Die Gartenlaube (1855)/Heft 13
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No. 13. | 1855. |
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„Es war ein schöner, stiller Juliabend, ein spanischer Sommerabend mit lauer, warmer Luft, tiefblauem Himmel und murmelndem Wellenschlag der Flüsse, die zwischen den grünen Ufern dahinströmten. Der Jasmin und Hollunder hauchten ihren köstlichen Duft aus, und durch die alten hohen Oelbäume des Klostergartens, in welchem Dolores mit ihrer Tante auf und ab ging, wehten leise flüsternde Winde. Die Priorin erzählte, um ihre Nichte von den weltlichen Schmerzen, die sie quälten, abzulenken, die Legenden von der heiligen Paula und der heiligen Bathilde von Frankreich, aber Dolores war eine unaufmerksame Zuhörerin für die frommen Sagen der Priorin, ihre Gedanken waren weit weg bei Ramon, dem verlorenen Geliebten. Tante Felicitas begann eben zum zweiten Male die Geschichte von der heiligen Paula zu erzählen, als ein dumpfer aus weiter Ferne herschallender Donner die Erzählung unterbrach.
„Was ist das?“ riefen erschrocken die beiden Frauen und blieben in banger Spannung horchend stehen.
„Es wird gedonnert haben in der Ferne,“ murmelte unsicher die Tante Priorin.
„Aber ich sehe kein Wölkchen am Himmel,“ entgegnete Dolores, „nicht einmal drüben am Gebirgssaume.“
Die Priorin antwortete nicht, und es vergingen wieder einige Sekunden, bis derselbe dumpfe Knall, aber jetzt schon etwas näher, erschallte. Aengstlich blickten sich die beiden Frauen an und Keine wagte, ihre Befürchtungen auszusprechen, als plötzlich die Pforte des Klostergartens aufgerissen wurde und schreiend und klagend, wie ein Flug gescheuchter Tauben, eine Schaar junger und älterer Nonnen mit dem Ruf: „Man schlägt sich, die Franzosen drängen die Spanier nach unserer Stadt zu!“ hereinstürzten.
Die nun näher und immer näher schallenden Kanonenschüsse bestätigten die Schreckensnachricht, und die bestürzten Nonnen waren noch zu keinem Entschluß gekommen, als der erschrockene Klostergärtner mit bleicher, entstellter Miene die Kunde brachte, daß sich schon einzelne verwundete Spanier durch’s Städtchen flüchteten und man die Ankunft der siegreichen Franzosen, die das spanische Hauptcorps vor sich hertrieben, mit jeder Stunde erwartete.
In diesem Augenblick gewann die Priorin ihre Ruhe wieder und die zitternden Nonnen um sich versammelnd, sprach sie:
„Meine Schwestern! Es ist Euch nicht unbekannt, wie der ruchlose Feind, der bald vor den Mauern dieser Stadt erscheinen wird, weder Scheu noch Furcht vor dem geheiligten Asyl des Klosters hat, welcher Schmach, welchen Mißhandlungen so oft unsere Schwestern in dem Schrecken dieses Krieges ausgesetzt gewesen sind. Ihr würdet selbst in der Kirche nicht vor ihnen sicher sein. Das Einzige, was uns noch retten kann, ist, daß wir uns in der Stadt einzeln bei guten Patrioten verbergen und das Kloster verlassen, bis der Feind wieder abgezogen.“
Einige ältere Nonnen waren zwar im Anfang nicht mit diesem Vorschlag einverstanden, und wollten sich lieber das Märtyrerthum und dadurch den Himmel erobern, als das Kloster verlassen, aber die Mehrzahl der jüngeren Schwestern stimmte der Priorin bei, und in wenigen Minuten darauf waren die weiten hohen Räume des Klosters öde und leer.
Der Tumult und der Sturm des Gefechts zog sich indessen immer näher, spanische Cavalleristen sprengten flüchtend und mit verhängtem Zügel durch die Stadt, Kanonen und Munitionswagen und Pulverkarren fuhren in verwirrter Eile durcheinander und die wenigen Compagnien der Spanier, welche den Rückzug deckten, wurden von dem feindlichen Kartätschenfeuer und dem der französischen Tirailleurs, die jetzt auf den Höhen erschienen, hart mitgenommen. Geschrei und Aechzen der Verwundeten, der Commandoruf der Befehlshaber, das Trommeln und der Signalruf der Hörner hallte dazwischen, von Zeit zu Zeit wurde Alles durch den Kanonendonner und das knatternde Gewehrfeuer übertäubt, bis ein begeistertes „vive l’Empereur!“ den Sieg der Franzosen verkündete.
Dolores hatte von dem Fenster eines Hauses auf dem Marktplatz die Niederlage und den Rückzug der Ihrigen mit angesehen. Schmerz, Scham, Haß gegen die Sieger erfüllten ihr stolzes, patriotisches Herz und trieben eine glühende Röthe auf ihre blassen Wangen. Mit düsteren Blicken betrachtete sie, noch immer am Fenster stehend, die einrückenden Colonnen – als sie plötzlich erbleichte, einen tiefen, stechenden Schmerz im Herzen empfand und dann wieder eine dunkle Purpurröthe auf ihren Wangen brennen fühlte. – Dicht unter ihrem Fenster hielt ein französischer Offizier auf schaumbedecktem Roß, mit flatterndem Federbusch und der Adjutantenschärpe um die Schultern. – Dolores stand wie festgewurzelt und betrachtete den Offizier, der, wie es schien, einem der Commandeure einen Befehl des Generals überbrachte. In diesem Augenblick hob wie durch Zufall auch der Offizier seine Augen nach dem Fenster, an welchem noch immer Dolores, bald bleich, bald roth werdend, stand. Ein schneller Ruf der Ueberraschung flog über seine Lippen, er legte die Hand auf’s Herz, warf einen raschen Blick auf das Haus, um sich sein Ansehen genau in’s Gedächtniß einzuprägen und sprengte davon. Dolores sank auf das Sopha, bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen und murmelte, indem Thränen und Schluchzen ihre Stimme fast erstickten:
[166] „Er war es – er war es – er mordete heute seine Brüder.“ Nach einer Weile wurde sie ruhiger und die Hand auf die Brust legend sprach sie: „Still, Herz, vergiß den Verräther!“ – Die Liebe zum Vaterlande mag bei dem Mann zwar eine hohe, mächtige Leidenschaft sein, der er Alles und auch das Theuerste opfern kann, aber bei einem Weibe wird sie selten so stark sein, um zu einem Frauenherzen zu sagen: „vergiß den, welchen Du liebtest“ – und dann auch den Geliebten vergessen können.
So viel Mühe sich auch Dolores gab, Don Ramon’s Andenken aus ihrer Seele zu verbannen, so sah sie doch immer seine Gestalt vor ihren Blicken auftauchen, und ein jäher Schreck, ein Schreck aus Freude und Angst flog durch ihre Seele, als sie beim Einbruch der Nacht wohlbekannte Tritte auf der Treppe hörte und gleich daraus Don Ramon, die Thür öffnend, in’s Zimmer trat. Aber als sie ihn nun vor sich sah in der verhaßten französischen Uniform, in der Farbe der Unterdrücker ihres Landes, verschwand jene weiche Empfindung und das Feuer der Entrüstung loderte wieder in ihr auf. Don Ramon sah bleich und bewegt aus, er schritt auf das junge Mädchen zu und indem er sich auf ein Knie vor ihr niederließ, flüsterte er:
„Dolores!“ Aber diese wich einen Schritt zurück und ihn mit Blicken von glühender Entrüstung betrachtend, rief sie:
„Was willst Du hier, Verräther, dessen Hand noch rauchend von dem warmen Blut Deiner Brüder? Fort aus meinen Augen, bringe den Namen Dolores nicht mehr über Deine Lippen, ich habe aufgehört, für Dich zu leben, von dem Augenblicke an, wo Du diese Uniform mit den Farben des Vaterlandes vertauschtest.“
Dunkle Röthe überzog bei diesen Worten das Gesicht des jungen Offiziers.
„Dolores!“ rief er, „höre mich, ein Wort von mir, bevor Du mich verurtheilst – der Richter gestattet es dem Verbrecher, kannst Du es mir verweigern?“
Und er erzählte dem jungen Mädchen die Beleidigungen, die Kränkungen, die er von seinem Obersten hatte erdulden müssen und die ihn unter Frankreichs Fahnen getrieben. Seine lebhafte Schilderung bewegte Dolores, aber sie erweichte sie noch nicht.
„Wohlan“ rief sie aus, „ich glaube, was Du sagst, aber warum ließest Du dem Vaterland entgelten, was ein Einzelner verbrochen? – Es giebt nur ein Mittel, wodurch Du meine Liebe wieder erlangen kannst.“
„Sprich, sprich, Dolores!“ rief, von Leidenschaft und Liebe überwältigt, Ramon – aber verlange nichts, was gegen die Ehre ist; Barmherzigkeit, meine Dolores, ich will Alles opfern, mein Leben, es ist das Einzige, was ich noch habe, nachdem ich Dich und das Vaterland verloren – nur meine Ehre verlange nicht zum Opfer!“
„Deine Ehre?“ antwortete das leidenschaftliche Mädchen. „Was ist Ehre – nur im Dienste des Vaterlandes giebt es Ehre, Du verlorst sie, als Du diese Uniform anzogst. Was Du „Ehre“ nennst, ist ein leerer Begriff, ein Nichts, ein Köder, mit dem Euch Euer Tyrann an sich fesselt!“
„Dolores, Dolores!“ stammelte Ramon, „Du machst mich wahnsinnig, Du raubtest mir das Letzte, was mir geblieben.“
„Sei ruhig und höre,“ antwortete Dolores, „und willigst Du in das, was ich verlange, so bin ich Dein, Dein auf alle Zeiten!“
„Dolores,“ rief Don Ramon, „spanne mich nicht länger auf die Folter! In wenig Stunden muß ich fort, mit Depeschen meines Generals – es ist eine gefährliche Sendung, ich muß durch von Spaniern besetzte Orte, vielleicht bringt sie mir den Tod – raube mir nicht diese wenigen Minuten des Glücks, denke an die schönen Zeiten zu Saragossa, an jene Abende, wo wir an den Ufern des Guerva Hand in Hand gingen, von Liebesglück und heiterer Zukunft träumten, wo wir –“
„Schweig,“ unterbrach ihn Dolores, die fürchtete, sich durch die Erinnerung an jene schönen, vergangen Tage erweichen zu lassen, „schweig und höre – Du gehst noch heute Nacht, wie Du sagst, mit Depeschen Deines Generals ab – Du kommst, wie Du sagst, durch Orte, die den Spaniern ergeben – wohlan, ich habe hier einen Brief an den Commandanten der nächsten spanischen Garnison, es ist ein Verwandter von mir, ich werde ihn in das Futter Deines Rockes nähen und Du wirst ihn durch einen sicheren Boten an seine Adresse befördern. – Ich kann es nicht, denn die ganze Gegend ringsherum wimmelt von französischen Streifcorps.“ –
„Dolores, Dolores, was verlangst Du?“ rief schmerzlich Don Ramon, „nur das nicht, Verrath an meiner Fahne.“
„Gut, so gehe, Unglücklicher,“ rief entrüstet Dolores und stieß ihn von sich.
„Dolores, was machst Du aus mir?“ stammelte erschöpft Ramon, den die Liebe überwältigte – „verstoße mich nicht – ich willige ein.“
„Du willigst ein?“ jauchzte Dolores und flog an Ramon’s Brust, „Du willigst ein – Dank, Dank Dir, mein Ramon, nun bist Du wieder mein, Du, mein Einziger, mein Geliebter.“ Und die lang unterdrückte Glut der jungen Spanierin brach unaufhaltsam hervor, und mit feurigen Küssen hing sie an dem Munde des jungen Offiziers, der sie bebend vor Leidenschaft in seine Arme schloß. – – –
Mehrere Stunden vergingen so den Glücklichen. Da schlug die Uhr der alten Klosterkirche Mitternacht und verkündete dem Offizier, daß ihn die Pflicht rufe. – Der bittere Augenblick der Trennung war gekommen.
„Leb’ wohl, mein Geliebter, leb’ wohl,“ flüsterte das junge Mädchen, den letzten Abschiedskuß ihm gebend, „lebe wohl! Ich bleibe ewig Dein!“
„Lebe wohl! Dolores – lebe wohl – vielleicht auf immer,“ murmelte von trüben Ahnungen bewegt der junge Mann und ging – Dolores sah ihm nach, so lange ihr Blick seinen weißen Federbusch in der Dunkelheit erkennen konnte.
