandlung).
War schon die erste Ausgabe dieses Buches, welche 1843 erschien, ein bedeutendes Ereigniß auf dem Felde der vaterländischen Geschichtsforschung und eine ernste Mahnung an Jedermann, die Wogen der Geschichte in’s Auge zu fassen, auf denen das Schifflein jedes Einzelnen treibt, von jedem Augenblicke ebenso stürmischen Untergang wie ruhiges Dahingleiten erwartend, so gilt dies in vermehrtem Grade von der eben vollendet vorliegenden zweiten Auflage; und wenn man ein Buch ein Ereigniß nennen darf, so muß man Zimmermann’s Geschichte des großen Bauernkrieges als ein solches bezeichnen; ja neben ihm verdient in Anwendung auf Deutschland außer Gervinus’ Einleitung in die Geschichte des XIX. Jahrhunderts kaum ein anderes deutsches Geschichtswerk diese Auszeichnung. Neben der Darstellung der geschichtlichen Ereignisse, in der weitesten Auffassung des Begriffs, welche auf dem Gebiete der Gegenwart hervortreten, konnte die Gartenlaube keinen Augenblick zweifeln, Zimmermann’s Buch als ein solches nachdrücklich hervorzuheben. Sie hat damit gezögert, bis das neunte Heft den Schluß brachte und bis die sachkundige und unparteiische Kritik ihr Urtheil abgegeben hatte. Beides ist geschehen und wir zögern keinen Augenblick länger, dieses Volksbuch den Lesern der Gartenlaube dringend an das Herz zu legen. Ein Volksbuch ist es so recht eigentlich, denn es schildert das Ringen des Volkes nach Befreiung von unerträglichem Druck; er schildert dieses Ringen, da es mehr als dreihundert Jahre hinter uns liegt, mit der nüchternen Ruhe eines nicht mehr betheiligten Beobachters.
„Diese Bewegung (den großen Bauernkrieg)“, sagt Zimmermann in der Einleitung, „hat Treitschke sinnig die prophetische Vorbereitung der neueren Weltgeschichte genannt. Sie ist die gewaltige Ouvertüre zu dem Schauspiele, das sich auf dem Boden der neueren Zeit abspielt, und dem das Tragische nicht fehlt. Alle Erscheinungen der späteren socialen Bewegungen in Europa liegen in der Bewegung von 1525 eingeschlossen: sie ist nicht nur der Anfang der europäischen Revolutionen, sondern ihr Inbegriff im Kleinen. Alle die Erscheinungen, durch welche Staaten im Laufe der folgenden Jahrhunderte verändert wurden, sowie diejenigen, welche in unseren Tagen eine gesellschaftliche Umgestaltung vorbereiten, finden ihre Vorbilder in den Bewegungen von 1525, sowohl was Individuen, als was Ideen betrifft. Mit Recht nannte Treitschke den Geist Thomas Münzer’s (von welchem man dem Volke gewöhnlich nur die finstre Kehrseite als Gespenst zeigt) „einen Spiegel, der die Erscheinungen künftiger Zeiten in sich prophetisch darstellt.“
„Die Geschichtschreibung ging lange an diesem großen Ereignisse entweder mit halb abgewandtem Gesichte vorüber, oder die es berührten, mißhandelten dasselbe, aus Mangel eines unparteiischen, eines höheren Standpunktes.“
„Daß die folgende Darstellung Niemand ein Anstoß sein werde, wird nicht erwartet. Wer der Geschichte sich weiht, dem muß es um die Wahrheit zu thun sein und das Wohl der Menschheit, nicht um Gunst. Es ist schön, der Gegenwart zu gefallen, besser aber ist es, der Zukunft zu genügen.“
„Die Geschichte des großen Bauernkrieges“ zieht das Letztere vor, und ehrenhafte Geschichtsforscher, voran der alte Schlosser, Gervinus, Wuttke, Kortüm, haben in ihren Beurtheilungen einstimmig ihr Urtheil dahin abgegeben, daß das Buch „der Zukunft genügen“ wolle und daß dieses Streben ein gelungenes sei. Gervinus sagt von dem Buche: Der Geist der Zeit und der Geist der Geschichte, welche Zimmerman schildert, weht uns mit voller Unmittelbarkeit an. Gewiß heißt nur dies Geschichte schreiben, diese treue Bewahrung des Farbentones der Zeit, trotz alles Colorites, das die geschichtliche Kunst auftragen mag; und die A. A. Z. rühmt dem Buche nach: Die Darstellung besitzt große Vorzüge, sie ist lebendig, fließend, blühend, oft pathetisch und energisch.
