Die Gartenlaube (1857)/Heft 28
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No. 28. | 1857. |
Der Referendarius nahm den Menschen mit sich zum Molkenmarkte Nr. 2., wo bekanntlich neben dem Criminalgerichte das Berliner Polizeipräsidium sich befindet, und machte dort einen Bericht, mit welchem er „den Ludwig Stähler, ein mehrmals bestraftes Subject, welches er unter beschwerenden Umständen um Mitternacht auf der Straße angetroffen, als eines noch näher zu ermittelnden Verbrechens verdächtig.“ zum „Aufbewahrungsarrest“ in die Stadtvogtei ablieferte. Dann wartete er, bis Nachmittags die Thürme von Berlin vier Uhr schlugen, und begab sich nun zu Cranzler unter den Linden. Vor dem Hause des Letzteren saßen um diese Stunde an den kleinen Marmortischen unter der weiß- und rothgestreiften Marquise die Gardeofficiere und tranken in ihrer Weise Kaffee. In ihrer Mitte befand sich, wie gewöhnlich, der Graf Zilly; er allein hatte seine Beine nicht in der Höhe hängen; er schien überhaupt nachdenklich zu sein, selbst seine Gefährten hatten dies bemerkt.
„Zum Teufel, Zilly, was fehlt Dir? Du bist so pensiv!“
„Mir fehlt nichts.“
„Geld wenigstens kann Dir nicht fehlen; Du wirfst es mit Händen fort; sonst, Herr Bruder, Du weißt, ständen unsere Börsen zu Dienst.“
„Ich bin überzeugt,“ lächelte der Graf.
„Ich weiß, was ihm fehlt,“ rief ein Zweiter, „er ist verliebt, in die kleine Jeannette, die jeden Tag so hold verschämt erröthend den Ducaten für ihren Kaffee von ihm annimmt.“
Die kleine Jeannette, die gerade im offenen Fenster stand, erröthete mit einem hold verschämten Blicke nach dem schönen, reichen und vornehmen jungen Manne. Aber der Graf lächelte auch diesmal nur.
„Er hat lange kein Abenteuer gehabt und langweilt sich,“ sagte ein Dritter. „Aber beruhige Dich, Graf, heute ist Concert im Hofjäger, das erste große Frühlingsconcert; da wirst Du die Elite der Berliner Bürgertöchter sehen, hübsche Personen, und verliebt in jede Uniform bis über die Ohren, von der Geheimerathstochter an bis zur Wäscherin; jene am meisten, denn sie bildet sich ein, sie könne doch noch einmal gnädige Frau werden.“
Ein Vierter rief: „Alle Teufel, Ihr Herren, es ist schon vier; wir müssen aufbrechen, denn das Concert hat bereits seinen Anfang genommen.“
Die Gardeofficiere und der Graf Zilly brachen auf. Letzterer zog seine Börse hervor, nahm einen Ducaten heraus, reichte ihn der erröthenden hübschen Jeannette durch das Fenster, und wollte dann seinen Arm in den eines Officiers legen. In diesem Augenblicke trat der Referendarius an ihn heran, der eine Weile seitab gesessen hatte. Er war sehr höflich.
„Mein Herr, darf ich um Ihren Namen bitten?“
„Graf Zilly,“ antwortete der Graf verwundert, aber ruhig.
„Können Sie sich legitimiren?“
Der junge Mann sah verwunderter auf; dann sagte er kalt: „Herr, Sie sind ein Unverschämter.“
Der Referendarius war, wie gewöhnlich die Criminalpolizeicommissarien zu Berlin, in bürgerlicher Kleidung. Aber er war auch mit der bekannten und gefürchteten Criminalpolizeimarke versehen und zog diese hervor. Auch der Graf schien sie zu fürchten; denn er wechselte die Farbe und warf einen eigenthümlich fragenden Blick auf den Beamten der Criminalpolizei. Doch schnell, wie diese Zeichen eines plötzlichen Erschreckens entstanden waren, verschwanden sie wieder.
„Was verlangen Sie von mir, mein Herr?“
„Ich muß Sie bitten, sich hier sofort als Graf Zilly zu legitimiren, oder –“
„Hier? Auf der Stelle?“
„Oder mir zur Stadtvogtei zu folgen.“
„Gäbe es nicht ein Drittes? Sie begleiteten mich zum österreichischen Gesandten? Die Wilhelmsstraße ist näher als der Molkenmarkt.“
„Ich bedauere; ohne ausdrücklichen Befehl des Herrn Polizeipräsidenten dürfen wir anderen Beamten mit den Gesandtschaften nicht unmittelbar communiciren.“
„So erlauben Sie mir, drei Zeilen an den Gesandten zu schreiben.“
„An den Herrn Gesandten selbst?“
„Sie können sie zum Ueberfluß durch einen ihrer Unterbeamten besorgen lassen.“
„Schreiben Sie.“
„Sie geben mir wohl Papier und Feder und so weiter, liebe Jeannette.“
Die hübsche Jeannette brachte blaß und zitternd das Verlangte und empfing dafür einen Ducaten, den der Graf ihr mit einem so ruhigen, freundlichen Lächeln in die Hand drückte, daß sie wieder hold verschämt erröthete. Darauf setzte er sich an einen der kleinen Marmortische und schrieb.
Die Officiere standen umher, einige mit verdutzten Gesichtenn, alle unentschlossen; unentschlossen, ob sie den jungen Mann, der [382] seit drei Wochen ihr täglicher, stets heiterer, liebenswürdiger und freigebiger Gefährte gewesen war, jetzt verlassen sollten oder nicht. An etwas Anderes konnten sie nicht wohl denken; denn damals existirte noch kein Gesetz, das den Criminalbeamten verbot, einen Officier zu verhaften. Der Graf bemerkte ihre Unentschlossenheit.
„Ah, meine Herren, Sie warten auf mich? Zu viele Güte! Ich bitte, gehen Sie voraus; verwahren Sie mir nur einen Platz; in einer Stunde bin ich bei Ihnen.“
Sie gingen; die meisten gewiß leichten Herzens.
Der Graf hatte sein Billet beendet: er siegelte es mit dem Wappen seines Siegelringes und übergab es dem Referendarius.
Es war wirklich an den österreichischen Gesandten gerichtet; der Graf halte es so leicht geschrieben, als wenn er sich zu einer Gesellschaft bei dem Gesandten zusage; er war überhaupt vollkommen ruhig und sicher geblieben. Der Beamte der Criminalpolizei wurde desto unruhiger und unsicherer; doch er konnte nicht mehr zurück. Er übergab das Billet zur Bestellung einem Gensd’armen, den er schon vorher in die Nähe postirt hatte, und fuhr mit seinem Gefangenen in einer Droschke nach dem Molkenmarkte Nr. 2.
Aber kaum eine Stunde später ließ den armen Referendarius, der in der Polizei seine Carriere machen wollte, der Polizeidirector zu sich kommen.
„Was haben Sie gemacht, mein lieber Referendarius?“
„Sie meinen den Abenteurer, den ich verhaftet habe?“
„Der österreichische Gesandte reclamirt ihn als den ihm sehr angelegentlich empfohlenen Grafen Zilly.“
„Der Herr Gesandte ist nicht unterrichtet; ich hoffe, den Menschen noch heute als einen gefährlichen Verbrecher zu entlarven.“
„Wohl durch Lude Stähler?“
„Sie wissen schon?“
„Gewiß. Lude Stähler ist der durchtriebenste Schuft des Berliner Pflasters.“
„Mir,“ sagte der Referendarius selbstzufrieden, „hat er schon halb und halb ein Geständniß ablegen müssen.“
„Er hat Sie ganz und gar belogen. Aber ich bin Ihnen dankbar, lieber Referendarius, daß Sie ihn arretirt haben: ich suchte ihn den ganzen Morgen.“
„Sie suchten ihn?“
„Er hat heute Nacht in Moabit einen schweren Einbruch verübt, heute Nacht um ein Uhr.“
„Mein Gott, um ein Uhr war er ja in der Jüdenstraße; er hat es mir selbst gestanden.“
„Mein lieber Referendarius, Sie müssen noch viel lernen, besonders von den Spitzbuben. Um Sie abzulenken von dem, was er gethan hatte, ging der Mensch desto bereitwilliger auf das ein, was Sie von ihm wissen wollten.“
„Aber, ich hatte ihn selbst gesehen.“
„Phantasie, lieber Freund.“
Dem Referendarius brach der Angstschweiß aus. „Der Schurke,“ rief er.
„Hielten Sie den zehn Mal bestraften Dieb für einen ehrlichen Menschen?“
„Aber, ich habe noch mehr gesehen.“
Er theilte dem Polizeidirector mit, wie der Graf von dem kleinen, entsprungenen Menschen Geld erhalten habe. Der Vorgesetzte hörte ihm sehr aufmerksam zu.
„Aber,“ erwiderte er, „junge Menschen haben ihre Abenteuer; das rechtfertigte seine Verhaftung nicht.“
„So werde ich ihn wieder in Freiheit setzen müssen.“
„Ich bin Ihnen zuvorgekommen, und Sie können ihn bereits im Hofjäger finden; ich habe ihm versprochen, Sie würden in einer halben Stunde dort bei ihm sein, um ihn um Verzeihung zu bitten.“
„Ich sollte mich so compromittiren?“
„Sie müssen schon; Sie haben das Versehen begangen.“
„Aber es werden täglich Hunderte solcher Versehen begangen und niemals bittet man um Verzeihung, im Gegentheile, der unschuldig Verhaftete bekommt einen Verweis, daß er sich verdächtig gezeigt und dadurch der Behörde unnütze Mühe und Kosten gemacht habe.“
Der Polizeidirector lächelte.
„Den gewöhnlichen Leuten gegenüber muß allerdings die Ehre der Behörde gewahrt werden; aber hier –. Zudem hatte ich Sie vorher gewarnt, sich nicht zu compromittiren. Jedenfalls verlangt es der Gesandte. Der junge Graf selbst wollte freilich nichts davon wissen, Sie möchten denn eine Flasche Champagner mit ihm trinken wollen. –“
Der Referendarius ging sehr kleinlaut und niedergeschlagen. Allein schon nach drei Tagen konnte er desto triumphirender zu seinem Vorgesetzten zurückkehren, der seinerseits, wenn auch gerade kein langes, doch ein sehr nachdenkliches Gesicht machte.
„Der Graf Zilly ist fort, Herr Polizeidirector?“
„Ja, Herr Referendarius.“
„Verschwunden? Plötzlich?“
„Hatten Sie vielleicht vorher Kenntniß von seinem Verschwinden gehabt?“
„Nicht die geringste.“
„Was halten Sie von der Sache?“
„Ich habe dem Menschen nie getraut, Herr Director. Dieses plötzliche Erscheinen, dieses Renommiren mit dem stehenden Thaler für die Droschke und dem Ducaten für eine Tasse Kaffee, dieses Herandrängen an die Gardeofficiere, unseren besten Adel – das Alles war mir von Anfang an verdächtig. Dazu jene nächtliche Begegnung und Unterredung in der Jüdenstraße! Und diesen Menschen habe ich, hat ein Beamter um Verzeihung bitten müssen! Ich hatte eine Ahnung seines plötzlichen Verschwindens. Aber ich habe auch eine Ahnung, daß ich ihn noch einmal wiederfinden werde.“
„Sie stimmen also mit den Vermuthungen des österreichischen Gesandten überein?“
„Darf ich fragen, was dieser vermuthet?“
„Daß der Graf Zilly noch in Berlin sein müsse.“
„Der Graf? Man hält ihn noch für einen Grafen?“
„Der Gesandte hat sich nicht darüber ausgesprochen; er hat nur beantragt, sehr genau und sorgfältig auf ihn zu vigiliren, ihn im Betretungsfalle zu verhaften und sofort ihm, dem Gesandten, Nachricht davon zu geben. Uebrigens soll die ganze Angelegenheit geheim bleiben; nur die vertrauteren Polizeibeamten sind deshalb davon in Kenntniß gesetzt, und indem ich auch Ihnen diese amtliche Mittheilung mache, muß ich um die strengste Verschwiegenheit bitten.“
„Was mag diese ungewöhnliche Discretion zu bedeuten haben?“
„Ich denke, ein ungewöhnliches Verhältniß.“
„Ah, diese Gardeofficiere haben mit ihm verkehrt, manche Flasche Champagner auf seine Gesundheit mit ihm getrunken, vielleicht auch mit ihm gespielt; das könnte compromittirend werden.“
„Gespielt nicht,“ versicherte mit Entschiedenheit der Polizeidirector.
Der Polizeireferendarius lächelte fein, als wenn er, obgleich Neuling in dem Fache, doch schon mehr wisse, als er nur wissen sollte.
