Die Gartenlaube (1854)/Heft 49
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No. 49. | 1854. |
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Mild und freundlich, bevor sie von der Erde schied, beschien die Julisonne die Häuser des reizend gelegenen Dorfes G. In dem weißen Kirchthurme mit seinem stumpfen Schieferdache ward die Abendglocke geläutet, und von den nahen Wiesen herüber hörte man das Geläute der heimkehrenden Heerden. Vor den Thüren der Häuser standen Kinder und Frauen, harrend der blanken Kühe und Rinder, die durch Brüllen ihre Nähe ankündigten. Auch die fleißigen Feldarbeiter erschienen nach und nach in den belebten Gassen, folgend dem verhallenden Abendrufe der Glocke.
Um diese Zeit gingen zwei Männer langsam zwischen den Häusern hin. Der eine war ein freundlicher Greis von mittlerer Gestalt, dessen schwarze Kleidung und weißes Halstuch den geistlichen Herrn verrieth. Er mußte viel danken, denn von allen Seiten kamen dem geehrten und geliebten Pfarrer freundlich ehrerbietige Grüße entgegen. Der andere war ein junger Mann von vielleicht achtundzwanzig Jahren; er trug einfache, aber elegante dunkele Kleider, welche seine schönen männlichen Körperformen deutlich abzeichneten. Sein bleiches Gesicht war völlig von großen Blatternarben zerrissen; aber es sprachen sich Geist und Gutmüthigkeit darin aus, und das große dunkelblaue Auge unter den starken Brauen spiegelte einen festen, energischen Charakter ab. Eine Salondame, in dem Geschmacke unserer Zeit gebildet, würde dieses Gesicht unbedingt häßlich genannt haben; dem Beobachter aber mußte es wegen seines Ausdrucks von Interesse sein.
Arnold Bließ, Kandidat des Predigtamts, war zum Besuche bei seinem Onkel, dem Pfarrer Braun. Der junge Mann hatte früh schon seine Aeltern verloren, und dadurch wäre er gehindert gewesen, die angefangenen Studien fortzusetzen, wenn der Onkel, der nur eine Tochter besaß, ihn nicht großmüthig unterstützt hätte. Harrend eines Amtes, lebte er nun in der ziemlich entfernten Residenz, wo er sich durch Unterricht und schriftstellerische Arbeiten gerade so viel erwarb, daß er seinem Stande gemäß existiren konnte, ohne ferner die Hülfe des guten Onkels in Anspruch zu nehmen.
Die beiden Männer hatten das Dorf durchschritten. Da zeigte sich plötzlich ein großes Eisengitter, durch dessen Stäbe man die Aussicht in einen weiten, aber nicht im besten Zustande befindlichen Park hatte. Hinter einer entfernten Baumgruppe hervor ragte das Schieferdach eines hohen, stattlichen Gebäudes mit seinen Zinnen und Thürmchen.
„Folge mir!“ sagte lächelnd der Pfarrer, indem er das angelehnte Thor öffnete. „Ich werde Dir jetzt die einzige Merkwürdigkeit unsers Dorfs, aber vielleicht die größte der ganzen Provinz zeigen.“
„Dieses Schloß?“ fragte Arnold, den Park betrachtend.
„Es ist ein Denkmal der Baukunst aus dem sechszehnten Jahrhundert, wohlerhalten durch die Grafen von Krayen, die es von Vater auf Sohn bis vor zehn Jahren bewohnten. Der letzte Sprößling dieser edeln Familie machte eine eben nicht ehrenvolle Ausnahme – als er nach dem Tode seines Vaters das zwar nicht sehr reiche, aber immerhin beträchtliche Erbe erhielt, ergab er sich einem verschwenderischen, leichtfertigen Leben, und man sah ihn nur dann auf dem Schlosse Krayen, wenn er ein Ackerstück oder ein Gehölz verkaufte. Die schöne Besitzung ist nun völlig zerrissen, Aecker, Wiesen und Waldungen sind dahin, und dieses Gitter umschließt alle Zubehörungen des Schlosses, das seit drei Jahren ein alter Kastellan verwaltet. Von dem leichtsinnigen Grafen ist weiter nichts bekannt, als daß er in der Residenz lebt, und dem Spiele und dem Trunke ergeben ist. Man fürchtet allgemein, daß er auch den letzten Rest der Besitzung veräußern werde. Aber wer wird dieses alte Gebäude kaufen, das nichts einträgt und höchstens zu einem Sommeraufenthalt benutzt werden kann?“
