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Die Gartenlaube (1857)/Heft 35

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 35. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zu rechter Zeit.
Novelle von Ernst Fritze.
(Schluß.)

Es gibt Criminalbeamte, die, gleich den gehetzten Hunden, den kleinsten Spuren nachwittern, wo seltsame Zufälle den Schein eines Verbrechens auftauchen lassen, und die ohne Rücksicht scharf dreinhauen, unbekümmert darüber, ob sie Disteln oder Blumen treffen.

Der Criminalrath Buggenborg gehörte zu dieser Sorte. Kaum war ihm ein dunkel auftauchendes Gerücht „von seltsamen Verhältnissen im Kurow’schen Hause und dem eigenthümlich schnellen Tode der schönen reichen Wittwe“ zu Ohr gekommen, so begab er sich zu seinem Director, der, alt und schwach, ihm mehr untergeordnet, als vorgesetzt war, und erbat sich die Befugniß, hier schnell eingreifen zu dürfen, da augenscheinlich ein entsetzliches Verbrechen und zwar das der Vergiftung vorläge. Der alte Director, erstarrt vor Schrecken von dieser Nachricht, stattete ihn mit allen Vollmachten aus und der Criminalrath verfügte sich schnurstracks in’s Sterbehaus, um den Thatbestand festzustellen und nach den Mördern zu suchen.

Er fand nur eine tief traurige Tochter. Das that aber seinem Eifer keinen Abbruch. Als das Kammerzöfchen die bestimmte Erklärung ihres gnädigen Fräuleins überbrachte und er damit abgewiesen war, stahl sich ein selbstzufriedenes Lächeln auf sein zusammengetrocknetes Actengesicht und er zog schlauen Blickes die Stirn zu hundert kleinen Fältchen auf.

„Natürlich, ganz natürlich,“ flüsterte er seinem Actuar zu, der mißtrauisch die ordnungsmäßige ruhige Trauer des Haushaltes beobachtet hatte und nicht eine Spur von wilden, wüsten Uebereilungen, wie verbrecherische Unternehmungen versteckt nachlassen, erkennen konnte.

„Freilich natürlich, Herr Criminalrath,“ entgegnete er ernst und besonnen. „Denn eine schmerzlich bewegte Tochter mag eben nicht aufgelegt sein, Herren zu empfangen, welche in gar keiner Beziehung zu ihrem Schmerze stehen.“

„Das wird sich zeigen bei der Obduction,“ flüsterte der Rath. „Wollen Sie mir einmal das Zimmer zeigen, woselbst Denata verblichen ist,“ wendete er sich zu dem Mädchen.

Nannette sah ihn dumm an. „Denata?“ wiederholte sie.

Der Actuar erläuterte lächelnd: „Wo die gnädige Frau gestorben ist, wollen wir wissen.“

Das Zöfchen öffnete eine Seitenthür. „Hier, meine Herren,“ sprach sie dienstfertig, machte aber ein Zeichen der Beschwichtigung, indem sie auf eine Flügelthür deutete, die nach dem Zimmer führte, wo Fräulein Lucilie sich befand. Die Argusaugen der beiden Beamten durchirrten schnell das wohlgeordnete große Gemach.

„Frau von Kurow hat Limonade getrunken, kurz vor ihrem Tode?“ examinirte der Rath flüsternd.

„Ja, mein Herr,“ antwortete Nannette unbefangen.

„Sie hat dabei über einen seltsamen Geschmack der Limonade geklagt?“

Mamsell Nannette sah den Inquirenten verwundert an. Woher wusste er das?

„Allerdings,“ meinte sie zögernd.

„Stellte sich Erbrechen nach dem Genuß der Limonade ein?“

„Nein. Aber die gnädige Frau wurde dunkelroth, als müsse sie ersticken, und darauf wieder leichenblaß –“

„Aha! Hatte die Limonade vielleicht einen feinen Geruch, wie von bittern Mandeln?“

„Das ist möglich, allein es ist mir nicht aufgefallen, weil unsere gnädige Frau auch häufig Mandellimonade trank –“

„Aha! Das Fräulein hatte die Limonade gemischt?“

„Ja. Es ärgerte mich, weil ich sie sonst zurecht machte –“

„Das Fräulein drängte sich also geflissentlich dazu?“

„Allerdings.“

„Das Fräulein war ganz unvermuthet am Morgen angekommen?“

„Ja. Ganz unvermuthet, und sie sprach gleich davon, daß ihre gnädige Mama krank sein müsse.“

„Aha! Frau von Kurow war aber nicht krank, gar nicht einmal unwohl?“

„Nicht ein Finger that ihr weh! Sie lachte über ihre Tochter, sagte jedoch: es sei ihr lieb, daß sie da sei.“

„Aha! Wußte das Fräulein um die Heirathsprojecte der Mutter?“

„Wenn sie es auch nicht ganz gewiß gewußt hat, so muß ihr das Benehmen der gnädigen Frau bei Tische die Augen darüber geöffnet haben.“

„Aha! Und die Damen kamen darüber in einen Wortwechsel?“

Das Kammermädchen stutzte und zögerte ein wenig. Sie wußte nicht, ob der Begriff „Wortwechsel“ mit „Zank“ gleich zu stellen sei und ein Zank war nicht entstanden, so viel sie wußte und an der Thür erhorcht hatte. Dazu war aber der gnädigen Frau auch gar nicht Zeit geblieben, nach ihrer Meinung.

„Nein,“ sagte sie plötzlich entschieden. „Meine Damen zankten nie mit einander. Wenn sie nicht einer Meinung waren, so schwiegen sie still und ließen die Sache auf sich beruhen. So schien es mir auch gestern. Das Fräulein sah zum Fenster hin und [474] Frau von Kurow blickte sehr ernsthaft vor sich nieder, als ich sie Beide verließ. Ich trat erst wieder in’s Zimmer, als das Fräulein Hülfe herbei rief.“

„Wie lange blieben die Damen allein?“

„Ungefähr zwanzig Minuten –“

Der Beamte sah sie etwas verwundert an.

„Nur zwanzig Minuten –? Und vorher war Frau von Kurow ganz gesund?“

„So gesund, wie ich jetzt vor Ihnen stehe.“

Der Actuar, ernst und gemessen in den Schranken bleibend, die seine Stellung ihm vorschrieb, sprach leise und beschwichtigend: „Ein Schlagfluß braucht weniger als zwanzig Minuten, um das blühendste Leben zu vernichten.“

„Glauben Sie denn bei diesen Indicien noch an Schlagfluß?“ fuhr der Rath auf. „Ich werde eine Obduction anordnen und zu diesem Behufe mit dem Hausarzte, dem Doctor Müllendorf, Rücksprache nehmen.“

Der Actuar zuckte die Achseln. Er mußte sich den Anordnungen fügen, die sein Vorgesetzter für gut fand.




Unmittelbar von der Behausung der Frau von Kurow begab sich der Rath, nachdem er seinen Actuar verabschiedet hatte, in die Wohnung des Doctor Müllendorf, den er glücklicherweise daheim fand.

Die Stirn des Arztes zeigte Wolken, welche gleichmäßig einer Sorge und einer unbehaglichen Ungeduld entsprungen zu sein schienen. Sein Wesen, sonst ruhig und vorherrschend freundlich, war zerstreut und hastig und er trat dem Criminalbeamten sogleich mit einer jener Bewillkommnungen entgegen, die eine unangenehme Ueberraschung verräth.

Der Rath machte ein schlaues Gesicht. Man sah ihm an, daß er sein beliebtes „Aha!“ dachte, wenn er es auch für diesen Augenblick nicht aussprach, als er dem Arzte schnell erwiderte:

„Was mich zu Ihnen führt? fragen Sie, Herr Doctor. Ich komme aus dem Hause der Frau von Kurow!“

Die Wichtigkeit seines Accentes, womit er diese Worte sprach, wurde vom Arzte nicht verstanden.

„Das ist ein trauriger Todesfall, lieber Herr,“ rief er bewegt aus. „Und um so trauriger, als wir dabei vor einem Probleme stehen bleiben werden, das unter der Grabesnacht seine Lösung verbirgt. Ich habe alle Ueberredung versucht, um das Fräulein zu einer Leichenöffnung zu bestimmen – sie widersetzt sich jedoch meinem Vorhaben mit einer seltsamen Hartnäckigkeit.“

„Aha!“ rief der Rath überrascht und rieb sich die Hände. „Sie werden sich aber hoffentlich nicht an Fräulein von Kurow kehren?“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Mir fehlt die Macht, hier zu bestimmen.“

„Da könnte ich helfen! Woran denken Sie bei diesem Tode? Welche Ursachen legen Sie ihm unter?“

Der Arzt bewegte unbehaglich seinen Kopf, und drückte damit schweigend seine Unwissenheit aus.

„Eine kerngesunde Frau,“ murmelte er. „Unerklärlich! Eine Constitution, um einem Jahrhunderte Trotz bieten zu können –! Es müssen wunderbare Einflüsse einem keimenden Fehler ihres Organismus nachgeholfen haben, um diese schnelle Zerstörung zu bewirken.“

„Nachgeholfen haben,“ wiederholte der Rath mit Betonung. „Sie drücken sich problematisch über dieses Problem aus. Wie finden Sie Fräulein Kurow’s Benehmen überhaupt?“

„Verzweiflungsvoll über jeden Begriff!“ rief der Arzt. „Ihre Fassung bricht bei dem geringsten Anlaß zusammen, und macht sie fast hülflos. Es ist ein trauriges Schauspiel! Dazu kommt nun noch, daß der Herr von Schlabern ebenfalls einer so tiefen und schmerzlichen Bewegung hingegeben ist. Ich bin heute von ihm zu dem Fräulein gefahren und von dem Fräulein wieder zu ihm, um nur einigermaßen das Gleichgewicht wieder herzustellen, das den furchtbar aufgeregten Nerven der beiden jungen Leute Haltung geben muß.“

„Aha – Beide!“ entgegnete der Rath gezogenen Tones. „Der junge Herr stimmt natürlich auch gegen die Section?“

„Im Gegentheile! Er beschwört das Fräulein, dem Grunde des jähen Todes nachforschen zu lassen. Seine Phantasie spiegelt ihm Möglichkeiten vor, die ihn auf Lebenszeit beunruhigen würden – er glaubt sich die Schuld an Frau von Kurow’s Tod beimessen zu müssen.“

„Aha –! Das heißt direct oder indirect?“

Der Arzt sah ihn stutzend an. „Direct? Wie verstehe ich das, Herr Rath? Halten Sie ihn für den Mörder der Dame?“

„Auf eine Weise gewiß,“ meinte der Rath bedenklich, aber dennoch zögernd.

Im Gesichte des Arztes prägte sich tiefer Abscheu aus.

„Solche Auslegung kann ich nur dem eingefleischten Criminalisten verzeihen!“ rief er empört. „Wo sollte der junge Mann wohl Mittel zu einer That erlangt haben, die in ihren Folgen –“

„Erlauben Sie,“ unterbrach ihn der Rath hastig, „mein Verdacht ruht weniger fest auf Herrn von Schlabern, als auf –“

„Sprechen Sie nicht aus,“ fiel der Arzt zornig ein.

„Warum nicht? Was wäre in der Jetztzeit wohl unmöglich?“ versetzte der Rath kaltblütig. „Ich habe erfahren, daß Mutter und Tochter eifrige Verehrerinnen des Dumas’schen „Monte Christo“, also vollkommen mit Giftgeschichten vertraut waren. Ich habe erfahren, daß die Mutter im Begriffe gewesen ist, ihr hübsches Vermögen an einen Mann zu verheiraten, der eher für die Tochter paßte, als für sie. Ich habe erfahren, daß die Tochter, welche sich seit mehreren Monaten bei einer reichen Großtante aufzuhalten von der Mutter gezwungen war, plötzlich wieder gekommen ist und gleich von einer Krankheit der Mutter geredet hat, obwohl diese ganz gesund gewesen ist. Ich habe erfahren, daß die Tochter Alles angewendet hat, um die Aufmerksamkeit des jungen Edelmannes von der Mutter abzuziehen und auf sich zu lenken. Ich habe erfahren, daß gleich nach der Entfernung des Herrn von Schlabern eine bedeutende Mißstimmung zwischen den beiden Damen eingetreten sei, daß sich danach Fräulein Lucilie geflissentlich dazu gedrängt habe, eine Limonade für ihre Mutter zu bereiten, daß Frau von Kurow diese Limonade „seltsam schmeckend“ gefunden, daß sich ein verrätherischer bitterer Geruch im Zimmer verbreitet und Frau von Kurow von Erstickungskrämpfen befallen worden sei. Was sagen Sie nun, mein hochgeehrter Herr Doctor?“

„Nichts weiter, als daß jetzt die Obduction der Frau von Kurow eine Nothwendigkeit wird,“ entgegnete der Arzt mit allen Zeichen großer Entrüstung. „Jeder Kampf gegen Ihre Meinungen würde nutzlos sein. Ich werde sogleich Maßregeln treffen, um, mit oder gegen des Fräuleins Willen, morgen in der frühsten Stunde eine Leichenöffnung anzuordnen, und ich ersuche um Ihre Gegenwart, jedoch ohne Actuar.“

„So glauben Sie nicht an strafbare Angriffe auf das Leben der Dame?“

„Ich glaube an ein Unglück, mein Herr,“ erklärte der Arzt mit Zuversicht.




