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Willkürliche Bewegungen. Turnen

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Textdaten
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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Willkürliche Bewegungen. Turnen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 91–92
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Gesundheits-Regeln.
Willkürliche Bewegungen. Turnen.

Um willkürlich Bewegungen ausführen zu können, bedürfen wir, wie sich wohl ganz von selbst versteht, zuvörderst eines Willens und dann der Bewegungsorgane. Der Wille ist eine Thätigkeit unseres Gehirns und diese Thätigkeit, allmälig durch äußere Eindrücke angefacht, geht hier nach der Beschaffenheit der Hirnsubstanz, sowie nach der Gewöhnung (Uebung, Erziehung) derselben besser (kräftiger) oder schlechter (schwächer) vor sich. Die Bewegungsorgane sind die an bewegliche Theile, besonders an Knochen und Knorpel befestigten Muskeln (das Fleisch). Durch Nervenfasern, d. s. die Bewegungsnerven, setzt der Wille vom Gehirne aus die Muskeln in Thätigkeit (in Verkürzung durch Zusammenziehung).

Das erste Erforderniß zu Ausführung willkürlicher Bewegungen muß sonach eine richtige Beschaffenheit der hierbei in Thätigkeit kommenden Organe (des Gehirns, der Bewegungsnerven, der Muskeln, des Knochen- und Knorpelgerüstes) sein. Es ist deshalb durchaus nöthig, daß in diesen Theilen die Ernährung (der Stoffwechsel), durch Zufuhr guten Blutes und ungestörte Circulation desselben, in gutem Gange erhalten werde. Wer Willens- und Muskelkraft zu entwickeln hat, bedarf auch einer solchen Nahrung, die das Nerven- und Muskelgewebe gehörig zu ernähren im Stade ist. Thierische Nahrungsmittel sind dazu weit geschickter als pflanzliche. Es ist sehr Unrecht, von blutarmen, schlecht genährten und zu einer schmalen Kost gezwungenen Menschen dieselbe Willens- und Muskelstärke zu verlangen, wie von robusten, nahrhafte Speisen genießenden Subjekten. Die häufigen Beispiele, wo willens- und muskelkräftige Personen nach und nach durch schlechtere Ernährung ihres Nerven- und Muskelsystems (in Folge von Nahrungsmangel, oder von unzweckmäßiger Nahrung, oder von Krankheiten) zu Schwächlingen wurden, sprechen dafür.

Sodann verlangen die genannten Bewegungsorgane zu ihrer ordentlichen Ernährung außer guten Blutes aber auch noch der richtigen Abwechselung zwischen Thätigsein und Ruhen, weil nur dadurch der Stoffwechsel (die Anbildung neuer und Abstoßung alter Substanz) in ihnen ordentlich vor sich gehen kann. Zu langes und sehr angestrengtes Thätigsein schadet hierbei ebenso wie andauerndes Nichtsthun. Bis zur äußersten Ermüdung fortgesetztes Bewegen kann recht leicht einen lähmungsartigen Zustand in den übermäßig angestrengten Theilen veranlassen.

Um Bewegungen immer geschickter, schneller und kräftiger ausführen zu lernen, dazu gehört nun öftere Wiederholung (Gewöhnung) und allmälige Steigerung derselben hinsichtlich der Dauer, Stärke und Schnelligkeit. Es bedarf gewöhnlich längerer Zeit der Uebung, ehe der Wille innerhalb des Gehirnes gerade blos die Nervenfasern (und durch diese diejenigen Muskeln) in Thätigkeit versetzt, welche eben nur thätig sein sollen. Bei den meisten mit Vorsatz ausgeführten Bewegungen kommen gleichzeitig und ganz unwillkürlich, eben wegen ungeschickter Anregung auch noch anderer als der zu gebrauchenden Nerven von Seiten des Willens, noch eine Menge von Mitbewegungen in den verschiedensten Theilen zu Stande, wie die, bisweilen höchst komischen Bewegungen bei Personen, welche Tanzen, Turnen, Fechten u. s. w. lernen, beweisen. – Ebenso gelangen aber Gehirn, Nerven und Muskeln auch nur ganz allmälig durch gesteigerte Lebhaftigkeit ihres Stoffwechsels in Folge zweckmäßigen Gebrauches zu einer größern Kraft, weil sie dadurch an Menge und Güte ihrer Substanz gewinnen. Kurz, nur durch richtige Ernährung und richtigen Gebrauch (Uebung, Gewöhnung, Erziehung) des Hirnnerven- und Muskelsystems lassen sich geschickte und kräftige willkürliche Bewegungen erlernen.