Der Pfarrer hatte seinen Neffen auf einen Hügel geführt, von wo aus man das alte ehrwürdige Schloß völlig übersehen konnte. Die in Stein gehauenen Bogenfenster mit den schweren Verzierungen blitzten, von der Abendsonne beschienen, wie Stahlplatten. Ein großes gothisches Fenster, das der Kapelle, glühte dunkelroth wie Gold, denn die Scheiben desselben waren bemalt. Guirlanden von Weinreben und wildem Epheu schlängelten sich von der Terrasse bis zu dem hohen Söller hinauf, der in der Mitte des ersten Stockes lag und von vier starken Säulen getragen ward. Zwischen diesen Säulen befand sich die große Eingangsthür, zu der eine stufenreiche Steintreppe führte. Weder in dem Parke noch in der nächsten Umgebung des Schlosses zeigte sich ein menschliches Wesen; in dem hohen Grase der weiten Beete weideten zwei weiße Ziegen, über die hinweg ein Schwarm Schwalben seine leichten Spiele trieb, und in den stillen Wipfeln der riesigen Ulmen sangen einzelne Vögel ihr Abendlied. Arnold schwelgte in den Reizen der prachtvollen Landschaft, mit stummem Entzücken betrachtete er das graue Schloß, und unwillkürlich schuf sich seine Phantasie abenteuerliche Gestalten zu Bewohnern des romantischen Gebäudes. Der greise Pfarrer, der das für Poesie [590] empfängliche Gemüth seines Neffen kannte, ließ ihn eine Zeit lang in dem stummen Anschauen der herrlichen Abendlandschaft, dann forderte er ihn lächelnd zum Weitergehen auf. Ueber eine Holzbrücke, welche die bebüschten Ufer eines Baches verband, kam man auf den Platz vor dem Schlosse. Eine Menge blühender Hortensien in verwitterten Kübeln umgab wie ein Kranz diesen Platz, dem es anzusehen, daß ihm die sorgende Hand des Gärtners fehlte.
Der Pfarrer trat zu einem offenen Fenster, das sich in der Giebelseite des Erdgeschosses befand.
„Vater Klaus!“ rief er.
Als er noch einmal lauter seinen Ruf wiederholt hatte und keine Antwort erfolgte, sagte er zu dem Neffen:
„Der alte Kastellan befindet sich ohne Zweifel in dem Schlosse, denn ich sehe, daß die Thür angelehnt ist, die zu der Treppe in dem kleinen Thurme führt. Wir werden ihn in den obern Räumen antreffen.“
Beide stiegen eine Wendeltreppe hinan, die sich in einem der Eckthürme emporwand, und nach zwei Minuten betraten sie den gewölbten Corridor, der mit Skulpturarbeit geziert und ausgemalt war. Rechts und links zeigten sich die hohen Flügelthüren, die zu den Gemächern führten. Nachdem der Führer von einem der Fenster aus seinem Gaste eine prachtvolle Fernsicht über das Thal gezeigt und die Fluren angedeutet hatte, welche durch die Verschwendung des letzten Grafen nach und nach in den Besitz reicher Oekonomen und Bauern übergegangen waren, sagte er:
„Wir wollen jetzt die Kapelle in Augenschein nehmen, die sich in diesem Corridor befindet und stets geöffnet ist. Ich verhehle es nicht, daß ich das Kirchlein gern betrete, denn es übt einen wunderbaren Eindruck auf mich aus. Und dieser Ort ist es, dem sich wohl kein zweiter in Deutschland zur Seite stellen läßt. Man sieht, daß ihn alle Grafen von Krayen mit besonderer Vorliebe und Pietät gepflegt haben, er vereinigt heute noch alles Schöne und Großartige, was unser Zeitalter aufzuweisen vermag. Es würde mir Kummer machen, wenn diese alte Behausung einem Besitzer zufiele, der sie nicht zu schätzen wüßte; und doch läßt sich dies fürchten, da der Graf in seinem leichtsinnigen Leben beharrt.“
Am entgegengesetzten Ende des Corridors öffnete der Pastor, der das Innere des Schlosses genau kannte, den schweren Flügel einer Bogenthür. Man trat in eine gewölbte Vorhalle, an deren Wänden einzelne kleine Betstühle standen. Darüber hingen Bildnisse in großen braunen Holzrahmen, alte Grafen von Krayen darstellend. Schweigend betraten die Männer die Schwelle eines Bogens, der sich der Eingangsthür gegenüber befand, und die Kapelle, in magischer Beleuchtung der Abendsonne, lag vor ihnen. Auf dem kleinen, mit einer weißen Decke überhangenen Altare flimmerten zwei silberne Kandelaber, und das einfache Crucifix dazwischen schien von einem Heiligenscheine umgeben zu sein. Darüber wölbten sich zierliche Spitzbogen, von deren Vereinigungspunkte herab eine schwere mit Epheu umwundene Alabasterampel hing. Das Altargemälde, das das volle Licht durch ein gothisches Fenster empfing, mußte von der Hand eines alten Meisters gefertigt sein, denn die Reiterfigur des heiligen Georg, dessen Pferd den Drachen zertritt, schien aus dem schweren Goldrahmen hervortreten zu wollen.