Als der Arzt sich allein befand, überblickte er nochmals schaudernd die aufgestellten Verdachtsgründe, womit das menschliche Vorurtheil zwei junge Menschen belastet hatte. So zuversichtlich er zuerst dem Beamten gegenüber jede Möglichkeit in Abrede gestellt hatte, so schwankend wurde er bei der nähern Prüfung, und wenn sich auch sein Herz noch immer fest und entschieden dagegen auflehnen wollte, sein Verstand nahm nach und nach Zweifel in sich auf. Die zerstörende Gemüthsaufregung des Fräuleins – sprach sie nicht von Reue und Verzweiflung? Des jungen Edelmannes tiefsinnige, schmerzliche Klage – verrieth sie nicht Gewissensbisse?

„Mein Gott, wenn das Urtheil der Welt Recht hätte!“ rief der Arzt, schauerlich bewegt. Es trieb ihn auf und hin zu der Stätte, wo sein reges Mitgefühl vielleicht an Unwürdige verschwendet worden war.

Obwohl noch keine Stunde verflossen war, seit er Fräulein Lucilie verlassen hatte, so empfing ihn die junge Dame dennoch mit der Aufregung und Hast, womit man Langerwartete begrüßt. Der Arzt beobachtete sie scharf. Was ihm bis dahin als Nervenaffection erschienen war, erhielt jetzt für ihn einen anderen Charakter. Die Ruhelosigkeit ihres Wesens zeigte weniger die Leidenschaft eines innern Schmerzes, als die Angst um einen Gegenstand an, der noch irdischer Sorge bedürftig war. Der Druck, der auf ihrer Seele lag, erschien ihm außerhalb der Grenzen, die ihr Verlust umzog. Ihr Auge wies keine Thränenspuren mehr auf, sondern das flackernde Licht der Spannung. Ein Schauer überlief den wackern Doctor, der in diesen Gesellschaftskreisen noch niemals dem [475] Verbrechen begegnet war. Sein Herz wurde kalt unter diesen Wahrnehmungen, und sein Benehmen nahm eine herbe Schroffheit an.

„Ich habe vorhin, wider meine bessere Einsicht, Ihrem Willen nachgegeben,“ begann er gemessen und forschend, „aber es sind Umstände eingetreten, die es erheischen, daß ich Ihre Frau Mutter secire.“ – Lucilie fuhr erschrocken in die Höhe und starrte ihn verstört an.

„Wie –? Verstehe ich Sie recht?“ stammelte sie schaudernd, „Sie müssen, Sie wollen durchaus –?“

„Ja, ich muß, mein Fräulein,“ setzte er fest hinzu, von dem sichtlichen Entsetzen der Dame ungerührt, Lucilie sank zurück in ihren Sessel und verhüllte ihr Gesicht mit beiden Händen. Es entstand eine peinliche Pause, in welcher der Arzt mit sehr schmerzlichem Gefühle die furchtbare Möglichkeit einer Schuld näher in’s Auge faßte. Plötzlich richtete sich das Fräulein auf. Ihr Auge strahlte in dem Glanze verzweiflungsvoller Festigkeit und ihre Wangen rötheten sich unter der Heftigkeit, mit der sie ausrief:

„Und ich hätte nicht die Macht, dieser unheilvollen Section zu widerstreben, Herr Doctor? Wer kann mich zwingen, darein zu willigen, daß die theure Leiche zum Besten der Wissenschaft preisgegeben werde? Ich versage meine Einwilligung – ich will es nicht! Wagen Sie einmal, gegen meinen Befehl meine Mutter mit dem scheußlichen Messer zu berühren. Wagen Sie den Versuch. Nur über meine eigene Leiche geht der Weg zu dem leblosen Körper, der Ihre Wißbegierde reizt. Was nützt Euch armen kurzsichtigen Aerzten denn die Erfahrung, die Ihr durchaus sammeln wollt? Könnt Ihr den Organismus wieder beleben, wenn er nun seine Functionen eingestellt hat? Oder könnt Ihr vorbeugen, daß die Blutwellen nicht stillstehen, wenn sie einmal still stehen sollen? Ihr armen Sterblichen, Ihr vermögt kein Leben zu retten, das dem finstern Grabe verfallen ist! Euer Wissen wird bereichert von Tage zu Tage, aber Eure Geschicklichkeit bleibt dennoch auf der Grenze menschlicher Vollkommenheit. Ich werde nie, nie dulden, daß –“

„Sie werden sich der gerichtlichen Verfügung unterordnen müssen, mein Fräulein,“ unterbrach sie der Doctor kaltblütig.

Lucilie sah ihn groß an, ihr Blick verlor alles Leben und allen Glanz.

„Gerichtliche Verfügung?“ wiederholte sie tonlos. Der Arzt seufzte tief auf bei dieser furchtbaren Veränderung ihres Wesens. Sie war ihm ein Beweis für des Gerüchtes Wahrheit.

„Ja,“ erwiderte er hart. „Man hat Verdacht gefaßt, daß der Genuß irgend einer Speise oder eines Getränkes den Tod der Frau von Kurow veranlaßt hat.“

Lucilie legte mit sprechender Ergebung ihre Hände zusammen.

„Thun Sie also, was Sie nicht lassen können,“ flüsterte sie. „Mein Wort darauf, daß meine Mutter nur genossen hat, was ich sowohl, als unser Gast, Herr von Schlabern, gegessen hat –“

„Sie erlauben,“ fiel der Arzt voreilig ein, „haben Sie auch von der Limonade getrunken, die Ihrer Frau Mutter verabreicht worden ist?“

Das Fräulein blickte sinnend und träumerisch auf. Ihr bleiches Gesicht erschien einen Augenblick von Verwunderung belebt.

„So viel ich mich erinnere, hat meine Mutter gar keine Limonade getrunken.“

Der Doctor erhob sich entrüstet. Eine Gegenrede wäre nicht statthaft gewesen, deshalb ließ er das Gespräch fallen. Aber welche Wirkungen eine Ableugnung von Thatsachen, die nach seiner Meinung vom Criminalbeamten schon festgestellt waren, hervorbringen mußte, ist unnöthig, zu erörtern. Fräulein Lucilie schien die veränderte Stimmung ihres Arztes gar nicht zu bemerken. Als er Miene machte, aufzubrechen, rang sie sichtlich mit ihrer Schüchternheit, die sie verhindern zu wollen schien, eine Frage an ihn zu richten. Endlich nahm sie ihren Muth zusammen.

„Haben Sie Herrn von Schlabern gesprochen?“ flüsterte sie stockend.

Der Arzt sah sie fest an, als er entgegnete: „Ja. Sein Zustand ist bejammernswerth! Trägt dieser junge Mann eine Schuld in sich, so wird er sich niemals darüber beruhigen. Er ist von so hervorstechend sanguinischem Charakter, daß er sich zu den extravagantesten Schritten verleiten lassen könnte, um ein Unrecht zu sühnen. Ich möchte wohl die Gründe einer so überwältigenden Trauer, die an Unmännlichkeit grenzt, kennen,“ fügte er mit einem lauernden Blick auf Lucilie hinzu.

„Beurtheilen Sie ihn nicht falsch,“ bat diese mit sanftem Tone. „Freilich liegt nur eine eingebildete Schuld zu Grunde, allein die seltsame Fügung der Verhältnisse rechtfertigt seine Seelenstimmung. Die Pläne, die meine Mutter mit ihm vereint entworfen zu haben scheint, stürzten zu jähe darnieder, um nicht selbst eine männliche Fassung erschüttern zu können. Es wird gewiß noch Alles gut, wenn er sich nur vor übereilten Schritten hütet.“

„Für jetzt ist er aller Handlungsfähigkeit enthoben,“ entgegnete der Arzt. „Er liegt zu Bette, und wenn die Pein seines Zustandes nicht durch zufriedenstellende Nachrichten gemildert wird, so ist eine Nervenkrankheit zu fürchten.“

Lucilie, schon lange wieder auf der Stufe der Trauer stehend, wo Thränen unausbleiblich sind, brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, und preßte die Hände gefaltet, gegen ihre heiße Stirn, indem sie flüsterte: „Was soll ich thun? Was soll ich thun? O, meine Mutter, daß Du hast sterben müssen mit dem unerfüllten Wunsche im Herzen, der mein Glück bezweckte!“

Der Doctor, kühl geworden gegen die leidenschaftlichen Ausbrüche eines Schmerzes, welcher ihm jetzt erheuchelt vorkommen mußte, verbeugte sich schweigend und verließ sie. Seine Zweifel waren nicht geschwunden nach dieser Unterredung, sondern gewachsen. Die Kraft des Vorurtheils ist dämonisch, sie steigt, unter dem Einflusse einmal geweckten Mißtrauens, mit Riesengewalt und erdrückt jeden guten Gedanken.


Während der Doctor Müllendorf mit seinem finstern Schweigen das Emporwallen einer verdienten Verachtung zu bezeichnen für gut befunden hatte, saß Lucilie nach seiner Entfernung so tiefsinnig betrachtend und in sich versunken da, daß sie kaum ihr Alleinsein bemerkte. Ihre Seele war nur von einem Gedanken eingenommen, und in diesem concentrirte sich der Schmerz des erlittenen Verlustes und die Furcht, ein Glück zu verlieren, das ihr kaum geboten, aber in der flüchtig süßen Erwartung von unbeschreiblicher Einwirkung geworden war. Die Stunden des peinlichen Grames hatten das Gefühl ihres Verlassenseins geschärft und dadurch dem Bilde des Mannes, welchen sie mit gläubiger Zuversicht als den zu betrachten berechtigt zu sein glaubte, den ihre Mutter für sie bestimmt hatte, einen sichern Eingang in ihr unbewachtes Herz eröffnet.

Die Sonderbarkeit der Trauer, der sich Clemens von Schlabern hingab, schien dies Glück im Keime zerstören zu wollen: er betrachtete sich allen Ernstes als die Ursache einer tödtlich gewordenen Gemüthsbewegung und hatte in diesem Wahne Worte fallen lassen, die einen überspannten Entschluß und eine ewige Entsagung vollständig verriethen. Was Lucilie dabei empfand, trug so sichtlich den Charakter eines leidenschaftlichen Kummers, daß sie sich nicht unklar über die Empfindungen bleiben konnte, die Clemens gewaltsam in ihr erweckt hatte. Aber da er seinen schreckhaften Plänen keine ausgedehnteren Erklärungen hinzufügte, so mußte sie schweigend über ihr junges Glück das ergehen lassen, was dasselbe wieder in sein Nichts zurückwarf.

Sie verlor also mit ihrer Mutter zugleich einen Freund derselben, der nach ihrer Meinung unersetzlich war und der einen Werth für sie gewonnen hatte, welcher alle anderen Freunde in den Hintergrund drängte.

Wäre sie in ihrem sonst klar besonnenen und ungetrübten Seelenzustande gewesen, so würde sie von den unangemessenen Selbstanklagen des jungen Mannes betroffen geworden sein und ein ruhiges Nachdenken ihr Urtheil so weit erkräftigt haben, um ihr die Augen über die frühere Verbindung, die solche Selbstanklagen statthaft machte, zu öffnen, allein da ihr jetzt jeder leitende Fingerzeig fehlte und sie, von den Schrecknissen der Gegenwart umflort, keiner Reflexion fähig war, so legte sie die übernatürliche Zartsinnigkeit des Herrn von Schlabern, die ihn einer unmännlichen Verzweiflung überlieferte, auf echt weibliche Art entschuldigend aus und wünschte nur zu seiner Beruhigung beitragen zu können.

Dieser Wunsch steigerte sich nach der Berichterstattung des Arztes, der ihn, auf ihre Bitte, hatte besuchen müssen. Sie fühlte sich ergriffen, überwältigt und hingerissen zu einem Entschlusse, der freilich gewagt war, da sie seinen Herzenszustand in Bezug auf sich nicht feststellen, sondern nur ahnen konnte.

Daß ihre Mutter die Absicht gehabt haben könnte, etwas Anderes zum Schlusse ihrer begonnenen Eröffnung zu sagen, als: „Was würdest Du sagen, wenn ich Dir den Herrn von Schlabern [476] als Gatten verschlüge –?“ fiel ihr gar nicht ein. Eine zwanzigjährige Tochter glaubt niemals an die Möglichkeit einer Liebe, welche eine, selbst jugendlich denkende Mutter zu einem jüngeren Manne in sich pflegen könnte. Für die Tochter ist die Mutter in ein Stadium des Alters getreten, wo jede Anwartschaft auf solche Verhältnisse und jede Hoffnung auf Herzensglück den Schein der Lächerlichkeit gewinnt. Die Beziehung, in der sie von der zartesten Kindheit an zu ihr steht, schließt, mit der Achtung zugleich, jede Herzensbewegung für einen andern Mann, als für den, welchen sie Vater genannt, aus und stellt sie, über solche Schwächen erhaben, in die Regionen kühler Ueberlegung.

Daß also Frau von Kurow dergleichen Pläne und Entwürfe mit sich herumgetragen, fiel Fräulein Lucilie nicht im Traume ein und daß Herr Clemens, der junge liebenswürdige Cavalier, der sogleich das unversuchte Herz der Tochter im Sturme erobert hatte, jemals mit Wärme verrätherischer Art der Mutter gehuldigt haben sollte, der Gedanke würde sie empört haben.