Die Termiten. Ein in Westafrika Reisender erzählt in einem englischen Blatte ein Beispiel von dem Scharfsinn der Termiten oder weißen Ameisen, welche er vielfach in ihrem Thun und Treiben beobachtet hatte. Bekanntlich sind in und nach der langen Regenzeit große Ueberschwemmungen nicht seltene Erscheinungen, und kommt es nicht zu diesen, so bilden sich doch in der Nähe größerer Flüsse und Ströme sehr häufig eine Menge kleinerer Nebenflüsse. Diese bringen die Termiten, welche gerade auf einem Wanderzuge begriffen sind, dadurch oft in nicht geringe Verlegenheit, daß sie ihnen den Weg plötzlich abschneiden. Entweder entsteht durch einen Nebenfluß in Verbindung mit dem Hauptstrom eine Insel, auf der sich die wandernde Ameisenschaar wider Erwarten festgebannt sieht; oder diese will und muß, wer weiß das, den angetretenen Reiseweg ohne Aufenthalt oder ohne Umwege verfolgen: in beiden Fällen ist sie gezwungen, das Wasser ohne Brücke oder Fahrzeuge zu passiren. Wie aber sollen die Thiere das bewerkstelligen, da sie zwar schwimmen, aber der Kraft des Stromes nicht widerstehen können. Sie würden also jedenfalls mit dem Strome bedeutend abwärts und natürlich von ihrem Wege ganz fortgetrieben werden. In diesem Falle wissen sie sich prächtig zu helfen. Ehe sie aber diesen letzten Entschluß ausführen, sieht man sie in großer Unruhe am Wasser hin- und herlaufen und einen natürlichen Uebergang suchen. Finden sie einen solchen nicht, dann machen sie denselben auf ihre eigene Faust in folgender Weise. Eine Anzahl von Termiten, groß genug, um mit ihrer vereinten Kraft der Macht des fließenden Wassers Widerstand leisten zu können, klammert sich eine an die andere an, nicht aber in der Form einer Kette, sondern mehr als ein dichter Knäuel, von welchem der eine Theil den andern durch Ziehen, dieser jenen durch Entgegenstemmen unterstützt, die eingeschlagene Richtung festzuhalten und nicht stromabwärts getrieben zu werden. Sind sie nun glücklich am andern Ufer angekommen, und es gelingt ihnen dies fast ohne Ausnahme, so dienen die ersten, welche mit ihren Füßen das Land berühren, als Anker, vermittelst dessen die nachfolgenden das Wasser verlassen, und das Trockne erreichen können. Ist dann die ganze Schaar beisammen, so setzen sie in ihrer bekannten Art zu reisen, daß eine der andern in langer Reihe folgt, die Reise landeinwärts weiter fort.
- ↑ Alle Mitglieder der Unitätsältestenkonferenz, alle Bischöfe, sämmtliche Brüder, welche Unitätsämter bekleiden, haben Sitz und Stimme auf den Synoden, und neben der Bürgerschaft jeder einzelnen Gemeine sendet die Aeltestenkonferenz derselben noch einen Synodaldeputirten. Ja die Unitätsaeltestenkonferenz hat das Recht, so viel Brüder sonst noch mit Sitz und Stimme in den Synodus einzuberufen, als sie für zweckmäßig erachtet.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Frau