Aber der Besuch Don Ramon’s bei Dolores war nicht unbeobachtet geblieben – eine Patrouille hatte ihn aus dem Hause gehen sehen, und da man auf alle im Heere dienenden Spanier ein sehr wachsames Auge hatte, so meldete man dies dem General. Der General empfing die Meldung ruhig und ließ Don Ramon mit den Depeschen abreisen, schickte ihm aber unmittelbar eine Reiterpatrouille nach, die ihn anhalten und untersuchen sollte.
In Träumereien über Dolores versunken, ritt Ramon langsam durch den Morgennebel dahin, als er mit einem Mal den Schall von Huftritten hört; in der Meinung, daß es Spanier, greift er zu seinen Pistolen und lockert den Säbel in der Scheide, aber das: qui vive! mit welchem man ihn anruft, sagt ihm, daß es Franzosen. Eine düstere Ahnung befällt ihn – aber er sucht sich zu fassen. Der Führer der Patrouille zeigt ihm den Befehl des Generals. Unwillkürlich erbleicht Don Ramon und – man untersucht ihn, und in dem Futter seines Rockes findet man den Brief Dolores an den spanischen Befehlshaber.
„Sacre bleu!“ flucht der Wachtmeister, „das wird eine schlimme Affaire – Also links um, nach dem Hauptquartier.“
Und der Trupp, Don Ramon als Arrestanten in der Mitte, reitet wieder nach G. zurück. – Augenblicklich wird ein Kriegsgericht zusammen gerufen, und der Wirbel der Trommeln ruft die Truppen, welche bei der voraus zu sehenden Execution zugegen sein sollten, unter die Waffen.
Die traurige Geschichte fliegt, obgleich es noch am frühen Morgen, mit grausiger Eile durch die Stadt, von Mund zu Mund – die Bürger ballen ingrimmig die Fäuste und die Frauen beten ein Vaterunser für die Seele des Unglücklichen.
Im Quartier des Generals sitzen die Offiziere noch beim Kriegsrath zusammen, und da Don Ramon sein Vergehen eingesteht und nicht läugnet, so soll eben das Urtheil gesprochen werden, als vor der Thür die Stimme eines Mädchens gehört wird, die einen lauten, heftigen Wortwechsel mit der Schildwache hat. „Laß mich hinein!“ ruft sie in stürmischer Erregung, „laßt mich hinein, es gilt das Leben eines Unschuldigen zu retten. – Um der heiligen Jungfrau willen, laßt mich durch.“
Der General, der den Lärm hört, wendet sich zu einem der Offiziere und spricht:
„Lassen Sie das Mädchen hereintreten.“
Die Thür wurde geöffnet und herein stürzte mit aufgelöstem Haar, das über den weißen Nacken herunterfiel, in leichtem Morgenkleid, über welches in der Eile eine schwarzseidne Mantille geworfen war, in bloßen Füßen, wie sie vom Bett aufgesprungen – Dolores und warf sich zu den Füßen des Generals.
„General,“ sprach sie in fliegender Eile, „Ihr wollt einen Unschuldigen morden – Don Ramon ist unschuldig an dem Vergehen, das ihm zur Last gelegt wird – ich schwöre es Euch bei dem Haupte meiner Mutter. – Wir lieben uns, ich bin seit einem Jahr seine Verlobte. – In vergangener Nacht war er bei mir, [167] mir ein Lebewohl zu sagen – ohne daß er es wußte, was der Brief enthalte, der, wie Ihr seht, an einen Lianares, an einen Verwandten von mir, adressirt ist, verbarg ich ihm das Schreiben in seiner Kleidung. – Er ist unschuldig wie das Licht der Sonne – wie das neugeborne Kind auf dem Schooß der Mutter –“
Ramon, der unten am Ende des Zimmers zwischen zwei Unteroffizieren stand, hatte ihrer Rede mit dem Ausdruck des Entsetzens zugehört. – Bei dieser Selbstanklage erstarrte ihm das Blut in den Adern, er kannte die Strenge der französischen Militärgesetze.
„Mein General,“ rief er in peinlicher Angst, „hört nicht auf die Worte dieses armen Mädchens, dem der Schmerz über mein Geschick das klare Licht der Vernunft geraubt! – Ich, ich allein bin der Schuldige, ich wußte was der Brief enthielt – ich wollte das Vergehen gegen mein Land wieder sühnen, den Verrath gegen Spanien, durch Verrath gegen Frankreich tilgen.“
Bei den letzten Worten, die der unglückliche mit sichtlicher Anstrengung gesprochen, wurde er todtenbleich und seine Knie bebten; um seine Dolores zu retten, opferte er den letzten Rest seiner Ehre. – Was er von dem Sühnen des Verraths sprach, war nicht wahr, nur aus Liebe zu Dolores hatte er den Brief übernommen. – Das junge Mädchen aber rief:
„Glaubt ihm nicht, glaubt ihm nicht – er will sich opfern, um mich der verdienten Strafe zu entziehen, aber Ihr werdet gerecht sein, General, und keinem Unschuldigen das büßen lassen, was ich verbrach.“
Der General und die Officiere sahen sich gerührt an – aber der Fall wog zu schwer – das offene Geständniß Don Ramon’s lag vor, überdies durfte man schon um des Beispiels willen solche Vergehen nicht ungeahnt lassen, das Kriegsgericht erkannte einstimmig auf „Tod durch die Kugel.“ – Bei diesem Ausspruch stürzte Dolores mit einem herzdurchdringenden Schrei an Don Ramon’s Brust, preßte ihm einen letzten Kuß auf die Lippen und sank dann bewußtlos nieder. Ihre herbeigeholten Verwandten trugen sie in ihre Wohnung.
Eine Stunde später tönte dumpfer Trommelwirbel durch die Straßen, es war das Commando, welches Don Ramon hinaus vor die Stadt führte, zur Execution. Der Lieutenant, der das Peloton befehligte, ging mit düsterem Blick an der Spitze des Zugs, Don Ramon war sein Freund. – Aber er mußte seine traurige Pflicht erfüllen, denn man hatte es ihm befohlen. An der Stelle angelangt, wo schon eine tiefe Grube gegraben war, flüsterte der Verurtheilte dem Lieutenant noch ein paar Worte in’s Ohr, dann trat er an die Grube, und das weiße Tuch, welches ihn die Augen bedecken sollte, zurückweisend, kommandirte er mit fester Stimme: „Feuer!“ – Die Grenadiere hatten gut gezielt, er fiel ohne Laut. – Dann kommandierte der Offizier: „Gewehr auf!“ und das Peloton marschirte wieder zurück, während der Leichnam in der Grube, in welche er gefallen, liegen blieb – unbedeckt, ohne eine Hand voll Erde – des Beispiels willen und zur Abschreckung, wie der Befehl des Generals lautete. – Aber am anderen Tag war der Leichnam verschwunden.
Bauern, die vorübergegangen waren, behaupteten am Abend als der Mond hinter den Gebirgen aufgestiegen war, eine seltsame Gestalt um den Leichnam herum irren gesehen zu haben. Andere wollten ein junges Mädchen mit lose flatterndem Haar in der Nähe der Grube gesehen haben, dabei ein traurig klingendes, altspanisches Liedchen singend – mit eigenthümlicher Melodie, die wie das Lied einer Wahnsinnigen geklungen habe.
Mehrere Tage später fanden spanische Soldaten in der Tiefe einer Schlucht, unweit des Guerva ein junges, schönes Mädchen, halbnackt, mit blutigen Händen und Füßen, einen schon zum Theil in Verwesung gegangenen Leichnam bewachend. Sie sang dabei ein Lied, und als sich die Soldaten näherten, suchte sie ängstlich mit dem Leichnam, den man ihr, wie sie glaubte, rauben wollte, zu entfliehen. – Aber die Soldalen holten sie ein und brachten sie in das Irrenhaus zu Saragossa. Dort blieb sie einige Tage und wurde eines der Opfer, die bei dem Brand des Irrenhauses – durch das französische Bombardement – umkamen. Es war Dolores.“
Der Kapitain schwieg und stand auf, drückte mir schweigend die Hand und wollte fort.
„Noch ein Wort,“ bat ich.
„Sprechen Sie.“
„Wie kamen Sie in den Besitz des Briefchens von Dolores an Don Ramon, das Sie mir zeigten – es waren Blutflecke darauf?“
„Ich fand es in der Brieftasche des Unglücklichen, die ich ihm unmittelbar nach der Execution aus der Uniform nahm, um sie seiner Mutter zuzustellen. Es ist das einzige, was ich als Andenken an meinen unglücklichen Freund behalten. Ich war der Lieutenant, der das Executionscommando kommandirte.“
Von den Verwüstungen, welche in jüngster Zeit die Ueberschwemmungen anrichteten, laufen aus allen Gegenden die traurigsten Berichte ein. Die Noth der von diesem Schicksale betroffenen Städte und Dörfer nimmt die allgemeine Theilnahme in Anspruch und fordert zu wohlthätigen Spenden auf. Diese schreckenerregenden Ereignisse erinnern uns an die furchtbaren Neujahrsnächte Hamburgs und Umgegend, von denen wir nach den Mittheilungen eines bekannten Landschaftsmalers, dem wir auch die beiden nach der Natur aufgenommenen Ansichten verdanken, nachträglich noch eine Schilderung geben.
Schon am letzten Tage des alten Jahres steigerte ein heftiger Sturm die eintretende Fluth der Elbe zu einer solchen Höhe, daß die niedrig gelegenen Stadttheile Hamburgs unter Wasser gesetzt wurden. Ein großer Theil der Bewohner mußte ein anderes Unterkommen suchen. Man gab sich der Hoffnung hin, daß mit dem Eintritte der Ebbe die Wassermasse in das gewöhnliche Bett zurücktreten würde; diese Hoffnung war umsonst, denn in der Nacht vom 1. bis 2. Januar tobte ein gewaltiger Orkan vom Meere her, der den Strom der Elbe zur Umkehr, und da er neue, riesenhafte Wassermassen mit sich führte, auch zur weitern Ueberschreitung der Ufer zwang. Der Strom schwoll zu einem Meere an, und der Wasserstand erreichte eine Höhe von mehr als 21 Fuß. Traurige Berichte liefen von den Küsten der Nord- und Ostsee ein. Ganze Schiffe, die dem heimatlichen Strande nicht mehr fern, verschwanden mit Mann und Maus. Der Georg Canning, das größte und schönste Packetschiff des Rheders Slomann, kam von New-York zurück. Schon hatte es die Mündung der Elbe erreicht, als es von Sturm und Wellen ergriffen und vernichtet ward. Fünfundzwanzig Mann Besatzung und fünfundsiebzig Passagiere gingen mit ihm zu Grunde. Später warfen die Wellen die Schiffspapiere, die Büchse des Steuerrades und die auf ein Brett gebundene Leiche eines Kindes bei Kuxhafen an das Ufer.
Im Schleswig’schen richtete die Eider große Verheerungen an, doch beklagt man in dem unteren Stromgebiete, da sich hier die Fluth widerstandslos ausbreiten konnte, nicht so viele Verluste; mehr Schaden richtete der Sturm an, der, um ein Beispiel anzuführen, einen neuen Flügel des Schlosses Gottorf von 107 Fuß Länge einstürzte. Ein furchtbares Gewitter, aus den gewaltigen Schwingen des Orkans herbeigeführt, vermehrte die Schrecken durch zuckende Feuer und Erde und Himmel erschütternde Donnerschläge. Zu Hohn bei Rendsburg fuhr ein Blitz in die Kirche, ohne zwar zu zünden, aber er verletzte mehre Personen.
Am Schwersten wurde jedoch das schmale Stromgebiet oberhalb Hamburg heimgesucht. Hier, wo man jeden Fuß Landes mühsam dem Strome abgerungen, und durch Deiche, (hohe, starke Erddämme) schützt, war der Wasserstand um 1 Fuß höher als am Ausflusse der Elbe. (Kuxhafen 20′ 7″ Hamburg 21′ 4″.) Die fruchtbare Inselgruppe Vierlanden, die im Sommer einem reizenden Gemüse- und Obstgarten gleicht und das Auge durch einen prachtvollen Blumenflor entzückt, bot in den ersten Tagen des Januar [168] den Anblick eines großen See‘s, auf dem Segelfahrzeuge kreuzten, um Menschen und Vieh zu retten.