„Wir dürfen nicht alle Spielhöllen in Berlin kennen, Herr Director.“
„Sie wissen Bescheid. Dem Gesandten ist sehr viel an der Habhaftwerdung des Menschen gelegen.“
„Ich werde mir alle Mühe geben.“
Dieses Gespräch fand in dem Polizeipräsidium in dem Geschäftsbureau des Polizeidirectors statt.
Fast just zu derselben Zeit ereignete sich auf dem Spittelmarkte zu Berlin, der bekanntlich von dem Polizeipräsidium nur durch den Petriplatz, die Gertraudenstraße, den Cölnischen Fischmarkt und den Mühlendamm getrennt ist, Folgendes:
Aus der Leipziger Straße kam in eiligem Schritt ein junges Mädchen. Sie war noch sehr jung, etwa sechszehn bis siebzehn Jahre alt, aber schon von einer hervorstechenden Schönheit; wer die hohe, schlanke Gestalt mit dem feinen, sanften Gesichte und den frommen, demüthigen Augen so leicht und anmuthig daher schweben sah, meinte, daß er nie eine schönere, herzigere Blondine sehen könne. Sie war nicht elegant, aber auch nicht ärmlich gekleidet; man konnte sie für eine Arbeiterin in einem Putz- oder ähnlichen Geschäft halten. Sie bog, als sie das Ende der Leipziger Straße erreicht hatte, hinüber auf das Trottoir an der Spittelkirche, als wenn sie in die Wallstraße wolle. Es war dort ein großes Gedränge von Menschen allerlei Standes und Alters, die um diese Zeit – es war zwölf Uhr Mittags – aus den Fabriken, Comptoirs, Läden und anderen Arbeitslocalen der nahen und fernen [383] Straßen und Plätze hin und her kamen, um sich zu dem Mittagessen und zu der kurzen Mittagsruhe zu begeben.
Mitten in dem Gedränge, gleich hinter der Spittelkirche, dort wo der Eingang zu der sogenannten Sparwaldsbrücke sich befindet, stand ein hübscher junger Mann, schwarz gekleidet, mit einem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen und großen lebhaften schwarzen Augen; man konnte ihn für einen Maler halten. Er stand einige Schritte seitwärts von dem Trottoir und blickte nach der Leipziger Straße hin, als wenn er dort Jemanden erwarte. Hatte er wirklich Jemanden erwartet, so konnte es nur die schöne Blondine sein; denn als er diese sah, trat er näher an das Trottoir heran, als wenn er ihr dort begegnen wolle.
Das Alles hatte man schon seit vierzehn Tagen bis drei Wochen sehen können. Jeden Mittag um zwölf Uhr kam das junge Mädchen aus der Leipziger Straße und ging in die Wallstraße hinein. Jeden Mittag stand hinter der Spittelkirche an der Sparwaldsbrücke schon wartend der junge Mann mit den großen schwarzen Augen und dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen. An den Tagen vorher hatte man aber auch noch mehr sehen können. Wenn der junge Mann und das schöne Mädchen einander sahen, dann lächelten ihre Augen unwillkürlich sich Seligkeit entgegen, und still nahm er ihren Arm und legte ihn in den seinigen, sie stützte sich still, aber recht innig und fest auf ihn und so gingen sie in dem Gedränge neben einander, bis man sie tief hinten in der Wallstraße aus den Augen verlor.
Ich selbst, der Schreiber dieser Zeilen, habe das schöne Paar manchen Mittag so gesehen, liebend, geliebt, glücklich, selig. Ich wußte nicht, wer sie waren; ein Maler oder Lithograph er, dachte ich, eine Putz- oder Schneidermamsell sie. Aber, mochten sie sein, wer sie wollten, mein Herz mußte ihnen jedesmal einen stillen Segen voll langen Liebesglückes zurufen. Sie sah ja so fromm, so unschuldig und demüthig aus, so kindlich demüthig und doch wieder so kindlich stolz in ihrem Glücke, an dem Arme des jungen Mannes. Und er – aus dem jugendlichen, frischen Mannesgesichte leuchtete Geist, Muth und Edelsinn hervor, und doch manchmal mußte mich, wenn ich sie sah, plötzlich eine heiße Angst überfallen. Sie war ein so durch und durch unschuldiges, unbefangenes und unerfahrenes Kind. War aber er nicht ein junger Mann, vielleicht ein Sohn der großen Residenz, aufgewachsen in und vertraut mit allen ihren Lastern, mit ihrer ganzen Verderbtheit und Gewissenlosigkeit? Allein, wenn er auch ebenfalls unverdorben und von bravem Charakter war, sie waren Beide ohne Vermögen, das sah man ihnen leicht an; wie lange konnte es dauern, ehe sie an das Heirathen denken durften; sie waren nicht einmal öffentlich, vor Verwandten und Freunden erklärte Brautleute; wie hätten sie sonst flüchtig in dem Gedränge der Mittagsstunde in einer Gegend der großen Stadt sich aufgesucht, wo sie darauf rechnen konnten, nur von Unbekannten gesehen zu werden? Sie waren nur Liebende, die vor den Ihrigen ihre Liebe verbergen mußten. Konnten sie nicht auch einmal zu anderer Zeit, in einsamer, menschenleerer Gegend sich zusammenfinden? Heimlich, süß, gefährlich? Mußte nicht ein Verlangen, ein heißes und immer heißeres Sehnen danach in den liebenden, feurigen, jugendlichen Herzen erwachen? Und dann? Was ist die Tugend der Jugend?
Heute sollte ein Unfall das jugendliche Zusammentreffen der beiden Liebenden stören. Als sie sich gewahrten, verklärten sich die schönen Gesichter wie sonst. Der junge Mann reichte ihr seinen Arm; sie legte den ihrigen hinein; ihre Hände drückten sich; ihre Augen lächelten sich voll Seligkeit an. So gingen sie, ein liebliches, reizendes Bild, die alte, häßliche Wallstraße hinunter.
„Guten Morgen, meine liebe Emma,“ hatte er sie gegrüßt.
„Du hast schon auf mich gewartet, Rudolf?“
„Du bist länger geblieben, als sonst.“
„Sei nicht böse. Die Directrice hatte wieder den Doppellouisd’or vergessen, den sie mir schon gestern mitgeben wollte, um die Rechnung zu bezahlen; ich erzählte es Dir.“
Der junge Mann hatte diese unbedeutende Mittheilung mit einem gewissen Interesse angehört.
„Du hast das Geld?“ fragte er mit demselben Interesse, das er freilich unter einem gleichgültigen Tone der Frage zu verbergen suchte.
„Ich habe es. Sie rief mich zurück, um es mir zu geben, als ich schon auf der Straße war. Darum hast Du auf mich warten müssen.“
„Um so größer war meine Freude, als ich Dich sah.“
„Ich fürchtete schon, Dich nicht mehr zu finden, und eilte deshalb.“
„Wie konntest Du fürchten?“
„Ach, Du hast ja nur diese eine Stunde zum Mittagessen, und da mußt Du noch den weiten Weg bis hinten in die Königsstadt machen.“
„Und Du meintest, ich hätte nicht einmal auf mein Mittagessen verzichten können, um Dich zu sehen?“
„Vergib mir, Du hast Recht. Mir würde ja kein Bissen geschmeckt haben, wenn ich Dich nicht gefunden hätte.“
Der junge Mann schien noch etwas Anderes auf dem Herzen zu haben, als seine Liebe zu dem schönen Mädchen und sein Interesse für den Doppellouisd’or.
„Ist der Fremde bei Deiner Mutter eingezogen?“ fragte er seine Begleiterin.
„Ja,“ erwiderte sie lebhaft, und die unbedeutenden Thatsachen, die sie nun erzählte, schienen für sie nicht minder wichtig zu sein, wie für den jungen Mann; der Grund ihrer Theilnahme mochte freilich ein völlig verschiedener sein. – „Ja, schon gestern Abend. Und denke Dir, er hat drei Zimmer gemiethet, und gleich auf einen ganzen Monat.“
„Drei Zimmer?“
„Drei. Er sagte, er werde manchmal Besuche bekommen, und dafür müsse er ein besonderes Zimmer haben; das zweite hat er zum Arbeiten und das dritte zum Schlafen. Alle drei Stuben gehen in einander. Es sind die drei am Korridor links; ich habe Dir ja unsere Wohnung beschrieben.“
„Ja, ja,“ sagte der junge Mann, wie mechanisch. Er schien angelegentlich über etwas nachzusinnen.
Das Mädchen fuhr fröhlich plaudernd fort: „Ein eigner Kauz scheint er zu sein, dieser kleine, runde, alte Herr. Und in einer großen Stadt ist er wohl noch nie gewesen. Zu Fuße, sagte er, habe er in den geraden breiten Straßen, wo einem immer die Sonne auf den Kopf scheine, und auf den platten und glatten Steinen beinahe gar nicht gehen können; und die Droschken führen ja so langsam und schwer und knarrend, wie alte Mistwagen.“
„Er ist wohl vom Lande?“ fragte der junge Mann.
„Er hat nicht sagen wollen, woher er sei; er ist überhaupt sehr geheimnißvoll, und wollte nicht einmal seinen Namen nennen, wir sollten ihn nur Herr Ehrenreich rufen, und als meine Mutter ihm bemerkte, daß sie ihn bei schwerer Strafe auf der Polizei anmelden müsse, meinte er, er stehe für Alles ein, und habe die Sache mit der Polizei schon abgemacht.“
Die Oberlippe des jungen Mannes zuckte etwas sonderbar unter dem schwarzen Schnurrbärtchen, bei dieser Mittheilung der plaudernden schönen Blondine. Sie sah es nicht und fuhr unbefangen fort: „Und auch reich, sehr reich muß er sein. Er hatte, als er angekommen war, ein kleines, aber schweres Kästchen bei sich, das er wie seinen Augapfel hütete. Die neugierige kleine Anna hat es aufheben wollen. Es ist ihr beinahe zu schwer gewesen; sie meinte, es müsse lauter Gold darin sein. Er hat es bald sehr sorgfältig in dem Kleiderschranke neben seinem Bette verschlossen, und den Schlüssel zu sich gesteckt.“
Der junge Mann hörte Alles mit fortwährender gespannter Aufmerksamkeit an.
„Hat er nicht gesagt, welche Geschäfte er hier habe?“
„Er hat nicht davon gesprochen.“
Das Gedränge in der Wallstraße um die Mittagszeit zieht sich bis tief in die Straße hinein. Die Arbeiter kommen von beiden Enden der Straße; von dem Spittelmarkte her die eleganteren aus den eleganten Quartieren der Stadt; von der Waisenbrücke her die gröberen aus den Zuckersiedereien, aus den Färbereien, von den Holzplätzen u. s. w. Die beiden Liebenden waren in dem Gedränge weiter gegangen, nur mit einander und mit ihrem Geplauder beschäftigt. Straße, Menschen und Gedränge um sie her waren für sie nicht da; für das Mädchen gewiß nicht, für den jungen Mann schien es so, wenn man das gespannte und doch so nachsinnende Auge ansah, während er seiner Begleiterin zuhörte.
So gewahrte sie nicht, und er schien es nicht zu gewahren, wie auf einmal ein kleiner, gedrungener Mensch, gekleidet wie ein Arbeiter, der aus der Fabrik kommt, rasch an ihnen vorüberging, und in dem Augenblicke, als er neben ihnen war, dem Mädchen [384] ein weißes Taschentuch, das sie in der Hand hielt, leicht und gewandt entriß. Bevor sie ihren Verlust nur ahnen konnte, war er in dem Gedränge verschwunden. Mit dem Tuche war der Armen noch mehr entrissen.
Sie hatte nur eine leise Berührung gefühlt, daß Jemand in dem Gewühle der Straße an ihr vorbeigestreift sei. Sie sah nach dem Tuche, vermißte es und wurde leichenblaß.
„Um Gotteswillen!“ rief sie entsetzt.
„Was ist Dir, Emma?“
„Mein Tuch! Es ist fort. In diesem Augenblick. Ich hatte meine Börse hineingewickelt.“
„Sie ist mit fort?“
„Sie ist gestohlen. Vor einer halben Minute hatte ich noch Tuch und Börse.“
„Gestohlen? Sahest Du Jemanden?“
„Ich fühlte nur einen leichten Ruck, ich achtete kaum darauf.“
„Kann Dir das Tuch nicht auch entfallen sein?“
„Es wäre möglich.“
„Wir wollen suchen.“
Sie suchten an der Stelle, wo sie standen, wo das Mädchen den Stoß gefühlt hatte; sie fanden nichts; sie kehrten in der Straße zurück; ihr Suchen blieb vergebens.