Willkürliche Beweungen (Turnübungen) können für den menschlichen Körper ebensowohl Vortheile wie Nachtheile haben; um beide richtig beurtheilen zu können, muß man die Wirkungen der Bewegungen während und nach ihrem Zustandekommen kennen. – Beim Bewegen selbst wird, wie bei jedem Thätigsein eines Organ a) ein Theil der Substanz der betheiligten Muskeln und Nerven verbraucht, dadurch die Mauserung befördert und die nachfolgende Neubildung begünstigt. Wegen dieses Stoffverbrauches sind willkürliche Bewegungen nur bis zu einer gewissen Grenze möglich und hören endlich auch gegen unsern Willen auf. – b) Durch Muskelzusammenziehungen wird ein Druck auf die benachbarten, zwischen den Muskeln verlaufenden Blut- und Lymphgefäße ausgeübt und so der Blut- und Lymphlauf befördert. Besonders ist diese Druckwirkung auf den Blutlauf in den Blutadern, in welchen das Blut zum Herzen hinströmt, gerichtet. – c) Die Thätigkeit willkürlicher Muskelnerven theilt sich in den Nervenmittelpunkten (besonders im Rückenmarke) den Nerven unwillkürlicher Muskeln mit und so entstehen Mitbewegungen in den Vegetationsorganen, wie im Herzen, den Athmungs- und Verdauungsapparaten, durch welche die Thätigkeit dieser Organe (der Blutlauf, das Athmen, die Verdauung) gefördert wird. – d) Durch den Zug der Muskeln an den Knochen und Knorpeln, welche sie in Bewegung setzen und an welche sie angeheftet sind, wird auf die Ernährung und Gestaltung dieser einiger Einfluß ausgeübt; sie werden stärker und fester, die von ihnen umschlossenen Höhlen weiter. – e) Durch die Lenkung der Willensthätigkeit des Gehirns auf bestimmte Nerven und Muskeln scheint der übrigen (Verstandes-, Gemüths-, Gefühls-) Thätigkeit des Gehirns Einhalt gethan und so das Gehirn beruhigt, entlastet zu werden. Deshalb verlieren wich wahrscheinlich beim Turnen und Bewegungmachen sehr oft drückende Geistes- und Gemüthsbeschwerden. – Nach dem Bewegen findet a) die Entfernung (Mauserung) der alten beim Bewegen verbrauchten Muskel- und Nervenbestandtheile [92] statt. Diese Mauserstoffe werden im Blute unter Wärmeentwickelung vorzugsweise zu Harnstoff verbrannt und dann mit dem Harn aus dem Körper entfernt. Deshalb erhöhen Bewegungen die Körperwärme und vermehren den Harnstoffgehalt des Harns. –. b) Der Blutfluß zu den gebrauchten Theilen steigert sich; die Muskeln schwellen an, es tritt frische Ernährungsflüssigkeit in das Gewebe und dadurch kommt es zur Bildung neuer Muskel- und Nervensubstanz, welche nach und nach an Masse und Güte gewinnt.