Still und gedankenschwer saß sie, eine Stunde nach dem Abschiede des Doctors, vor ihrem Schreibtische – ein leeres Blatt vor sich, eine Feder in der Hand – mit dem besten Willen, das ihr zu Gebote stehende Mittel zur Beruhigung anzuwenden, und dennoch zögernd und zurückschreckend vor dem Worte. Es war ihr, als triebe eine innere Macht sie zum Schreiben, als flüstere der Mutter liebe gütige Stimme Muth in ihr verzagtes Herz, als richteten geängstigt ein paar Augen sich bittend und flehend auf sie. Die Stille der Nacht herrschte im Hause. Alles schlich leise, um nicht durch lauten Klang die traurige Ruhe zu stören.

Lucilie hielt krampfhaft die Feder zwischen den Fingern. „– Was soll ich thun –?“ flüsterte sie immer wieder und wieder. Traumhaft umwehete es sie. Die Feder senkte sich auf das Papier – sie schrieb.

Was sie geschrieben, wußte sie nicht. Ein Bedienter mußte den Brief noch zum Hause des Herrn von Schlabern befördern. Dann umfing seliger Frieden das arme junge Mädchen und sie sank in einen betäubenden Schlaf, der sie aller Schrecknisse der Erde entführte.




Der Zustand des Herrn von Schlabern war wirklich beklagenswerth und wenn der Doctor Müllendorf tiefer in dies zerrüttete Herz hätte sehen können, so würde er andere Recepte für ihn verschrieben haben. Die Erziehung des jungen Herrn war nach Mustern idealer Weltanschauung geleitet worden und hatte ihn auf eine Höhe von Anforderungen an Ehrgefühl hinaufgeschraubt, wo dies auf der Grenze zur männlichen Altjüngferlichkeit steht. In seinem Herzen nagte der Wurm, welchen das Gewissen hineingeschleudert hatte. Mit diesem Schmerze hätte er vielleicht doch noch einen Kampf gewagt, wenn ihm nicht die Ansprüche der Ehre jede Aussicht auf späteres Glück in der Verbindung mit Lucilie versperrt hätten. Einer energischen Auffassung der gegenwärtigen Verhältnisse war er nicht fähig, und noch weniger würde er einen Kampf mit dem Urtheile der Welt gewagt haben.

Der Tod der Frau, die während einiger Monate der offenbare Gegenstand seiner Huldigungen gewesen war, beraubte ihn also nach seiner festen Ueberzeugung des Glückes, Lucilien, die er leidenschaftlich bereitwillig an die Stelle ihrer Mutter gesetzt hatte, lieben zu dürfen. Dieser Gedanke, vereint mit der Furcht, daß seine sichtbargewordene Wankelmüthigkeit des Herzens der Frau von Kurow tödtliche Gemüthsaufregungen verursacht haben könne, brachte ihn in eine Seelenstimmung, dem Wahnsinne sehr nahe. Ihm erschien als der einzige Ausweg aus diesem Labyrinthe sein eigener Tod und er war nur allzubereit, die Bürde, die ihn peinigend drückte, damit abzuwerfen. Die Thorheit seines Beginnens, die jedem vernünftigen Menschen klar war, wurde von ihm mit dem Glanze aufgeputzt, den die falschen Begriffe von Ehre in Bezug auf die socialen Verhältnisse der Welt in ihm erzeugten.

Ein Freundeswort hätte gewiß den Nebel verscheucht, der seine sonst gesunden Sinne umflort hielt, aber ihm fehlte ein Freund. Er stand allein, fern von den Seinen, jeder Stütze beraubt, die ihm auf seiner idealen Höhe einen irdisch festen Halt geben konnte. Seine wilden unsinnigen Entschlüsse erstarkten an dem Glauben, mit dieser Handlung entsühnt vor der Welt und vor Lucilie, die ihn nach den Vorgängen mit ihrer Mutter zu verachten Ursache hatte, dazustehen.

Sein Kampf mit der Liebe zum Leben war jedech nicht leicht. Die schönen, friedlichen Bilder des Glückes, das vom Schicksale schon seiner Wiege bestimmt war, umschwebten ihn verlockend und mahnten ihn, fern von dieser Unglücksstätte erst eine Heilung seines schwer verwundeten Herzens zu suchen. Was wußte man dort in der Heimath von dem Makel, den er sich in der unmännlichen Untreue seines Herzens aufgeladen hatte?

Minutenlang schwankte er, aber immer nur um dann mit verstärkter Sehnsucht nach dem Hafen zu schauen, wo ihm ohne Kämpfe sogleich eine ewige Ruhe winkte, wo er mit seinem Blute den Flecken abgewaschen, der seine Ehre verunglimpfte. Der Einfluß dieser Selbstmordsgedanken ist sinnberaubend. Der Wahn hält die Thatkraft in seinen Banden. Das Licht der Wirklichkeit kann die Schleier der Einbildungen nicht durchbrechen. Mit dem Dunkel des Abends gewannen die bösen Gedanken neue Kräfte. Clemens schrieb an seine Mutter und suchte seine Pistolen hervor. Ruhelos durchschritt er sein Gemach. Sein Entschluß stand wohl fest, aber der Abschied vom Leben wurde ihm schwer.

Luciliens Bild drängte sich vor seine Seele, wenn er in dem tröstlichen Wiedersehen mit ihrer Mutter Kraft zu finden suchte; die beschwichtigenden Worte, die sie mit schüchterner, süßbewegter Stimme zu seinem Troste ihm zugeflüstert hatte, wollten mit Macht seinen Vorsatz ändern, allein er blieb fest und setzte die Minute an, in welcher er die tödtliche Waffe auf sich richten wollte.

Der Zeiger rückte langsam vor. Das Gesicht des jungen Mannes wurde bleicher, aber das Lächeln seines Mundes siegreicher und sein Auge strahlender. Er nahm die eine Pistole in die Hand – die zweite legte er zu seiner Rechten. Es fehlten noch hundertundzwanzig Secunden. Sein Auge hing ruhig an der Zahl, die der Schlußstein seines jungen Lebens war, sein Finger lag an dem Hahne der Mordwaffe – er war nur noch die leblose Maschine seines festen Willens, aber er fühlte sich dunkel von einem göttlichen Frieden durchdrungen. Noch fünfzig Secunden! Es klopfte! Wild auf schäumte sein Blut. „Drücke los!“ schrie eine Stimme in ihm. „Welche weltliche Macht kommt, deine Paradiesesseligkeit zu stören – drücke los!“ – Es klopfte abermals und eine Männerstimme sagte: „Ein Brief von Fräulein Lucilie, gnädiger Herr!“ –

Mechanisch legte er die Pistole nieder – mechanisch erhob er sich und schritt zur Thür – mechanisch nahm er dem Diener den Brief ab und schloß wortlos die Thür wieder. Wie im Traume öffnete er das Couvert. Zwei Briefe fielen heraus. Seine Hand faßte zufällig den ersten und er las:

„Dem Zetergeschrei der Prüderie zum Trotze wende ich das einzige Mittel an, das Sie beruhigen und von einem Wahne heilen kann, der Ihre Gesundheit bedrohet. Ihr krankhaft überreiztes Zartgefühl hat sich nach meinen Berichten über die Gemüthsbewegungen meiner theuren seligen Mutter gespenstische Einbildungen geschaffen, die vor der ruhigen Wahrheit verbleichen werden und ich will Ihnen die Schilderung der Wirklichkeit deshalb nicht länger vorenthalten. Mit eben dem Rechte, wie Sie sich die Schuld an dem Tode der geliebten Verblichenen aufbürden, würde ich die Pein und Qual dieses Gedankens auch tragen müssen, denn mit meinem Glücke beschäftigt wuchs die Bewegung ihres kranken Herzens und noch ehe sie die Frage liebevoll vollenden konnte: „was würdest Du sagen, wenn ich Dir den Herrn von Schlabern als Gatten vorschlüge?“ – entfloh ihr Geist. Lesen Sie den letzten Brief, den meine Mutter mir schrieb. Er athmet schon ein krankhaftes Wesen, das ihrer weltlich lebendigen Seele sonst ganz fremd gewesen ist. Wenn die Offenbarung der letzten, bis dahin fest verschwiegenen Worte meiner Mutter, ihren Einfluß bewährt hat, dann ist ihr Zweck erfüllt. Senden Sie mir morgen den Brief zurück – es ist die theuerste Reliquie der vernichteten Muttersorge.“

Jetzt erwachte Clemens zum Bewußtsein der tiefen Bedeutung, welche dieser Brief auf seinen mörderischen Vorsatz geübt hatte. Schaudernd irrte sein Blick von dem Papiere zu dem Tische hin, wo seine Pistolen in kampffertigem Zustande lagen. Zitternd vor Erwartung nahm er den zweiten Brief, der Luciliens Meinung von den Absichten ihrer Mutter unterstützen zu wollen verhieß: –

„Mein theures Kind! In fieberhafter Spannung fliegen meine Gedanken zu Dir! Komm zurück. In acht Tagen erwarte ich Dich. Du sollst sehen und prüfen. Dein Glück steht mir höher, als meine Wünsche! Der erste Eindruck entscheidet,
[477]

Aufwickelung des Telegraphentau’s im Rumpf des Schiffes „Agamemnon.“



deshalb sage ich Dir gar nichts. Aber meine Nerven beben in der Erwartung und ich würde mich für krank erklären, wenn ich nicht gesund wäre. Komm nur und höre und sieh selbst. Dein Urtheil hat hier größeres Gewicht und meine weitgreifenden Pläne hängen von Deinem Worte ab. O, mein theures Kind – ein kleines erbärmliches Wort nur – und dabei der Schlüssel zu einem unendlichen Glücke. Mich verlangt nach Dir!“

Dieser Brief und dann die Frage, die kaum vollendete Frage der Verstorbenen? Jauchzend erkannte das Herz des jungen Mannes die Wahrheit der Meinung an, die Lucilie sagte, und das Gewicht seiner Schuld sank von seiner bedrückten Brust herab. Er [478] las den Brief des jungen Mädchens zwanzig Mal hinter einander – er fand keinen verrätherischen Hauch eines wärmeren Gefühles darin, als allgemeine Menschenliebe, und doch, doch preßte er ihn an seine heißen Lippen, und doch war er ihm ein sicheres Document ihrer Liebe, dennoch eine süße Verheißung zukünftigen Glückes.

Dann richtete sich sein Geist auf die letztverflossenen Stunden. Da lagen die Waffen, die seinem Leben ein Ende bereiten sollten. Besonnen geworden fühlte er sich jetzt beschämt von dem knabenhaften Verzagen, das ihn zu so excentrischen Gedanken gebracht hatte. Eilig und behutsam brachte er die Pistolen in Sicherheit. Eine Stunde früher hatte seine empörte Ehre sich aufgesteift und eine Tugend aus seinem Lebensopfer gemacht, jetzt trat mahnend die Vernunft in ihm auf. Der Brief an seine Mutter wurde schnell der Flamme überantwortet. Als die verkohlten Ueberreste vor ihm lagen und vom Hauche seines Mundes emporstäubten und in ihrem vernichteten Dasein an irdische Vergänglichkeit erinnerten, da überschlich ein Grausen seine Seele. Hatte er ein Recht gehabt, sein Leben um einer einzigen Schwachheit willen feigherzig aus dem Strome der Zeit in den Hafen ewiger Ruhe zu senden? Sein Stolz beugte sich und sein Verstand trat siegreich in die Schranken. Er war gerettet, so wie er nur, aus dem Chaos wirrer und unklarer Begriffe von Männerehre erwachend, sein unheilvolles Beginnen zu erkennen fähig war. Er schauete nun mit neuer Geisteskraft vorwärts und die Nebelbilder, die hinter ihm lagen, verloren an Macht mit jeder Secunde, die über den Zeitpunkt hinausliefen, welchen er sich zum Endziele seines Daseins gesetzt hatte.

Nachdem er wieder zur Besinnung gekommen war, überlegte er die Schritte, die ihm oblagen, um sein späteres Glück zu sichern. Unbedingtes Vertrauen gegen Lucilie war nothwendig, auch wenn sie damit den Zweifeln überantwortet und ihm abgeneigt werden sollte. Ihr schönes, edelmüthiges Schreiben, dem die feinste und wahrhafteste Sittsamkeit einen fesselnden Zauber verlieh, bahnte den Weg dazu an, allein die Gegenwart eignete sich nicht zu solchem Vertrauen. Er beschloß, seine Abreise nach dieser Wendung seines Schicksales zu beschleunigen und in einem Briefwechsel den Faden zu späterer Anknüpfung in die Hand zu nehmen.

Ein Mal, ein einziges Mal wollte er dies Mädchen, welches den erborgten Jugendglanz der Mutter in Wirklichkeit trug, noch sehen, einmal seinen Augen eine Bitte erlauben und dann fest und kräftig der Trennung auf ungewisse Zeit entgegen gehen.

Trost und Frieden senkte sich in sein Herz. Die Nacht hatte ihre Schrecknisse und ihre dämonischen Träume verloren und das Bild der Frau, das ihm bis dahin drohend, mit strengen Blicken vor der Seele geschwebt hatte, hüllte sich in die Schleier der Vergessenheit.