„Es ist Dir gestohlen, Emma. Sahest Du keinen verdächtigen Menschen?“
„Ich hatte auf Niemanden geachtet.“
„Der Dieb ist längst fort. Unter den Tausenden von Menschen wäre er ohnehin nicht aufzufinden.“
„Ich Unglückliche! Was fange ich an?“
„Wie viel hattest Du in der Börse?“
„Den Doppellouisd’or der Directrice. Ich bin verloren. Sie ist so mißtrauisch; sie wird mich fortjagen; sie wird mich gar der Polizei übergeben.“
„Laß uns überlegen, liebe Emma. Das Geld wird sich ersetzen lassen.“
„Ich habe nicht so viel, auch meine arme Mutter nicht. Und ich muß noch heute der Directrice die Quittung bringen.“
Heiße Thränen erstickten fast die Worte des unglücklichen Mädchens.
„Laß uns nachrechnen, Einige Thaler habe ich noch –“
„Nein, nein, Rudolph, nicht Du, nicht Dein mühsam Erspartes; ich werde das Geld schon zusammenbringen. Drei Thaler habe ich noch in meiner Sparcasse. Meine kleine Schwester Anna hat gar noch vier Thaler in ihrer Sparbüchse. Das macht zusammen schon sieben Thaler. Es fehlen nur noch vier Thaler und zehn Silbergroschen. So viel wird meine Mutter noch haben.“
„Aber wird es nicht ihr letztes Geld sein, Emma?“
„Es ist es,“ weinte das Mädchen.
„Und dann, wenn Ihr Alles zusammengelegt habt, und wenn Du damit die Rechnung der Directrice bezahlt hast, dann habt Ihr nichts mehr im Hause?“
„Nichts, Nichts!“
Sie konnte kaum antworten; sie mußte laut und lauter schluchzen.
„Emma, die Leute sehen uns an; fasse Dich. Laß uns hinter das Holz dort treten.“
Sie gingen hinter das Bauholz, das an der Straße auf einem Bauplatze lag. Dort waren sie unbemerkt.
„Emma, ich habe noch drei Thaler baar. Das Fehlende borgt mir ein Freund. Um halb zwei Uhr wirst Du mich hier mit dem Gelde treffen. Du nimmst es von mir?“
„Ich kann nicht, Rudolph.“
„Liebst Du mich, Emma?“
„Gewiß, gewiß; eben darum kann ich nicht.“
„Aber Deine Mutter könntest Du betrüben? Sie und Deine kleinen Brüder und Schwestern könntest Du darben lassen?“
Das Mädchen weinte heftiger. Sie warf sich an seine Brust und schlang ihren Arm um ihn.
„Wirst Du mich lieb behalten, Rudolph, wenn ich das Geld von Dir nehme?“
„Um desto mehr, mein Engel, wenn ich Dich noch mehr lieben könnte.“
„Dann wollen wir theilen. Ich nehme meine drei Thaler aus der Sparcasse und drei Thaler von meiner Schwester Anna. Den Rest gibst Du mir?“
„So sei es,“ sagte der junge Mann nach kurzem Nachsinnen.
„Und nun geh, mein Mädchen, damit wir uns zur rechten Zeit hier wieder treffen können. Um halb zwei.“
Sie trennten sich. Das Mädchen ging mit schwerem Herzen, und die Augen trocknend, die nicht trocken werden wollten, die Wallstraße hinunter. Der junge Mann kehrte zum Spittelmarkte zurück, anfangs ebenfalls tief nachdenklich und wie mit sich unzufrieden; nach einiger Zeit aber lächelte er vergnügt in sich hinein.
Emma Rohrdorf war die Tochter einer armen Wittwe, deren Mann Registrator bei irgend einer der vielen Behörden Berlins gewesen und vor etwa einem Jahr gestorben war. Ein preußischer Subalternbeamter, zumal in Berlin, bekommt in der Regel gerade nur so viel Gehalt, daß er die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens davon bestreiten kann. Die Beamtenwelt, und auch die Subalternbeamtenwelt, kostet darum doch dem Lande Geld genug, weit mehr als genug. Wie das? – Ach, der preußische Staat braucht viele Schreibmaschinen. Bei dem Stadtgerichte zu Berlin arbeiteten und schrieben zu der Zeit, in welche diese Geschichte fällt, über fünfhundert Subalternbeamten; jetzt werden deren wahrscheinlich über sieben- bis achthundert sein und schreiben.
In anderen Ländern gewinnt der arme Beamte das, was ihm zum Leben fehlt, durch irgend ein Nebengeschäft, das er selbst oder seine Frau oder seine Kinder führen. Wie würde der Büreaukratismus das in Preußen leiden? Dem Beamten selbst verbietet es sogar geradezu das Gesetz, seinen Angehörigen dieser hochmüthige, hohle Kastengeist.
Der Registrator Rohrdorf hatte mit seiner Familie nur sehr kümmerlich leben können. Als er starb, war seine Wittwe mit vier Kindern, von denen die damals sechszehnjährige Emma die älteste war, auf die städtische Armencasse oder das Verhungern angewiesen. Indeß ein Verwandter, ein Schlossermeister, gegen den die Frau „Geheimeregistrator“ sich nie überhoben hatte, nahm sich der braven Frau an, streckte ihr ein kleines Capital vor und half ihr, in der Dresdener Straße ein kleines und bescheidenes Hotel garni einzurichten. Die Dresdener Straße ist der Mittelpunkt des kleinen Landhandelsverkehrs in Berlin. Die Wittwe Rohrdorf hatte daher immer ihre paar Zimmer an Landleute, kleine Gutsbesitzer, Krämer und Handwerker aus der Nachbarschaft von Berlin, vortheilhaft vermiethet. Außerdem ließ jener Verwandte die Tochter Emma das Putzmachen erlernen, so daß sie schon nach drei bis vier Monaten bei einer Putzmacherin in der Leipziger Straße eintreten und monatlich sechs bis sieben Thaler verdienen konnte, die sie ihrer Mutter in die Wirthschaft gab. Die Familie konnte in solcher Weise leben, wenngleich nothdürftig, und es blieb selbst noch soviel übrig, daß die jüngeren Kinder eine bessere Schule besuchen konnten, als die Armenschule.
Der kleine Landmann hat das Capital, das ihm die Ernte gebracht hat, gewöhnlich bis zur nächsten Ernte völlig wieder verzehrt. Kurz vor der nächsten Ernte pflegt daher der Landverkehr auch in den Städten mehr und mehr abzunehmen, bis er zuletzt ganz stockt, um erst von dem Ertrage der neuen Ernte wieder belebt zu werden. In den Monaten April und Mai hatten sich auch bei der Wittwe Rohrdorf nur wenige Miether eingefunden, und sie hatten noch weniger verzehrt. Desto mehr hatte die arme Wittwe von ihren geringen Ersparnissen der vorhergegangenen Monate aufzehren müssen. Sie besaß nur noch wenige Thaler und sie hatte unter Thränen schon davon gesprochen, daß sie nächstens die Sparbüchsen ihrer Kinder werde angreifen müssen. Freilich tröstete sie sich damit, daß im Juni der Wollmarkt Alles ersetzen werde, und der alte, kleine Herr kam schon und nahm drei Zimmer.
Es giebt einen Mann in Frankreich, dem schönen Lande der Troubadours und Parvenü’s, der Sänger und der Abenteurer, der war vor dreißig Jahren gar Nichts. Heut’ aber ist er Viel, heut’ ist er eine Größe und ein Mann von Ruf und Namen, ein Parvenü, der sich in’s Fäustchen lacht. Dies ist Herr Emil von Girardin, der erste und große Emporkömmling der Zeitungsschreiberei. Otons le chapeau!
Es war just Julirevolution, 1830; Louis Philipp bestieg den Thron, die bourbonische Lilie verschwand und eine neue Morgenröthe brach an, der nichts fehlte, nicht einmal der Hahn – auf den Casquets der Soldaten. Da tritt ein Mensch auf, einige zwanzig Jahre alt, der seinen Vater anklagt, weil dieser ihm nicht seinen Namen zu tragen gestattet. Der alte, vom bösen Gewissen geplagte Papa, ein Herr von Girardin, wüthet; sein Sohn lacht ihn aus und meint, daß er als ein Kind der Liebe gerade soviel werth sei, als ein Kind der Ehe, ja vielleicht noch mehr, und daß er unstreitig das Recht besitze, den Namen desjenigen zu tragen, der ihn gezeugt habe. Das Gericht gab dem Sohne auch Recht; denn es kommt in Frankreich gar nicht auf den Namen an, und der Sohn des alten Herrn von Girardin hätte sich ohne Hindernisse Graf Coquin oder Marquis de Pelisson nennen können, da der Adel in Frankreich ohne Werth ist, nämlich so lange, bis er, wie jetzt von dem Herrn Frankreichs geschieht, einen Werth erhalten soll, indem man die Emporkömmlinge für legitim erklärt. Genug, der junge Mann, der damit auftrat, daß er seinen eigenen Vater des Namens wegen verklagte, war der Herr Emil von Girardin, dessen Name damit eine der Illustrationen der chronique scandaleuse geworden war.
Herr Emil von Girardin war nun mit einem Male eine bekannte Gestalt; das war der erste Erfolg, den er erringen wollte. Aber ein Mann wie er begnügte sich mit diesem Erfolge nicht; er wollte etwas Großes werden, denn er besaß namenlosen Ehrgeiz; er wollte Macht, Reichthum und Einfluß erreichen, denn er hatte dazu einen zähen und bedeutenden Geist, Witz und Bosheit. Aber wie sollte ein Mensch, wie er es war, der sich in die bessere Gesellschaft förmlich hineingedrängt hatte und dessen Vermögen nicht gar bedeutend war – wie sollte er ermöglichen, wozu Andere außer ihrem Witz und Geist noch Gönner, Protection und Verdienste haben müssen? – Herr von Girardin war aber kein Mann, der sich abschrecken ließ. Er sah sich zuerst die Welt an, in der er stand, und beobachtete, daß die Gesellschaft einem Milbenhaufen gleiche, wo Einer über den Anderen fortkriecht; ein Gomorrha, wo Seine Majestät das Geld allein regiere und dem Volke mit glühendem Eisen das Herz ausbrenne. Diese Gesellschaft mit allem Jammer und Elend, welches die gepriesene Civilisation hervorgerufen hatte, erschien seinem Geiste wie eine Courtisane, die dem am innigsten anhängt, der sie schlägt und verhöhnt.
Girardin sagte sich nun, daß diese Gesellschaft, die keine Moral und keine Tugend hat, mit aller ihrer Raffinerie doch eigentlich einem Dummkopf gleiche, den man gut gebrauchen muß, und daß man von ihr Alles erwarten könne, wenn man ihr die eigene Fäulniß unter die Nase halte. Speculation war ihre einzige Religion; Moral und Gesinnung fand sie sehr schön, aber langweilig. Um durch sie Etwas zu werden, mußte man sie als Leiter benutzen und ihre Gebrechen verherrlichen, um damit in die Höhe zu kommen. Das war freilich nicht moralisch; aber man braucht heutzutage nicht mehr moralisch zu sein, wenn man nur klug ist.
Nachdem Girardin nun seinen Namen durch den scandalösen Proceß bekannt gemacht hatte, fand er, daß er einen kühnen Wurf thun müsse, um eine respectable Stellung in der Gesellschaft einzunehmen, die sich Alles gefallen läßt, wenn man nur ihren Gebräuchen schmeichelt und den Schein rettet. Eine Heirath war das beste Mittel, diesen Zweck zu erreichen. Aber der Teufel! Girardin wußte auch, daß er mit seiner Heirath Aufsehen machen müsse, da das Aufsehen bei der Gesellschaft das Verdienst ersetzt. Diese Heirathsspeculation Girardin’s war um so verlockender, als er seine Augen auf die Tochter der bekannten Schriftstellerin Sophie Gay geworfen, die damals bereits den Ruhm ihrer Mutter überflügelt hatte und durch ihre reizenden Poesien von den galanten Dichtern Frankreichs zur „zehnten Muse“ gekrönt worden war. Delphine Gay zu besitzen, das hieß also zugleich eine berühmte, gefeierte und geliebte Schönheit erwerben, deren Verdienst natürlich ihrem Gatten eine wichtige Bedeutung geben mußte. Aber Emil von Girardin war häßlich; sein Adel sehr zweifelhaft und berüchtigt; sein Vermögen, von dem er bisher gelebt hatte, nicht sehr verlockend; außerdem war die junge Delphine, die Muse Frankreichs, von reichen und berühmten Anbetern umringt. Alles dies hätte einen Anderen entmuthigt. Doch Girardin im Gegentheil fand darin höheren Reiz; er stellte sich Delphine vor, nachdem diese ihre Anbeter und darunter den Herrn de la Grange verabschiedet hatte. Die Mutter und die Tochter waren Herrn von Girardin nicht abgeneigt, und die junge Delphine antwortete auf alle Vorstellungen, welche man ihr hinsichtlich des Rufes und der Geburt Girardin’s machte:
„Was thut’s? das ist ein Mann von festem Willen und energischem Charakter, der sich Vermögen zu erwerben wissen wird.“
So führte denn Girardin die Braut 1831 heim, und um dem Aufsehen, welches diese Heirath machte, noch mehr Nahrung zu geben, kaufte der glückliche Ehemann ein prächtiges Hôtel in der Rue St. Georges, was ihn, da er kein großes Vermögen besaß, in Schulden stürzte, die seinen Credit nicht minder erhöhten. Von diesem Tage an sagte man, daß Delphine, die Dichterin, nur einen Fehler habe, nämlich ihren Gemahl. – In den Flitterwochen machte der alte Herr von Girardin seinem speculativen Sohne eine Visite; er sah die fürstliche Pracht seines Hôtels, schnitt ein fürchterliches Gesicht und sagte:
„Wird ’mal in einer Dachstube wohnen!“
Der alte, etwas bramarbasirende Papa Girardin kannte seinen Sohn nicht im Geringsten.