Eine feierlich ernste Stimmung hatte sich Arnold’s bei diesem Anblicke bemächtigt. Schweigend betrachtete er die einzelnen Gegenstände, während der alte Pfarrer sich seiner Ueberraschung freute. Da erklangen plötzlich die Töne der kleinen Orgel, die sich über den Häuptern der beiden Männer befand. Sanft und lieblich zitterten sie durch die Halle.
„Was ist das?“ flüsterte überrascht der Pfarrer.
Arnold hörte die Frage nicht, Auge und Ohr waren dergestalt beschäftigt, daß er die Anwesenheit des Onkels vergaß. Es mußte ein Meister sein, der die Töne dem vortrefflichen Instrumente entlockte. In freier Phantasie entwickelte sich die einfache, innige Melodie, und Arnold, ein Musikkenner, mußte das richtige Fortschreiten der Harmonien bewundern. In der Musik sprach sich bald eine wehmüthige Freude, bald eine innige Andacht aus.
Kaum war der letzte Ton verhallt, als sich das Geräusch von Schritten auf dem kleinen Chore hören ließ. Onkel und Neffe traten tiefer in die Kapelle, und sie sahen zwei Damen langsam die Treppe herabsteigen, die zu dem von braunem Holze erbauten Chore führte. Hinter ihnen erschien Klaus, der alte Kastellan. Die Kapelle sollte diesen Abend Alles vereinigen, was die Bewunderung des Kandidaten erregen konnte. Hatte ihn der Ort schon mit seiner magischen Beleuchtung und die reizende Musik erhoben, so begeisterte ihn jetzt der Anblick der jüngeren Dame, die von der ältern geführt, langsam die letzten Stufen der offenen Treppe herabstieg. Die schlanke, elegante Gestalt war einfach in Weiß gekleidet. Als sie sich wandte, sah Arnold ein wahres Madonnengesicht. Für ihn, den schon begeisterten Kandidaten, schien die Dame in dem stets matter werdenden Schimmer der goldigen Abendsonne von überirdischer Schönheit, ein Engel zu sein. Das waren Züge, wie sie nur die Phantasie eines Malers zu schaffen vermag. Schwere dunkele Locken, die auf schneeweiße Alabasterschultern herabfielen, umwallten ein zartes, fein geschnittenes Mädchenantlitz. Schön geschweifte dunkele Brauen zeigten sich über den langbewimperten Augen, die züchtig zur Erde gesenkt waren. Die blühenden Lippen formten einen reizenden Mund. Eine einfache Goldkette schmückte den zarten Hals. Die rechte Hand des vielleicht zwanzigjährigen Mädchens lag in der ihrer Begleiterin, die linke trug ein Bouquet Rosenknospen, die eine goldene Hülse zusammenhielt.
Die ältere Dame mochte wohl achtundvierzig Jahre zählen; begann auch ihr Haar schon zu bleichen und zeigten sich in dem weißen Gesichte die Spuren des Alters, so verrieth dennoch eine auffallende Aehnlichkeit in den edeln Zügen, daß das junge Mädchen ihre Tochter sei. Mit einer schmerzlichen Freundlichkeit grüßte sie, indem sie an den beiden Männern vorüberging. Die junge Dame neigte lächelnd das Haupt, ohne die Augen aufzuschlagen.
„Guten Abend, Herr Pastor!“ sagte laut der Kastellan, als ob er den Frauen bemerklich machen wollte, wer der alte Herr sei.
Er hatte seinen Zweck erreicht; die Mutter blieb stehen und wandte sich fragend zur Seite:
„Der Herr Pfarrer des Orts?“
Der Greis verneigte sich.
„Pastor Braun!“ fügte er hinzu, sich den Fremden vorstellend.
„Dann preise ich den Zufall, mein Herr, der mich Ihnen entgegenführte. Ich hatte bis jetzt den Vorzug nicht, Sie zu sehen, aber der würdige Pfarrer Braun ist mir dessen ungeachtet nicht fremd. Ich kann mir nicht versagen die Gelegenheit zu benutzen, Ihnen meine Hochachtung auszudrücken.“
Verwundert wiederholte der Pastor seine Verneigung. Mit ruhigem Blicke sah er die Dame prüfend an – er erinnerte sich nicht, ihr je im Leben begegnet zu sein.
„Sie kennen mich nicht,“ fügte sie lächelnd hinzu; „aber wenn Sie mir zu einer kurzen Unterredung in mein Zimmer folgen wollen, wird das Räthsel gelöst sein. Gehen Sie voran, Klaus!“ befahl sie dem Kastellan, einem Manne im hohen Greisenalter.
Die letzten Worte ließen errathen, daß die Dame in Beziehung zu der gräflichen Familie stehen, daß sie ein Recht haben müsse, in dem Schlosse zu gebieten, zumal da der Kastellan ehrerbietig Folge leistete. Nachdem der Pfarrer seine Zustimmung zu erkennen gegeben, verließen die beiden Frauen die Kapelle. Arnold hatte wenig von dieser Unterredung gehört, er war so im Anschauen des reizenden Mädchens versunken gewesen, daß er sich kaum seiner Umgebung noch bewußt war.