Mit ganz andern Empfindungen betraten die Aerzte am nächsten Morgen das Haus der Frau von Kurow. Was vom Mißtrauen gesäet war, hatte die Nacht mit ihren finstern Grübeleien zur glänzendsten Ernte reif gemacht. Der Zorn in des Menschen Brust, wenn er sich von Schlangenlist und Freundlichkeit überrumpelt glaubt, steigert sich gewöhnlich bis zum Grimme.

Der Doctor Müllendorf, seit Jahresfrist im Hause der Frau von Kurow als Arzl fungirend, hatte in den beiden Frauen dieses Hauses Ideale von Weiblichkeit verehrt. Die heitere, liebenswürdige Weltlichkeit der Mutter war ihm in dieser Manier eben so schätzenswerth erschienen, als die gediegene Charakterbildung der reizenden Tochter, und wenn er sich auch eingestehen mußte, daß Frau von Kurow in ihren Lebensansichten zu jugendlich verfuhr, daß sie weder ihr Alter, noch die Ansprüche ihrer Tochter berücksichtigte, daß sie zu wenig wittwenhaft nach dem Tode ihres vortrefflichen Gatten lebte und daß sie zu viel Prunk mit ihren verblühenden Reizen trieb, so zeigte die Dame doch eine so warme Offenherzigkeit in ihrem Thun und Treiben, daß man sich ganz unwillkürlich damit versöhnte. Luciliens ganzes Wesen war ihm stets edler erschienen. Ihre Züchtigkeit und Bescheidenheit in der Kleidung, ihre Zurückhaltung und Sinnigkeit bildete einen starken Contrast mit der leichten Koketterie der Mutter. Ihm war die Tochter viel, viel lieber gewesen, als die Mutter. Sein gereiftes Urtheil stellte Lucilie in die Reihen der vollkommensten Frauen, die mit gründlicher Bildung eine liebliche Weichheit und Schmiegsamkeit gepaart in sich zu tragen vermögen. Und er mußte jetzt, von verhängnißvollen Ereignissen getrieben, dies reine und edle Bild verunglimpft sehen, und er mußte, gedrängt von seltsamen Zufällen, zugestehen, daß alle die Eigenschaften, die er bewundernd anerkannt hatte, Maske eines schwarzen Herzens gewesen sein konnten.

Allerdings war es auffallend, daß Lucilie plötzlich von ihrer Reise zurückgekommen war, da nach den ausgesprochenen Plänen der Mutter die Rückkehr Luciliens von dem Tode der alten Großtante abhängig sein sollte. Von dem Briefe der Frau von Kurow wußte der Arzt nichts. Allerdings war es auffallend, daß die stadtbekannte Liaison der Frau von Kurow an diesem Tage eine besondere Weihe erhalten zu haben schien und mit einem so zähen, seltsam schnellen Tode endete. Allerdings war es auffallend, daß Lucilie schon von einer Krankheit gesprochen hatte, bevor nur das geringste Merkmal da war. Allerdings war es auffallend, daß das Fräulein nichts von einer Limonade wissen wollte, die sie selbst bereitet und verabreicht hatte.

Stumm und innerlich schmerzhaft traurig bewegt begann der wackere Doctor sein Amt, das ein Problem enträthseln sollte, wobei er ein gutes Theil Menschenliebe und Glauben und Vertrauen einzubüßen fürchten mußte – stumm und traurig, mit pochendem Herzen und ahnungsschwerer Seele förderte er den betrübenden Act, welcher der Wissenschaft eine Belehrung, dem Gemüthe aber eine tiefe Wunde beizubringen fähig war. Seine Hand zitterte leicht und sein Auge umflorte sich –. O, der kurzsichtigen Sterblichen, die weithin nach einer Ursache suchten und sie so nahe, so sehr nahe fanden. Gift, von einer liebevollen Tochter dargereicht, wollten sie finden – Gift suchten sie, und die irdische Gerechtigkeit hatte schon den Arm ausgestreckt, um die Mörderin zu fassen –! Und was war das Resultat ihrer ärztlichen Forschung? Frau von Kurow hatte die Kunst „sich jugendliche Anmuth und Grazie erhalten zu können“ mit dem Leben bezahlen müssen. Das gewaltsame Zusammenpressen hatte den Pulsschlag ihres Herzens gehemmt und der eingezwängte Blutstrom, in seiner gewohnten Circulation gestört, war aus seinen Fugen gewichen, wobei er auf alle Fälle und ohne die geringste Gemüthsbewegung todbringend sein mußte.

Die Gefühle der Männer, die bei dieser Erfahrung betheiligt waren, lassen wir unerörtert. Bei guten Menschen führt Beschämung zur Reue und weckt die Theilnahme für den, welchen man in Gedanken gekränkt hat, in erhöhtem Grade.

Der Doctor fühlte ein brennendes Verlangen, dem Fräulein mit treuherziger Wärme eine stumme Abbitte zu leisten, indem er sich mit Freundeseifer zu ihren Diensten stellte, allein bei näherer Beleuchtung fand er es angemessen, nicht unmittelbar nach dem von ihr mit Widerwillen betrachteten Acte der Section zu ihr zu gehen, sondern nur unverzüglich Herrn von Schlabern aufzusuchen, um diesen durch die Aufklärung des Sachverhältnisses zu beruhigen. Wie erstaunte er, als ihm der junge Mann ruhig, ganz genesen von seiner nervösen Aufregung, ganz curirt von der Fieberhitze der Angst und Beklemmung entgegen trat!

„Was ist hier geschehen?“ fragte er, ohne Zaudern seinem Erstaunen Worte gebend. „Ich fürchtete, Sie in Lebensgefahr zu finden – ?“

Herr Clemens befand sich in der weichen Stimmung eines Genesenden, worin das Vertrauen ganz unwillkürlich hervorbricht. „Es hätte sein können, daß Sie mich todt gefunden, Doctor,“ erwiderte er schnell.

Der Doctor schickte rasch seinen Blick rundum, als begriffe er, daß die Mordgewehre noch bereit lägen.

„Lucilie hat an mich geschrieben,“ ergänzte der junge Mann. „Der Brief kam noch zur rechten Zeit –“

„Das beste Recept wahrscheinlich zu späterer Glückseligkeit,“ bemerkte der Doctor trocken. „Ich bringe die Mittel zur Nachcur! Sie sind etwas bitter, werden aber Ihre Entschlüsse stärken und kräftigen.“

Er erzählte ohne Schonung das Gerede, welches Veranlassung zur Section gewesen und schloß mit den Resultaten derselben. Unter dieser Erzählung schwand die Weichheit und Ermattung, welche Clemens in Banden hielt, und ein schmerzhaftes Erstaunen bildete den schnellen Uebergang zu energischen Entschlüssen. Vom Einflusse der Zeit konnte nach seiner Meinung nun gar keine Rede mehr sein, sondern es galt ein ehrliches und festes Hervortreten aus dem Schleier, der dem Publicum Verbrechen zu umhüllen schien.

Er theilte dem Doctor offen das ganze Sachverhältniß mit und er gewann sich dadurch an ihm einen Beistand auf Tod und Leben.

[479] Daß Frau von Kurow nur die Gesellschaft des jungen Edelmannes gesucht habe, um denselben für ihre Tochter zu prüfen, daran zweifelte der alte Praktikus sehr stark, obwohl Clemens alle Gründe dafür erschöpfte, aber er behielt seine Zweifel für sich, weil er mehr Schaden als Nutzen daraus erwachsen sah, wenn Lucilie die Wahrheit erfuhr.

Das Geständniß des jungen Mannes „von der Liebenswürdigkeit der Dame hingerissen, zu warmen Empfindungen verleitet worden zu sein, die jedenfalls nach kurzer Zeit das Unglück seines Lebens ausgemacht haben würden,“ begleitete er mit vielsagendem Kopfnicken.

„Der Tod ist hier als Retter aus unabsehbaren Mißlichkeiten aufgetreten,“ sprach er, indem er Luciliens Briefe zu lesen sich anschickte. Ein freundliches Wohlwollen überflog sein Gesicht, als er hinzufügte: „Fräulein Lucilie ist ein prächtiges Mädchen, lieber Herr von Schlabern, aber sie ist fähig, einer Maxime wegen ein ganzes, langes Leben voller Entbehrung auf sich zu nehmen, und ich behaupte, daß sie bei dem mindesten Zweifel an Ihrem Charakter niemals Ihre Gattin wird. Also rathe ich Vorsicht! Es gibt Lagen des Lebens, wo Schweigen besser ist denn Reden – und rasches festes Handeln zweckmäßiger, als zaghafte Bescheidenheit! Lassen Sie die nächsten Tage hingehen, bevor Sie das Fräulein besuchen – ich werde ihr den Brief der Mutter, den sie zurückverlangt, übergeben und damit den Grund zu einem vertraulichen Verkehr legen. Im Publicum baue ich auch vor. Die sorgliche Mutterliebe der seligen Frau von Kurow soll dabei nicht schlecht wegkommen. Man weiß, daß ich der Dame stets das Wort geredet habe und ein Verehrer ihrer Vortrefflichkeit gewesen bin – mag nun die Auslegung des Verhältnisses zwischen ihr und Ihnen als ein Document meiner richtigen Beurtheilung gelten.“

Herr von Schlabern sah die Weisheit dieses Vorschlages wohl ein, indeß sein ehrenhafter Sinn sträubte sich gegen einen Rückhalt, welcher bei späterm Vertrauen gegen das Fräulein einen Schatten auf seinen Charakter werfen mußte. Der Doctor schüttelte herzhaft den Kopf zu dieser Einwendung.

„Braucht denn eine Frau Alles zu wissen?“ fragte er ruhig. „Die Seele des Mannes trägt fester und sicherer ein Geheimniß, das sein Eheglück beeinträchtigen kann, wenn er es ganz und gar verbirgt, Tritt ein Hauch davon über seine Lippen, so widersteht er den Forderungen unbedingter Aufklärungen nicht, die eine geliebte Gattin an ihn macht. Was haben Sie denn zu gestehen? Nichts als Vermuthungen! Selbst Ihre eigene Hinneigung zu der liebenswürdigen Dame, die ein Jahrzehnt mehr zählte, als Sie, ist nicht der Rede werth. Man bewundert ja wohl einmal eine Dame – man fühlt sich angesprochen – man wird auch momentan warm –! Lieber junger Freund, Ihr Idealismus wird erst erbleichen müssen, ehe Sie ein vernünftiger Ehemann werden. Sie haben nun meine Ansichten gehört. Jetzt will ich zum Fräulein und forschen, wie sie denkt. Bevor ich Sie aber verlasse, fordere ich Ihr Ehrenwort, daß Sie niemals im Leben wieder zu dem verwünschten Medicament greifen, welches Pulver und Blei heißt.“

Clemens faßte, gerührt und beschämt zugleich, die Hand des wackern Arztes, die er ihm darbot, als er ihn verließ. Er fühlte seine Zuversicht auf günstige Entwickelungen der Verhältnisse steigen, seitdem er in demselben einen Rathgeber gewonnen hatte, und mit welchen Empfindungen schauete er nun rückwärts auf die Entschlüsse seines exaltirten Herzens! Wie geneigt wurde er, sich mit seinen überspannten und romanhaften Begriffen von Ehre zu belächeln! Wie verschieden war das Licht, welche seine Handlungsweise heute beleuchtete! Die Gluth der Einbildungskraft, die ihm das Sterben so leicht gemacht, war erloschen und ein Zeitraum von vierundzwanzig Stunden hatte hingereicht, einen totalen Umschwung aller Ansichten hervorzubringen und seinem Geiste eine neue Spannkraft zu verleihen.

Unter der Obhut des allgemein geachteten Doctors ebnete sich dann auch bald der Weg zur Vereinigung zweier Menschen, deren Lebenssterne eine merkwürdige Constellation zeigten. Lucilie erfuhr nichts, was ihre heilig stille Seligkeit stören konnte. Sie wurde in dem festen Glauben des Geliebten Gattin, daß der Segen ihrer Mutter dies Band geknüpft habe.




Sterben, Tod und Scheintod.

Sie sind „todt, gestorben, Leichen“ pflegt man von den sogenannten organischen oder belebten (lebenden, lebendigen) Geschöpfen, – zu denen nicht etwa blos die Menschen, sondern auch die Thiere und Pflanzen gehören, – zu sagen, sobald in ihnen der Stoffwechsel (s. Gartenlaube 1854. Nr. 9.) und mit diesem die Lebenserscheinungen erloschen sind. Da man nun die organischen Körper oder Organismen, also die Pflanzen, Thiere und Menschen, auch „beseelte“ nennt, so besteht noch der Gebrauch bei dem Tode derselben zu sagen: „die Seele sei entflohen.“ Man denke hierbei nun aber nicht etwa an ein unsichtbares, immaterielles Etwas, was wirklich aus dem sterbenden Körper forteilt, nachdem es während des Lebens als Lenker der Lebensthätigkeiten irgendwo im Körper residirte, sondern es ist damit nur angedeutet, daß durch irgend eine Ursache das die Lebensthätigkeiten veranlassende Zusammen- und Aufeinanderwirken der Körperstoffe und somit der Stoffwechsel aufgehoben worden ist. In diesem Sinne läßt sich anstatt des Wortes „Seele“ auch der Ausdruck „Lebenskraft“ gebrauchen. Von Vielen, ja sogar auch von den Gelehrten, die für und gegen den Materialismus schreiben, wird nun aber, jedoch ganz mit Unrecht, Seele gleichbedeutend mit „Geist“ gebraucht; von diesem ist natürlich hier durchaus nicht die Rede. Gebraucht man Seele in unserem Sinne, so hat also die Pflanze ebenso wie das Thier und der Mensch eine Seele, und es stirbt die Pflanze und wird zur Leiche gerade so wie das Thier und der Mensch.