Als Emil von Girardin nun Namen, Stellung, eine berühmte Frau und Schulden erworben hatte, triumphirte er und blickte höhnisch auf die Gesellschaft herab, die ihn einst nicht einmal anerkennen wollte. Doch es handelte sich nun, weiter zu kommen, und auch Einfluß und Ehren zu erwerben. Da man Beides aber vermöge des Geldes erreichen kann, so sann Girardin auf eine Speculation, die ihm Alles auf einmal verschaffen könnte. Es war nicht schwer, unter den damaligen Zuständen Frankreichs, zu finden, daß ein Journal, die Presse überhaupt und eine ganz originelle Taktik darin, den Schlüssel zu allen Erfolgen bilde, die eine so ehrgeizige Natur wie Girardin erringen wollte.
In Folge dessen gründete Emil von Girardin 1836 ein neues Zeitungsblatt, „La Presse.“ Seiner Taktik getreu, suchte er gegen alle bestehenden Journale und gegen die allgemein geltenden Sitten Opposition zu machen. Nicht allein, daß er also sein Journal für 40 Francs jährlich ausbot, wodurch die anderen Zeitungen, die 80 Francs kosteten, in ihrer Existenz bedroht waren; sondern er gründete auch das seitdem eingebürgerte Feuilleton, und machte, da ihm die Leser zu Tausenden zuströmten, aus seiner „Presse“ die Leiter, auf welcher er Stufe zu Stufe erklomm. Auch war er ferne davon, seinem Blatte eine bestimmte politische Farbe zu geben; heute griff er die Regierung an und morgen lobte er sie; er war immer nur bedacht, Aufsehen durch seine Artikel zu erregen, kümmerte sich nicht um die öffentliche Meinung und, wenn er sich auch damit keinen Ruhm erwarb, und am allerwenigsten Ehre, so gewann er deshalb doch eine großartige Abonnentenzahl von mehr als 40,000, die er sich auch immer zu erhalten wußte. Der bessere Theil der Presse erklärte sich natürlich gegen diese gesinnungslose Charlatanerie Girardin’s, welche die Demoralisation der Gesellschaft auf’s Schmählichste ausbeutete. Aber der Redacteur der Presse war über diese Empörung nicht ungehalten; im Gegentheil, er schlug mit seiner Pritsche immer mehr unter den Geistern edlerer und männlicher Gesinnungen umher und zeigte immer entschiedener, daß er sein Journal nur als Mittel für seine persönlichen Zwecke gegründet habe, nicht für die einer Partei. Armand Carrel, der stolze Geist des „National“, der die Fahne des edleren Republikanismus aufgepflanzt hatte und sie mit heroischem Muth vertheidigte, war der Einzige, welcher Girardin vernichten konnte; denn die Gewalt einer edlen, mit Energie begabten Gesinnung ist unwiderstehlich. Girardin ahnte, was Carrel für eine Nemesis für ihn werden könnte, und rief ihn, als er nicht mehr mit der Feder ihm gewachsen war, zum Zweikampfe heraus, in welchem, von Allen betrauert, der Redacteur [386] des National blieb. Girardin aber, der ruhmlose Sieger, weidete sich an den Flüchen und den Verwünschungen, die jeder redliche Mann, ja ganz Frankreich gegen ihn ausstießen; er trotzte ihnen unerschütterlich mit seiner scharfen Feder, und als sich endlich der Sturm legte, den er hervorgerufen hatte, – ließ er sich zum Deputirten der französischen Nation erwählen. So bildete er im wahren Sinne des Wortes eine geißelnde Satire auf die gesinnungs- und morallose Gesellschaft, die zugleich verachten und fürchten, heute hassen und morgen verherrlichen kann.
Emil von Girardin, der durch sein Journal reich geworden und durch seine gefürchtete Polemik zu Einfluß gekommen war, hatte für seinen Ehrgeiz indessen noch ein weit höheres Ziel gesteckt. Er wollte Minister werden. Am 24. Februar 1848 gab er Louis Philipp den Rath abzudanken und die Herzogin von Orleans zur Regentin zu ernennen; er war sicher, alsdann von der ihn begünstigenden Frau ein Portefeuille zu erhalten. Aber in dieser Hinsicht verrechnete sich Girardin jedes Mal und am 24. Februar ebenfalls; als er nach seiner Ministerernennung lief, war es bereits zu spät, und die Republik, die seine glänzende Hoffnung zerstört hatte, mußte es dafür schwer entgelten. Er griff sie an und setzte sie durch seine Artikel dermaßen in Aufruhr, daß Cavaignac den mißvergnügten Deputirten der Nationalversammlung einsperren ließ.[1] Dies verhinderte ihn jedoch nicht, 1850, als sich wieder Aussichten für eine Ministerschaft eröffneten, der Führer der rothen Republikanerpartei zu werden; denn Girardin wäre auch gern Mitglied einer Directorialregierung geworden. Als Louis Napoleon dem ehrgeizigen Girardin 1851 Aussichten auf ein Portefeuille eröffnete, verleugnete dieser sofort allen Republikanismus und schwärmte für Bonaparte; als er sich nach dem Staatsstreiche des December wiederum betrogen sah, schnaubte er vor Grimm und griff Louis Bonaparte auf’s Heftigste an. Wohl drei Monate lang nach dem 10. December 1851 setzte er tagtäglich an die Spitze seines Blattes irgend einen Artikel der abgeschafften republikanischen Verfassung; z. B.: „Artikel 10. der Verfassung von 1848 sagt: der Präsident der Republik wird auf drei Jahre erwählt. Nach diesem Zeitraume muß er abtreten. Jedes Attentat gegen die Republik wird mit dem Tode bestraft.“ – Man kann sich denken, wie gefährlich Louis Napoleon diese Citate einer von ihm beseitigten Verfassung, denen weiter nichts beigefügt war, erschienen, und wie sehr sie andererseits wieder Girardin’s Einfluß bei den Volksmassen erhöhten. Trotz alledem sah man den Parvenü der Presse ein Jahr nachher wieder Arm in Arm mit Sr. Majestät dem Kaiser Napoleon III. in vertraulicher Unterhaltung auf der Terrasse des Tuileriengarteus promeniren.
Aber bald hatte er von Neuem die schmerzliche Erfahrung zu machen, daß der Kaiser Napoleon ihn nicht zum Minister auserwählen wollte. Er, sowie der andere journalistische Dr. Véron, waren bisher vom Kaiserreich genug chicanirt worden, um nicht mit ihm zu schmollen und dadurch ihre Person mit einer neuen Wichtigkeit zu umgeben. Dr. Véron, der nicht einmal zum Gesandten ernannt wurde, that sich nun wieder groß als Bourgeois, verkaufte sein Journal dem „Constitutionel“ und wurde Mäcen der Schriftsteller, um sich zu trösten. Girardin machte es ihm nach, indem er vor mehreren Monaten sein Journal verkaufte. Er verfehlte nicht, dies mit allem Eclat zu thun, den er bei jeder Gelegenheit zu entfalten verstand. Er nahm feierlichst Abschied von der publicistischen Laufbahn, was ihm natürlich Niemand glaubt, und versicherte dem über seinen Schritt erstaunten Publicum, daß ein Mann von Geist und von Gesinnung, wie er sei, unter den jetzigen Umständen kein Blatt mehr redigiren könne. So schied er mindestens mit einem echten Knalleffect, denn alle Welt war wie versteinert, als man hörte – Girardin, diese größte politische Wetterfahne, die es gegeben, dieser Charlatan, der niemals Gesinnung gehabt, und morgen verwarf, was er heute vertheidigte, dieses politische Chamäleon ziehe sich aus Gesinnung von der öffentlichen Carriere zurück.
Um diesem Aufsehen noch höheren Effect zu verschaffen, heirathete Girardin, da seine liebenswürdige Gattin Delphine 1854 gestorben war, eine reiche deutsche Gräfin und eins der schönsten Mädchen, verschloß sich in seiner Villa, und läßt die Gesellschaft, deren Schöpfung er ist, ahnen, daß sein feiner und speculativer Geist eine neue Komödie brüte; denn vielleicht wird dieser Parvenü der Presse doch noch ein Minister!
Um das Jahr 1775 schrieb der holländische Arzt Försch, der sich längere Zeit in Java aufgehalten hatte, ein Buch über alle die Merkwürdigkeiten jener Insel, und erzählt dann unter Andern auch: „Irgendwo im Innern Java’s befindet sich ein furchtbarer Baum, dessen giftige Ausschwitzungen von so zerstörender Wirkung sind, daß sie nicht nur durch die bloße Berührung schon tödten, sondern auch meilenweit im Umkreise die Luft derart vergiften, daß fast Alle, die sich diesem Pflanzenungeheuer nähern, schon in großer Entfernung todt hinfallen. Selbst den Pflanzen wird sein Hauch verderblich, und in finstrer Einsamkeit steht dieser Feind alles Lebens in seinem weiten, öden Todesthal, nur umgeben von einigen kleinen Sprößlingen seiner eigenen schrecklichen Art. Bis über drei Meilen im Umkreise von ihm ist der Boden mit den Gebeinen von Vögeln, Thieren und Menschen bedeckt.“
Unter mehreren anderen Beispielen der tödtlichen Wirkung dieses Baumes erzählt Försch, daß, als sich einst viele hundert Javanesen gegen den Kaiser empört und besiegt worden waren, sie in die gefürchtete Gegend des Upas flohen, um sich nicht als Gefangene ergeben zu müssen. Allein ob sie gleich die angenommene Grenze seines Gifthauches nicht überschritten, war doch selbst hier schon die Luft so todesschwanger, daß die meisten von ihnen schnell starben, und der Rest um die Erlaubniß bat, sich nach einem gesünderen Zufluchtsort begeben zu dürfen, was ihnen denn auch gestattet wurde. Auch diese jedoch waren bereits von den verderblichen Einflüssen des Upas ergriffen, so daß nur wenige der Begnadigten das Leben retteten.
Nach Försch wurde der Saft des Upas nicht nur zum Vergiften der Pfeile und als Hinrichtungsmittel Verurtheilter gebraucht, sondern diente auch wie in Europa die Aqua Tofana und die Successionspülverchen dem Privatbedürfnisse nach Entfernung irgend eines Lästigen. Die Holländer sollen in ihren Kriegen mit den Javanesen durch das Trinken aus vergifteten Brunnen und Quellen so große Verluste erlitten haben, daß sie lebendige Fische mit sich zu führen pflegten, durch die sie überall das Wasser zuerst untersuchen ließen. Försch gibt auch als Augenzeuge einen ausführlichen Bericht über die Hinrichtung von dreizehn Frauen des Kaisers auf einmal, bei welcher Heinrich VIII. mit Upasgift bestrichene Lancetten anwenden ließ. Diese Armen, welche das Unglück hatten, sich irgendwie das Mißfallen ihres Herrn und Meisters zuzuziehen, wurden nur ganz leicht mit der Lancette geritzt, und waren in wenig Secunden der lebenszerstörenden Wuth dieses Saftes zum Opfer gefallen.