„Keine andere als sie,“ dachte er, „kann die Orgel berührt haben, denn dieselbe Anmuth, Lieblichkeit und Andacht, die in den Harmonien lag, drückt sich in diesem Engelsgesichte aus! Sie ist die heilige Cäcilie, die Göttin der Musik!“
„Arnold,“ flüsterte der Onkel dem Neffen zu, „ich kann die Einladung nicht ablehnen – mache einen Spaziergang durch den Park, sobald ich kann, kehre ich zu Dir zurück!“
Man ging so lange auf dem dämmernden Corridore hin, bis der Kastellan eine der Thüren öffnete. Die beiden Damen traten ein, der Pfarrer folgte, und die Thür schloß sich wieder. Arnold befand sich mit dem alten Klaus allein.
„Wer ist die junge Dame?“ fragte er hastig.
„Ich weiß es nicht!“ antwortete der Greis, indem er langsam der Treppe zu ging.
„Und wer ist die ältere?“
Der Kastellan zögerte, es schien als ob er auf eine ausweichende Antwort sänne. Arnold wiederholte seine Frage.
„Sie wird einige Zeit hier wohnen,“ entgegnete endlich der Greis. „Diesen Morgen ist sie mit ihrer Tochter hier angekommen.“
„Woher?“
„Auch das kann ich nicht sagen.“
[591] „Aber Sie müssen doch wissen, mein lieber Freund – –“
„Ich weiß nur, daß die Dame ein Recht hat, hier zu wohnen, und daß es meine Pflicht ist, ihr zu gehorchen. Vielleicht kann Ihnen der Herr Pfarrer mehr sagen. Sie begreifen wohl, daß ein Kastellan nur ein Diener ist.“
Arnold schwieg; ohne den Greis, der in einen schmalen Gang trat, weiter zu grüßen, eilte er die Treppe hinab, um in das Freie zu gelangen. Die Abendröthe lag feurig auf der bewaldeten Hügelkette, die sich jenseits des Dörfchens ausbreitete, und jene wunderbare Ruhe in der Natur war bereits eingetreten, die das Nahen der Sommernacht verkündet. Der arme Kandidat befand sich in einer Verfassung, die er bis zu diesem Augenblicke nicht gekannt hatte. Die herrliche Abendlandschaft hatte für ihn keinen Reiz mehr, alle seine Gedanken waren mit der überirdischen Erscheinung der Jungfrau beschäftigt. Wie ersehnte er die Rückkehr des Onkels, von dem er Auskunft erwartete, obgleich er nicht wußte, wozu sie ihm nützen könne. So hatte er das nächste Wäldchen erreicht, das durch den Rasenplatz von dem Schlosse getrennt ward. Er lehnte sich an den schlanken Stamm einer Buche, und sah nach dem stattlichen Gebäude hinüber, das von der Abendröthe goldig beleuchtet vor ihm lag. Da sah er, wie langsam eine weiße Gestalt auf den Söller hinaustrat, wie sie beide Hände ausstreckte, an dem Steingeländer stehen blieb und dann ruhig die Landschaft überschaute.
„Da ist sie!“ dachte Arnold und ein leises Frösteln durchrieselte seinen ganzen Körper.
Seine Phantasie verlor sich in wunderbaren Träumen. Die weiße Jungfrau auf dem Altane des altergrauen Schlosses, strahlend im Abendscheine, gewährte in der That ein Bild aus der alten Ritterzeit, und der eigene Reiz desselben war völlig geeignet, den Eindruck tiefer einzuprägen, den die Erscheinung der wunderholden Cäcilie in der Kapelle auf sein Herz ausgeübt. Da stand sie ruhig und regungslos und Arnold war selbst anmaßend genug zu glauben, daß seine Person ihre Aufmerksamkeit erregt habe. Welcher andere Gegenstand konnte sie so lange fesseln? Es war ersichtlich, daß ihre Blicke nur auf ihn gerichtet waren. Die Dämmerung hatte sich bereits auf das Thal herabgesenkt und die Jungfrau glich nur noch einem weißen Schatten, als die Stimme des Pfarrers den Träumer weckte. Arnold schämte sich seiner Reizbarkeit, er suchte seine gewöhnliche Ruhe zu erkünsteln und folgte schweigend dem Greise, der ihn zur Heimkehr aufforderte. Als er den letzten Blick nach dem Söller richtete, war die Jungfrau verschwunden und ein helles Licht schimmerte aus der geöffneten Thür. Verstohlen beobachtete Arnold nun den Onkel, der still und mit ernsten Mienen an seiner Seite ging. Den sonst so redseligen Alten schienen wichtige Dinge zu beschäftigen. Als sie die Häuser des Dorfs erreichten, folgte der Kandidat dem Drange seines Herzens und richtete die erste Frage an den Pfarrer. Seine Antwort war ausweichend wie die des Kastellans, und als die Spaziergänger vor dem freundlichen Pfarrhause standen, wußte Arnold nichts weiter, als daß Mutter und Tochter den Sommer auf dem Schlosse zubringen würden. Der junge Mann forschte nicht weiter, und als er gewahrte, daß der Greis selbst bei Tische seiner Gattin und Tochter den im Schlosse stattgehabten Vorgang verschwieg, beschloß er, das Geheimniß zu ehren. Sein Besuch sollte noch acht Tage dauern, und in dieser Zeit hoffte er Aufschluß zu erhalten, wenigstens so viel, um in seiner Erinnerung mehr zu bewahren, als die Gestalt des reizenden Mädchens.