Gegen Abend am Neujahrstage hatte die Fluth eine solche Höhe erreicht, daß die Häuser an der Außenseite des Deichs, der das Kirchspiel Kirchwärder (Vierlanden) im Norden begrenzt, drei bis vier Fuß hoch unter Wasser standen. Und stets trieb der unausgesetzt tosende Sturm neue Wassermassen heran. Mit übermenschlicher Anstrengung suchten die armen Landleute dem brausenden Strome den Weg zu ihren Feldern und Wohnungen zu versperren, als aber die Fluth in einer Ausdehnung von drei Stunden zwei Fuß hoch über den Damm drang und von der innern Seite große Stücke losriß, mußten sie von der mühseligen Arbeit abstehen und ruhig zusehen, wie das Element fessellos sich über die Felder ergoß und in die Häuser drang. Angst und Besorgnis um Familie, Habe und Gut erfaßt nun die armen Landleute, die vergebens Stunden lang im eiskalten Wasser gearbeitet hatten. Immer weiter dehnt sich die blinkende Fläche aus, und ein Strauch verschwindet nach dem andern. Da endlich blitzt ein Hoffnungsstrahl durch die Nacht der Noth und die angsterfüllten Herzen der Landleute schlagen ruhiger. Die Ebbe ist eingetreten, der Strom wälzt sich abwärts dem Sturme entgegen, der wüthend den Wellen die weißen Schaumkämme abreißt und sie als Gischtwolken mit Hagel gemischt gegen die Deiche und ihre Vertheidiger treibt. Sturm und Strom beginnen einen heftigen Kampf, aus dem der Letztere siegreich hervorgeht. Die Wasserfläche sinkt, und bald wird die Kappe des Deichs wieder sichtbar. Die ermüdeten Arbeiter kehren in ihre Häuser zurück, um auszuruhen.
Es sollte diese Ruhe nicht von langer Dauer sein. Die Ebbe, die hier gewöhnlich acht Stunden anhält, wurde schon nach kurzer Zeit von der wiederkehrenden Fluth unterbrochen. Neue Wassermassen wälzten sich gegen die Dämme und überschütteten sie mit gewaltigen Sturzwogen, die unaufhaltsam über die Wehr hinwegdonnerten und die Grundvesten derselben erschütterten. An der Nordseite, bei Seefelde, wankte der Damm an zwei Stellen. Tief an dem Fuße desselben entstanden kleine Quellen, welche, die Erde aufreißend, schnell zu Bächen wurden. Die armen Bewohner suchten sich nun durch die Flucht zu retten. Und es war die höchste Zeit, denn plötzlich ward ein Stück des Deichs, 150 Fuß lang und 16 Fuß hoch, emporgehoben, und im nächsten Augenblicke hatte sich ein heulender und donnernder Wasserfall gebildet, der mit einer so furchtbaren Gewalt in das niedere Land stürzte, daß er ein neu errichtetes Bautenhaus, dessen Bewohner nur das nackte Leben retten konnten, buchstäblich in Stücke zerriß und mit sich fortwälzte. Bald folgte ein zweiter Durchbruch des Deichs, und das ganze Binnenland von Kirchwärder ward unter Wasser gesetzt. Die Einwohner konnten nur noch auf den Böden ihrer Häuser Zuflucht finden, denn in den untern Räumen herrschte die Fluth, Geräth und Vorrath zerstörend.
Als ob ein Arm der Elbe den andern bei seinem Zerstörungswerke unterstützen wollte, so durchbrach er den südlichen Deich, der sich in der Ausdehnung von einer halben Stunde von dem hamburger Gebiete bis zur worwischen Bucht erstreckt, an neun Stellen. Durch den äußersten Bruch von ungefähr 200 Fuß Länge ward ein großes Bauerhaus umgestürzt. Der Insasse, Landmann Grell, fand mit seinen drei Kindern den Tod. Seiner Gattin gelang es, mit dem jüngsten Kinde den Damm zu erreichen. Da stand nun die arme Frau auf einem trockenen Plätzchen, umtost von der kalten, schäumenden Fluth, und sah bei dem falben Scheine des Mondes, der wie höhnend die Schreckenscene beleuchtete, ihren Gatten, ihre Kinder, Haus und Hof im Wogenschwall versinken.
In einem andern Hause, das die Fluth zerstörte, ward der kranke Sohn und sein kleines Schwesterchen im Bette begraben. Die Mutter und die ältere Tochter flüchteten sich auf einen Baum, von wo aus sie den Hülferuf durch die Nacht erschallen ließen. Man hörte sie und bemerkte den Ort der Gefahr; aber die herbeieilenden Rettungsboote vermochten den Strudel nicht zu durchschneiden, und die Armen sanken erstarrt in das kalte Wassergrab.
An einer anderen Stelle des Deichs riß das Wasser die Kappe desselben, d. h. den obern Theil, zu beiden Seiten des Hauses hinweg, das oben darauf stand. Wie auf einer kleinen Insel fußend, ragte das Gebäude unversehrt aus dem See empor.
Auf dem Dachfirste eines zertrümmerten Hauses barg sich die Tochter des Besitzers drei und eine halbe Stunde lang, stets in Gefahr schwebend, von dem gewaltigen Sturme in das rauschende [169] Wasser geschleudert zu werden. Es gelang, die halb Erstarrte zu retten.
Ein Strom, der durch einen andern Kappensturz von 110 Fuß Länge entstanden war, wühlte sich in die Mitte eines Bauernhauses hinein und schuf einen Abgrund, der nach und nach die eine Seite des Gebäudes verschlang. Auf dem Boden, wohin sie sich geflüchtet, drohete den Bewohnern zweifache Todesgefahr: während die das Wanken des Hauses an das gähnende Grab mahnte, entwurzelte der Sturm draußen alte riesige Pappeln und schleuderte die Stämme auf das schwankende und seufzende Dach. Acht Häuser wurden auf diese Weile völlig zerstört, und 37 dergestalt verlezt, daß sie dem Einsturze drohen.
Auch die Insel Wilhelmsburg, die Hamburg zunächst liegt, ward völlig überschwemmt, und sind auch hier leider, außer den Verwüstungen an Wohnungen und Ländereien, Menschenleben zu beklagen.
In Hamburg selbst theilten sich die Elemente. Der niedere, von der Fluth überschwemmte Stadtteil hatte von dem Sturme wenig zu leiden; aber in dem höher gelegenen raste er mit einer wahren Beserkerwuth. Während dort das strömende Wasser in Waarenlagern großen Schaden anrichtete, die Leute aus den hier eigenthümlichen Kellerwohnungen und selbst aus solchen trieb, in denen man das Erscheinen des kalten Elements für unmöglich hielt, so daß die sich sicher wähnenden Bewohner plötzlich aus den warmen Betten gescheucht wurden – ließ hier der Orkan seine verheerende Gewalt aus. Am Grasbrook stürzte er den Telegraphenmast und trug die hohen Schornsteine der Lauenstein’schen Wagenfabrik und der Schmilinksy’schen Eisengießerei mit sich fort. In den nach der Windseite gelegenen Häusern drückte er die Fensterscheiben ein, fuhr in die Zimmer, und warf das Geräth durcheinander. Standen die Hausthüren offen, so fuhr er hinein, die Treppen hinauf und sprengte die Dachfenster, die zur Beleuchtung der Treppenhäuser dienen. Aus den Oefen trieb er Flammen und Ruß in die Zimmer. In Hamm riß der ungestüme Gast während des Gottesdienstes das Dach von der Kirche, so daß die Andacht sich in Schrecken verwandelte, und Pfarrer und Gemeinde schleunigst die Flucht ergriffen. Am Billwärderdeich geriet zur gleichen Zeit eine Mühle in Brand; sie ward bis auf den Grund in Asche gelegt.
Auf der Insel Neuwerk, am Ausflusse der Elbe, waren alle Bewohner aus ihren Häusern getrieben. Sie hatten sich mit ihren wertvollsten Sachen auf den alten Leuchtthurm geflüchtet, der allein noch ein sicheres Plätzchen bot. Jahrhunderte lang hatte er Wogen und Sturm getrotzt, und auch in dieser Schreckensnacht hob sich sein glühendes Haupt stolz und fest aus der Fluth empor, hinblickend über das wild empörte Meer, das sich schäumend an seinem ehernen Fuße brach. Während die entfesselten Elemente Schrecken und Verwüstung anrichteten, schützte der Thurmkoloß mit seinen achtzehn Fuß dicken Mauern, an denen die Gewalt der Wogen sich brach, die geängstigten Menschen der Insel, die oben bei den Feuerwächtern saßen. Schreiend umkreisten die Möven die glühende Kuppel, und rannten mit den Köpfen an die zolldicken Glasscheiben, als ob auch sie Schutz suchten.
„Es war eine furchtbare Zeit, die wir dort erlebten,“ erzählte einer der Männer. „Während unten die Wogen krachten und heulten, umraste der Orkan mit Donnergebrüll die Kuppel, so daß es schien, als ob auch unser wohlthätiger Riese endlich erliegen müsse. Heulen, Zischen und Krachen wechselten mit einander ab, und nicht selten erfolgte unter gräßlichem Getöse ein so furchtbarer Stoß, daß wir schaudernd zusammenfuhren, wähnend, unser letztes Stündlein sei gekommen. Aber siegreich ging der eherne Thurmkoloß aus dem grausen Kampfe hervor. Nach einer qualvollen Nacht brach endlich der Morgen an. Aber welch ein Anblick bot sich [170] unsern Augen dar! Rings eine weite, dumpfgrollende Wasserwüste! Wir suchten unsere Wohnstätten – sie waren verschwunden! Nur hier und da ragte das Dach eines Hauses aus der trüben Fluth empor, wie der Wrack eines versunkenen Schiffes. Wir hatten zwar das Leben gerettet, aber wir waren arme, obdachlose Menschen. Weinend drückte der Vater seine Gattin, seine Kinder an das Herz, und sandte einen Blick des Dankes zu dem Himmel empor, der ihm gnädig seine Lieben gelassen hatte.“ –
Warum hat uns die Natur, von der man sagt, daß sie ihre Zwecke stets auf dem kürzesten und einfachsten Wege zu erreichen wisse, mit zwei Augen ausgerüstet, da wir dessen ungeachtet die Dinge gewöhnlich doch nur einfach sehen? Diese Frage ist oft aufgeworfen, ohne daß sie genügend beantwortet werden konnte. Erst in neuester Zeit hat das Stereoskop, ein einfacher physikalischer Apparat, der mit Recht alle die begeistert, die sich an seinen Wundern ergötzen, das Räthsel gelöst und doch ist wohl über keinen Gegenstand so viel und so heftig gestritten worden, wie über das einfache Sehen der Dinge mit beiden Augen.
Wir haben es in unserer Macht, die Gegenstände einfach oder doppelt zu sehen; letzteres erfordert freilich einige Anstrengung. Wir sehen einfach, scharf und deutlich, wenn beide Augen für die Entfernung eingerichtet sind, in der sich der Gegenstand befindet. Geben wir aber den Augen die Einrichtung für eine größere oder kleinere Entfernung, so sehen wir doppelt und stets undeutlich, verwaschen. Bei einiger Anstrengung, bis der Leser die Uebung erlangt hat, die Augen beliebig einzustellen, kann er sich leicht davon überzeugen, wenn er zwei Finger in gehöriger Entfernung hinter einander vor die Augen hält. Man kann hier ganz nach Gefallen den vorderen oder den hinteren Finger doppelt sehen, je nachdem man die Augen in umgekehrter Ordnung eingestellt hat. Um nun diesen Umstand zu erklären, sagte man, daß beim Sehen zwar ein jedes Auge dasselbe Bild des Gegenstandes aufnehme, aber die Punkte, auf welche das Bild falle, verschiedene seien; beim einfachen Sehen falle das Bild auf übereinstimmende Punkte, d. h. solche, deren Nerven mit einander in Verbindung stehen, sich bei dem weiteren Verlauf zu einem vereinigen, und beim doppelten Sehen auf Stellen, die sich nicht entsprechen, weil deren Nerven auf ihrem Wege zum Gehirn getrennt bleiben. Daher sollte im ersteren Falle durch die Vereinigung der Nerven auch das doppelte Bild zu einem einzigen vereinigt werden und dann erst in uns zum Bewußtsein kommen, in letzterem jedoch zwei, weil jeder Nerv besonders den durch das Licht empfangenen Eindruck in unserem Gehirn zum Bewußtsein brachte. War diese Erklärung richtig, so konnte man das eine Auge als überflüssig betrachten. Man hatte hierbei aber ganz außer Acht gelassen, daß beim Sehen eines nahen Körpers keineswegs in einem jeden Auge dasselbe Bild auf der Netzhaut entstehe, sondern ein merklich unähnliches. Wenn der Leser sich z. B. einen Würfel in geringer Entfernung vor die Augen hält und ihn abwechselnd mit dem einen oder anderen Auge betrachtet, so sieht er mit jedem etwas Anderes, wie uns dies auch die nebenstehende Zeichnung anschaulich macht. Daraus wird klar,
daß man bei nahen Gegenständen mit beiden Augen mehr sieht als mit einem, und aus diesem einfachen Grunde kann kein Maler, so geschickt er auch sein möge, eine so treue Darstellung von einem nahen körperlichen Gegenstande geben, daß sie vom Original selbst nicht zu unterscheiden wäre, denn bei dem Körper sieht nicht jedes Auge dasselbe, wohl aber bei dem Gemälde, weil es auf einer Fläche dargestellt ist, die dem Auge keine verschiedenen Ansichten darbietet. Betrachtungen hierüber hat schon Leonardo da Vinci, der große Künstler und geistreiche Philosoph in einer Abhandlung über die Malerei angestellt, ohne aber darüber in’s Reine zu kommen.