Der Leser wird nun vielleicht fragen, auf welche Weise man sich denn dies Upasgift verschaffte, da der Baum sich so erfolgreich zu verbarricadiren verstand, daß ihm kein Mensch auch nur auf drei Meilen zu nahe kommen durfte? Auch hierauf gibt Försch befriedigenden Aufschluß: Verurtheilte Verbrecher machten sich das Vergnügen, dies dringende Staatsbedürfniß zu befriedigen. Nachdem der Spruch über sie ergangen, wurde ihnen die Wahl gestellt zwischen sofortiger Hinrichtung oder einem Gange nach dem Upasbaume und Begnadigung bei der Rückkehr mit Gift – eine treffliche Sühne für todeswürdige Verbrechen. Sie zogen in der Regel das letztere vor, denn obschon im höchsten Grade gefährlich, war doch ein Davonkommen nicht schlechthin unmöglich, und im schlimmsten Falle hatten sie einigen Aufschub gewonnen. Wenn nämlich der Wind gerade stark nach dem Baume zu wehte, und der Giftbote ein recht kräftiger Mensch war, rettete er meist das Leben, sonst freilich nicht. An der Grenze des Upasthales lebte ein alter Priester, dessen einzige Aufgabe darin bestand, die auf diese häkelige Commission Ausgesandten über das beste Verfahren zu belehren [387] und mit religiösen Stärkungen auszurüsten. Försch hatte mit diesem Priester eine lange Unterhaltung, in der er alles Nähere über den verhängnißvollen Baum erfuhr. Der alte Menschenfreund hatte während eines dreißigjährigen Aufenthaltes in dieser Gegend nicht weniger als siebenhundert Waghälse auf die Reise nach dem Upas vorbereitet, von denen kaum der zehnte Theil wieder zurückgekommen war. Er versah einen Jeden mit einer Maske, einer ledernen Kapuze und einem kleinen Kästchen für den trefflichen Saft, der ihnen das Leben und Andern Tod bringen sollte. Die Verurtheilten warteten gewöhlich in des Priesters Wohnung den Eintritt eines günstigen Windes ab, mit dem sie sich auf den Weg machten, von dem alten Manne bis zu einem Bach geleitet, dessen Lauf sie an den Baum führte. Försch hatte sehr gewünscht, sich irgend ein Stück dieses Wunderbaumes zu verschaffen, konnte aber nach langem Warten und durch vieles Bitten nichts weiter als zwei verdorrte Blätter erlangen.
Heutzutage würde Mynheer Försch nicht die geringste Schwierigkeit finden, sich so viele Upasblätter, als er nur immer wünschen mag, zu verschaffen. Sie sind in vielen botanischen Werken als die Blätter der Antaria toxicaria abgebildet. Der Saft des Baumes ist in der That so außerordentlich giftig, daß Alles, was Försch in Betreff der Wirkung kleiner Stiche von damit bestrichenen Lancetten erzählt, streng übereinstimmt mit dem, was wir über die Kraft dieser Giftarten wissen. Hätte der holländische Chirurg sich nur nicht verleiten lassen, die volle Wahrheit auch aller übrigen Erzählungen der Eingebornen auf Grund seiner eigenen angeblichen Erfahrungen zu verbürgen, so wäre nichts Erhebliches gegen seinen Bericht einzuwenden, denn Java besitzt nicht nur Upasbäume, deren Saft, wie gesagt, ein furchtbares Gift ist, sondern es enthält auch ein giftiges Thal, dessen Luft sich so tödtlich erweist, daß jedes dahin sich verirrende Wesen nach wenig Augenblicken ausgerungen hat. Dies Giftthal verdankt jedoch seine Eigenschaft keineswegs dem Upasbaume, und die Ausdehnung seiner Wirkung auf die umliegende Gegend wird sich aus den nachstehenden authentischen Berichten über diese Erscheinung leicht ermessen lassen.
Die meisten unserer Leser haben wohl schon von der Hundsgrotte in der Nähe von Neapel gehört, die ihren Namen dem Umstande entnimmt, daß gewöhnlich unglückliche Hunde dazu ausersehen werden, neugierigen Fremden ihre Eigenschaften zu produciren. Erwachsene Menschen betreten diese Grotte ohne die geringste Gefahr, denn das giftige Gas hält sich in Folge seiner Schwere tiefer, wo der Hund es einathmet und nach wenig Secunden todt hinfällt. Das Giftthal Javas ist etwas Aehnliches, wie diese Hundsgrotte, nur in colossalem Maßstabe. Es waltet jedoch ein Unterschied zwischen den Gasarten hier und dort. Die Luft, welcher in der neapolitanischen Grotte so viele Hunde zum Opfer fallen, ist die bekannte Kohlensäure, die sich bei jeder Verbrennung entwickelt, die wir ausathmen und in allen moussirenden Getränken ohne allen Nachtheil in den Magen bringen, während sie sofort tödtlich wirkt, wenn sie in größerer Menge in die Lunge gelangt. Die Giftatmosphäre des javanischen Thales scheint jedoch nach den Berichten mehr aus dem nicht minder gefährlichen Schwefelwasserstoffgas, das sich in Abzügen entwickelt und seine Anwesenheit durch einen sehr widerlichen Gestank verräth, entstanden zu sein.
Eine genaue Beschreibung dieser merkwürdigen Naturerscheinung verdanken wir dem Engländer Alexander Loudon. Vor mehreren Jahren in Java anwesend, erzählte ihm ein Häuptling, daß nur ungefähr zwei Stunden von Batum ein Thal sei, Gueva Upas genannt, welches Niemand, ohne sein Leben einzubüßen, betreten könne, und dessen Boden ganz mit Gebeinen der umgekommenen Vögel, Thiere und Menschen bedeckt sei. Loudon hatte schon vorher von einem gewissen Bergsee gehört, dessen Besuch mit großer Gefahr verknüpft sei, allem was er jetzt über dies Thal vernahm, reizte seine Neugier so sehr, daß er sich mit den holländischen Behörden besprach, und eine Untersuchungs-Expedition dahin beschlossen wurde. Es hielt schwer, Führer zu gewinnen; die wirkliche Gefahr hatte längst die Anwohnenden zurückgeschreckt, und die hieraus folgende Unbekanntschaft mit dem wirklichen Sachverhalt ließ der Phantasie freies Spiel, die Schrecken des Ortes in’s Fabelhafte zu vergrößern, so daß sich endlich Niemand auch nur auf weite Entfernung hinantraute, obwohl Jedermann die ausführlichsten Schilderungen davon zu geben unternahm, während vielleicht weit und breit kein Mensch lebte, der das gefürchtete Gueva Upas mit eigenen Augen gesehen hatte.
Endlich gelangten die Neugierigen zur Stelle. Während man den Berichten zufolge schon in größerer Entfernung eine durch den Gifthauch des Thales bewirkte Abwesenheit alles Pflanzenwuchses erwarten mußte, zeigte sich das Gegentheil, und man war genöthigt, sich mit Beilen einen Pfad durch das dichte Gestrüpp zu bahnen. Am Fuße des Berges, auf dessen Gipfel das Gueva Upas liegen sollte, angelangt, ließen sie ihre Pferde zurück und erkletterten, sich an die Baumzweige haltend, mit großer Anstrengung die äußerst steile und glatte Anhöhe. In kleiner Entfernung von der Kante des Thales kam ihnen ein höchst widerlicher, erstickender Geruch entgegen, der jedoch wieder verschwand, als sie dicht an den Krater traten, denn nichts anderes als der Krater eines ehemaligen Vulcans war das Giftthal. „Wir waren von Entsetzen ergriffen über den grauenvollen Anblick zu unsern Füßen,“ sagt Loudon; „der Schlund mochte ungefähr dreitausend Fuß im Umkreis haben und war nur dreißig bis fünfunddreißig Fuß tief. Der Boden war ganz eben, ohne den geringsten Pflanzenwuchs, ohne auch nur einen Grashalm, dagegen dicht bedeckt mit Gerippen von Menschen, Tigern, Schweinen, Rehen, Pfauen und einer Menge anderer Thiere. Nachdem wir den ersten Eindruck überwunden hatten, sah ich mich nach Sprüngen und Rissen um, aus denen das tödtliche Gas sich ergießen mochte, entdeckte aber nichts der Art. Der Boden schien ganz fest und aus einem weißen, sandartigen Mineral zu bestehen, auf dem viele einzelne Steine umherlagen. Die Thalwände waren von oben bis unten mit Bäumen und Sträuchern bewachsen. Vorsichtig stiegen wir bis auf achtzehn Fuß vom Boden hinab, ohne Schwierigkeit des Athmens zu empfinden, nur wurde der fade, ekelerregende Geruch stärker. Die tödtlichen Eigenschaften der Ausdünstung des Kraters lassen sich nach einigen Versuchen beurtheilen, die wir anstellten. Einer der zu diesem Zwecke mitgebrachten Hunde wurde an das Ende eines achtzehn Fuß langen Bambusrohres gebunden und hinuntergelassen. Mehrere von uns waren mit Hemmuhren versehen, nach denen wir die Dauer seines Lebens genau berechnen konnten. Nach zehn Secunden fiel das Thier, vom Gas überwältigt, auf den Rücken, und athmete noch ungefähr achtzehn Minuten, ohne nur einen Laut von sich gegeben oder ein Glied geregt zu haben. Der andere Hund machte sich von dem Rohre los und ging selbst dahin, wo der erste lag. Hier blieb er zehn Secunden ruhig stehen, fiel dann plötzlich auf den Rücken und hörte schon nach sieben Minuten zu athmen auf. Dieser Tod scheint demnach ein ganz schmerzloser zu sein. Ein Huhn, das wir hinabwarfen, lebte ungefähr ein und eine halbe Minute; ein zweites war todt, ehe es noch den Boden erreichte. An der gegenüberstehenden Seite des Thales sah ich ein schneeweißes menschliches Gerippe, mit der Hand unter dem Kopfe auf einem großen Steine liegen, das ich mir gern verschafft hätte, doch fehlte es an Stangen und Haken, und die angestellten Versuche hatte uns die Gefahr der Tiefe auf’s warnendste vor Augen gebracht. Dies und die andern zahlreichen Menschengebeine werden Aufrührern zugeschrieben, die sich auf der Flucht hierher verirrten, ohne den tödtlichen Charakter des Ortes zu kennen. In der That auch ist der widerliche Geruch des Gases, den wir nur achtzehn Fuß über dem Boden gut vertragen konnten, nicht hinreichend, um zurückzuschrecken, und einmal unten angelangt, tritt die Besinnungslosigkeit so schnell und anscheinend so schmerzlos ein, daß an eine Rettung nicht mehr zu denken ist.
Dies ist das gefürchtete Upasthal, um dessen Schrecken sich so phantastische Sagen gruppiren. Es verdankt seine mit Recht gefürchtete Eigenschaft nur dem Umstande, daß die Wandung des Kraters, bei den meisten Vulcanen auf der einen Seite niedriger oder eingebrochen, einen vollkommenen Kessel bildet, in dem sich das aus dem Innern aufsteigende Schwefelwasserstoffgas ansammeln muß, da es schwerer ist, als die Luft. Ein von der Seite bis auf den Boden des Kraters getriebener Stollen, der dem Gase Abfluß gewährte, würde das Gueva Upas bald seiner Schrecken berauben, ohne der umliegenden Gegend Gefahr zu bereiten, denn stark mit atmosphärischer Luft verdünnt, athmen wir dies Gas – mit dessen Fabrication wir selbst und namentlich unsere Haare fortwährend stark beschäftigt sind – ohne allen Nachtheil.
[388]
„Mitten in die sonnigen Tage des herrlichen Mai trat ein düsteres, furchtbares Ereigniß. – Als vor fast zwei Jahren die Erde unter unsern Füßen zu wanken schien und die Gebirgsinsel des Wallis von den heftigsten Stößen erschüttert wurde, die Schweiz mit einem furchtbaren Unglücke bedrohend, wurde dasselbe mit verhältnißmäßig sehr geringen Opfern von uns abgewendet.
Abermals ist der Schooß der Erde der Heerd des Unglückes. Diesmal ist aber der Mensch selbst in das Innere der Gebirgskette eingedrungen, dem regsten Verkehrsleben eine Gasse zu bahnen. Es ist die Durchbrechung des Jura, eines jener Riesenwerke, durch welche sich unsere Generation auszeichnet und welche manches sogenannte Wunderwerk des Alterthums weit hinter sich zurücklassen. Allein der Triumph des Geistes, sein Sieg über materielle Hindernisse hat schon manches Lebensopfer gefordert, ein so grauenhaftes aber, so viele Menschenleben mit einem Male forderndes Unglück hat sich unseres Wissens noch bei keinem Eisenbahnbau ereignet. Zweiundfünfzig Mann haben sich unwissend ihr eigenes Grab gegraben, indem sie um knappen Lohn ihr und der Ihrigen Leben zu fristen suchten, und elf Andere sind den Heldentod beim Rettungsversuche ihrer Cameraden gestorben.
Jeder Tag zeigt den Tod in seinen verschiedenen Formen und gleichgültig sieht die Welt den Schnitter mit der Sense. Diesmal aber hat die Größe des Unglücks und des dabei bewiesenen Heroismus tiefe Erschütterung der Gemüther bewirkt.“ –
Es sei uns erlaubt, mit diesen Worten, die ein schweizerischer Publicist seinen Betrachtungen über „das industrielle Schlachtfeld“ voranschickt, unsere Erzählung des Herganges und Verlaufes des traurigen Ereignisses einzuleiten.