Die Vortheile, welche Bewegungen haben, wenn sie dem Körper genau angepaßt sind, und mit dem richtigen Maß und Ziel, sowie mit der nöthigen Vorsicht angestellt werden, sind nach dem Gesagten etwa folgende: 1) die Willensthätigkeit des Gehirns lernt leichter und besser vor sich gehen, es bildet sich ein kräftiger Wille mit Unerschrockenheit aus. – 2) Das Gehirn wird von psychischem Drucke entlastet, in Folge der ableitenden Anregung seiner Willensthätigkeit. 3) Der Schlaf wird befördert, wegen Verbrauchs von Hirnsubstanz, die sich dann im Schlafe restaurirt. – 4) Die Muskulatur gewinnt an Stärke, Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit bei ihrer Thätigkeit, theils durch die bessere Ernährung, theils durch die Uebung derselben. – 5) Es wird Hunger und Durst erzeugt, in Folge des Verbrauchs von Muskel- und Nervensubstanz, sowie durch die Vermehrung flüssiger Absonderungen (besonders des Schweißes und Harnes). – 6) Die zur Unterhaltung der Ernährung (des Stoffwechsels) nöthigen Prozesse werden bethätigt, wie der Blutkreislauf, die Verdauung, der Speisesaft- und Lymphfluß, das Athmen, die Ab- und Aussonderungen, die Wärmeentwickelung. Es giebt kein besseres Mittel zur Hebung von Blutstockungen (Congestionen), Verstopfungen, von Unthätigkeit der Haut u. s. f. als zweckmäßiges Bewegen. – 7) Das Gerüste des menschlichen Körpers wird besser entwickelt; die Knochen werden stark und fest, die Brust- und Bauchhöhle gehörig umfänglich, die Wirbelsäule wohl gestaltet.

Die Nachtheile, welche Bewegungen dann haben können, wenn sie unzweckmäßig angestellt werden, sind folgende: 1) lähmungsartige Schwäche in Folge von Ueberanstrengungen. – 2) Widernatürliche Ernährung des Bewegungsapparates, die nur auf Kosten der Ernährung anderer Organe und besonders auch auf Kosten der Verstandes- und Gemüthsthätigkeit des Gehirns zu Stande kommt. – 3. Zu starker Blutverbrauch und deshalb Blutarmuth und Bleichsucht. – 4) Herzvergrößerung mit beschwerlichem Herzklopfen in Folge zu häufiger und starker Anregung der Herzbewegung. – 5) Widernatürliche Ausdehnung der Lungen mit Athembeschwerden durch unzweckmäige Brustübungen. – 6) Mißgestaltung des Körpers, wenn nur gewisse und nicht alle Muskelgruppen desselben richtig gebraucht werden. Die breitschulterigen, dünnbeinigen Turner, sowie die dickbeinigen und schmalbrüstigen Tänzerinnen beweisen dies.

Zweckmäßige Bewegungen, welche die oben aufgezählten Vortheile bringen, lassen sich nur dann anstellen, wenn man die Körperbeschaffenheit, die Lebensweise und gewisse Erscheinungen während des Bewegens gehörig beachtet. – a) Was die Körperbeschaffenheit betrifft, so ist hierbei vorzugsweise der Ernährungszustand, der Muskel- und Knochenbau, sowie die Blutmenge zu berücksichtigen. Es ist sehr nachtheilig, wenn sich magere, blasse, blutarme Personen dieselben Bewegungen zumuthen, wie robuste, denn sie müssen dadurch nur immer blutärmer werden. Kranke dürfen nie nach eigenem Gutdünken stärkere Bewegungen machen, sondern müssen sich immer erst einer genauen ärztlichen Untersuchung unterwerfen. – b) Die Lebensweise verlangt insofern Berücksichtigung, als die Kost, die Beschäftigung, das geschlechtliche Verhältniß von bestimmendem Einfluß ist. –. c.) Die Erscheinungen während des Bewegens, welche vorzugsweise in’s Auge gefaßt und zur Regulirung der Bewegungen benutzt werden müssen, sind: das Herzklopfen, welches nie zu schleunig und sehr stark sein darf; das Athemholen, welches weder jagen noch sehr kurz (oberflächlich) vor sich gehen sollte; die Gesichtsfarbe, wenn sie sehr roth (bläulich) oder bleich wird oder schnell wechselt; das Erhitztsein und Schwitzen der Haut, wenn es einen hohen Grad erreicht; unangenehme Empfindungen, von sehr großer Abspannung, Kopfschmerz, Schwindel, Brustbeklemmung u. s. f.