Ein Organismus, wie der menschliche, stirbt (d. h. verliert den Stoffwechsel und mit diesem seine Thätigkeit) nicht in allen seinen Theilen in ein und demselben Momente. Bisweilen ist die Hirnthätigkeit (Bewußtsein, Gefühl, Verstand) bereits erloschen, während die Herz- und Lungenthätigkeit, sowie die Darmbewegungen noch eine Zeit hindurch fortbestehen. Dieses allmähliche und theilweise Absterben pflegt man mit dem Ausdruck „Agonie, Todeskampf“ zu bezeichnen und die dadurch erzeugten Erscheinungen, welche theilweise noch dem Leben, theilweise schon dem Tode angehören, nennt man Sterbe- oder Agonieerscheinungen. Je nachdem nun die eine oder die andere der hauptsächlichsten Lebenthätigkeiten früher als die übrigen wegfällt, danach hat man „einen Tod durch Ohnmacht, durch Stickfluß und durch Schlagfluß“ angenommen. Bei dem Tode durch Ohnmacht (Synkope) weicht die Herzthätigkeit zuerst, beim Stickfluß (Erstickung, Asphyxie) hört die Lunge und beim Schlagflusse (Apoplexie) das Gehirn zuerst auf thätig zu sein.

Die Lebensdauer des Menschen, welche nicht künstlich verlängert, wohl aber künstlich verkürzt werden kann, reicht beim naturgemäßen Verlaufe des Lebens gewöhnlich bis in die siebziger oder achtziger Jahre, bisweilen auch noch etwas weiter und der Tod erfolgt hier ohne vorhergegangene Krankheit, ohne nachweisbare besondere Ursache, sanft und allmählich oder rasch, merklich und mit Bewußtsein oder unvermerkt im Schlafe. Ein solcher Tod, durch Altersschwäche (Marasmus), ist der natürliche, normale, nothwendige. – Jede Todesart nun, welche von einer andern Veranlassung als der naturgemäßen Beendigung des Lebensprocesses (Stoffwechsels) herrührt, ist unnatürlich (abnorm, zufällig, frühzeitig) und erfolgt entweder durch Krankheit (durch falsches Vonstattengehen des Stoffwechsels), mehr oder weniger schnell, oder gewaltsam, durch äußere mechanische oder chemische Einflüsse. – Je nachdem nun beim unnatürlichen Tode die Sterbeerscheinungen mehr oder weniger deutlich hervorteten, längere oder kürzere Zeit andauern, bezeichnet man folgende Todesarten: einfacher Erschöpfungstod, bei welchem sich die Sterbeerscheinungen ganz allmählich aus schon vorhandenen krankhaften Zuständen entwickeln, so daß die Zeit ihres Beginns mit Bestimmtheit nicht ermittelt werden kann, und sich dann in mehr oder minder stetiger Aufeinanderfolge bis zum endlichen Erlöschen des Daseins steigern. Beim Sterben unter Todeskampf nehmen die Sterbeerscheinungen einen deutlich wahrnehmbaren Anfang und haben einen mehr oder weniger scharf begrenzten Verlauf. Der Tod wird ein langsamer oder rascher genannt, je nachdem die Sterbeerscheinungen längere oder kürzere Zeit währen. Beim [480] plötzlichen Tode beschränken sich diese Erscheinungen nur auf einen äußerst kurzen Zeitraum (auf einige Secunden bis Minuten) oder es fällt ihr Anfang sogar mit dem Erlöschen des Lebens zusammen. Unvermuthet tritt der plötzliche Tod ein, wenn demselben kein Kranksein vorherging.

Der plötzliche Tod, welcher vom Laien ganz mit Unrecht als Schlagfluß bezeichnet wird und den Betroffenen im Liegen, Gehen, Stehen, bei leichter und starker Bewegung oder Beschäftigung, beim Essen oder Stuhlgange überraschen kann, rührt nicht etwa immer von ein und derselben Ursache (besonders vom Hirnschlagflusse) her, sondern kommt ebenso häufig bei Lungen- und Herzkrankheiten, wie bei Hirnleiden zu Stande; auch können Gefäß-, Magen- und Darmübel, sowie acute Erkrankungen des Blutes einen solchen veranlassen. Ja es passirt gar nicht so selten, daß der Arzt vor der geöffneten Leiche eines plötzlich Verstorbenen steht und nirgends in derselben einen Grund zum Tode entdecken kann.

Die Sterbe- oder Agonie-Erscheinungen bestehen in Zeichen beginnender und vorschreitender Lähmung des Nerven- und Muskelsystems, gewöhnlich gemischt mit Symptomen der vorhandenen Krankheit. Gewöhnlich sterben die verschiedenen Apparate in einer bestimmten, ziemlich regelmäßigen Reihenfolge nach einander. Der Verlust der Muskelspannung gibt sich gleich anfangs durch Veränderung der Gesichtszüge und zitternde, kraftlose Bewegungen zu erkennen. Das blaßgelbliche Gesicht (das „Hippokratische“ genannt) wird lang, schlaff, eingefallen, das Auge eingesunken, starr, leblos und halbgeschlossen, die Nase spitz, schmal und mit eingefallenen Flügeln, die Wangen schlaff und runzlig, der Mund halb geöffnet, die Lippen trocken, das Kinn lang und spitz. Die Sprache wird schwach und zitternd; der Körper sinkt zusammen und im Bette herab; das Athmen ist schwach, oberflächlich, langsam und mühevoll, endlich aussetzend und röchelnd (d. i. das Sterberasseln); das Schlucken wird unmöglich und eingefülltes Getränk fällt wegen der Lähmung der Speiseröhre mit kollerndem Geräusche in den Magen; der Herzschlag wird immer schwächer und undeutlicher; der Puls, anfangs sehr beschleunigt, setzt endlich aus und wird fadenförmig schwach; oft geht wegen Lähmung der Schließmuskeln Stuhl und Urin unwillkürlich ab. Kälte und bisweilen kühler klebriger Schweiß zieht sich von Finger und Zehenspitzen gegen den Rumpf; der Gesichts- und Gehörsinn schwindet; Bewußtsein, Athmen und Blutkreislauf hören ganz auf und das Leben erlischt. – Manche im Todeskampfe Ringende behalten das Bewußtsein fast bis zum letzten Athemzuge, ja man will sogar bisweilen in den letzten Momenten des Lebens eine Steigerung der geistigen Thätigkeit bemerkt haben, wenigstens eine Rückkehr des vorher umnebelten Bewußtseins und Verstandes. – Oft ist der Todeskampf für den Sterbenden, wie für die Umstehenden, äußerst qualvoll und peinlich, besonders bei großer Unruhe und Beängstigung, sowie bei schmerzhaftem Leiden des Kranken.

Der Moment, in welchem der Tod wirklich eintritt, ist niemals genau anzugeben; ebensowenig läßt sich auch sagen, welches die wesentliche Veränderung sei, auf welcher der Tod beruht. Ohne Zweifel hängt derselbe immer zuletzt vom Gehirn und obern Theile des Rückenmarks (vielleicht sogar allein vom verlängerten Marke) ab. Wahrscheinlich fällt der wirkliche Tod nicht immer mit dem scheinbaren Erlöschen des Lebens, d. h. mit dem Aufhören aller Lebenserscheinungen zusammen. Denn es gibt Fälle, bei welchen letztere eine geraume Zeit vollkommen aufgehört zu haben schienen und doch erst viel später als gewöhnlich die Leichenerscheinungen eintraten, ferner Fälle (von Scheintod), wo sogar nach wochenlanger Dauer des todähnlichen Zustandes das Leben wiederkehrte, sei es nur auf kurze Zeit oder mit vollständiger Herstellung. (Ueber den Scheintod und das Verhalten unseres Körpers nach dem Tode später.)
Bock.




Der Telegraph durch’s atlantische Meer.
(Nachträge und Abbildungen.)

Die schon in einer früheren Nummer gegebene Schilderung dieses riesigen Unternehmens verdient noch einige Erläuterungen, die wir durch die Abbildungen sofort verständlich machen können.

Zusammensetzung des dickern Tau’s

Wir sehen zunächst in natürlicher Größe die Composition des Telegraphentaues: unter A die sieben inneren Kupfer- und eigentlichen Leitungsdrähte, dann (um allen salinischen Einflüssen des Meeres und seiner eigenen Schwere Widerstand zu bieten, die Bekleidung und Bewaffnung derselben) unter B die dreifache Gutta-Perchahaut, unter C ein doppeltes Kleid darüber, bestehend aus Gutta-Percha und Sägespänen (wozu expreß über zwanzig Klaftern Holz mit den feinsten, dampfmaschinen-getriebenen Sägen zerstäubt wurden), unter D ein weiteres Kleid von siebenfachen Strähnen Garn und Theer und unter E zwölf solide Eisendrähte als äußersten Mantel, Schutz und Panzer. Im geraden Durchschnitt hat dieses dickere Telegraphentau das Ansehen, wie wir es anliegend abgezeichnet finden. Dieses dickere Tau, für die felsigen und Grenztheile oder größten Tiefen bestimmt, hat 11/2 Zoll im Durchmesser. Das schwächere Tau, für die ebenen, sandigen, tiefen Strecken des atlantischen Meeres berechnet, hat in seiner Zusammensetzung, von 11/16 Zoll Dicke, eine ähnliche Construction und das Ansehen der mit 1, 2, 3, 4 bezeichneten Figur.

Ansicht der verschiedenen Bekleidungen des dünnern Tau’s

In Nr. 1, dem äußersten Mantel, sind 18 Drahtsträhne, jeder von 7 Drähten gedreht; Nr. 2 sechs Strähne von Werggarn und Theer; Nr. 3 drei Häute Gutta-Percha und Nr. 4 im Innern die sieben kupfernen Leitungsdrähte. Im Durchschnitt kommen auf jede Meile Telegraphentau 126 Meilen Draht. Die vollendeten Taue wurden zuletzt noch durch einen ungeheueren Kessel heißen Theers gezogen, gebürstet, geglättet und aufgewunden. Aufgewunden! Darüber ließe sich allein eine technische Abhandlung, einen großen Band stark, schreiben, über alle diese Räder und Maschinen und Hebel und Hülfsmittel, die weit und breit in ungezählter Menge und Mannichfaltigkeit Wochen und Monate lang Tag und Nacht schwirrten und schnurrten, dem Laien das verwirrendste Labyrinth, aus welchem sich Jeder bald gern wieder herausirrte, um der Gefahr zu entgehen, sich alle Sinne und Besinnung mit aus dem Kopfe herausschwirren zu lassen. Einige gefalbelte Damen mit Crinolines kamen nur mit Verlust einiger Falbeln von pfeilschnell gedrehten Rädern und Drähten weg, und eine wäre thatsächlich mit hineingesponnen worden, wenn sie nicht im ersten Augenblicke der Gefahr von starken Männerarmen mit Verlust ihrer meisten Kleider zurückgerissen worden wäre.

Durchschnittansicht des dickern Tau’s

Eine der wichtigsten Operationen nach Vollendung des Taues war dessen Ein- und Aufwickelung in die beiden Kriegsschiffe, die es in’s Meer ausspinnen sollten. Die ungeheuere Masse zusammen geseilerten Drahtes und Peches lief über Räder und Maschinen Wochen lang in ununterbrochener Geschwindigkeit von 54 englischen Meilen wöchentlich (darnach muß unsere frühere Angabe berichtigt werden) in den gewaltigen Rumpf des Schiffes, der erst Raum für Tausende von Menschen, zuletzt kaum noch für die Arbeiter bot. Wie es diese anfingen, um den hereinströmenden, mehr als 130fachen Draht mit seinen vielfachen Mänteln ganz regelmäßig und [481] ökonomisch aufzuwickeln und zu ordnen, davon gibt die Abbildung dieser Arbeit eine Vorstellung. Von den Maschinen und Sicherungsmitteln bei Abwickelung des Taues für das Meer haben wir noch keine deutliche Vorstellung: sie sind mannichfaltig, neu und unserer Laienansicht nach sehr praktisch und genial.

Die beiden großen Firmen, von denen jede die Hälfte des Ganzen lieferte, nämlich 1,250 englische Meilen, spannen also zusammen 2,500 Meilen, 600 Meilen mehr, als nach Berechnung und Abmessung gebraucht werden, ein Reservefonds, der für alle mögliche Rechnungsfehler aufkommen wird.

Die stärkeren Theile des Taues sind für die felsigen und Gestadepartieen berechnet, besonders für die englisch-irländische Seite. Für die Mitte und die ruhige, ebene Tiefe, also in seiner Hauptausdehnung, ist es dünner und hat die unter 1, 2, 3, 4 gezeigte und gezeichnete Composition und Dicke.

Wir erwähnen noch eine kurze, vor der Abreise beider Schiffe (siehe unsern ersten Artikel) getroffene Aenderung. Die Schiffe werden nun nicht von der Mitte des atlantischen Meeres aus in entgegengesetzter Richtung ausspinnen, sondern das Kriegsschiff Niagara wird von der Valentinenbucht an der Kerry-Küste von Irland aus seine Hälfte nach Neufundland zu ausspinnen, dann schließt sich der Agamemnon mit seiner Hälfte an, und spinnt sie aus, bis es auf Neufundland angekommen sein wird, um die poetische Prahlerei des luftigsten und lustigsten aller Shakespeareschen Geister, Pucks, daß er in 40 Minuten die Erde umgürten könne, zu einer ganz praktischen und prosaischen Thatsache zu machen.