Das Schloß Krayen, obwohl seiner Felder und Wälder beraubt, war im Innern noch glänzend eingerichtet. Treu der Religion ihrer Ahnen hatten es die edeln Bewohner verstanden, den ernsten und großartigen Styl der alten Baukunst mit der zierlichen Pracht ihres Zeitalters zu verjüngen, und als der Vater des leichtsinnigen Richard von Krayen starb, desselben von dem der Pfarrer gesprochen, fehlte nichts, was das glänzende und bequeme Leben eines begüterten Grafen erforderte. In diesem Zustande befand es sich noch heute. Richard, ein wüster Junker, hatte es verlassen und der Obhut des alten Klaus übergeben, der es gewissenhaft verwaltete. Außer dem reichen Silbergeschirr, das der Junker zu Gelde gemacht hatte, fehlte nicht ein Stück des Inventars.
Wir betreten in dem Augenblicke ein Zimmer des Schlosses, als die Uhr auf dem Hauptthurme desselben die neunte Stunde verkündet. Kostbare, moderne Möbel stehen an den Wänden, die mit dunkelrothen Tapeten bekleidet sind. Eine große Astrallampe verbreitet ein helles Licht, so daß sich die theuern Oelgemälde in großen Rahmen deutlich erkennen lassen. Den Boden bedecken weiche Teppiche. Man hätte glauben mögen, das Zimmer sei immer bewohnt gewesen. Die beiden Damen, die der Leser in der Kapelle kennen gelernt, befinden sich in diesem reizenden Gemache. Die Mutter schließt so eben ein Portefeuille, in das sie Notizen eingetragen – die Tochter steht ruhig an dem offenen Fenster, ihr liebliches Gesicht der erfrischenden Abendluft preisgebend.
„Cäcilie!“ rief sanft die Mutter, indem sie einen schmerzlichen Blick auf die Tochter heftete.
Die Angeredete wendete ihr Haupt zur Seite und fragte mit ihrer kindlichen, wohlklingenden Stimme: „Hast Du Deine Geschäfte beendet, liebe Mutter?“
„Für heute ist Alles gethan – das Inventarium werde ich in den nächsten Tagen prüfen. Dem Kastellan habe ich die nöthigsten Aufträge ertheilt, und ich bin nun wieder die Deine.“
Cäcilie wandte sich von dem Fenster ab.
„Ach, daß ich Dir nicht nützlich sein kann, daß ich Dir nur Sorgen mache und Deine Aufmerksamkeit stets in Anspruch nehmen muß!“ sagte sie mit einem Seufzer. „Wo ist das Sopha?“ fragte sie dann, indem sie ihre beiden zarten Hände ausstreckte.
Die Mutter ergriff eine derselben und führte die Tochter zu dem Sopha.
„Habe nur noch wenig Tage Geduld, Mutter,“ sagte sie während des langsamen Gehens mit einem schmerzlichen Lächeln; „ich bin hier so fremd – wenn ich nur einigemal noch an Deiner Hand diese Räume durchwandert bin, so werde ich Deiner Führung nicht mehr bedürfen, ich will alle Gegenstände genau meinem Gedächtniß einprägen.“
„Wie befindest Du Dich hier?“ fragte die Mutter, indem sie sich neben der Tochter niederließ.
„Die Luft ist köstlich, und ich athme freier als in der Stadt.
Dort drüben müssen schöne Wälder liegen, denn ein frischer Duft dringt zu mir – –“
Der Mutter traten die Thränen in die Augen; sie küßte die Stirn der Tochter, indem sie ausrief: „O, daß es Dir nicht vergönnt ist, die herrliche Natur zu sehen! Wie gern gäbe ich den Rest meines Lebens darum, könnte ich Dir das Augenlicht erkaufen.“
„Mutter, schon wieder sprichst Du diesen Wunsch aus!“ sagte Cäcilie mit sanftem Vorwurfe. „Muß ich Dir wiederholen, daß Du meine Lage verkennst? Nur ein Gut, das man besessen, entbehrt man. Ich habe nie die Welt gesehen, obgleich ich seit zwanzig Jahren darauf lebe – und so habe ich mir meine eigene Welt gebildet, in der Du mein schützender Engel bist. Du hast mich erzogen, gebildet, mit unsäglicher Geduld zu dem gemacht, was ich etwa bin, und Deine Stimme zu hören, Deine Hand zu fühlen ist mir Bedürfniß. Glaube mir, ich bin ganz glücklich!“
„Du liebes Kind! Verzeihe meiner Mutterliebe, wenn sie für Dich ein Gut ersehnt, dessen Du nie theilhaftig werden kannst. O, daß es mir versagt ist, mehr für Dich zu thun!“
Sie küßte die großen blauen Augen der Tochter, die so klar waren, daß man ihnen kaum die Sehkraft hätte absprechen können.