Anders ist es nun, wenn wir einen fernen Gegenstand betrachten. Ob man ihn mit einem Auge ansehen mag oder mit beiden – der Anblick ist immer derselbe, weil hier die Stellung der Augen zu dem Gegenstande fast eine gleiche zu nennen ist, da die Sehachsen – die Linien, die man sich von dem Punkte, auf welchen das Auge gerichtet ist, mitten durch die Augen gezogen denkt, – einen so kleinen Winkel bilden, daß man sagen kann, sie liefen parallel. Da hier der Anblick für beide Augen derselbe ist, so kann auch ein geschickter Künstler eine so treue Darstellung von entfernten Gegenständen aufnehmen, daß man geneigt ist, das Gemälde für Wirklichkeit zu nehmen, wie das bekannte Diorama, eine Erfindung Daguerre’s, lehrt.
Je näher nun aber der Gegenstand dem Auge rückt, um so größer wird der Winkel, den die beiden Sehachsen bilden; mit dem zunehmenden Winkel wird auch die Stellung der Augen immer mehr eine verschiedene, bis endlich die Gleichheit der Anschauung aufhört und jedes Auge eine andere in sich aufnimmt. Die große Verschiedenheit, die zwischen der Betrachtung naher und entfernter Dinge wirklich stattfindet, kann sich der Leser sehr leicht auf folgende Weise recht deutlich zur Anschauung bringen. Er stelle einen großen Ring in geringer Entfernung von sich so auf, daß die schmale Seite der Nase zugekehrt ist, also die Oeffnung seitwärts liegt, so wird er bald von rechts, bald von links durch den Ring hindurch sehen, je nachdem er das eine oder das andere Auge gebraucht. Rückt man den Ring weiter fort, so wird man bald nichts weiter davon wahrnehmen als den schmalen Reif, mag man das rechte oder das linke Auge schließen.
Auf den besprochenen Unterschied machte zuerst 1838 Wheatstone, ein berühmter englischer Physiker, dem die Wissenschaft viele und wichtige Entdeckungen zu verdanken hat, aufmerksam. Er wunderte sich selbst darüber, daß diese für die Theorie des Sehens so wichtige Thatsache bis dahin noch nicht die Aufmerksamkeit eines naturforschenden Auges auf sich gezogen und hinreichend gefesselt hatte. Als völlig neu stellte er sie hin und die Früchte der neuen Anschauung liessen auch nicht lange auf sich warten. Diese Betrachtungen führten sehr bald zum Stereoskop. Wheatstone stellte sich nämlich die Frage, was wohl der Erfolg sein möchte, wenn man anstatt des Gegenstandes perspectivische Zeichnungen, genau so entworfen, wie jedes Auge für sich den Gegenstand sieht, gleichzeitig einem jeden Auge darböte. Da beide Zeichnungen jedoch nothwendigerweise bei der Betrachtung verschiedene Plätze einnehmen, so war dafür zu sorgen, durch irgend eine Einrichtung beide Bilder so auf die Netzhaut der Augen fallen zu lassen, daß beide Eindrücke vereint dem Beschauer zum Bewußtsein kamen. Dieser Versuch bedingte die Entdeckung des Stereoskopes, die Wheatstone mit zu seinen größten Triumphen rechnet, die er auf dem Gebiete der Wissenschaft errungen hat. Während eine jede Zeichnung für sich mit einem Auge angesehen sich als das darstellt, was sie ist – eine Fläche – war der Eindruck, der sich Wheatstone darbot, als er beide Zeichnungen zugleich mit beiden Augen betrachtete ein überraschender; die Zeichnung, die Darstellung auf einer ebenen Fläche war verschwunden und an die Stelle beider war das genaue Gegenstück des Originals, eine Figur von drei Dimensionen, also ein Körper getreten. Diese Eigenthümlichkeit, Abbildungen körperlich zur Anschauung zu bringen, wird schon durch den fremdländischen Namen des kleinen Apparates angedeutet. Er erfüllt auf die überraschenste Weise das, was die Perspective wohl verspricht, aber meistens doch nicht halten kann.
Indessen ist kein Meister bis jetzt vom Himmel gefallen. Daher waren auch die ersten Einrichtungen Wheatstone’s sehr unvollkommen. Der Hauptübelstand war der, daß das Sehen hier ein [171] ungewöhnliches war, man mußte die Augen künstlich einstellen. Wer in dergleichen Experimenten nicht geübt war, konnte entweder ein Zusammenfallen der beiden Bilder gar nicht ermöglichen oder an sich den Gegenstand matt oder undeutlich. Eine neue Form war zwar bald gefunden, aber alle Verbesserungen, die Wheatstone anbrachte, waren nicht der Art, daß der Apparat eine allgemeine Verbreitung zuließ. Daher gehen wir auf eine Beschreibung derselben hier auch nicht näher ein, wenn schon die erste Einrichtung, die Wheatstone dem Stereoskop gab, und die bald zu besprechende Brewster’s noch heute die beiden klassischen genannt werden. Und doch wird aus den angegebenen Gründen Wheatstone’s Spiegelstereoskop dem Leser schwerlich zu Gesichte kommen; daher sei nur gesagt, daß, wie es der Name schon andeutet, man hier nicht die Zeichnungen, sondern nur deren Spiegelbilder sah.
Alle Uebelstände, die Wheatstone’s Apparate hatten und ihre Verbreitung über die wissenschaftlichen Kreise hinaus verhinderten, wurden durch einen genialen Gedanken des schottischen Physikers Brewster mit einem Schlage auf das Leichteste und Vollkommenste beseitigt. Er ersetzte die Spiegel oder Prismen, bei deren Anfertigung sich namentlich erhebliche Schwierigkeiten geltend gemacht hatten, einfach dadurch, daß er eine biconvexe Linse, alo ein auf beiden Seiten erhabenes Brillenglas, in zwei Hälften zerschnitt und so zwei genau übereinstimmende Linsen erhielt. Dadurch wurde es möglich, dem Apparat eine gefällige und leicht handzuhabende Form, die, wie die nebenstehende Abbildung zeigt, einige Aehnlichkeit mit einem Operngucker hat, zu geben. Nach dieser Zusammenstellung ist das Stereoskop ein Kistchen aus Holz oder Pappe, in welchem sich oben eine Oeffnung befindet,
die mit einem leicht beweglichen Deckel versehen ist. Die innere Seite des letzteren ist mit Gummifolie belegt, die zur Beleuchtung von Zeichnungen auf undurchsichtigem Grunde dient, indem das Licht von der metallischen Fläche, sobald der Deckel aufgehoben ist, auf die Zeichnung geworfen wird. Letztere wird durch einen Spalt an der Seite eingeschoben; ist die Grundlage eine durchsichtige, wie bei den Bildern der Zauberlaterne, so muß das zurückgeworfene Licht abgehalten werden, die obere Klappe wird daher geschlossen. Entweder hat der Apparat hinten keine Wand, oder es findet sich hier eine Klappe, die geöffnet wird, um dem Licht den Durchgang zu gestatten. An der andern Seite erblicken wir zwei Röhren, die Behälter für die Linsen. Der Abstand beider kommt überein mit dem der Augen im Kopfe, so daß man also ohne Mühe in den Kasten hineinsehen kann. Mitunter sind sie beweglich und dann kann man sie für jedes Sehvermögen bequem einstellen. Durch die Beschaffenheit der Linsen kann man auch jede beliebige Vergrößerung der Bilder bewirken.Die Größenverhältnisse, nach denen die Apparate gebaut werden, sind gewöhnlich sieben Zoll für die Länge, einige Linien mehr für die Breite und die Höhe macht die Hälfte der Breite aus. Sie werden auch in bedeutend kleineren Verhältnissen hergestellt; ja Brewster hat sogar ein Taschenstereoskop in den kleinsten Ausdehnungen construirt, das dennoch den größeren Apparaten in nichts nachstand und ebenso befremdende Wirkungen hervor zauberte, wie diese. Er befolgte hier eine Oekonomie, bis zu der es bis dahin die Optik noch nicht gebracht hatte; aus einer Linse, die er viertheilte, baute er zwei Apparate. Außer den erwähnten klassischen Formen giebt es noch viele andere – wohl bald 20 – nach denen der Apparat eingerichtet wird. Weiteres aber darf ich darüber nicht berichten, da sie meistens nur für bestimmte Zwecke ersonnen sind und nur für den Physiker Interesse haben.
Dies ist die einfache Einrichtung des Apparates, von dessen wunderbaren Wirkungen bereits in Nr. 21 die Rede gewesen ist. Der Apparat thut hierbei weiter nichts, als das Sehen zu erleichtern; der ganze Zauber ist nur das Werk der Zeichnungen. Daher können wir ihn auch bei einiger Uebung ohne jenen allein durch unsere Augen hervorrufen. Auch hier giebt es geringe Kunstgriffe, durch die man das Zusammenfallen der Bilder erleichtern kann. Allein diese Versuche sind den Augen nicht zuträglich; eine öftere Wiederholung sogar entschieden schädlich und daher sehr davor zu warnen. Der bekannte Physiker Dove, der diese Versuche anstellte, da sie von großem physiologischen Interesse sind, sagt, daß namentlich der Eindruck ein ganz sonderbarer sei, wenn die Bilder sich zu einem Körper vereinigen; es sei, als wenn sie, so wie sie sehr nahe an einander gekommen sind, sich mit beschleunigter Geschwindigkeit anzögen. Bei dieser Gelegenheit erzählt er noch eine andere interessante Thatsache. Legen zwei Personen die Stirnen gegen einander und sehen sich dann anhaltend gegenseitig in die Augen, so fallen zuletzt für einen jeden die Augen des anderen in ein großes Auge in der Mitte der Stirn zusammen.
Was nun die Anfertigung der beiden unähnlichen Zeichnungen betrifft, die zusammen gesehen ein so getreues Gegenstück des Originals geben, daß keine Macht der Einbildung in dem Beschauer die Ueberzeugung erwecken kann: er habe eine auf einer Ebene entworfene Zeichnung vor Augen, – so werden einfache, namentlich geometrische Figuren sehr leicht nach mathematischen Regeln entworfen. Statt ihrer kann man auch paarige Figuren aus Draht oder dünnen Holzstückchen in das Stereoskop bringen, um denselben Genuß zu haben. Ja auch die Gegenstände selbst kann man in Anwendung bringen, und hier wird man durch das, was man sieht, fast zur Verzweiflung gebracht. Stellt man z. B. ein großes und ein kleines Glas in gehöriger Entfernung von einander auf, so sieht man doch, so sehr man auch dagegen zu protestiren versucht, das kleinere in dem größeren. Sind sie dagegen von gleicher Gestalt und Größe, so stellt sich natürlich nur ein einziges dar. Beide Zeichnungen finden sich auf einem Blatte und die richtige Aufstellung desselben kann leicht durch Hin- und Herrücken von dem Ungeübten gefunden werden. Betrachten wir z. B. die nebenstehenden Zeichnungen durch das Stereoskop, so gewährt uns Fig. 1 den Anblick einer abgestumpften Pyramide und Fig. 2 den eines Korbes mit einem Henkel.
Als wichtiges Hülfsmittel bei Anfertigung effectvollerer Zeichnungen, die uns im Stereoskop Portraits, Statuen, Ansichten der Natur, Gebäude etc. vorführen sollen, – Aufgaben, die selbst der kunstfertigsten Hand große Schwierigkeiten machen oder von dieser gar nicht auszuführen sind, – leistet das Daguerreotyp wesentliche Dienste. Zunächst aber waren hier erhebliche Hindernisse zu beseitigen. Das Genie Brewster’s hatte wohl Rath geschafft. Man wendete auch hier den Kunstgriff, das Zerschneiden der Linsen an und verwandelte dadurch, daß man an der dunkeln Kammer die beiden Hälften der Linsen in dem Abstande der Augen anbrachte, das Daguerreotyp so zu sagen in ein Stereoskop; – aber ein solcher Apparat war nur geeignet zur Aufnahme von Kunstwerken, die nicht einen Fuß Höhe überschritten. Wollte man größere Werke nachbilden, so mußte man die Linsen in demselben Verhältniß unter einander stellen, als der Gegenstand die angegebene Größe überschritt; also z. B. bei einer Statue von 10 Fuß Höhe zehnmal 21/2 Zoll. Wären jedoch nicht andere Mittel gefunden, so würde der Gebrauch des Daguerreotyps zu diesem Zweck stets nur ein beschränkter geblieben sein. Jetzt nimmt man mit ein und demselben Instrument, in gleicher Entfernung und unter demselben Winkel zwei Ansichten von ein und demselben Gegenstande auf, die eine einige Schritte rechts, die andere ebenso weit links. Die Entfernung richtet sich nach der Größe der Bilder, die man erhalten wird.