Der längste Faden, je gesponnen, die neueste, ungeheuerste und wahrste Seeschlange, je gefabelt, diese Thatsache, wundervoller als die kühnste Dichtung in Tausend und Eine Nacht und in zehntausend Romanen, das atlantische Magneto-Elektro-Telegraphen-Kabeltau senkt sich jetzt eben 400 geographische Meilen lang aus zwei Kriegsschiffen in den Ocean. Sehen wir’s uns auf diesem Wege einmal an, und wie man’s machte und Vorsorge traf gegen alle möglichen Zufälle.

Das große elektrische Sprachrohr zwischen den beiden Welten sinkt nicht, sondern schwimmt hinunter in seine Lage auf dem Meeresgrunde. Die Schwere desselben ist so abgemessen worden, daß es durch den Gewichtverlust im Wasser (so viel, als das Wasser wiegt, das es verdrängt) und durch die Reibung der Wassertheilchen an der unebenen Oberfläche leicht genug wird, um nur eben sich allmählich zu senken und nicht mit bloßer metallischer Schwere zu fallen. Das Abspinnen aus dem Hintertheile des Schiffes geschieht auf ähnliche Weise, wie man die Seidenwurmfäden aus dem dichten, scheinbar verworrenen Cocon mit großer Geschwindigkeit und scheinbarer Gewalt abhaspelt. Die abwickelnden Räder schwirren mit ungeheuerer Geschwindigkeit und reißen den zarten, kaum sichtbaren goldenen Faden aus seiner natürlichen Verbindung, aber nicht entzwei, weil der Widerstand just durch die Schnelligkeit der Bewegung verringert und der Faden nicht ungebührlich gedehnt, sondern bloß in eine andere Verbindung abgewunden wird. So zieht das Telegraphentau sich durch seine eigene, angemessene Schwere über die rollenden Räder schnell in den Meeresgrund hinab, ohne der Cohäsion seines Gewindes zu viel zuzumuthen, während das Schiff etwa eine deutsche Meile in der Stunde zurücklegt.

Diese gigantischen Cocons von je 210 geographischen Meilen Telegraphentau drehen sich und lassen den Draht über 4 Scheibengats etwa 5 Fuß über dem Wasserspiegel durch eine fünfte Drehscheibe außerhalb in’s Meer herab. Mit einer der inneren Drehscheiben steht eine Frictions-Trommel in Verbindung, durch welche die Schnelligkeit der Abwickelung regulirt wird. Während der ganzen Zeit des Auswickelns zuckt regelmäßig jede Secunde ein elektrischer Strom durch die ganze Länge des Drahtes, um sich jeden Moment der Continuität und Schadlosigkeit desselben zu versichern.[1]

An der Seite des Schiffes dreht sich ein spiralförmiger Klotz durch den Widerstand des Wassers im Laufe des Schiffes und steht mit einem elektrischen Apparate in Verbindung, der die Schnelligkeit der Bewegung wie eine Uhr angibt. Alle diese Räder und Instrumente laufen in eine prächtige Kajüte zusammen, das technische Central-Bureau, in welchem Charles Bright (Erfinder aller dieser Vorrichtungen) und Whitehouse (der erstere im Niagara, letzterer im englischen Agamemnon) wie in dem Mittelpunkte eines großen, elektrisch sprechenden Gewebes sitzen, um von allen Seiten Nachrichten über den Stand und Gang der Dinge zu empfangen, zu buchen und Befehle demgemäß auszublitzen.

Auch für Auffindung der besten Zeit zu diesem welthistorischen Werke hat man die sorgfältigsten Forschungen benutzt und angestellt. Dadurch fand man, aus 260,000 Beobachtungen dieses Jahrhunderts, daß die Zeit vom 20. Juli bis Mitte August die sicherste, ruhigste und von Nebeln, Stürmen und Eisbergen freieste auf dem atlantischen Oceane sei, die man also wählte. Wenn aber dessenungeachtet ein Orkan ausbrechen sollte, wird man das eben ablaufende Ende des Taues an eine der bereit gehaltenen, mit zwei Meilen dickem Eisendraht besponnenen Trommeln befestigen, von dem noch innern Telegraphendrahte abschneiden und so in den Meeresgrund sinken lassen, um ihn nach zurückgekehrter Ruhe durch die obenschwimmende und am Eisendrahte festhaltende Trommel wieder in die Höhe zu winden, mit dem noch auszusenkenden Theile des Taues wieder zu verbinden und dann das Werk fortzusetzen, bis die Valentia-Bucht im Südwesten von Irland und die Trinity-Bucht auf Neufundland (in gerader Linie 1834 englische Meilen von einander entfernt) verbunden sind und man von da aus in Tausenden von Strahlen diese Verbindung der alten und neuen Welt weiter auszublitzen vermag.

In Neufundland und an der Südwestküste Irlands treten beide Welten weit zu einander vor wie ausgestreckte Hände, die sich einander freundschaftlich drücken wollen, aber zu kurz sind, um einander zu erreichen. Das industrielle Bedürfniß und der industrielle Unternehmungsgeist Amerikas und Englands befriedigen jetzt die ausgestreckte Sehnsucht beider Welten. Die Natur ist zu Hülfe gekommen und hat den Meeresgrund dazwischen mit wenigen Ausnahmen ziemlich geebnet. Das Tau würde in gerader Linie liegend die Peripherie eines Kreisabschnittes einer runden Linie um die Erde bilden, aber der Beschaffenheit des genau untersuchten Meeresbodens Rechnung tragend, wird man den Lauf des Schiffes sechs Mal um je einen Viertelpunkt des Compasses ändern, so daß die circulare Curve der Lage zu sechs Seiten eines erdgroßen Polygon’s wird, aber mit kaum erwähnenswerther Aenderung der Peripherieform, von der sie im Ganzen nur acht Zehntel einer nautischen Linie abweichen wird. Die große elektrische Seeschlange wird auf dem Meeresgrunde liegen wie eine gerade Linie, da die Windungen sich auf so große Räume ausdehnen und verhältnißmäßig so unbedeutend sind, daß man in einer angenommenen Vogelperpective, die einen Ueberblick des Ganzen gestattete, kaum etwas davon merken würde.



[482]
Jagdbilder aus Ceylon.
1. Die Büffeljagd.

Außer Südafrika gibt es auf der ganzen Erde kein so reiches Jagdgebiet, als die Insel Ceylon; es ist aber auch zugleich das angenehmste, weil das Terrain eine ungleich größere Abwechselung und einen bessern Schutz vor der tropischen Sonnengluth darbietet, als Afrika.

Die Mitte der Insel nehmen Gebirge ein, von welchen aus sich das Land bis zu den Küsten abflacht. Der größte Theil desselben ist noch mit Urwald erfüllt, und an diesen schließen sich weite mit Dorngebüsch bewachsene Moorgründe oder Ebenen, welche mit ähnlichem Gesträuch bedeckt sind; ein anderer Theil des Landes ist dagegen vollkommen wie ein Park gestaltet, und in ihm zu jagen bietet den größten Genuß dar, den Jäger und Jagdliebhaber nur haben können. Das Land strahlt in ewigem Frühlingsglanz, die Bäume verlieren nie ihr grünes Laub und nur im Herbst wechseln die Blätter, indem die alten in die köstlichsten Schattirungen von orangegelb und roth übergehen, während die jungen Blätter nach und nach ihre Stellen einnehmen. Ceylon bildet daher das Paradies aller englischen Sportsmen, und die englische Literatur ist reich an Schilderungen ihrer Fahrten und Abenteuer. Wir wollen versuchen, aus diesen einige Darstellungen in kleinere Rahmen einzufassen, um unsere Leser auf dieses Jagdgebiet zu führen, in dem die Thierwelt noch in der vollen Ursprünglichkeit ihrer Kraft anzutreffen ist. Die Insel ist voll von Rothwild, Damwild, Elenn, Leoparden, Bären, Hasen, Rebhühnern, Truthühnern, Pfauen und Wasservögeln aller Art. Die Hauptjagd besteht jedoch in der Elephanten-, Büffel- und Elennjagd, und in der Treibjagd auf Rothwild und Damwild.

Die Elephantenjagd ist die gefährlichste und deshalb von den Sportsmen natürlich am meisten gesucht. Mit ihr kann sich die Löwenjagd nicht im mindesten messen. Der wilde Elephant ist das stärkste, verschlagenste und muthigste Thier beim Angriff, und nur gleich muthige und ganz sichere Schützen dürfen es wagen, sich auf einen Kampf mit ihm einzulassen.

Nicht minder gefahrvoll ist die Büffeljagd, wenn der Schütze nicht zugleich beritten ist, und es bedarf großen Glückes für ihn, wenn er sein Leben aus einer solchen Begegnung rettet.

Der Büffel von Ceylon hat den Umfang eines großen Ochsen, ist eben so stark, als lebendig und gewandt in seinen Bewegungen, und sein fast ganz von Haar entblößtes Fell gibt ihm ein gummiartiges, widerwärtiges Aussehen. Er trägt den Kopf auf eigenthümliche Weise, die Hörner zurückgezogen und die Nase in gleicher Linie mit der Stirn vorgebeugt, so daß er sich dadurch vor einem Frontschuß sichert. Dies macht ihn zu einem gefährlichen Feinde, denn wenn man ihm auch ein paar Kugeln in die Brust und die Kehle sendet, so empfindet er dies kaum. Zum Blattschuß läßt er es selten kommen, weil er seinen Gegner fest im Auge behält. Kann er diesen fassen, so kennt seine Wuth keine Grenzen, dann stampft er ihn nieder und kniet auf ihn, bis er sicher ist, daß kein Leben mehr in ihm ist.

Könnte man ihn im Walde angreifen, so wäre es leicht, sich zu decken, aber man kann nur zum Schuß auf ihn kommen, wenn man ihn in der Ebene von einem einzelnen Baume aus angreift. Dann zieht er sich scheinbar feige zurück, aber er thut es nur, um den Feind zur Verfolgung zu locken, und glückt ihm dies, so wird er der Angreifende.

„Einmal jagte ich,“ so erzählt einer der Ceylonjäger, „mit meinem Bruder am Mianeria-See. Wir hatten einen mühevollen Tag verlebt, weil wir uns durch das dichte Moorgebüsch erst von einem Dutzend Eingebornen einen Weg für unsere Ponys hatten hauen lassen. Dafür lohnte uns der köstliche Anblick des zwanzig Meilen langen Sees, der in der Abendsonne glänzte. Die Uferebenen bestanden aus dem schönsten Wiesengrün, und prachtvolle Bäume begrenzten wie Riesenwächter die Landschaft. Hier und da erstreckten sich dicht bewaldete Vorgebirge in den See, und ihre Buchten dienten zahllosem Geflügel zur Wohnung. Das Wild lag heerdenweise in der Ebene oder unter den Bäumen. Wir sahen mit Entzücken die Landschaft, während unsere Ponys grasten.

Unser Gepäck war mit den Kulies und Dienern noch zurück, und wir hatten Jeder nur eine Büchse mit ein paar Schüssen bei uns. Eine halbe Stunde warteten wir, dann beschlossen wir, einen Streifzug durch das Land zu unternehmen, um die schöne Zeit nicht ungenützt vorübergehen zu lassen.

Wir schritten durch das üppige Gras am Uferrand, aus dem alle zwanzig Schritt Schnepfen emporschwirrten, über eine große Wiese, in der Schwärme von Enten lagerten, und kamen dann nach einer weiten Ebene, die von Wald begrenzt war. Auf dieser lag, etwa eine Viertelmeile vor uns, eine Heerde von hundert Büffeln in einer sumpfigen Niederung. Hier und da sah man einzelne Stiere auf der grünen Ebene grasen. Alles war still, kein Lüftchen regte sich – nur ab und zu tönten die Schreie der Wasservögel, welche unser Erscheinen gestört hatte. Die Sonne war im Sinken begriffen und es begann eine angenehme Kühle. Die Menge der Büffel entzückte uns, und wir schritten muthig auf sie zu. Die Heerde stand von ihrem Lager auf und starrte uns an. Je näher wir kamen, desto mehr schaarten sie sich zusammen, und boten uns eine vollkommene Frontlinie dar. Aus dieser Linie traten sieben starke Stiere und ihr trotziges Aussehen verrieth Kampflust. Unterdessen waren wir näher gerannt, so daß wir nur dreißig Schritt von ihnen entfernt waren. Bei diesem Vorgehen setzte sich plötzlich die Heerde in Bewegung, und lief über die Ebene zurück. Einer der Stiere lief dagegen auf uns zu, und als er sich zwanzig Schritt von uns zur Seite wandte, bekam er zwei Schüsse in’s Blatt. Er sank in die Kniee, raffte sich aber gleich wieder auf und zog sich in’s Wasser zurück. Da stürzte sich plötzlich einer der andern starken Stiere auf ihn, stieß ihn in die Seite und stürzte ihn in das schlammige Seeufer. Dort blieb der verwundete Stier liegen, während der Sieger sich langsam nach der Ebene zurückzog.