„Mutter,“ sagte Cäcilie lebhaft, um an ihr Glück glauben zu machen, „ich habe Dich nie gesehen, aber mein Herz hat sich ein Bild von Dir geschaffen, das ähnlich sein muß. Ich erkenne Deinen Schritt, jede Deiner Bewegungen, selbst das Rauschen Deines Kleides unterscheide ich - -“
„Cäcilie, Du willst mich täuschen!“ flüsterte sie mit sanftem Vorwurf.
„Mutter!“
„Ich habe diese Besitzung gekauft, um Dir eine andere Umgebung zu schaffen, um Dich der geräuschvollen Stadt zu entziehen, die Dir lästig zu sein schien. Das Schloß Krayen vereinigt Alles, was Deinen Neigungen entspricht – Cäcilie, Dir fehlt noch etwas! Ich halte es für einen Mangel an Vertrauen, wenn Du Dich nicht offen gegen mich[WS 1] aussprichst. Cäcilie, hilf mir Deine Nacht aufzuhellen, hilf mir dem Drange meiner Mutterliebe folgen, Dich ganz glücklich zu machen. Mit unserer Uebersiedelung in diese Gegend soll ein neues Leben beginnen –“
[592] „O, wie danke ich Dir diese Fürsorge, Mutter!“ rief Cäcilie, indem sie sich an ihre Brust warf. „Du begräbst Dich mit mir in diese Einsamkeit und entsagst den Freuden des geselligen Lebens, weil sie für Deine blinde Tochter nicht geschaffen sind. Es macht mir Kummer, daß ich Dein Dasein an das meinige fesseln muß.“
Die Mutter ergriff beide Hände ihrer Tochter, die sie sanft in den ihrigen drückte.
„Cäcilie,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „Du willst mich, die ich Dich ganz kenne, an Dein Glück glauben machen, während ich sehe, daß eine Veränderung in Deinem Innern vorgegangen ist. Du lächelst, aber Dein Herz leidet. Willst Du, daß ich mit Dir leide, mein Kind? Willst Du meinen Schmerz dadurch erhöhen, daß Deine Verschlossenheit mir die Möglichkeit nimmt, ganz für Dein Glück zu sorgen? Wem in der Welt könntest Du Dich vertrauen, wenn nicht mir? Cäcilie, ich habe es bisher vermieden, diesen Punkt ernstlich zu berühren – jetzt vermag ich es nicht mehr, und wenn Du Anstand nimmst, offen zu sein, so muß ich Dich an Deine Pflicht mahnen.“
„An meine Pflicht!“ hauchte sie kaum hörbar vor sich hin, und Thränen erschienen in dem blinden Auge. „Ja, es ist meine Pflicht,“ fügte sie lauter hinzu, „und ich will ihr genügen. Mutter, Du hast Recht, es ist in mir eine Veränderung vorgegangen, die ich Dir mit Anstrengung verbergen wollte. Ach, und ich folgte Dir gerne in diese Gegend, weil ich in der Einsamkeit eine peinliche Regung zu unterdrücken hoffte, die ein Zufall in der Stadt vergrößern konnte. Sind wir unbelauscht, Mutter?“ fragte sie ängstlich.