Im Allgemeinen lassen sich etwa folgende Bewegungs-Regeln geben: 1) Man entferne alle beengenden Kleidungsstücke während des Bewegens, vorzüglich enge Hals- und Brustbekleidungen. – 2) Alle Muskeln müssen geübt werden, deshalb sind alle nur möglichen Bewegungen in allen Gelenken des Körpers, natürlich in passender Abwechselung, vorzunehmen und nicht blos einzelne Muskelgruppen vorzugsweise auszubilden. Vorzüglich verlangen die Athmungs- und Bauchmuskeln die gehörige Bethätigung. – 3) Die Bewegungen sind nicht bis zur äußersten Ermüdung fortzusetzen; man höre damit auf, sobald das Ermüdungsgefühl unangenehm wird. – 4) Nach und zwischen den Bewegungen ruhe man ordentlich aus, bis das Ermüdungsgefühl verschwunden ist. – 5) Die Kraft und Dauer der Bewegungen ist nur ganz allmälig zu steigern, wenn die Muskeln durch lebhaftere Ernährung an Stärke richtig zunehmen sollen. – 6) Es ist bei und nach dem Bewegen auf gute Luft und kräftiges Athmen zu halten, da tiefes Ein- und kräftiges Ausathmen nicht blos auf den Luftwechsel in der Lunge, sondern auch auf den Blut-, Speisesaft- und Lymphlauf, sowie auf den Verdauungsprozeß Einfluß ausübt. – 7) Man passe die Bewegungen den Umständen an; sie sind zu mäßigen, wenn zu schnelles und starkes Herzklopfen, sowie kurzes und jagendes Athmen dabei eintritt, wenn sich widernatürliche und unangenehme Empfindungen (besonders Kopfschmerz und Schwindel, Blässe, Abmagerung, auffallender Farbenwechsel, starke Erhitzung und Schweißabsonderung einstellen. Ganz vorzüglich müssen Blutarme und Brustkranke mit großer Vorsicht Bewegungen vornehmen. – 8) Kurz vor und nach stärkern Bewegungen esse man nicht, weil dadurch der Verdauung Eintrag geschehen kann. – 9) Bei und nach dem Bewegen vermeide man Erkältungen, da diese Herzkrankheiten nach sich ziehen können..

In allen Lebensaltern sind passende Bewegungen des Körpers (gymnastische oder Turnübungen) von ausgezeichnet gutem Einfluß auf das Gedeihen unserer Gesundheit, abgesehen davon, daß sie den Körper auch wohlgestaltet, kräftig, dauerhafter und geschickt machen können. Aber freilich müssen die Bewegungen auch jedem einzelnen Körper richtig angepaßt werden, wenn sie nicht mehr Nachtheile als Vortheile bringen sollen. In den Händen von Turnfanatikern, welche meinen, der Mensch lebe nur um Turner zu sein, sowie unter Turnlehrern, die sich nicht um die Einrichtungen im menschlichen Körper bekümmern, werden Turnanstalten nun und nimmermehr zum Wohle der Menschheit beitragen. – Auch bei vielen Krankheitszuständen unterstützen geregelte Bewegungen die Heilung sehr bedeutend. Nur traue man den unwissenden, einseitigen, schwedisch-gymnastischen Charlatanen nicht, welche allen im kranken menschlichen Körper herrschenden Gesetzen zum Hohne, wo möglich jedes Uebel durch lächerlich benannte Turnübungen heben wollen. [Ueber diese Heilgymnastik und die Krankheitszustände, bei denen gewisse Bewegungen von Vortheil sind, soll ein späterer Aufsatz handeln.]

(B.)