Von Basel, der reichen Handelsstadt am Rheine, führen vier Hauptstraßen über die Höhen des Jura in die Ebene des großen Aarthales und in’s Innere der Schweiz. Die eine zieht sich in südwestlicher Richtung durch das bernische Münsterthal an die Ufer des Bielersees, wo sie in die große, dem südlichen Abhange des Juragebirges folgende Heerstraße, die vom Bodensee an den Genfersee führt, einmündet. In südöstlicher Richtung führt die zweite der genannten Handelsstraßen über den Bözberg nach Zürich und der östlichen Schweiz. Den Verkehr mit der eigentlichen Centralschweiz vermitteln die beiden übrigen Straßen. Ein paar Stunden in südlicher Richtung vereint, zweigt sich dann die eine etwas nach Westen wendend ab, überschreitet den obern Hauenstein, und bringt den Reisenden über Solothurn in’s Emmenthal, die Heimath der weitberühmten Schweizerkäse, oder nach Bern und Interlaken, in die Mitte der majestätischen Gebirgswelt der Berner Alpen. In südlicher Richtung verharrend, zielt die zweite der beiden letztgenannten nach dem Herzen der Schweiz, nach Luzern, an den herrlichen See der vier Waldstätte, von wo die Kunststraße über den St. Gotthard nach Italien führt. – In der Landschaft Basel zieht sich die Straße von Basel her die nördliche Abdachung des Juragebirges hinan und führt über den untern Hauenstein, am östlichen Ausläufer einer Kette des Juragebirges, im Solothurnischen Städtchen Olten über die Aare, und in den Canton Luzern. Die Länge dieses uralten, seit 25 Jahren erst in eine sehenswerthe Kunststraße verwandelten Bergpasses über den untern Hauenstein beträgt vom Dorfe Läufelfingen am nördlichen Fuße des Berges bis nach Trimbach, der ersten solothurnischen Dorfschaft, am südlichen Fuße über 9000 Meter; die Höhe des Gebirgskamms ist 2139 Fuß über dem Meer. –
Dreißig Jahre nach dem Neubaue dieser Straße vermag dieselbe den Anforderungen des Verkehrs nicht mehr zu genügen. Der allmächtig gewordene Unternehmungsgeist brachte auch zu uns das „nothwendige Uebel“ der Eisenbahnen.
Indem die Vorarbeiten und technischen Untersuchungen für den Bau der schweizerischen Centralbahn, welche, mit dem Kreuzpunkte in Olten, Basel und Luzern einerseits, die westliche Schweiz mit der östlichen andererseits verbinden soll, indem jene Untersuchungen für die Schienenverbindung Basels mit Luzern die Richtung der oben beschriebenen Straße über den untern Hauenstein als die allein ausführbare und daher zu befolgende Linie herausstellten, wurde der Durchstich des Hauensteins nothwendig.
Der Bau des Tunnels, welcher bei einer Steigung von 2½ Procent auf 100 Fuß 8301 Fuß lang, 40 Fuß hoch und 30 Fuß breit wird und durchschnittlich 500 Fuß unter dem Berge liegt, wurde um die Summe von 5 Millionen Franken dem englischen Bauunternehmer Brassey in Accord gegeben. In der Hoffnung, dadurch den Termin zur Vollendung des Baues, 31. März 1857, einhalten zu können, ließ der Unternehmer den Hauenstein nicht blos an dem nördlichen Endpunkte, oberhalb des Dorfes Läufelfingen, und am südlichen Endpunkte, oberhalb des Dorfes Trimbach, von der Außenseite des Berges in Angriff nehmen, sondern von der Höhe des Berges drei Schächte in die Tiefe hinabtreiben, um auf die Tunnel-Linie zu gelangen, so daß man sechs weitere Angriffspunkte gewann. In der Folge mußte der mittlere der drei Schachte (Nr. 2.) wegen zu starken Wasserandranges verlassen werden und blieb unvollendet. Die Schachte Nr. 1. südlich und Nr. 3. nördlich wurden hingegen glücklich ausgegraben. Auf den 31. März dieses Jahres war denn auch der Tunnel, wenn auch nicht vollendet, doch der Vollendung nahe, der Stand der Arbeiten
[389]war folgender. Von der Nordseite ist der Tunnel bis über den Schacht Nr. 3. in einer Länge von 1893 Fuß vollendet; von Süden her über den Schacht Nr. 1. und den verlassenen Schacht Nr. 2. hinaus sogar in einer Länge von 5554 Fuß, so daß nur noch eine Länge von 854 Fuß zwischen dem Schacht Nr. 3. und dem unvollendeten Schacht Nr. 2. zu durchbrechen war.
Unter dem Schacht Nr. 1. war auf acht Pfosten ein hölzernes Gerüst aufgeschlagen; es bildete eine gitterartige Decke, damit nicht Steine, Erde u. dergl. aus dem Schacht hinunter die im Tunnel beschäftigten Arbeiter beschädigen möchten. Unter diesem Gerüste lief eine Pferdebahn durch. Die auf dieser Bahn laufenden Rollwagen waren dazu bestimmt, den in der Tiefe des Tunnels sich ergebenden [390] Schutt aus dem Tunnel zu schaffen. Ebenso wurden auf denselben von der eben bezeichneten Stelle unter dem Schachte Nr. 1. aus die zur Auskleidung des Tunnelgewölbes benöthigten Steine, welche man von der Höhe des Berges an einem langen, 3½ Zoll dicken, stark in Theer getränkten Seile den Schacht hinunter auf oben erwähntes Gerüste und durch eine eigens hierzu angebrachte Fallthüre auf die darunter gestellten Rollwagen herabließ, nach der Tiefe des Tunnels verführt. Hinter dem Schachte, also gegen Norden, stand eine kleine Schmiede mit zwei Feuern, um verdorbene Werkzeuge sofort wieder herzustellen. Ferner befanden sich dort eine Wagenwerkstätte, eine hölzerne Boutike, die den Arbeitern zum Trocknen ihrer Kleider und zur Ruhestätte diente, 31 Centner Steinkohlen und eine große Masse Holz zu Gewölbegerüsten. Vor dem Schachte war ein großes, durch das aus der Tiefe des Tunnels ziemlich reichlich herfließende Wasser getriebenes Wasserrad mit einem Ventilator, um die Luft zu erneuern, welche gegen den innern Raum zu wegen der Sprengarbeiten, des Lichterqualmes und des Verbrauches durch die zahlreichen Arbeiter fast unathembar wurde. Da nun aber bei den herangenahten wärmeren Tagen in Folge des Einflusses der Sonnenstrahlen, welche um die Mittagszeit in den Schacht und auf die südliche Tunnelmündung fielen, zu dieser Zeit gar kein Luftzug stattfand, folglich der Ventilator keine frische Luft zuführen konnte, so errichtete man auf dem oben beschriebenen, unter dem Schachte Nr. 1. aufgeschlagenen Gerüste einen kleinen Ofen, damit das darin unterhaltene Feuer den Einfluß der Sonnenstrahlen paralysire und einen Luftzug ermögliche. Der Ofen ward zu diesem Ende mit einem hohen Kamine versehen und der Schacht, etwa 30 Fuß über dieser neuen Ventilations-Vorrichtung, durch eine Decke aus blechbeschlagenen und mit einer dicken Lehmschicht bedeckten Dielen luftdicht abgeschlossen. Nur das eben erwähnte Kamin ging durch diese Decke. Von der Mündung des Kamins war der Schacht 80 Fuß in Felsen getrieben, oberhalb war er auf etwa 300 Fuß mit Holz eingeschalt und mit Holzwerk ausgesperrt, blos der oberste Theil, gegen 200 Fuß, war förmlich ausgemauert.
Die neue Ventilation mit warmer Luft erwies sich als zweckmäßig und entsprach den Erwartungen vollkommen. Aber sie wurde zugleich die Ursache der schrecklichen Katastrophe, die am 28. Mai Mittags eintrat. Der hölzerne Einbau des Schachtes war durch Hitze, Rauch und Ruß, herrührend von der oben berührten Tunnel-Schmiede gleichsam dazu vorbereitet. Unglücklicherweise wurde nämlich das schon erwähnte Seil, an welchem man früher Gewölbsteine durch den Schacht hinuntergelassen hatte, bei Aufstellung des Ofens nicht hinaufgezogen. Es hing am verhängnißvollen Mittag über dem Kamin, und zwar so, daß das untere Ende desselben auf dem Rande des Kamins und der Haken an demselben auf dem den Schacht vom Tunnel abschließenden Lehmboden, unterhalb der Mündung des Kamins auflag. Dieses stark getheerte Seil entzündete sich, die Flamme fuhr daran in die Höhe bis zum Holzwerke und theilte sich demselben mit. Daß dies die wirkliche Entstehungsart des Feuers war, schließt die ihrem Ende nahende amtliche Untersuchung aus dem Umstande, daß die Schmiede nebst ihrem Kamine vom Feuer nicht berührt aufgefunden wurde und auch das unterste Stück Seil sammt dem eisernen Haken sich unverbrannt vorfand, woraus hervorgeht, daß das Seil gerade an dem Punkte, wo es auf der Mündung des Kamins auflag, vom Feuer ergriffen wurde. –
Furchtbar wüthete das entfesselte Element den beinahe 600 Fuß hohen Schacht hinauf, sprühte nicht blos wildtobend Gluthen, Flammen und Rauch gen Himmel, sondern warf, einem feurigen Krater ähnlich, mit großer Gewalt brennende Bretter und Balken, Steine und Erde bis weit über die Oberfläche des Hauensteins empor. Gefahrdrohende Funken flogen und schwebten über den Dächern der friedlichen Bevölkerung des Bergdorfes Hauenstein, über die sich maßlose Angst und Schrecken verbreitete. Der Brand des hölzernen Einbaues, der Bretter, Sparren und Balken hatte den Einsturz des ganzen Schachtes zur Folge.
Drunten in der Tiefe des Berges, im Tunnel, hatte kurze Zeit zuvor die Ablösung der Arbeiter, welche alle drei Stunden zu geschehen pflegt, stattgefunden. Am ersten Feuer der kleinen Tunnel-Schmiede arbeiteten beim Ausbruche des Brandes Meister Martin Brügger aus dem nahegelegenen Dorfe Lostorf, Schmied Simon, ebenfalls aus einem benachbarten solothurnischen Dorfe, und der funfzehnjährige Lehrjunge Mrs. Gisiger ab dem Hauenstein. Am zweiten Feuer waren ein Würtemberger und ein Badenser beschäftigt. Sie konnten die Entstehung des Brandes wegen des den Schacht vom Tunnel trennenden, luftdichten Lehmbodens nicht sehen; um so entsetzlicher war es, als das tosende Knistern und das Gepolter des nach und nach herunter stürzenden Gebälkes keinen Zweifel mehr ließ über die fürchterliche Gefahr, in welcher Alle schwebten. Meister Brügger besaß noch die Geistesgegenwart, seinen Lehrburschen Gisiger den weiter nach der Tiefe des Tunnels beschäftigten Arbeitern zuzuschicken, mit der Aufforderung hervorzukommen, „der Tunnel falle ein!“ – Noch war es Zeit; Viele folgten dem Rufe des Knaben und waren gerettet. Andere, sei es, daß sie, zu weit in der Tiefe, den Warnruf nicht verstanden, oder daß sie den Ruf des Knaben: „Der Tunnel fällt zusammen!“ nicht glaubten, indem ja derselbe gewölbt sei und sie im unglücklichsten Falle durch den Schacht hinauf sich retten könnten, – blieben bei ihrer Arbeit und verhöhnten die Fliehenden als feige Bursche. – Kaum hatten Jene aus dem innern Tunnel hervor die Brandstelle unter dem Schachte Nr. 1. passirt und die freie Passage gegen die Südöffnung des Tunnels gewonnen, so stürzte das feurige Gebälk aus dem Schacht, den obgedachten Lehmboden durchschlagend und mit sich reißend in den Tunnel hinunter, Schutt und Steine ihm nach, und der Rückweg war den in der Tiefe des Tunnels Zurückgebliebenen vollständig versperrt. Es waren ihrer zweiundfünfzig. –
Der wiederholte Ruf der Sturmglocken der benachbarten Ortschaften und die himmelhoch aus dem verschütteten Schachte emporwirbelnde Rauchsäule brachten im Lauf des Nachmittags eine außerordentliche Menschenmenge auf den Platz. Bauführer und Aufseher, das technische Personal der Centralbahngesellschaft, die Aerzte Oltens, an ihrer Spitze der „Tunnel-Doctor“, d. h. der den Tunnel-Arbeitern seit dem Beginne des Baues eigens bestellte Arzt, Dr. Eugen Munzinger, ein junger tüchtiger Mann, denen dann später ihre Collegen aus dem benachbarten Aarau mit großer Bereitwilligkeit zur Seite standen, und die Bezirksbeamten von Olten waren zur Stelle. Heerweise strömten Männer aus den umliegenden Ortschaften herzu; die Arbeiter aus der Maschinenbauwerkstätte in Olten, die Tunnelarbeiter von Aarau, alle disponiblen Arbeiter der Centralbahn eilten herbei und wurden zum Theil durch Extrazüge auf den Schauplatz des Unglücks befördert. Weithin hatte schon der Telegraph von Olten aus Kunde von dem Unfalle [391] getragen. – Es galt, die unterirdisch Abgesperrten zu retten, und alle nur erdenklichen Versuche wurden zu diesem Behufe mit todesverachtender Kraft-Anstrengung gemacht. Man hoffte und glaubte was man wünschte. Rettung schien möglich. Man wußte, daß Jeder der Verschütteten eine Flasche Rum, mancher auch noch etwa ein Stück Brod besaß; 8 Pferde, zur Wegschaffung des Schuttes beständig im Tunnel, waren mit ihnen eingesperrt, ihr Fleisch konnte ihnen für den Nothfall Nahrung bieten; Wasser, reichlich aus den Schichten des Berges sickernd, war im Ueberfluß da, von welchem man auch noch hoffte, daß es, von dem erhöhten inneren Theile des Tunnels gegen die Brandstelle abfließend – es floß sogar beständig durch den Schuttkegel ab – zur Erneuerung der Luft und Dämpfung der Gluth dienen werde.