Der Abbé Moigno erzählt uns in seiner Optik, daß man diese wichtige Verbesserung dem französischen Optikus Jules Duboscq zu verdanken habe, und hierdurch bekundet der gelehrte französische Physiker eine sehr große Unkenntniß der deutschen wissenschaftlichen Literatur. Der Professor Moser in Königsberg hat nämlich schon [172] vor länger als zehn Jahren, zu einer Zeit, in der das Stereoskop dem französischen Gelehrten noch völlig unbekannt war, ganz auf dieselbe Weise Lichtbilder zu gleichem Zwecke angefertigt und bereits 1844 eine genaue Beschreibung seines Verfahrens veröffentlicht. Dergleichen widerfährt den deutschen Verdiensten von den Mitgliedern der großen Nation, die für die Leistungen anderer keine Augen haben, freilich ziemlich häufig, und leider wird dieser Dünkel dadurch sehr genährt, daß gerade die ausgezeichnetsten deutschen Gelehrten ihre Entdeckungen zuerst der französischen Akademie vorlegen, lange bevor sie dieselben deutschen wissenschaftlichen Zeitschriften anvertrauen.
Durch den Handel sind solche Zeichnungen in beträchtlicher Auswahl zu beziehen. Die gefälligsten sind die vom Professor Hessemer – bei Albert in Frankfurt am Main – und von Julie Dubosq in Paris. Namentlich die Lichtbilder des letzteren, seitdem er die Metallplatten, deren Spiegelung die Effecte weniger schön hervortreten läßt, durch Glas ersetzt hat, rufen eine Wirkung hervor, die wahrhaft zauberisch genannt werden kann. Bei Statuen erkennt man sogar, ob sie aus Marmor oder Erz gebildet sind, weil beide Materialien das Licht verschieden zurückwerfen und dadurch in den Nachbildungen Licht und Schatten verschieden vertheilt werden. Die Bilder, vor allem die Lichtbilder, sind es auch, welche den Apparat vertheuern; doch ist der Preis der Art, daß er einem Jeden zugänglich ist, sobald die Ansprüche nicht zu sehr gesteigert werden. Ein Apparat mit einer Sammlung gewöhnlicher Zeichnungen auf Papier kostet, je nachdem er mit mehr oder weniger Luxus ausgestattet ist, in Paris 30 bis 12 Francs. Freilich ist die Anzahl der Zeichnungen nur eine geringe, und daher würde das reizende Spielwerk bei Vielen sehr bald in Mißkredit kommen. Bald wird man es aber nicht nöthig haben, sich die Apparate selbst anzuschaffen; die Aussicht, Geld zu verdienen, wird in kurzer Zeit bewirken, daß man an allen Orten Stereoskope für das größere Publikum aufstellen wird. Und neue Bilder werden stets wieder eine neue Anziehungskraft ausüben.
Es heißt zwar „dem Verdienst gebührt die Krone," aber das Leben lehrt uns, daß zwischen dem „gebühren“ und „erreichen“ sehr oft eine große Kluft liegt, die durch ein unbedeutendes Etwas, ein zufälliges Ereigniß von der geringfügigsten Bedeutung ausgefüllt werden muß. So auch beim Stereoskop. Bereits am 21. Juni 1838 stellte Wheatstone sein Spiegelstereoskop in der Königl. Gesellschaft zu London auf und erntete hier einen Beifall, der ihn zu dem oben angeführten Ausspruch berechtigte. Mehr noch als hier zog die neue Entdeckung die Aufmerksamkeit der deutschen Physiker und Physiologen auf sich. Nicht allein, daß sie sich an den überraschenden Täuschungen, in die sich „das Auge gleichsam mit Lust stürzt," weidlich ergötzten, sondern auch ernste, wissenschaftliche Erörterungen, die wir in einem andern Artikel besprechen wollen, wurden dadurch herbeigeführt. Aber daran dachte Niemand, daß man auch außerhalb der gelehrten Kreise Sinn für die dortigen Wunder, die der kleine Apparat offenbarte, haben könnte. Und ohne eine zufällige Reise nach Paris, die Sir Davis Brewster im Herbst 1850 – also 12 Jahre später – ausführte, hätte das Stereoskop selbst heute wohl kaum einen Weg in das größere Publikum gefunden. Dieser unbedeutende Umstand genügte, um die Lage der Dinge vollständig zu ändern; aus einer Rarität der physikalischen Kabinette wurde das Stereoskop ein beliebtes Spielzeug für große und kleine Kinder.
Die leichtentzündliche Phantasie der französischen Physiker, die bis dahin von dem Vorhandensein der schon ziemlich alten Erscheinung auf dem Gebiete der Wissenschaft keine Ahnung gehabt hatten, war auf das Höchste überrascht von den Wundern, die sich vor ihren Augen aufthaten, sobald sie in den kleinen Kasten hineinsahen, den Brewster vor ihnen aufgestellt hatte. Namentlich der Abbé Moigno drang auf das Lebhafteste darauf, diese außerordentliche Belustigung dem größeren Publikum nicht länger vorzuenthalten. Er überredete Brewster mit dem Opticus Dubosq in Verbindung zu treten und diesem die Anfertigung der Apparate zu übertragen. Brewster willigte ein, und auf überraschende Weise wurde das Unternehmen durch den Erfolg gekrönt. In dem ersten Jahre wurden mehr als tausend Apparate in Frankreich, England und Deutschland verkauft.
Und nun gar erst die Zukunft, die man hier dem Stereoskop prophezeit. Man nennt es die Krone der Photographie und sieht es als ein noch bei Weitem größeres Wunder an als das Daguerreotyp. Man glaubt, daß einst der Tag kommen werde, wo man sich nicht mehr mit Gemälden und Statuen, die man mehr oder weniger todt und Phantasiegebilde der Künstler nennt, begnügen werde; daß dann Stereoskop und Daguerreotyp Hand in Hand gehen werden, um unsern Augen alles so darzubieten, wie es wirklich ist. Man träumt schon von Gallerien, die den lebendigen Ausdruck der Köpfe, die man verewigen will, getreu wiedergeben, von Museen, die alle alten und modernen Kunstwerke so zu sagen in Natur vorführen, von Sammlungen, die gerühmte und berühmte Gegenden, Bauwerke und Ruinen so zur Anschauung bringen, wie sie wirklich sind, so daß sie in uns dieselben Gefühle erregen, als wenn wir sie mit eigenen Augen schauten, - eine Forderung, an der selbst ausgezeichnete Künstler scheitern. Und selbst Portraits, die Gedenkzeichen unserer Lieben, sieht man schon mit dem Stereoskop vereint. So ungeheuer dieser Erfolg auch genannt werden muß, - in Frankreich bezweifelt man ihn nicht, nachdem man die Nachbildungen der großartigen Gallerien der Weltausstellung zu London, die Familiengruppen von Claudet und die zahlreichen Lichtbilder von Duboscq gesehen hat. Das deutsche Blut fließt freilich ruhiger, aber auch wir wollen die Möglichkeit des Erfolges zugeben. Legen wir aber in Bezug auf die Erfüllung der frommen Wünsche die Erfolge der Photographie und Galvanoplastik, die beide in Betreff des materiellen Nutzens ungleich höher stehen, als Maaßstab zu Grunde, so möchte es dieser Verheißung eben so gehen, wie vielen anderen.
- Nicht die große seltne Noth der Welt, die Fluthen, die Erdbeben, die Eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Goethe.
- Nicht die große seltne Noth der Welt, die Fluthen, die Erdbeben, die Eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte.
Jedes lebendige Wesen verfolgt andere und wird von andern verfolgt, denn in der Natur herrscht ununterbrochen Kampf, Krieg und Blutvergießen und das Recht des Stärkern ist das alleinige Gesetz, die einzige Richtschnur aller Erschaffenen, die nicht Mensch heißen. Auf jedem kleinen Spaziergange in Europa schon findet der aufmerksame Beobachter diese Wahrheit bestätigt, greller und auffallender aber tritt sie ihm in Ländern entgegen, wo das Naturleben in üppigerer Fülle, in mächtigerer Kraft und frei von menschlicher Censur und Polizei sich regt.
Wir befanden uns im Süden der Vereinigten Staaten und hatten uns vor zwei großen Bäumen gelagert, die von Schlinggewächsen wie von Guirlanden dicht umschlungen und verbunden waren. Die Blätter verschwanden unter einer Fülle von Blüthen, die sich wie ein bunter Teppich darüber breiteten und meist aus großen scharlachrothen Bignoniaglocken bestanden.
„Sie da, zwei fliegende Edelsteine!“ rief mein Freund. „Colibris! Da kriecht einer wie eine Biene in einen Blüthenkelch hinein. Ob ich ihn zu schießen versuche?“
„Das kleinste Schrot würde ihn in Stücke zerreißen; man schießt Colibris bisweilen, wie ich hörte, mit Mohnkörnchen, aber laß sie leben; siehe lieber zu, Du hast ja so gute Augen, ob Du das Nest findest.“ [173] Ehe der Freund dies Suchen begann, kam summend eine große Hummel herbei, die sich auf dieselbe Blume setzte, in welcher der Colibri naschte. Sofort schoß dieser auch heraus, griff zornig die Hummel an, und es entstand in der Luft ein Miniatur-Kampf zwischen den kleinen Wesen; die Hummel flog indeß bald davon.
Das Colibrinestchen wurde glücklich gefunden, eine oben offene kleine Kugel von feinen Moosfädchen in der Gabel eines Astes. Wir betrachteten es aufmerksam und hatten uns kaum entfernt, als der eine Colibri in das Nest flog, während der andere unter den rothen Blüthen eifrig nach kleinen Fliegen mit blauen Flügeln schnappte.
Da bewegte sich etwas über dem Nestchen; wir sahen uns um und bemerkten bald, daß ein häßliches Thier unter den Blättern heranschlich. Wir verhielten uns still. Das Thier war etwa so groß als die kleinen Colibris; der Körper bestand aus zwei in der Mitte verbundenen Theilen, war über und über mit starren rothbraunen Haaren bedeckt und hatte zehn lange ebenfalls behaarte Beine mit Haken. Es war die große Vogelspinne, die den Colibri beobachtete, welcher um die Blüthen summte. Sobald er in einem Kelche verschwand, lief sie schnell näher; kam er heraus, so versteckte sie sich unter einem Blatt. Jetzt schwebte der Colibri über einer Blüthe ganz nahe bei der Spinne, und sofort sprang diese hinzu und faßte ihn. Er flatterte noch, er suchte fortzufliegen, aber die häßliche Spinne, die ihn fest umklammert hielt, war ihm zu schwer, und bald sanken beide nieder. Der Vogel war todt und die Spinne schickte sich an die Beute in ihr Versteck zu schleppen, um sie ungestört zu verzehren.
Während dies geschah, wurden unsere Blicke durch etwas Glänzendes angezogen, das sich an der rauhen bräunlichen Rinde des Lianenstammes hinbewegte. Es war ein eidechsenartiges Thier und so schön als eine Eidechse es sein kann, aber die häßliche, fast menschliche Form dieser Geschöpfe, ihre blitzenden Augen und ihr raubsüchtiges, tückisches Wesen machen sie mehr zum Gegenstande des Widerwillens als der Bewunderung, abgesehen davon, daß einige giftig sind.
Der ganze obere Theil der Eidechse, die wir jetzt vor uns sahen, war smaragdartig goldig grün, der untere grünlich weiß, der gleichsam aufgeschwollene oder aufgeblasene Kopf glänzte im schönsten Scharlachroth, während die kleinen Augen wie Diamanten auf Goldgrund funkelten und am Halse ein Lappen hing wie bei dem Hahne. Die Glieder waren grün wie der Rumpf, und die Zehen an den Beinen hatten die Eigenthümlichkeit, daß sie gleichsam in kleinen Kugeln endigten. Es war ein Anoly oder eine Mopseidechse, häufig auch Chamäleon genannt, etwa sechs Zoll lang.