„Es ist Niemand in der Nähe!“
„So höre das tiefste Geheimniß meines Herzens, des einzigen, das es vor Dir birgt. Wenn Du es kennst, wirst Du mir verzeihen, daß ich es in mich zu verschließen suchte, denn ich wollte ja nur allein leiden. Du führtest mich an dem letzten Christabende in den Dom der Residenz, um mir eine Weihnachtsfreude zu bereiten, meinem Geiste, Mutter, weil die Blinde einer andern nicht theilhaftig werden kann. Die herrliche Musik erhob und begeisterte mich; ich sah die tausend Kerzen nicht, von denen Du sagtest, daß sie das Gotteshaus erhellten; aber andächtige Begeisterung hatte mein Inneres mit einem wunderbaren Lichte erfüllt und die jubelnden Töne der Weihnachtshymne trugen mich in eine lichte Sphäre. Entzückt lauschte ich den gewaltigen Harmonien noch, als sie längst verklungen waren, sie tönten noch fort in meiner erregten Brust. Da erhob sich plötzlich die Stimme des Predigers, eine Stimme, Mutter, so wohlklingend und schön, daß sie den Eindruck der Musik verscheuchte. Aber nicht die Stimme allein war es, die so seltsam wunderbar mein Herz bewegte, auch die Worte waren es, die sie sprach. Welche Kraft, welches Feuer und welche Empfindung lag in dem Vortrage des Kanzelredners! Wie klar und schön war seine Anschauung von dem Ereignisse, das die Christenheit durch ein Fest feierte! Frömmigkeit und Verstand hatten ihm die Worte dictirt, die seine jugendliche, herrliche Stimme der Versammlung zurief. Mit steigender Spannung verfolgte ich die Rede, und als sie geendet, war ich so von dem Geiste derselben durchdrungen, daß mir das Leben ein anderes geworden zu sein schien. Und ach, Mutter, auch ich selbst war eine andere geworden!“ fügte sie erröthend hinzu. „Der Zustand meines Herzens war mir fremd, aber er gewährte mir eine schmerzliche Freude. Anfangs begnügte ich mich mit der Erinnerung an seine schöne Stimme, die mir herrlicher klang, als Musik, denn – ach, Mutter, ich mußte an ihn denken ohne es zu wollen – dann schuf sich meine Phantasie ein Bild von ihm, und dieses Bild steht immer vor mir, ich mag wachen oder träumen. Eine unbestimmte Sehnsucht erfaßte mich – Du führtest mich später wieder in die Kirche, ich hörte einen andern Prediger, aber die Sehnsucht war nicht befriedigt. Ein wunderbares geistiges Band knüpft mich an den Mann, den ich für jung und schön halte. Mutter, es bildete sich ein Gefühl in mir aus, das ich nicht anders als – Liebe nennen kann.“
Cäcilie verbarg ihre in Thränen gebadeten Augen an der Brust der Mutter, die erbleichend nach Fassung rang.
Ein Künstler-Bild.
Die Donner der letzten polnischen Revolution verhallten in Warschau, und zitterten noch nach durch das Herz eines kaum zwölfjährigen Knaben, der in dem ärmlichen Zimmer eines ärmlichen Hauses der Vorstadt saß, feuchten Auges, und mit zitternden Händen ein Thürschild bemalend. Neben ihm lagen Schulbücher des Lyceums, aber mit Staub bedeckt und in einen Lederriemen eingeschnallt. Ach, auch des Knaben Seele war eingeschnürt in dem eisernen Reifen der Noth und der Nothwendigkeit! Die Revolution hatte auch in sein junges Leben schreckbar eingegriffen. Seine Aeltern hatten vorher beschlossen, die schon früh sich zeigenden Talente des Knaben, mit Aufopferung des wenigen letzten Vermögens, in wissenschaftlichen Studium heranbilden zu lassen; der Knabe hatte schon eine erste Klasse im Lyceum betreten. Da kam die Revolution, sie nahm den Aeltern das für diese Ausbildung Bestimmte, und er mußte nun seine goldenen Träume von Bildung und Wissenschaft verfliegen lassen; er mußte Brot verdienen. Seine schon sehr schöne und sichere Handschrift ließ ihn zunächst Thür- und Schilderaufschriften ausmalen. Aber er hatte bereits gekostet vom Baume der Erkenntniß; die Segnungen und Beglückungen des Wissens ahnen gelernt, er strebte danach mit brennender Begier, – und er saß nun da: hungrig und kalt, wehmüthig und trotzig, jetzt auf die eingeschnallten Bücher, dann auf das farbenbeschmierte Bret blickend.