Die Hoffnung lieh dem Muthe Kraft. Bald war ein Stollen von 8 Fuß Tiefe in den Schuttkegel getrieben, welch’ letzteren man als ungefähr 40 Fuß Durchmesser haltend berechnete. Da trat aber der werkthätigen Bruderliebe ein Feind entgegen, der die Rettenden ohnmächtig hinwarf und zwang, die Rettungsarbeiten verlassend, den Tunnel zu räumen. – Es entwickelten sich nämlich jene furchtbaren Gase, welche im Augenblicke die Arbeiter zu Boden streckten und den Tunnel erfüllten. „Die Luft wurde so schlecht,“ – schreibt der uns befreundete Tunnel-Arzt – „daß die Arbeiter massenhaft weggetragen werden mußten. In Gemeinschaft mit dem leitenden Ingenieur, Pressel aus Würtemberg, ging ich, die Luft im Tunnel zu untersuchen. Bald fühlten wir Schwerathmen, Eingenommenheit des Kopfes mit furchtbarem Sausen in den Ohren. Ich erklärte die Luft als irrespirabel, in Folge dessen die Arbeiten eingestellt wurden und man sich nur noch mit dem Retten der im Tunnel zurückgebliebenen Rettungsmannschaften beschäftigte. Auch diejenigen, die zu diesem Behufe in’s Innere des Tunnels abgegangen, wurden uns massenhaft, in halb ersticktem Zustande zur Behandlung gebracht, bis endlich gegen Mitternacht der Tunnel vollständig geräumt war.“
Ueber die Entstehungsart und Natur der vergiftenden Gase war man geraume Zeit im Unklaren. Das aus dem Schacht in den Tunnel herabgestürzte Gebälk erhielt unten den Brand, wozu noch kam, daß die theilweise überdeckte Gluth, statt zu Kohlensäure zu verbrennen, es nur zur Entwickelung von Kohlenoxydgas brachte, das viel giftiger als jene ist. Man hatte geglaubt, das Feuer habe auch die im Tunnel liegenden Gerüsthölzer und die bei der Schmiede befindlichen 31 Ctnr. Steinkohlen ergriffen und dadurch das ungeheuere Quantum Kohlenoxydgas erzeugt. Unser Freund ist aber überzeugt und nach Rücksprache mit einem ausgezeichneten Geologen, Amand Gressei, dem vertrautesten Kenner der Juraformation, der die geologischen Untersuchungen für den Hauensteintunnel vorgenommen hatte, darin bestärkt, daß außer dem Kohlenoxydgas auch ölbildendes Gas in großer Quantität vorhanden war, da durch das Ausglühen des organische Stoffe haltenden Lias-Mergels, sowie durch das Verbrennen des sehr langen und dicken, mit Theer getränkten Seiles jenes Gas nothwendig gebildet werden mußte. Der graue Lias wurde ganz roth gebrannt.
Noch weiter geht die Meinung jenes Experten, der die Entstehung des Feuers jener wahrscheinlichen Entzündung von Gasarten im oberen Theile des Schachtes zuschreibt. „Dorthin führten die Rauchfänge,“ schreibt derselbe, „die das Holzwerk nicht berühren konnten, da dasselbe erst sechszig Fuß oberhalb der Rauchfänge anfing. Dagegen befanden sich dort bituminöse kohlige Schiefer des Lias mit Schwefelkies, die durch die Hitze oder durch Selbstentzündung in Brand gerathen konnten. Das Feuer war also zuerst oben im Schacht, was auch durch den noch vorhandenen unverbrannten untern Theil des obwohl getheerten herabhängenden Schachtseiles bewiesen wird. Der herabfallende Schutt allein hätte weniger Gefahr für die Eingeschlossenen gebracht. Dagegen senkten sich, als der Schacht an seiner Oeffnung beim Dorfe Hauenstein mit Laden und Rasen zugedeckt wurde, die in demselben abgesperrten verderblichen Gase abwärts, wozu auch die Wasserdämpfe beitrugen, die in Folge des eingeflossenen Wassers entstanden waren.“
Das oben berührte Eingießen von Wasser in den Schacht scheint sich zu bestätigen; vorsorglich und wohlmeinend glaubten die Bewohner des Dorfes Hauenstein dadurch den Brand im Schachte löschen, damit ihre Häuser vor der drohenden Feuersgefahr sichern und zugleich die Verschütteten retten zu können. –
Bezüglich des Zudeckens des Schachtes sind die Ansichten verschieden und die Angaben widersprechend. Während unser Gewährsmann das Zudecken als eine Thatsache annimmt und demselben einen nachtheiligen Einfluß beimißt, bedauern Andere, daß dies nicht geschehen sei, indem dadurch das Feuer erstickt und der Tunnel nicht durch den Schuttsturz verschlossen worden wäre. Die Hauensteiner behaupten, sie hätten zudecken wollen, wären aber davon durch einen englischen Aufseher, der dies für nachtheilig erklärte, abgehalten worden; der Aufseher dagegen sagt, die Hauensteiner haben das Zudecken nicht gestatten wollen, weil sie Erstickung der Verschütteten befürchtet haben. – – –
Wie dem nun sein mag, Donnerstag Nachts blieben alle Bemühungen erfolglos. Drinnen war wohl das stumme Gebet aller noch Lebenden die Bitte um baldige Erlösung; draußen stand der schwache Mensch verzweifelnd den vereinten feindlichen Elementen gegenüber. –
Am Freitag wurden die Arbeiten am frühesten Morgen wieder aufgenommen. Von Basel her war das ganze Directorium der Centralbahn in Begleit des Chemikers Schönbein[WS 2] auf Ort und Stelle eingetroffen, um für alle Fälle das Nöthige anzuordnen. Alle verfügbaren technischen Kräfte waren auf den Platz beordert. Von Basel und Aarau waren Spritzen, Rettungsapparate mit Mannschaft, Bettwerk und anderes Nöthige auf dem Wege. Während der Fahrt hatte Schönbein die Hoffnung ausgesprochen, die Luft auf chemischem Wege reinigen zu können, an Ort und Stelle angekommen, Angesichts der großen Dimensionen jedoch erklärte er, daß hier mit chemischen Mitteln nichts auszurichten sei, und nur mit gewaltigen mechanischen Mitteln gewirkt werden könne.
Aber die Bruderliebe und die Aufopferungsfähigkeit der Arbeiter hatte keine Geduld. Sie wollten ihre abgesperrten Brüder retten, um jeden Preis – auch um den höchsten – das Leben. Wie Helden wagten sie sich hinein an die Arbeit im giftigen Dunstkreise des Todes. Nach einer Viertelstunde tragen in der Regel je vier die Leiche des Fünften wieder aus dem Stollen heraus. Die todtblassen Träger erfrischen sich dann und mit dem entseelten Getragenen werden sofort alle Rettungsversuche vorgenommen. In der Regel vermag die Kunst der Aerzte das fliehende Leben wieder zurückzurufen – in der Regel nur, nicht immer! – Aber die Hingebung hatte keine Grenzen und die innere Aufregung verdoppelte wieder die sinkenden Kräfte. Von der letzten Colonne waren einige betäubt oder todt im Tunnel liegen geblieben.
Freiwillige drängten sich in Ueberzahl hinzu und wurden beordert, die Verunglückten zu retten. Sie begaben sich in das Gewölbe und brachten wirklich einige der Verunglückten wieder hervor. Beim Appell jedoch zeigte sich, daß von ihnen selbst mehrere zurückgeblieben waren. So wurde Colonne auf Colonne gesendet, bis die letzte, 16 Mann stark, wovon beinahe alle besinnungslos waren, auf dem Rollwagen aus dem Tunnel herauskam. Sie brachten die Leiche eines Bruders – die siebente; vier Mann waren noch vermißt, sie hatten sich zu tief in den Tunnel gewagt und waren erlegen. Neuerdings drangen die Arbeiter auf einen fernern Versuch, auch diese noch herauszuholen. Es bedurfte der ganzen Energie der Führer, dies zu verhindern und dem Tode eine gewisse, noch reichere Ernte zu entziehen. Denn schon hatten also die Rettungsversuche elf Opfer gefordert. Aber sie achteten des Lebens nicht mehr. Es gibt Ingenieure und Arbeiter, die sechs, sieben Mal ohnmächtig aus dem höllischen Schlunde herausgetragen wurden und zum achten Mal mit ungebrochenem Muth wieder hineinstürzten. Weit entfernt, eines Sporns zu bedürfen, mußte man die Arbeiter, deren sich eine Leidenschaft bemächtigt hatte ähnlich der Schlachtwuth der Soldaten, zeitweise mit Bayonnetten zurückhalten.
Man begann nun die ersten Versuche zur Luftreinigung. Das Wasser, das aus der Tiefe des Tunnels hervorquillt, hatte sich durch den Schutt hindurch Bahn gebrochen und ermöglichte es, mehrere auf dem Platze vor dem Tunnel und in dessen Eingange aufgestellte Feuerspritzen in Bewegung zu setzen. Man schleuderte aus denselben einen fortwährenden Regen gegen die andringenden Gase, und glaubte durch das Ausspritzen von Kalkwasser die Kohlendämpfe neutralisiren zu können. Aber stets noch stürzten die Arbeiter halb erstickt um, weshalb sie alle 10 Minuten abgelöst werden mußten, bis man, von der Unzulänglichkeit dieses Mittels überzeugt, diese Versuche einstellte.
Aber die immer belebende Hoffnung spornte zu neuen Versuchen an. Man glaubte, durch mächtig große Strohfeuer und durch rasches Hin- und Herfahren mit Rollwagen, auf welchen [392] Segel, das Tunnelprofil ausfüllend, ausgespannt waren, eine entprechende Luftcirculation herstellen zu können. Es war alles erfolglos; die feindliche Naturmacht spottete der menschlichen Anstrengungen. – – –
Und draußen, auf dem Platze vor der Tunnelmündung, welch’ Gemälde entrollt sich da der fast unzähligen Menschenmenge, die der Sonntagsmorgen aus der weitesten Entfernung herbeigeführt! Welch’ ein Jammer und Wehklagen hier, und die Freude und das Gottdanken dort! Hier die Mutter mit vier Waisen, den Säugling auf dem Arme, bei einer Leiche knieend und in herzzerbrechendem Geschrei, die Kleinen mit gefalteten Händen, vom Himmel – ach, dem unerbittlichen – das Leben des Vaters sich erbetend. Und dort die Freudenscene, die alte Mutter und der blinde Vater, das Haupt seines wiederbelebten Sohnes betastend, sie stammeln ein Lobgebet dem Allmächtigen, bis Thränen die schwache Stimme ersticken. Die Verzweiflung aber derer, die gekommen waren, Gewißheit über das Schicksal eines Angehörigen zu erlangen, den man bei den lebendigbegrabenen Verschütteten wußte – ich wage den Versuch nicht, davon eine Beschreibung zu geben. Es waren Scenen, die sich Niemand wieder aufzufrischen begehrt. Und aus all’ dem Jammer hier und der schmerzlichen Freude dort schöpften acht Aerzte Aufmunterung und Kraft zu ihren fast übermenschlichen Anstrengungen während voller acht Tage.