Sobald die Eidechse die Spinne bemerkte, drückte sie sich platt an den Stamm. Ihre Farbe veränderte sich: die Kehle wurde weißlich, dann blaßgrau, und an die Stelle des glänzenden Grüns trat ein rostfarbenes Braun, so daß das Thier von dem Stamme nicht leicht unterschieden werden konnte. Es schien die Spinne angreifen zu wollen und so geschah es. Sobald die Spinne mit der schimmernden Beute ganz nahe gekommen, war die Eidechse mit einem Sprunge bei ihr, packte sie mit den gewaltigen Kinnladen und Eidechse, Spinne und Vogel fielen hinunter an den Boden. Die Spinne ließ dabei den Vogel los, und nun begann zwischen ihr und dem Chamäleon auf dem Rasen ein Kampf, der einige Minuten dauerte. Die Spinne wehrte sich tapfer, war aber dem Gegner nicht gewachsen, der ihr bald die langen Beine abbiß, so daß der sackartige Rumpf hülflos dalag. Da packte das Chamäleon die Beute am Kopf, drückte ihm die spitzen Zähne hinein und machte sie todt. Merkwürdig war uns, daß in dem Augenblicke, als die Eidechse sich auf ihre Beute stürzte, ihre Farben, Roth und Grün, im schönsten Glanze plötzlich wieder erschienen.
Aber auch sie sollte die Beute nicht in Ruhe verzehren können. Oben an dem Baume, an welchem das Chamäleon emporlief, befand sich ein Loch, in dem wohl einmal ein Vogel sein Nest gehabt hatte, und aus welchem eben jetzt eine Scorpion-Eidechse mit rothem Kopfe und braunen Schultern hervorlugte. Wer in den amerikanischen Wäldern gereiset ist, wird solche Geschöpfe häufig genug gesehen haben, denn die Scorpion-Eidechse mit ihrem rothen Kopfe, olivenbraunem Rumpfe und höchst widerwärtigem Aussehen zeigt sich dem Wanderer oft. Die, welche jetzt oben auf dem Baume lauerte, wackelte mit der spitzen Schnauze hin und her, und die schwarzen funkelnden Augen hatten einen tückischen Ausdruck. Das Chamäleon, das über die dürren Blätter hinkroch, hatte offenbar ihre Aufmerksamkeit erregt.
Blitzschnell fuhr jetzt die Scorpion-Eidechse aus dem Loche heraus, legte sich an den Stamm des Baumes, den Kopf nach unten, wartete so noch eine kurze Zeit und lief dann äußerst geschwind hinunter. Dort sprang sie so fort auf das Chamäleon, das in Folge dieses wüthigen Angriffs die Spinne losließ und fliehen zu wollen schien. Aber das Chamäleon ist muthig, und da sein Gegner nicht viel größer war als es selbst, so setzte es sich zur Wehr. Seine Kehle schwoll auf und wurde noch glänzender roth. Mit weit aufgerissenem Rachen stürzten beide auf einander zu und wälzten sich auf der Erde, die Schwänze emporgestreckt. Mehrmals ließen sie aber los und begannen den Kampf von Neuem, ohne daß Einer der Gegner das Uebergewicht zu gewinnen schien.
Der schwächste Theil der grünen Eidechse ist der Schwanz, den der leichteste Ruthenschlag von dem Rumpfe trennt. Das schien die Scorpion-Eidechse recht gut zu wissen, denn sie versuchte mehrmals die Gegnerin von hinten zu packen. Das Chamäleon seinerseits mochte dies fürchten, denn es manövrirte lange so, daß es der Gegnerin stets mit dem Kopfe gegenüber blieb.
Die kleinen Thiere kämpften wüthend wie große Krokodile mehrere Minuten, bis endlich das Chamäleon den Muth zu verlieren schien, wobei seine grüne Farbe immer matter wurde. In diesem Augenblick unternahm die Scorpion-Eidechse noch einen heftigen Angriff, warf das Chamäleon dabei auf den Rücken, faßte es rasch am Schwanze und biß denselben glatt vom Rumpfe ab. Der arme Ohneschwanz entfloh und versteckte sich unter daliegenden Baumstämmen.
Das war sein Glück, und auch die Scorpion-Eidechse hätte sicherlich klüger gethan, wenn sie in ihrem Verstecke geblieben wäre. Wir bemerkten bald ein Rascheln unter den Blättern und etwas Rothes, das etwa einen Fuß lang von einem Aste herabhing. Es war so dick wie ein gewöhnlicher Rohrstock, aber an den glänzenden Schuppen und der zierlich gebogenen Gestalt erkannten wir leicht eine Schlange.
Sie hing nicht unbeweglich da, sondern glitt langsam herunter, so daß wir jeden Augenblick einen neuen Theil ihres Körpers sahen, der oben eine blutrothe, unten am Bauche eine lichtere Farbe hatte.
Es war die rothe Schlange der Felsenberge, von welcher die amerikanischen Jäger viel zu erzählen wissen.
In diesem Augenblicke bemerkte auch die Eidechse den langen rothen Körper der Schlange, die über ihr hing, und da sie dieselbe als schrecklichen Feid kennen mochte, entfloh sie und suchte sich im Grase zu verstecken, statt sich nach einem Baume zu wenden, auf dem sie durch ihre Schnellfüßigkeit sich wohl hätte retten können. Die Schlange kam unterdeß ganz herunter und kroch am Boden hin mit hoch gehobenem Kopfe und aufgerissenem Rachen. Im nächsten Augenblicke erreichte sie die Eidechse und tödtete sie auf der Stelle.
Wir waren ihr nachgeschlichen und hatten uns hinter einen Busch versteckt, um sie beobachten zu können. Sie lag jetzt da und schickte sich an ihre Beute zu verschlingen. Die Schlangen kauen bekanntlich nicht was sie verzehren, denn ihre Zähne sind nur geeignet, festzuhalten und das Festgehaltene zu tödten. Die rothe Schlang ist nicht giftig, hat aber eine Doppelreihe sehr spitziger Zähne, bewegt sich außerordentlich rasch und besitzt eine ziemliche Kraft, das Thier, um das sie sich geschlungen, in ihren Ringen zusammen, wohl gar todt zu drücken. Die, welche wir vor uns hatten, riß den Rachen so weit als möglich auf, packte den Kopf der Scorpion-Eidechse und schlang dieselbe allmälig ein, was häßlich genug anzusehen war.
Andere Augen außer den unserigen beobachteten sie auch, denn ihr blutrother glänzender Körper, der da im Grase lag, hatte den scharfen Blick eines Feindes angezogen. Ziemlich hoch über uns schwebte eine großer Vogel in weiten Kreisen. Die schneeweiße Farbe seines Kopfes und seiner Brust, die spitzauslaufenden Flügel und der lange Gabelschwanz verriethen so fort den großen Gabelweih.
Er zog schwebend, ohne die Flügel zu bewegen, seine Schraubenkreise kleiner und kleiner niederwärts, offenbar nach der Schlange zu. Jetzt fiel der Schatten seiner mächtigen Flügel auf den Rasen [174] gerade vor diese. Sie sah empor und erblickte ihren schrecklichen Gegner mit Grauen, denn sie schien am ganzen Leibe zu zittern, ihre Farbe wurde blässer und sie barg den Kopf im Grase, als wollte sie sich verstecken. Aber es war zu spät; der Weih senkte sich herab, er schwebte einen Augenblick dicht über ihr und als er sich darauf wieder erhob, sahen wir die Schlange in seinen Krallen sich winden.
Einige Flügelschläge hoben den Vogel über die höchsten Bäume empor, aber je höher er stieg, um so rascher und unregelmäßiger wurde die Bewegung seiner Flügel, es hinderte ihn offenbar etwas im Fluge. Die Schlange hing nicht mehr; sie hatte sich um den Leib ihres Gegners gewunden und wir sahen ihre glänzend rothen Ringe wie rothe Bänder sich um und durch sein weißes Gefieder ziehen.
Mit einem Male blieb der eine Flügel bewegungslos und obgleich der andere sich um so rascher und kräftiger anstrengte, stürzte der Vogel doch bald mit der Schlange, die ihn umringelt hatte, schwer an den Boden nieder. Indeß schien der Fall weder den Vogel, noch die Schlange bedeutend verletzt zu haben, denn kaum hatten sie die Erde berührt, so begann ein Kampf auf Leben und Tod. Der Vogel bot Alles auf, sich von den ihn umschnürenden und zusammendrückenden Ringen der Schlange zu befreien, während diese ihn um so fester zu halten suchte. Sie mochte wohl wissen, daß sie nur dadurch zu siegen vermöchte, denn wenn sie losließ und zu entschlüpfen versuchte, packte sie der Weih sicherlich zum zweiten Male und diesmal entscheidend mit den gewaltigen Krallen.
Der Kampf schien lange dauern zu müssen, denn obwohl die beiden Gegner sich im Grase wälzten und der Vogel mit dem noch freien Flügel mächtig um sich schlug, änderte sich doch viele Minuten lang in dem Zustande nichts.
Der Vogel konnte nicht fort, die Schlange wagte nicht zu fliehen; wie sollte der Kampf enden, wenn nicht ein Dritter sich einmischte?
Wir wollten eben einschreiten, als uns ein neues Manöver der Kämpfenden zurückhielt: der Vogel hackte wüthend mit dem Schnabel nach dem Kopfe der Schlange und diese versuchte ihn zu beißen, weshalb sie von Zeit zu Zeit den Rachen aufriß und dabei die Doppelreihen der spitzen Zähne sehen ließ. In einem solchen Augenblicke hackte der Vogel die Schlange in den Rachen, der sich sofort schloß und den Schnabel des Feindes festhielt, dem die spitzen Zähne aber nichts anzuhaben vermochten.
Der Vogel mochte erkennen, daß er jetzt offenbar im Vortheil sei, obgleich sein Schnabel im Schlangenrachen sich befand, denn er zog mit aller Kraft seines Halses den Kopf der Schlange niederwärts, um ihn in die Nähe seiner Krallen zu bringen. – Das gelang ihm auch und er packte mit den Fängen den Hals der Schlange fest wie mit einem Schraubstock.
Das machte dem Kampf ein Ende. Die Ringe der Schlange löseten sich; der Körper zuckte noch einige Zeit im Todeskampfe, dann lag er kraft- und regungslos im Grase. Der Sieger zog nun leicht seinen Schnabel aus dem Rachen der Schlange, hob den Kopf empor, breitete die Flügel aus, flog mit Triumphgeschrei davon und trug die Schlange mit sich hinweg, die wie ein rothes Band herabhing.
Seinem Schrei antwortete alsbald ein anderer, fast wie ein Echo, aber er war weit kräftiger und rauher, er konnte nur aus der Kehle eines weißkopfigen Adlers kommen. Wir sahen empor und hoch über uns am dunkelblauen Himmel segelte in der That einer jener mächtigen Vögel gerade auf den Weih zu, wahrscheinlich um ihm die Beute abzujagen, die dieser mit so viel Mühe sich errungen.
Der Weih hatte den Schrei wohl vernommen und er verstand auch die Bedeutung, denn mit seiner ganzen Flügelkraft hob er sich höher und höher, jedenfalls um zu fliehen.
In einer weiten Spirallinie flog er tiefer und tiefer in das Blau des Himmels hinein; der Adler folgte ihm, ebenfalls in Kreisen, aber in weiteren, als wolle er den Weih umkreisen. – Höher und immer höher ging der Flug; sie schienen sich einander zu nähern, die Kreise schienen enger zu werden, aber das sah wohl nur so aus, weil sie sich mehr und mehr von uns entfernten. – Der Weih war endlich für uns nur noch ein kleiner dunkeler und unbeweglicher Punkt, und dann verschwand er ganz. Der Adler seinerseits verkleinerte sich auch zu einem Pünktchen in der Höhe und verschwand endlich, doch nicht sogleich ganz, denn sein weißer Schwanz schimmerte noch immer, bisweilen wie ein weißes Wölkchen oder wie eine Schneeflocke in dem Blau des Himmels. Dann wurde auch dieses weißschimmernde Pünktchen undeutlicher und zuletzt war gar nichts mehr zu erkennen.
Wir gaben die weitere Beobachtung auf, da - was war das? Isch -. Sch - sch! Ein Zischen wie eine aufsteigende Rakete. Es fiel etwas Schweres dort auf den Baum, wahrhaftig der Weih und - todt. Und U - sch - sch! Der Adler! Mit der Schlange in den Krallen! Aus der Höhe, in der ihn kein menschliches Auge mehr zu erkennen vermochte, schoß er herunter wie ein von mächtiger Sehne abgeschnellter Pfeil. Erst in Thurmhöhe etwa breitete er die riesigen Flügel und den Fächer seines Schwanzes aus. Mit langsamen Flügelschlägen schwebte er majestätisch daher und endlich ließ er sich auf den Gipfel einer abgestorbenen Magnolia nieder.