Meinem Bruder den verwundeten Büffel überlassend, wandte ich mich der Verfolgung des fliehenden zu. Nach je hundert Schritt wandte er sich um, als wollte er mir entgegentreten, warf seine Schnautze in die Höhe und bewegte den Kopf mit kurzem Gebrüll seitwärts, dann ging er aber wieder in kurzem Trabe weiter und zog sich zurück, wie ich vorrückte. So verfolgte ich ihn etwa eine halbe Meile um den See, worauf ich ihm endlich zur Strafe für seine Frechheit aus der Ferne einen Schuß zusandte und ihm wieder ladend folgte. Der See bildete an einer Stelle eine Bucht, dort dachte ich den Büffel in einen Winkel zu drängen; als ich ihm jedoch auf dreißig Schritte nahe war, sprang er in’s Wasser und schwamm durch dasselbe nach der gegenüberliegenden Landzunge. Rasch lief ich dahin, und als seine schwarze Gestalt aus dem Wasser auftauchte, trat ich ihm, bis an die Kniee im Wasser watend, entgegen. Jetzt hatte ich das Vergnügen, ihn auf fünfzehn Schritt mich verdrossen anstarren zu sehen. „Armer Kerl, jetzt ist dein Tod gewiß,“ dachte ich, in meiner damaligen Unerfahrenheit, und hätte jede Summe darauf gewettet, daß er sogleich meine Beute sein werde.

Ich zielte fest auf seine Brust und Kehle. Der Schuß ging los, er stand aber fest, zuckte nicht und bewegte keine Muskel. Nur in seinem Auge nahm ich eine Veränderung wahr; es war nicht mehr blos zornig, sondern glühte vor Wuth. Ein Blutstrom schoß aus der Stelle, nach der ich gezielt; hätte ich dies nicht gesehen, so hätte ich gezweifelt, daß ich getroffen. Rasch schoß ich darauf den linken Lauf nach derselben Stelle ab; der Schuß donnerte über den See hin, aber der Büffel stand so fest, als wäre sein Leben verzaubert; ein neuer Blutstrom sagte mir, daß auch der zweite Schuß getroffen hatte, und noch unheimlicher leuchtete sein Auge.

Meine Läufe waren abgeschossen und ich hatte keine einzige Kugel mehr. Ich durfte nicht weichen, sonst hätte er mich sogleich angegriffen, und so standen wir nun uns einander Trotz bietend gegenüber.

Mit kurzem Gebrüll sprang er vorwärts, blieb aber glücklicher Weise stehen, als ich mich nicht bewegte. Wir waren einander auf zehn Schritt nahe. Nachgerade kam mir die Büffeljagd etwas gefährlich vor und ich hätte etwas darum gegeben, wäre ich eine Meile davon gewesen oder hätte nur meine Büchse mit den vier Unzen-Kugeln gehabt. Dem Angriffe des wüthenden Thieres mit Sicherheit entgegensehend, faßte ich unwillkürlich den Griff meines Jagdmessers, aber wie ohnmächtig ist diese Waffe gegen einen solchen Feind!

[483] Mein Bruder war zu weit entfernt, um mich sehen zu können, ich durfte mich auch nicht unwenden, nach ihm zu spähen; deshalb hob ich nur meinem Finger an den Mund und pfiff so stark ich konnte.

Da brüllte der Büffel auf’s Neue und rückte wieder ein paar Schritte vor. Er schien meine Hilflosigkeit inne geworden zu sein, denn er war das Bild der Wuth und Rache und stampfte das Wasser mit seinen Vorderfüßen.

Das war äußerst angenehm für mich! Ich gab mich für verloren, nahm aber so drohende Mienen an, als möglich, das Biest zu schrecken. Plötzlich kam mir ein Einfall. Ohne meine Augen von dem Büffel zu verwenden, ließ ich eine doppelte Ladung Pulver in den rechten Lauf gleiten, nahm sämmtliche kleine Münze, die ich für die Kulies zu mir gesteckt, drei Schillinge in Sechspencestücken, wickelte sie in ein Papier und stieß sie rasch hinab. Das Alles geschah im Nu, und ich nahm mir nicht Zeit, den Ladestock wieder einzustecken, sondern warf ihn in’s Wasser und erhob die Büchse zum Anschlag. Wieder stand der Büffel still, und wir starrten uns jetzt auf sieben Schritt einander an. Ich hatte aber neue Zuversicht gewonnen und wollte abwarten, bis er mir ganz nahe gekommen wäre.

Da hörte ich etwas hinter mir in’s Wasser springen und kurz athmen. Es war mein Bruder, der voll Angst zu meiner Rettung herbeigeilt war. Er hatte noch einen Lauf geladen und ich rief ihm zu, er möge warten, bis mir der Büffel ganz nahe sei, und dann nach seinem Kopfe feuern.

Kaum hatte ich das gesagt, so rückte mir der Büffel ganz nahe auf den Leib. Meines Bruders Schuß blieb ohne Wirkung, als ich ihm aber meine Ladung in’s Gesicht schleuderte und die Münzen an seine Stirn klirrten, fiel er um und wälzte sich im Sumpfe.

Rasch lief ich jetzt mit meinem Bruder fort, durch das Wasser und über die Ebene, weil ich wohl wußte, daß der Büffel nur betäubt sein würde. Eine halbe Meile vor uns lag ein halb umgestürzter Baum, der uns eine Zuflucht verhieß; dahin flohen wir eilenden Schrittes, und nach zweihundert Schritten sahen wir uns um. Der Büffel folgte uns langsam. Jetzt kannten wir den Unterschied zwischen Jagen und Gejagtwerden, und für den Büffel mußten wir ein sehr lockendes Wild bilden.

Eine Bekanntschaft mit Ihrer Majestät Bildnissen hatte ihn jedoch so dumm gemacht, daß er sich nur langsam fortbewegen konnte und ab und zu hinfiel. Wir waren sehr froh, daß wir alsdann unsere Schritte mäßigen konnten. Sah er jedoch, daß wir stillstanden, so kam er uns wieder nach. Endlich erreichten wir den Baum und bemerkten von dort aus mit Vergnügen, daß er in zweihundert Schritt Entfernung zwar nicht todt, aber doch gänzlich ermattet da lag. Unter dem Schutze des Waldes erreichten wir die Stelle, an der wir unsere Pferde gelassen, und begaben uns auf ihnen nach dem nahen Dorfe, um von dort aus am nächsten Morgen unsern Rachezug gegen die Büffel zu beginnen.

Mit Tagesanbruch machten wir uns auf den Weg und kehrten von dem Schlachtfelde des Abends zurück, in voller Erwartung, ob wir unsern Feind verendet finden würden. Wir täuschten uns jedoch; er war fort und wir sahen ihn niemals wieder.

Jetzt hatte ich meine vier Unzen- und zwei und ein halb Unzen-Büchse bei mir und fürchtete die Büffel nicht mehr. Ein Gewitter hatte während der Nacht die Luft gereinigt, die ganze Natur schien erfrischt und auch wir waren neu ermuthigt. Wir sahen mehrere Büffelheerden vor uns und überlegten, welche wir zuerst angreifen sollten, als endlich ein einzelner Büffel dreihundert Schritt vor uns aufsprang und auf uns loskam. Ich schoß aus der Ferne nach ihm, fehlte jedoch und er kam desto trotziger auf uns zu. Auf 150 Schritt schickte ich ihm eine vier Unzen-Kugel mit zwölf Drachmen Pulver in’s Blatt, welche durch und durch ging und auf der andern Seite in’s Wasser schlug. Er kam noch etwa hundert Schritt näher, stand aber zuletzt still und es floß ihm ein Blutstrom aus Maul und Nase.

Nachdem ich wieder geladen, ging ich ihm bis auf fünfzig Schritt nahe und sah ihn mir ganz in der wüthenden Haltung, wie den gestrigen Stier, gegenüber. Ich feuerte nicht mehr, da ich sah, daß er genug hatte, und wollte nun sehen, wie lange er eine Verwundung der Lungen ertragen würde, um mich künftig darnach richten zu können. Die Wuth kämpfte in ihm mit dem Tode. Er suchte näher zu kommen, dies war aber seine letzte Anstrengung. Sein Auge rollte krampfhaft, dann brüllte er kurz mit ohnmächtiger Wuth und fiel auf den Rücken, die Beine in die Luft streckend.

So hatte ich meine Rache für die gestrige Schmach. – Während wir bei dem Cadaver standen, bemerkten wir mit Ueberraschung, daß eine große Büffelheerde sich der Stelle, wo ich den Stier angegriffen hatte, auf einige hundert Schritt näherte und in dichten Massen dastehend uns beobachtete. Sogleich gingen wir auf sie zu und bemerkten alsbald, daß sie von zwei großen Stieren geführt wurde. Die ganze Heerde brüllte und stampfte den Boden. Sie witterten offenbar das Blut des Erlegten und geberdeten sich, als wären sie toll.

Wir gingen weiter vor und waren etwa neunzig Schritt von ihnen entfernt, als sich die ganze Heerde von etwa zweihundert Büffeln, geführt von den beiden Stieren, gegen uns in vollem Galopp in Bewegung setzte. So gleichmäßig geschah der Ablauf, daß er einem plötzlichen Cavallerie-Angriff glich, und der Boden unter ihren schweren Hufen erzitterte. Ihre Schweife waren hoch über ihre Rücken erhoben und wir sahen eine furchtbare Phalanx von Köpfen, und Hörnern vor uns, die uns im Nu zerstampfen und von der Erde tilgen konnte.

Es war kein Augenblick zu verlieren. Unsere Büchsenträger waren davon gelaufen, ich hielt indessen den einen fest, welcher die lange zwei Unzen-Büchse trug, und erwartete den Angriff mit der unwiderstehlichen vier Unzen-Büchse.

Der stärkste Stier war einige Ellen vor dem Haufen voraus, der ihm mit donnernden Hufen folgte. Es trennten uns nur noch fünfzig Schritt und es überkam uns bereits ein Gefühl, als sollten wir niedergerannt werden. Ich sah indessen nicht nach der Heerde, sondern nach dem Leitstier, und als sie noch dreißig Schritt von uns waren, zielte ich fest und gleich darauf stürzte der Stier mit weitem Sprunge kopflings auf den Rasen nieder, dann riß ich rasch die zwei Unzen-Büchse an mich, und schoß funfzehn Schritt nach dem zweiten Stier, der beinahe vor unsern Füßen niederfiel. Diese glücklichen Schüsse wandten die Heerde. Sie richteten ihren Lauf plötzlich von den Büchsen fort nach links und überließen uns das Feld als Sieger. Sie weiter zu schrecken, schossen wir die leichteren Gewehre nach ihnen ab und luden rasch die schweren, weil die Stiere noch nicht todt waren. Sie vermochten sich jedoch auch nicht mehr zu erheben, und ein Gnadenschuß vor die Stirn machte ihrem Leben ein Ende.

Obwohl ich seitdem gegen zweihundert Büffel geschossen habe, ist mir ein solcher Angriff durch eine Heerde nicht wieder vorgekommen. Es war ein außergewöhnliches Ereigniß, das in der Büffeljagd glücklicher Weise einzig dasteht. Um diese Zeit waren die Büffel dieser Gegend fast noch nie gestört worden und daher in dem wildesten Zustande, in dem man sie nur denken kann. Ich fand sie deshalb auch fast immer zum Kampfe bereit, sobald ich sie angriff.“




Blätter und Blüthen.

Ein „Paulus“ und ein „Johannes“. (Erinnerung an zwei Verstorbene.) Es mochte zur Sommerzeit des Jahres 1805 sein, als eines schönen Nachmittags zwei Männer Arm in Arm die Parkanlagen von Sans-souci langsam durchschritten. Ihr ganzer Habitus zeigte, daß sie dem Fürstenstande nicht angehörten. Für Diplomaten oder dergleichen wird sie wohl auch Niemand gehalten haben; denn dazu gebrach es ihnen an jener elastischen Geschliffenheit, die Excellenzen der Art mehr oder minder eigen zu sein pflegt. Auch sprachen sie zu laut, zu viel – und was die Hauptsache – sie sprachen Alles zu warm und zu innig, als daß ein Beobachter in ihnen einen Talleyrand oder Metternich en miniature hätte ahnen sollen. Militairs konnten sie aber vollends nicht sein: das sah jedes Kind, namentlich ein preußisches, auf den ersten Blick.

Wer aber waren sie denn?

Ihr schlichter schwarzer Anzug ließ in ihnen zwei Candidaten der Gottesgelahrtheit vermuthen, zu welcher Annahme überdies ihr ganzer Ductus berechtigte. Demungeachtet und trotz ihrer Jugend – denn Beide waren erst angehende Dreißiger – empfingen sie doch von jedem der ihnen begegnenden Gardisten einen äußerst respectvollen Gruß. Während der eine Lustwandler diese Honneurs bisweilen übersah, aber mit einem Air, als wollte er sagen: „ich weiß, sie gelten allein meinem Freunde,“ erwiederte

[484] der Andere sie alle mit herzgewinnender Freundlichkeit, wie denn überhaupt über das Wesen des Letzteren eine warme Milde ausgegossen war. Hatte Jener vermöge der Energie seiner Züge etwas von einem Paulus, so erinnerte dieser in seiner ganzen Erscheinung an den Jünger, der an der Brust des Herrn gelegen. Namentlich war es das Auge, was ihm diese Aehnlichkeit verlieh. Ja: dieses große Auge mit dem keuschen, sanften Blicke verbreitete über sein etwas bleiches Antlitz einen Schimmer, der der Verklärung nahe kam, mit welcher die genialsten Meister der italienischen Schule ihre Johannes-Gemälde auszustatten gewußt.