Frau Gertrud und ihr langes Kleid. (Ein altdeutsches Geschichtlein.) Als ich um die dritte Nachmittagsstunde bei dem Rathsschmiedeknecht Claus Rodolfen vorbeiging, sah ich, wie viel Volk zusammenlief und Einige bereits die Stufen des Rathhauses besetzten, vom Rathhause aber tönte ein gar jämmerlich Geschrei herab, dazu viel Sprechens, Rufen und Hin- und Herberichten. Auf meine Frage antwortete man mir, es seien drei Weibsbilder oben und es würden ihnen die Röcke gekürzt und die goldenen Borden von den Brustlatzen geschnitten. Es seien angesehener Leute Weiber, aber um den Verordnungen des Rathes, den Kleiderluxus betreffend, Achtung zu verschaffen, sei es nöthig, daß ein Exempel gegeben werde. Als diese Worte gesprochen wurden, sah ich am Fenster eine der Weiber erscheinen, die Hände ringen und uns, die wir unten standen, anrufen, daß wir herbeikommen und sie retten möchten. Es rührte sich aber Keiner im Volke, die Männer zeigten und lachten nach oben und riefen, es geschähe diesen putzsüchtigen Närrinnen ihr Recht. Nun ließen diese Weiber, die sich mit ihren gekürzten Röcken nicht wollten sehen lassen, drei Tragestühle holen, die von oben und unten bedeckt waren, wie es die Kranken verlangen, die man von einem Hause in das andere trägt, und wollten sich Hineinsetzen, allein sie wurden gezwungen auszusteigen und den Weg zu Fuße zu machen, wo dann ein ganzer Schwarm von Gassenjungen sie begleitete. Ich ging mit Kummer im Herzen nach Hause und trat in die Kammer meiner Frau also sprechend, nachdem ich erzählt, was ich geschaut:
„Gertrud, so hat es sich begeben mit den thörichten Weiblein in unserer guten Stadt Breslau, nehme sich eine Lehre daraus, wer ähnlichem Unheil und Schimpf nahe ist.“
„Wie, Hieronymus,“ erwiderte sie, und eine züchtige und zornige Röthe färbte ihr Angesicht, „meinest Du im Ernste, daß solches in meine Seele treffe? Gott erbarme sich meiner, Deiner, unserer drei Töchter, unseres Gesindes und unserer ganzen Habe, wenn jemals Grund vorhanden wäre, daß ich, Dein Weib, in dergleichen Ungelegenheit käme!“
„Ich habe nichts gesagt, Gertrud,“ erwiderte ich, „am wenigsten erwas gegen Dich, die Du, wie ich genugsam weiß, eine verständige, sittsame Hausfrau bist, mit keinem Dinge weniger vertraut, als mit dem Hochmuths- und Kleiderteufel.“
Damit ließ ich sie stehen und ging meine Wege. Am Morgen darauf hatten wir einen Kindtaufschmaus in unserer Sippschaft. Ich merkte gar wohl auf, wie mein liebes Weib aus ihrer Kammer hervorging und war nicht wenig erfreut als ich gewahrte, daß sie über Nacht ihr Kleid kurz zugeschnitten hatte und von einem Schlepplein auch nicht die kleinste Spur zu sehen war. Ich that, als merkte ich nichts. Anständig gab ich ihr die Hand, führte sie vor, unsere drei Töchter folgten, zuletzt Cordula, die Magd, mit Holofernem, dem kleinen Haus- und Schooßhunde auf dem Arme. Nie bin ich so froh und guter Dinge gewesen, als an diesem Tage, denn ich dachte, nun hast du für alle Zeiten und ohne Lärm die Narrheit aus deinem Hause gejagt. Die Weiber, die das Fest mitmachten, hatten alle verkürzte Kleider und keine Goldtressen, weder am Leibchen, noch an den Aermeln. So hatte des Magistrats Exempel gewirkt.
Als wir nach Hause angelangt waren, überraschte uns unsere älteste Tochter mit der Nachricht, daß sie einen Liebsten habe, der um sie anhalten wolle und den sie gar gerne nehmen werde, wenn es uns recht sei. Es war dies am Tage Johannis des Täufers. Der Allerliebste war Roloff Kaltenknecht, der Debora Rosina Kaltenknechtin einziger Sohn und Erbe. Der junge Mann hatte das Lichtziehergewerbe erlernt und wollte nun unsere Adeltraudis als eine schöne schlanke weiße Kerze, aus dem lautersten Jungfernwachs geformt, in sein Haus bringen. Wir hatten nichts dagegen. Die Hochzeit wurde auf den vierzehnten Sonntag nach Trinitatis festgesetzt. Ich machte eine kleine Reise, und als ich heimkehrte, hatte meine Frau für sich und die Braut neue Kleider machen lassen. Die beiden ledigen Töchter erhielten die abgelegten Kleider der Mutter und der Schwester und Cordula hinwiederum die, welche Sophronia und Mirjam ablegten. Ich war so erfreut, daß ich einen herzensguten Eidam gefischt hatte, daß ich in dem Gewirre des Festtages nicht recht merkte, welche Veränderung mit meiner herzallerliebsten Trude vorgegangen, sie hatte nämlich eine kleine Schleppe angesetzt. Aber die war gar klein und bescheiden, doch fegte sie trotz dessen ganz artig schon den Staub vom Fußboden weg. Ich sagte nichts, aber der Festtag hatte für mich, wie die Rose, einen Dorn angesetzt. Meine zweite Tochter machte es der ersten bald nach, und bei der Hochzeit dieses Mägdleins verlängerte sich die Schleppe meiner Frau, und nunmehr um ein ansehnliches. Um meine Ruhe war es geschehen. Ich sah nun, daß das Exempel, das gegeben worden, an seiner wohlthätigen Schärfe und Herbigkeit bereits angefangen zu verlieren und daß wiederum der so streng verpönte Kleiderluxus sich in vollem Flor auszubreiten begann, und daß mein Weib in diesem Reigen nicht als die letzte mittanzte.
Ich ging mit scheuem Muth mit meinem Weibe über die Gassen, stets glaubte ich den Rathsbüttel hinter uns kommen zu sehen, der uns zu verhaften kam. Indeß es geschah nichts. Aber Gerede gab es bereits vollauf. Meine jüngste Tochter brachte mir nun auch einen Eidam in’s Haus, und jetzt ließ sich Trude von einer Kleiderhändlerin aus Ulm einen sogenanten „Ulmer Fetzen“ bringen, d. h. einen Rock, in den wohl an die hundert Ellen Zeug hineingingen und der einen langen Schleif hinten angeknüpft hatte, der mit goldenen Blümchen gestickt war. Mein Haar sträubte sich in die Höhe, mir bangte wie vor dem jüngsten Tage, allein, ich hatte nicht den Muth, ihr ihre Freude zu verderben.
In meiner Herzensangst fiel mir ein Stratagem ein, eine artige List, ich nahm unsern Hund Holofernem, setzte ihn auf die Hinterbeine und redete ihn also an, indem meine Familie um mich herum war, und meine Possen mit anhörte, auch einige Freunde aus der Nachbarschaft. „Holoferne!“ sagte ich, „wenn Dir als einem klugen Thiere bekannt würde, in welcher Weise und mit welchen Gesetzen ein Land regiert würde, könntest Du wohl da etwas gegen das allgemeine Beste, das in diesem Falle auch das Deine ist, unternehmen wollen? Sicherlich nicht, mein Holofernes! Wenn Du nun zum Exempel erführest, daß zum allgemeinen Wohle sämmtlichen Hunden geboten wäre, sich den Schweif kappen zu lassen, würdest Du allein Dich erfrechen, den deinigen behalten und hoch in die Lüfte halten zu wollen? Nimmermehr! Als ein guter Hund, der den Frieden liebt, der die Seinigen nicht in Unruhe und Bekümmerniß setzen will, fügtest Du Dich, wie die Andern sich fügen, und obgleich Du wohl wüßtest, welch’ eine große Zierde ein stolzer und in einem Busche herabwehender Schweif ist, Du würdest doch ihn gern opfern, lediglich um des Ruhmes willen aufopfern, gehorsam und edel gehandelt zu haben. Zu allem Andern würde Dir auch Dein Trotz nichts helfen, denn gesetzt auch, Du beständest darauf, Deinen Schweif zu behalten, so würdest Du dem Schinder in die Hände fallen und ehrlos und grausam geschähe Dir, was freiwillig und klug Du selbst zu vollziehen Dich weigertest.“ Bei dieser Rede zerflossen meine Töchter in Thränen, meine Schwiegersöhne behaupteten, noch nie eine so erbauliche Predigt gehört zu haben, und Cordula, unsere Köchin, fiel vor mir auf die Kniee, indem sie mich um meinen Segen bat. Nur Gertrud blieb munter und sagte unter Lächeln: „O Jacobus, wie Du gut Possen treiben kannst!“ Meine Nachbarn, die da wußten, worauf ich zielte, hatten Mitleid mit mir, da sie mich also unnütz in’s Holz fahren sahen. Ich wurde ganz krank und hinfällig. Der Hochzeitstag rückte heran. Mein Weib that nicht, als merkte sie etwas.
Aber am Morgen des Festtages trat sie in aller Frühe an mein Bette und sagte lächelnd: „Jacobe, ich glaube, Dir ist etwas in den Sinn gefahren. Hast Du Streit gehabt mit Meister Adam, Deinem Nachbar, dem groben Manne? Oder ist Dir in Deinen Rechnungen ein Sümmchen abhanden gekommen, das Du nicht zu finden weißt?“ – „Alles dieses nicht, meine Theure,“ entgegnete ich seufzend. – „Was ist’s denn?“ fragte sie. – „Rathe mal!“ sagte ich. – „Wahrlich, ich wüßte nichts,“ nahm sie wieder lächelnd das Wort. „Dein Haus ist gut bestellt, Du hast drei wohlerzogene Töchter, die bereits Männer haben, Dein Name in der Stadt ist geachtet, und endlich hat Dir der Himmel eingegeben, das, wenn auch nicht immer lobenswürdig handelt, doch nach Lobenswürdigkeit trachtet.“ – „Alles wahr,“ sagte ich, und meine Miene wurde noch kummervoller, da ich sah, sie war eine solche verstockte Thörin, die entschlossen war, auf nichts zu achten, und wenn die Welt unterginge. – „Ich habe noch nicht Alles aufgezählt, was zu Deinem Glücke gehört,“ hub sie wieder an, indem sie mir das Haupt emporrichtete und mir das Haar aus der Stirne strich, „Du hast endlich auch einen klugen, verständigen, gehorsamen Hund, der mir heute ganz im Vertrauen gesagt hat, daß er sich entschlossen habe, für immer seinen schönen buschigen Schweif abzulegen.“ – „Herr im Himmel!“ rief ich und richtete mich hoch auf, „sprichst Du die Wahrheit?“ Sie zeigte statt aller Antwort auf das in allen seinen Nähten losgetrennte Kleid, das sie unter ihrer Schürze hervorbrachte. Jetzt schloß ich sie in meine Arme und rief: „Trudchen, so bist Du denn von Deiner Narrheit geheilt!“ – „Und für immer,“ sagte sie. „Nicht Schimpf und Schande, die mir drohten, haben mich hierher gebracht, sondern einzig Dein Kummer und Deine Trauer. Ein Weib, das auf die Stimme ihres Mannes nicht achtet, wird sie wohl achten auf die Stimme des Gesetzes? Da ist die Grenzscheide. wo ein ehrsames, gehorsames, edles Weib sich von dem frechen Weibe scheidet, die dem öffentlichen Unwillen Trotz bietet.“
Wer von Euch. Ihr schönen Damen in Euren Crinoline’s will es der ehrsamen Breslauerin aus dem fünfzehnten Jahrhundert nachmachen? An uns Männern, die wir tadeln und zürnen, fehlt es nicht. –☞ Bei einer Anzahl Exemplaren dieser Nummer ist auf der Abbildung: Querdurchschnitt der Schacht rechts aus Versehen mit Nr. 3. anstatt Nr. 1. bezeichnet worden.
- ↑ Bei dieser Gelegenheit verweisen wir auf das nächstens erscheinende, neue Buch von Schmidt-Weißenfels: „Vier Jahre Memoiren, Portraits und Erlebnisse,“ in dem sich nähere Details über die neueren französischen Bewegungen befinden. Der Redacteur.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Seite 392: Bei einer Anzahl Exemplaren dieser Nummer ist auf der Abbildung: Querdurchschnitt der Schacht rechts aus Versehen mit Nr. 3. anstatt Nr. 1. bezeichnet worden.
- ↑ Christian Friedrich Schönbein, Vorlage: Schönlein