Ich konnte nicht an mich halten, griff nach meiner Büchse, trat in das Gebüsch, schlich so nahe als möglich an den dürren Baum, legte an und zielte wohl. Der Schuß knallte und der Adler, der die Schlange noch in den Fängen hielt, stürzte, zum Tode verwundet, flatternd herab.
Die Schuljahre.
Dieses Alter, das eigentliche Jugendalter, reicht vom 7ten oder 8ten Lebensjahre, also vom Beginne des Zahnwechsels bis zum Eintritte der Mannbarkeit (Pubertät), sonach in unserm Klima beim Mädchen bis zum 14ten, beim Knaben bis zum 16ten Jahre. In diesem Alter wächst der Körper hauptsächlich in die Länge und wird deshalb schlanker; das Fett unter der Haut nimmt ab und die Muskeln treten mehr hervor; die Knochen werden fester und dichter, Becken und Brustkasten erweitern sich; der Herzschlag wird kräftiger und erfolgt nur 80 bis 85 Mal in der Minute; das Gehirn hört auf an Umfang zuzunehmen und deshalb erscheint der Kopf im Verhältniß zum übrigen Körper kleiner als in den früheren Lebensaltern. Im Allgemeinen ist die Massenzunahme nicht mehr so stark wie früher, jedoch immer noch groß; die Länge nimmt etwa um 10 bis 12 Zoll auf ungefähr 41/2 Fuß zu, das Gewicht um einige 20 Pfund auf etwa 65 Pfund. Dagegen treten jetzt bei fortschreitender Entwickelung die bleibenden Formverhältnisse immer mehr hervor, die Physiognomie gewinnt festere Züge, das Haar und die Regenbogenhaut des Auges nehmen ihre bleibende Farbe an. Das Leben gewinnt an Kraft und Festigkeit und erträgt ziemlich starke Eingriffe ohne Schaden; es zeichnet sich dieses Lebensalter deshalb durch einen besonders günstigen Gesundheitszustand aus, und von hundert Kindern stirbt jährlich kaum eins. Trotz dem ist jetzt sehr leicht durch schlechte Ernährung und unpassende oder übermäßige Gehirnanstrengung, zumal bei raschem Wachsthume, der Grund zu sehr beschwerlichen und langwierigen Uebeln, besonders zu Blutarmuth und Nervenleiden, zum Schief- und Kurzsichtigwerden, zur Engbrüstigkeit und Beckenmißgestaltung zu legen. Es darf darum auch die allmälige Abhärtung und Kräftigung des Körpers neben der geistigen Ausbildung durchaus nicht vernachlässigt werden. Richtige Erziehung in diesem Alter ist die Grundlage für das Wohl der ganzen übrigen Lebenszeit.
Die Erhaltung sollte beim Knaben wie beim Mädchen so ziemlich dieselbe sein, da bei beiden das Geschlechtliche noch gar nicht in Betracht kommen kann. Beide müssen durch passende Nahrung und gute Luft, gehörige Bewegung im Freien, Turnen, Baden [175] im Flusse, lockere und nicht zu warme Kleidung, zuvörderst einen gesunden kräftigen Körper zu erlangen suchen, und diesem ist alsdann die geistige Arbeit anzupassen. – Die Nahrung im Jugendalter sei eine reichliche, nahrhafte und reizlose Kost aus thierischen und pflanzlichen Nahrungsmitteln, das Getränk bestehe aus Wasser oder dünnem Biere und Milch, aus schwachem Kaffee und Thee. Oft wird hierbei darin gefehlt, daß man eine Nahrung ohne die gehörige Menge Kochsalz und Fett genießen und nicht genug trinken läßt, obschon unser Körper viel Wasser, Fett und Salz bedarf. – Die Luft, ebenso unentbehrlich zum Leben wie die Nahrung, muß natürlich rein und so oft als nur möglich im Freien geathmet werden. Man gewöähne die Kinder daran, in guter Luft kräftig und tief ein- und auszuathmen, dagegen unreine, schlechte Luft zu fliehen. – Die Kleidung, natürlich der Jahreszeit angepaßt, sei locker und kindlich, damit die Kinder sich nicht für Erwachsene halten. Bei Mädchen muß durchaus das Gewicht der Kleider von den Schultern getragen werden und deshalb dürfen sie nicht zu schwere Kleider (besonders Unterröcke) anziehen. Das Leibchen, an welches ein Theil der Bekleidung angeknöpft werden kann, sei locker und besonders über der Brust hinreichend weit, Corsets sollten noch gar nicht gebraucht werden. Die zuträglichsten Kleider für Mädchen sind die nach dem Kutten- oder Blousenschnitt verfertigten. Das Schuhwerk bestehe aus hinreichend langen Stiefelchen, welche über den Knöcheln leicht schließen. – Die Reinigung der Haut durch warme Bäder und Waschungen wird in dieser Altersperiode oft ganz mit Unrecht aufgegeben oder doch sehr vernachlässigt. Wöchentlich ein warmes Bad oder doch eine durchgreifende Abwaschung und Abreibung des ganzen Körpers, selbst beim Gebrauch von kalten Flußbädern, ist für die Haut und Gesundheit von großem Vortheil. – Bewegungen, welche leider bei der Erziehung der Mädchen und zwar zum bedeutenden Nachtheile künftiger Generationen für entbehrlich gefunden werden, sind gerade für dieses Lebensalter ganz unentbehrlich, müssen aber dem Körperbaue jedes Kindes gehörig angepaßt werden und ebenso unter einander, wie mit hinreichender Ruhe abwechseln (s. Gartenlaube Jahrg. III. Nr. 7). Mädchen wie Knaben sollten wo möglich täglich, am besten im Freien, Bewegungen, wie Springen, Laufen, Schwimmen, Tanzen oder Turnen, vornehmen. Es ist ein schändliches Verbrechen gegen die Natur und die Menschheit, die Mädchen, anstatt sie zu kräftigen Müttern heranzubilden, zu nervenschwachen, verkrüppelten Salondamen zu erziehen, abgesehen davon, daß passende Turnübungen schön machen. – Der Schlaf, welcher im Jugendalter der großen körperlichen und geistigen Thätigkeit wegen wohl stets gut ist, muß auch gehörig lang sein und wenigstens 10 bis 12 Stunden dauern. Es ist ganz falsch von Aeltern, wenn sie ihre Kinder nur so lange als sich selbst schlafen lassen; Blutarmuth und Bleichsucht ist die nächste Folge davon und deshalb auch in diesem Lebensalter schon so häufig. – Die Abhärtung durch Kälte (kalte Waschungen und Bäder, Flußbaden, leichte Kleidung und Schlafdecke) werde hübsch allmälig (im Grade und in der Dauer) gesteigert, aber nicht übertrieben. Man erinnere sich stets, daß plötzliche und kurze Einwirkung der Kälte wie ein Reizmittel auf die Hautnerven und das Gehirn wirkt und nervöse Reizbarkeit, Krampfkrankheiten (Veitstanz, Epilepsie) und Blutarmuth (Bleichsucht) erzeugen kann. – Die Sinnesorgane, vorzugsweise die Augen, verlangen eine ganz besondere Schonung und Aufmerksamkeit, da ihr Zustand auf den künftigen Beruf großen Einfluß hat (s. Gartenlaube Jahrg. II. Nr. 39.).
Die Erziehung muß, wie in den früheren Lebensaltern, eine körperliche und eine geistige sein, sowie auch die moralische, zu welcher die Grundlage schon im Kindesalter durch Gewöhnung gelegt wurde, durch den Verstand veredelt werden muß. Uebrigens sollte zwischen der Erziehung der Knaben und der Mädchen, ebenso wie bei Beider Erhaltung, nur wenig oder kein Unterschied gemacht werden, da so in diesem Alter das Geschlechtliche noch gar nicht entwickelt ist und nach den Schuljahren noch Zeit genug zur eigentlich weiblichen und männlichen Fortbildung existirt. Gartenlaube Die körperliche Erziehung muß vorzugsweise auf die Ausbildung von Bewegungsfertigkeiten gerichtet sein und bezieht sich deshalb ebensowohl auf den Gang und die Haltung bei den verschiedenen Bewegungen (beim Tanzen, Turnen, Schwimmen), wie auch auf Sprache, Gesang, Schreiben, Zeichnen, Malen und auf die mechanische Behandlung von Instrumenten. Ebenso ist ferner, wie auch schon im Kindesalter, der Sinn für Reinlichkeit, Ordnungsliebe und Pünktlichkeit recht tüchtig zu pflegen. Zu diesem Zwecke, sowie auch zur Erlangung von Geschicklichkeit in den gewöhnlichsten Verrichtungen und Handleistungen, sollte man Kinder sich selbst bedienen lassen, ihnen nicht immer nachräumen und Alles bequem machen. Kinder, denen bei Allem Hülfe geleistet wird, werden später gewöhnlich ungeschickte, unpraktische und unselbstständige Menschen. Ganz besondere Aufmerksamkeit ist auf das Kind hinsichtlich des Reinhaltens seines Körpers zu verwenden; besonders sind Zähne, Haare, Hände und Nägel einer strengen Controle zu unterwerfen. – Die geistige Erziehung, ob eine häusliche oder Schulerziehung bleibt sich ganz gleich, muß folgende Gesetze beobachten, wenn sie von gutem Erfolge sein soll: 1) sie hat sich dem Körperzustande und der Beschaffenheit (Ernährung) des Gehirns des Kindes genau anzupassen[WS 1]; 2) sie darf nur sehr allmälig (in der Stärke und der Dauer) gesteigert werden; 3) sie muß eine passende Abwechselung im Geistigthätigsein beobachten; 4) sie soll jeder geistigen Anstrengung die nöthige Hirnruhe folgen lassen; 5) die Hirnthätigkeit selbst ist zuvörderst durch richtige Sinneseindrücke (Anschauungsunterricht) anzuregen und sodann ebensowohl in ihrer Gemüths- und Willens-, wie Verstandesrichtung durch Uebung (Gewöhnung), zu vervollkommnen. Eine richtige Verstandesbildung verlangt aber weit weniger die Ausbildung des Gedächtnisses und der Phantasie, als die gehörige Entwickelung des Begriffs-, Urtheils- und Schlußvermögens (Denkkraft. – Sonach muß man von einer Schule, wenn sie naturgemäß eingerichtet sein soll, Folgendes verlangen: a) sie hat nicht blos auf das geistige, sondern auch auf das körperliche Gedeihen ihrer Schüler die nöthige Rücksicht zu nehmen und deshalb, stets auf gute reine und mäßig warme Luft in den Schulzimmern (die gehörig zu lüften und nicht mit Schülern zu überladen sind) zu halten; ferner darauf zu sehen, daß die Höhe der Bänke und Tische gehörig zu einander und für die Größe der Kinder paßt, dass[WS 2] die Augen ordentlich geschont werden (s. Gartenlaube Jahrg. II. Nr. 39); daß die Kinder nicht zu lange und wohl gar ohne sich anzulehnen, gerade sitzen müssen; daß die Kinder keine falsche Haltung beim Sitzen annehmen; daß die Kinder zu gewissen Zeiten (Zwischenstunden) zu passenden Bewegungen (Turnen), wo möglich im Freien, und zum kräftigen Athmen angehalten werden; daß schwachen blutarmen Kindern nicht ebensoviel wie krästigen zugemuthet wird. b) Die geistige Erziehung geschehe vorzugsweise durch Anschauung (Veranschaulichung), die aber ebensowohl eine äußere (durch Sinneswahrnehmungen), wie eine innere (durch lebendige Vorstellung von Dingen mit Hülfe der Einbildungskraft) sein muß. Sodann müssen aber auch diese Vorstellungen, welche in uns ein Bild von einem Gegenstande, oder einer Begebenheit, einer Thatsache, einer Geschichte, einem Raume mit einer Menge von Gegenständen, einer Zeit mit ihren Ereignissen u. s. w. erwecken, zur Bildung von Begriffen, von Urtheilen und Schlüssen verwendet werden. Leider fehlen in den meisten Schulen die gehörigen Denkübungen, gegründet auf Anschauungen, und der größte Theil des geistigen Unterrichts besteht in Gedächtnißübungen.