Wie interessant das Gespräch auch sein mochte, welches zwischen den beiden Freunden während des Promenirens gepflogen wurde, so konnte es einem aufmerksamen Beobachter doch nicht entgehen, daß unser Johannes seine Aufmerksamkeit dabei auch noch einem anderen Gegenstande zuwandte. Es war dies ein blühendes Kind von ungefähr neun Jahren, ein Knabe mit langen blonden Locken und großen seelenvollen Augen. Dieser Kleine blieb nur selten auf den breiten, frisch geharkten Wegen; denn lebhaft, ja fast wild, wie alle an Leib und Seele wahrhaft gesunden Jungen, sprang er bald rechts, bald links ins Gebüsch, entweder einem Schmetterlinge nachjagend oder nach einem Vogelneste spürend. Doch wurde er hierbei von Johannes immer im Auge behalten und ein einziger sanfter Ruf von diesem genügte, daß er wieder in die Nähe der beiden Männer zurückkehrte.

Ein Mal aber schien er gänzlich verschwunden zu sein. Johannes rief, aber – er erhielt keine Antwort; er und Paulus suchten, suchten immer von Neuem, aber – sie fanden ihn nicht, bis er denn endlich aus einem ziemlich entfernten Bosquet heraussprang und – eine Libelle triumphirend emporhaltend – mit Gejauchz auf sie zueilte.

„Aber,“ sagte Johannes mit sanftem Ernst und mit einer gewissen Betrübniß, „mich so in Angst zu versetzen!“

Und der Kleine antwortete:

„Angst?! Wer braucht da Angst zu haben, wenn ich jage! Dieses Thier hier mußte ich heute haben und hätte ich es sollen bis auf den späten Abend verfolgen! Denken Sie sich: ich habe es schon gestern und vorgestern verfolgt und immer, wenn ich es eben greifen wollte, entwischte es mir! Aber nun soll es mir nun und nimmermehr entschlüpfen!“

Johannes, nachdem er zärtlich besorgt dem erhitzten Kinde die Schweißtropfen von der Stirn gewischt, betrachtete aufmerksam das schmucke schlanke Insect mit den feinen netzförmigen Flügeln, dabei äußernd, daß dasselbe seine Eier in’s Wasser lege und ein Jahr lang in diesem Elemente als Larve zubringe. Dann sagte er, der Knabe möge dem Thierchen nun seine Freiheit wiedergeben.

„Ich?! Diese Libelle freigeben, diese Wasserjungfer, die mich zwei Tage lang genarrt hat?! – Nun und nimmermehr!“

Johannes wiederholte seine Anweisung.

Keine Antwort.

Der dritten Mahnung kam der Knabe endlich nach; aber man merkte es ihm an, wie ungern er dies that. Hierauf nahmen die beiden Männer das Kind in ihre Mitte und gingen mit ihm nach einer Baumgruppe, in deren Schatten sie von den Erfrischungen genossen, die so eben von einem Lakai in königlicher Livree dort aufgetischt worden waren.

Kaum hatte der Knabe angefangen etwas von den Delicatessen zu sich zu nehmen, als er, unverrückt nach dem Wipfel eines der Bäume schauend, erst auf den Stuhl und dann sogar auf den Tisch stieg. Als Johannes ihm dies verwies, sprang er zwar sogleich herab; aber schon nach wenigen Minuten war er wieder auf dem Tische. Johannes gebot ihm jetzt, herabzusteigen. Aber der Knabe, noch immer den Baumwipfel fixirend, hörte nicht und hörte auch dann noch nicht, als dieser Befehl noch zwei Mal wiederholt worden.

Da erhob sich endlich Paulus, indem seine Stirnader mächtig anschwoll, und die Hand des kleinen ergreifend, rief er diesem mit seiner energischen Stimme zu:

„Haben Sie nicht gehört, daß Sie heruntersteigen sollen? Den Augenblick verlassen Sie den Tisch!“

Da schwoll aber auch die Stirnader des Knaben mächtig an und obgleich er keinen Laut von sich gab, so zeigte doch sein ganzes Wesen, was in ihm vorging. Seine Augen schossen feurige Blitze, seine Lippen zuckten, seine Hand ballte sich zur Faust. So blieb er auf dem Tische stehen, ein junger, gereizter Löwe, und sein Aussehen war dabei so imponirend, daß Paulus wie erschrocken seine Hand schnell wieder zurückzog. Jedoch schon nach ein paar Secunden hob derselbe wieder an: „Prinz! Ich und Millionen danken dem lieben Gott, daß er Sie mit Gaben ausgestattet, vermöge deren Sie – das hoffen wir zu ihm, dem Gnadenreichen und Allwaltenden – ein biederes und treues Volk einst glücklich machen werden. Ein künftiger Herrscher aber muß vor Allem erst selbst gehorchen lernen! Und wie sehr muß Sie Ihr eigenes Herz treiben, den Anordnungen des Mannes nachzukommen, der Sie so unendlich liebt? Werden Sie jetzt dem Gebote meines Freundes Folge leisten?!“

Und der Knabe – noch vor wenigen Augenblicken ein kleiner zürnender Mars - stieg, demüthig sein Haupt senkend, vom Tische herab, und eilte dann in die Arme unseres Johannes, indem er – feuchten Blicks und im Tone eines reuigen Sünders stammelte:

„O, verzeihen Sie mir gütigst nur dieses Mal noch!“

Der Knabe aber war der jetzige Preußen-König Friedrich Wilhelm IV., und Johannes war dessen und des jetzigen Prinzen damaliger Erzieher Delbrück.[2]

Und Paulus?

Nun, Paulus war der Garnisonschullehrer Hahn von Berlin, der eben wieder einmal seinen alten Freund Delbrück aufgesucht hatte. –

Durch den verewigten König, dem das eben erzählte Benehmen des jungen Pädagogen gegen seinen Kronprinzen „sehr zugesagt,“ erhielt Hahn darauf das Amt eines Erziehers des Prinzen Wilhelm zu Solms-Braunfels (Stiefsohn des vorigen Königs von Hannover). Im Jahre 1810 wurde er Mecklenburg-Strelitz’scher Hofrath. Von Frietrich Wilhelm III. 1817 in preußische Dienste zurückberufen, wirkte er als Schul- und Regierungsrath in Erfurt, bis er 1826 in gleicher Eigenschaft nach Magdeburg versetzt ward.

Auch König Friedrich Wilhelm IV. erinnerte sich noch nach langer Zeit des ehemaligen Garnisonschullehrers. Als er nach seiner Thronbesteigung Magdeburg das erste Mal besuchte und er unter den zu seiner Begrüßung aufgestellten Beamten auch Hahn bemerkte, reichte er ihm sogleich freundlich die Hand und unterhielt sich längere Zeit mit ihm auf das Huldreichste. Dann äußerte er zu einem seiner Adjutanten:

„Dieser Herr hat sich frühzeitig um mich verdient gemacht, indem er mir einmal während meiner Knabenzeit eine Lection gegeben, und zwar darüber, wie man Ordre pariren muß.“

Auch ernannte er ihn bald zum Oberregierungsrath und verlieh ihm den rothen Adlerorden zweiter Classe. –

Hahn war in seinen jüngern Jahren ein eben so fruchtbarer als geachteter Schriftsteller, namentlich auf dem Gebiet der Pädagogik. Die meiste Anerkennung unter seinen Werken hat die „Familie Bendheim“ gefunden. Als er in spätern Jahren gefragt wurde, weshalb er die Schriftstellerei so bald aufgegeben, antwortete er:

„Ein gewissenhafter Schulrath hat keine Zeit, die Werke alle zu lesen, mit denen er vermöge seiner Stellung doch nothwendig bekannt sein muß. Ja, es gibt eine ungeheure Menge pädagogischer Bücher und leider nicht lauter gute. Ueberdies habe ich den Vorzug kennen gelernt, den eine mündliche Unterhaltung zwischen meinen Lehrern und mir darbietet. Da lerne ich jedes Mal etwas und auch die Lehrer – wie ich glaube – profitiren wenigstens mehr, als wenn ich nur durch dickleibige Bücher zu ihnen spräche. Das ist der Segen des geistigen Widerschlags. In Betreff der Methoden endlich ist alle Theorie grau. Hier verlangt die Anschauung ihr ganzes Recht.“

Es ist nicht Aufgabe dieser Zeilen, Hahn in seiner ganzen Wirksamkeit als Schulrath zu schildern; aber gesagt soll noch von ihm werden, daß die Lehrer seines Departements mit inniger Liebe an ihm hingen. Sie sahen in ihm nicht sowohl den „viel vermögenden Revisor“ (wie sich einer seiner Collegen selbst zu nennen pflegte), sondern vielmehr den väterlichen Freund und Rathgeber, und wußten, daß er es als eine der wichtigsten Aufgaben seines Amtes ansah, sie auch zu vertreten. Nur gegen die „Liebediener“ zeigte er eine gewisse Barschheit. Ich selbst habe vor mehreren Jahren, als ich als Gast eines seiner Söhne, des nun bereits auch heimgegangenen Obergerichts-Assessors Wilhelm Hahn, einige Tage bei ihm in Magdeburg wohnte, zufällig einmal einer Scene beigewohnt, wo er einen jungen Landschullehrer aus der „Kategorie der gleißnerischen, de- und wehmüthigen Ohrenbläser“ in einer Art und Weise anließ, die an Härte streifte. –

Karl Heinrich August Hahn war geboren den 17. Januar 1778 zu Zeitz und starb den 10. April 1854 zu Wanzleben. Seit dem Jahre 1850 war er nach funfzigjähriger segensreicher Dienstzeit in den Ruhestand zurückgetreten.

Friede seiner Asche!
Wilhelm Künstler.

Bei Ernst Keil in Leipzig ist so eben erschienen:

Das Salz im Haushalte der Natur und des Menschen.
Von
Dr. Ludewig Meyn.
16 Bogen. Mit 19 Illustrationen. Preis 12 Neugroschen.

Inhalt: Gegenstand der Betrachtung. – Salz ein Nahrungsmittel. – Salz ein Gewürz. – Salz ein Viehfutter. – Salz ein Conservationsmittel. – Zusammmsetzung des Salzes. – Cohäsionserscheinungen des Salzes. – Bedeutung des Salzes für die Industrie. – Allgegenwart des Salzes auf Erden. – Die Pflanzenwelt unter dem Einflusse des Salzes. – Salzsteppen und Salzwüsten. – Die Salzseen. – Das Meer und Meersalz. – Die Lagunen. – Die Salzgärten. – Die Salzquellen. – Die Soolen. – Die Salzspindel. – Der Rohsalzgehalt. – Die Soolbrunnen. – Die Gradirung. – Der hydraulische Apparat. – Das Siedehaus. – Norddeutschlands Salinen. – Die Bohrlochsoolen. – Die Sinkwerke. – Hall und Hallein. – Die Soolenbergwerke zu Bex. – Steinsalzbrüche. – Der Pfeilerbau. – Der Kammerbau. – Der Glockenbau. – Herkunft des Salzes.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mittwoch am 12. August hörten diese Signale von dem etwa 100 Meilen entfernten Schiffen in Valentia plötzlich auf und bald darauf traf auch die Nachricht hier ein, daß der Draht 270 Meilen von der irischen Küste gerissen sei, man sagt, weil das Tau zu kurz bemessen und in Folge dessen die Spannung zu groß gewesen sei. Bestimmte Nachrichten fehlen noch, indeß scheint doch so viel gewiß, daß der Hauptfehler in den Versenkungsapparaten gelegen hat.
    Die „Niagara“, so heißt es, war eben auf starkbewegter See mit der Abwindung beschäftigt, als ein Ingenieur durch den andern abgelöst wurde, dieser soll nun den Apparat so regulirt haben, daß das Kabeltau zu straff angespannt wurde und entzwei riß, als die „Niagara“ von einem Wellenberge rasch in ein Wellenthal hinabfuhr. So erzählt man sich wenigstens. Gewiß ist wenigstens das Eine, daß die Leitung nicht gehindert war, so lange sich das Tau unter einem Drucke von 1500 Faden Wasser befand, daß somit die Meerestiefe als solche der Beförderung elektrischer Signale keinen Eintrag thut; dagegen fragt es sich, ob die Versenkungsapparate nicht anders construirt werden müssen, ob unterseeische Kabel, wie sie bisher angefertigt wurden, sich überhaupt für so große Strecken und Tiefen eignen. Diese Fragen werden erst gelöst werden müssen, bevor ein neuer Versuch gewagt wird. Als aufgehoben darf man das Unternehmen nicht betrachten, aber Täuschung wäre es, blos von einer tage- oder wochenlangen Verzögerung zu sprechen. Die späte Jahreszeit hindert natürlich daß die unterbrochene Arbeit in diesem Jahre nochmals aufgenommen wird.
  2. Starb als Geheimer Rath und Stifts-Superintendent zu Zeitz, woselbst ihm auf dem Gottesacker seine hohen Zöglinge ein würdiges Denkmal haben setzen lassen. –
    Anmerk. des Verfassers.