Die Krankheiten des Jugendalters sind zwar auf den ersten Anblick nicht zahlreich, denn höchstens finden sich jetzt die Symptome von Erkältungskrankheiten (Schnupfen, Husten, böser Hals, Durchfall, ein, trotzdem kommt aber doch die Blutarmuth (Bleichsucht), besonders bei den .Mädchen und mit Schiefwerden, unglaublich häufig vor und wird, in den meisten Fällen ganz unbeachtet, in das Jungfrauen- (Jünglings-) Alter übergetragen. Die Ursache dieser Blutarmuth ist die falsche Erhaltung und Erziehung, besonders der Mädchen und hauptsächlich in der Schule, nämlich, das lange Still- und Geradesitzen, der Mangel der Freistunden und zweckmäßigen Körperbewegung, die überfüllten, schlechtgelüfteten Schulzimmer, die einseitige und anstrengende Verstandeskultur, der Mangel an Schlaf, an freier Luft und an nahrhafter Kost, und nicht selten vorzeitige Geschlechtserregungen (Onanie). Zur Heilung dieser Blutarmuth, welche sobald als möglich zu erstreben ist, wenn sie für die spätern Jahre keine schlimmen Folgen haben soll, ist es zu allererst durchaus nothwendig, daß das Kind längere Zeit den Schulbesuch einstellt, sodann sich viel im Freien aufhält und hier mäßige Bewegungen macht, leicht verdauliche und nahrhafte Kost (besonders Milch) genießt und von Zeit zu Zeit ein warmes (nicht etwa ein kaltes) Bad nimmt. Nur erst dann, wenn die Zeichen der Blutarmuth verschwunden
[176] sind, bringen stärkere Bewegungen und kalte Bäder Vortheil, früher sind sie nachtheilig. – Mit der Blutarmuth stehen Rückgratsverkrümmungen in nahem Zusammenhange. Es kommt nälich jetzt die hohe Schulter, das Schief-, Krumm, Buckligwerden in den meisten Fällen auf folgende Weise zu Stande: in Folge der Muskelschwäche, sowie in Folge mehrstündigen, der kindlichen Natur zuwiderlaufenden Sitzens (besonders Geradesitzens) in der Schule (oft auf Bänken ohne Lehnen und an zu hohen oder zu niedrigen Tischen), in Folge des beim Schreiben, Zeichnen, Sticken geduldeten oder vorgeschriebenen Tiefhaltens des linken Armes, während nur der rechte auf den Tisch gelegt wird; in Folge der einseitigen Benutzung des rechten Armes (um das Linkischwerden zu verhüten) oder auch des einen Beines (beim Stehen); in Folge falscher Bekleidung, besonders derjenigen, die, anstatt von den Achseln getragen zu werden, auf dem Oberarme und Schultergelenke ruht, oder an den Körper befestigt ist; in Folge vernachlässigter und falscher Muskelübung überhaupt, – sinken die Kinder nach der schwächeren (meist linken) Seite ihres Oberkörpers zusammen, werden hier immer muskelschwächer und erleiden dadurch nach und nach eine Verkrümmung der Wirbelsäule. Die ersten Anfänge dieser Verkrümmung entgehen den Augen der Aeltern in der Regel, weil sie ziemlich schwer aufzufinden sind. Deshalb lasse man bei Schulkindern die Wirbelsäule öfterer vom Arzt untersuchen, denn Krümmungen derselben sind dann, wenn die Aeltern selbst sehen, daß das Kind schief wird, gewöhnlich schon unheilbar. Zur Heilung der Rückgratsverkrümmungen Blutarmer und Muskelschwacher ist es vor allen Dingen nöthig, daß bei Vermeidung der angeführten Ursachen des Schiefwerdens das Allgemeinbefinden verbessert, die gehörige Menge guten Blutes und Fleisches gebildet und sodann die Muskulatur durch Bewegungen gekräftigt werde. Gegen die Verkrümmung selbst sind passende gymnastische Uebungen von weit größerem Vortheil, als Streck- und andere Apparate; in den allerwenigstens Fällen kann aber eine radikale Heilung erzielt werden.
Die Abgottschlange, Anacondo, auf der Insel Ceylon. Ich befand mich (so schreibt der Engländer Robert Edwyn) im Auftrage meiner Vorgesetzten mehrere Monate auf der Insel Ceylon. In Candy, der ehemaligen Hauptstadt, bewohnte ich ein Haus, das am äußersten Ende der nur aus einer Straße bestehenden Stadt lag, und die Aussicht auf den Wald bot. In kurzer Entfernung erhob sich ein Hügel mit vier großen Palmenbäumen, deren majestätischen Wuchs ich nicht genug bewundern konnte. Eines Morgens bemerkte ich, daß ein starker Zweig an einem dieser Bäume sich bald von einer Seite zur andern, bald bis tief zur Erde neigte, und dann wieder emporfuhr, um in den übrigen Zweigen zu verschwinden. Bei der völligen Windstille konnte ich mir diese Erscheinung nicht erklären, und ich befragte deshalb einen Ceyloneser, der mich zufällig besuchte. Kaum hatte er die Bewegung in der Palme bemerkt, als er erbleichte und heftig zu zittern begann.
„Verschließen Sie augenblicklich alle Thüren und Fenster!“ rief er aus. „Was Sie für einen Zweig halten, ist eine Schlange von ungeheurer Größe, die sich in solchen Bewegungen belustigt und zur Erde niederschießt, um Beute zu holen.“
Ich erkannte bald, daß er die Wahrheit gesagt hatte, denn bei fortgesetzter Beobachtung sah ich, wie die Schlange ein kleines Thier von der Erde ergriff und mit sich zurück in den Baum nahm. Dieses Ungeheuer, belehrte mich der Ceyloneser, ist uns leider nur zu bekannt; es pflegt sich in den Wäldern auf einem dick bewachsenen Baume aufzuhalten, und schießt dann auf die sorglos vorübergehenden Menschen und Thiere herab, um sie lebendig zu verzehren. Oft auch läßt sie sich in der Nähe unserer Wohnungen sehen, und dann ist ein Unglück stets gewiß.
Bald waren zwölf Personen zu Pferde und mit Gewehren bewaffnet. Wir ritten hinter ein dichtes Gebüsch, von wo aus die Schlange durch den Schuß zu erreichen war. Jetzt erst erkannten wir die ungeheure Große des Thieres, und keiner der Ceylonesen wollte angreifen aus Furcht, einen Fehlschuß zu thun. Alle versicherten, daß sie eine Schlange von dieser Größe noch nie gesehen hätten. Ein unbeschreibliches Gefühl bemächtigte sich meiner bei dem Anblicke dieser furchtbaren Schönheit. Ich mußte zitternd staunen und bewunder. Die Anacondo war so dick wie ein gewöhnlicher Mann, schien trotzdem aber nicht fett zu sein. Im Verhältniß zu ihrer Stärke war sie sehr lang. Mit dem Schwanze hing sie an einem der obersten Zweige des hohen Baumes und reichte mit dem Kopfe bis zur Erde hinab. Mit unglaublicher Schnelligkeit führte sie tausend Drehungen und Windungen aus. Jetzt kam sie herab, wickelte den Schwanz um den Baumstamm und legte sich, so lang sie war, auf der Erde nieder. Dann wieder war sie im Augenblicke zwischen den Aesten des Baums verschwunden. Diese Luftsprünge schien sie zu ihrer Belustigung auszuführen. Plötzlich lag sie auf einem Aste ganz still und kein Blatt rührte sich. Wir sollten den Grund dieses Manövers bald erfahren. Ein Fuchs, den wir vorher nicht gesehen, schlich vorüber – die Schlange schoß wie ein Blitz herab, und in wenig Minuten war die Beute ausgesogen. Während sie gemächlich am Boden lag, beleckte sie sich mit ihrer schwärzlichen Zunge des Fleisch des Fuchses; ihr Schwanz jedoch blieb um den Baum gewickelt. Wie das Krokodill war sie völlig mit Schuppen bedeckt. Der grüne Kopf hatte einen breiten Fleck in der Mitte und an den Kinnbacken gelbe Streifen. Den Nacken umzog ein gelber Ring wie ein goldenes Halsband, hinter dem sich ein großer, schwarzer Fleck zeigte. Die Seiten waren von dunkeler Olivenfarbe, und auf dem Rücken lief eine breite schwarz Kette herab, die an beiden Enden eine wellenförmige und krause Gestalt hatte. Schmale halbgelbe Ringe mit blutrothen Flecken bespritzt, lagen neben dieser Kette. Der Kopf war sehr platt und breit. Die großen Augen warfen schreckliche, durchdringende Blicke. Ich gebe diese Farben an, wie sie mir im Zustande der Ruhe erschienen; sobald aber die Schlange ihre Luftsprünge machte, schillerten sie bei dem reinen Sonnenlichte in einer wunderbaren Mannigfaltigkeit und Abwechselung.
Die Ceyloneser hielten es für rathsam, den Angriff in verstärkter Zahl vorzunehmen, da der Feind ein zu gewaltiger war. Außerdem schien er lange gefastet und großen Hunger zu haben. In diesem Zustande, sagte man mir, zeige er eine Behändigkeit, die das Unternehmen äußerst gefährlich mache. Da die Anacondo an dem einmal gewählten Platze Tage lang verbleibt, so trafen wir sie am folgenden Morgen wieder an, als wir uns in doppelter Anzahl hinter dem Gebüsche eingefunden hatten. Sie schien immer noch sehr hungrig zu sein, und bald sahen wir die Wirkung davon. Ein Tiger, von der Größe einer jungen Kuh, hatte das Unglück, sich dem verhängnißvollen Baume zu nähern. Im Augenblicke ließ sich ein prasselndes Geräusch in den Aesten vernehmen, die Schlange fiel herab und packte mit ihrem gräßlichen Maule ein Stück von dem Rücken des Tigers, das größer war, als der Kopf eines Menschen. Der Tiger begann fürcherlich zu brüllen, und wollte mit seinem Feinde entfliehen; dieser aber wickelte sich drei bis vier Mal so rasch und fest um seine Beute, daß sie, gräßlich stöhnend, niedersank. Als der Tiger so gefesselt war, ließ die Schlange den Rücken los, und zog sich nach dem Kopfe. Hier öffnete sie ihren Rachen so weit sie konnte, und umschloß damit das ganze Gesicht des Tigers, das sie gräßlich zerfleischte. Der Tiger wälzte sich auf die andere Seite, und brüllte dabei, von Todesschmerz gefoltert, in den Rachen seiner gräßlichen Feindin hinein. Mir sträubten sich die Haare zu Berge, und ein kalter Schauer überlief mich.
Der starke und muthige Tiger richtete sich einige Male auf und schleppte sich drei bis vier Schritte fort; aber die Schlange zog ihn stets wieder zu Boden. Man sah, wie seine Kräfte schwanden, und nach einer Stunde schien er todt zu sein. Die Schlange versuchte nun, durch engere Zusammenziehung ihrer Schlingen die Rippen und Knochen des Tigers zu zerbrechen; aber es war umsonst. Nun ließ sie den Tiger los, wickelte nur ihren Schwanz um seinen Hals, und schleppte ihn so mit vieler Mühe nach dem Baume, dessen Nutzen sich jetzt herausstellen sollte. Mit einer bewunderungswürdigen Geschicklichkeit faßte sie den halbtodten Tiger bei dem Rücken, setzte ihn so, daß er auf den Hinterfüßen stand, an den Baumstamm, flocht ihren Leib zugleich um den Baum und den Tiger, und zog sich mit einer solchen Gewalt zusammen, daß eine Rippe und ein Knochen nach dem andern unter lautem Krachen zerbrach. Nachdem der Leib so zugerichtet war, machte sie sich an die Beine des Tigers, die sie auf dieselbe Weise vier bis fünfmal zerbrach. Am Schädel versuchte sie ihre letzte Kraft; nach vielen vergeblichen Versuchen ließ sie indeß ab. Ermüdet von der fast zweistündigen Arbeit, zog sie sich in den Baum zurück. Der zerquetschte Tiger blieb am Boden liegen.
Am dritten Morgen war ich wieder hinter dem Gebüsche. Von der Gestalt des Tigers war nicht mehr zu erkennen, man sah nur eine mit gelbem Kleister überzogene unförmliche Masse, mit der die Schlange unfern des Baumes sich beschäftigte. Die Knochen lagen dicht am Leibe, und die Hirnschale war vorangesetzt. Nachdem sie nun den Braten mit Geifer völlig überzogen und maulrecht gemacht hatte, stellte sich die Schlange davor, sperrte den Rachen auf, und schlürfte erst den Schädel, dann die übrigen Theile nach und nach ein. Gegen Abend war diese mühsame Mahlzeit vollendet. – Am vierten Morgen sah ich unter den Männern auch Weiber und Kinder bei der Palme, denn da die Schlange ihre Beute verschlungen, war keine Gefahr mehr zu fürchten. Das gefräßige Thier hatte sich so überladen, daß es sich kaum bewegen konnte. Bei unserer Annäherung versuchte sich die Schlange umsonst auf den Baum zu schwingen; die Ceyloneser schlugen sie todt. Wir maßen ihre Länge und fanden, daß sie sich auf 33 Fuß 4 Zoll belief. Die Ceyloneser zerschnitten nun die Anacondo, und theilten das Fleisch unter sich, das weißer aussah als Kalbfleisch. Man rühmte dessen Geschmack, mir fehlte aber der Appetit, davon zu kosten.
Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.