Seine schöne Handschrift auf den Thüren und Schildern zog ihm indessen schon bald die Aufmerksamkeit eines Sequestrators und eine Stelle als Schreiber bei demselben zu. Dort lernte ihn der Redakteur der Warschauer Gazette, Professor Kruzski kennen; beobachtete seine schon recht hübschen Schulkenntnisse und seine unermüdliche Wißbegier und nahm ihn dann als Schreiber auf sein Bureau. Er gab ihm Bücher, und guten Rath: wie dieselben am Besten zu benützen; er ließ ihn Sprachen lernen und des Knaben ungemeine Empfänglichkeit und Phantasie, bei eiserner Consequenz des Fleißes, ließen ihn schon mach zwei Jahren fertig Deutsch und Französisch sprechen und das Englische bis zum Lesen bringen. Nun wurde er aus einem Schreiber ein Uebersetzer; – aber immer fühlte er sich unglücklich, zerrissen bis zum tiefsten Grund seiner Seele; er strebte nach einem Besonderen, noch aber ihm Unbewußten; er strebte nach Wirken, That, Ehre, nach Schönem und Großem, er strebte eben wie jedes junge Genie strebt: „in dunklem Drange.“ Da auf einmal wurde dieser dunkle Drang ein klarer, lichtvoller; das Unnennbare, Unbewußte ein Bestimmtes, ein Ziel: er sah, wahrscheinlich zum ersten Male, ein großes Schauspiel auf dem ausgezeichneten ersten Theater seiner Vaterstadt, er sah darin den hochgefeierten Kudlicz, den ersten Schauspieler seines Landes, und da war es bestimmt in ihm:
„Schauspieler werden! Ein großer Schauspieler, ein zweiter Kudlicz!“
Rasch und energisch wie immer, ging er schon andern Tages zu Kudlicz hin, seine Wünsche und alle seine Verhältnisse mit lebendigen, frischen Farben der Leidenschaft ihm vortragend. Daraus allein schon glaubte Kudlicz sein Talent ahnen zu können; der Jüngling hatte ihn sofort gewonnen und der edle Künstler, der zugleich Professor war an der ausgezeichneten Theaterschule, womit das sogenannte „rohe“ Polen das sogenannte „gebildete“ Deutschland noch immer beschämt, bewirkte seine Aufnahme in dieselbe. So wurde er, im Jahre 1835, und 18 Jahre alt, academischer Schüler seiner Kunst. Schon nach zwei Jahren, nach glücklich abgelegter Probe, debütirte er als wirkliches Mitglied des ersten Theaters zu Warschau, mit 15 Thalern Monatsgage und natürlich noch als sehr untergeordnetes Mitglied. Aber er fühlte seine Kraft wachsen und wachsen; er wollte spielen, viel spielen, jeden Tag; und nicht ein Fach, sondern Alles; d. h. er wollte Menschen, nur Menschen, kein Rollenfach darstellen. Er ging deshalb schon bald zu einem kleineren Theater, nach Wilna. Hier [593] konnte er seinem Drange voll Genüge thun und Alles spielen was er wollte. Er spielte hier zwei Jahre lang die größten und kleinsten, die jüngsten und ältesten, die liebevollsten und teuflischsten Rollen. Hier machte er eigentlich die hohe Schule seiner Kunst durch, gewann er die außerordentliche Vielseitigkeit, die man jetzt an ihm bewundert, wie sie seit Garrik kein zweiter gehabt hat.
Nun bekam er schon einen ehrenvollen Ruf an das große polnische Theater zu Lemberg, wo er sich hauptsächlich dem Heldenfache zuwenden mußte, worin er bald ein gefeierter Schauspieler wurde. Bald wurde ihm auch vom Besitzer des Theaters, dem Grafen Skarbeck, die Oberregie anvertraut. Und dem polnischen Theater in Lemberg verdankt Deutschland seinen größten Schauspieler. Neben jenem befindet sich dort auch noch ein deutsches Theater; untergeordneten Ranges zwar, doch mit bedeutenden Mitteln versehen: gewinnt es häufig Gastspiele berühmter deutscher Schauspieler, namentlich der Koryphäen des kaiserlichen Burg-Theaters in Wien. Und Diese sah der Pole dort spielen, sah durch sie die ersten Meisterwerke deutscher Dichtung zum ersten Male Deutsch aufgeführt, und wie er an jenem Abend im Theater zu Warschau gerufen hatte: „Ich muß Schauspieler werden!“ so rief er jetzt aus: „Ich muß deutscher Schauspieler werden. Ich muß Lessing, Schiller , Goethe und den deutsch gewordenen Shakespeare Deutsch und in Deutschland spielen!“
Mit derselben Energie, womit der Knabe damals jenen Vorsatz ausgeführt, verfolgte der Mann nun diesen, und der erste Held und Oberregisseur, der schon gefeierte und theuer bezahlte Künstler am polnischen Theater verließ das Alles und wurde ein unbekannter, schlecht bezahlter, von den deutschen Schauspielern und dem deutschen Publikum seiner noch accentvollen Aussprache wegen oft verhöhnter und ausgelachter Anfänger. Das konnte eben nur ein echtes Genie, das als solches auch ein großer Charakter war. – Aber als solches konnte er auch nicht lange Anfänger in der neuen Laufbahn sein; bald schon war er als deutscher Schauspieler eine bedeutsame, wenn auch immer noch fremdartige Erscheinung. Der schon genannte Graf Skarbeck, dem auch das deutsche Theater gehörte, nahm nun diesen merkwürdigen Mann in immer höhere Gunst; er gewährte ihm Mittel zu einer großen und langen Reise durch Deutschland und nach Paris, um die deutsche und [594] französische Kunst gründlich kennen zu lernen. Und der Künstler that dies; einige Zeit kämpfte er zwischen deutscher und französischer Kunst. Den Polen zog zwar die Liebenswürdigkeit, die Feinheit und der Glanz der Letzteren besonders an, aber seinem tieferen Wesen, seiner unendlichen Natürlichkeit auch für die höchste Tragödie, seinem keuschen, sittlichen Kunstsinn trat die deutsche Kunst doch viel näher; sie gewann den Sieg über ihn. – Nun nach Lemberg zurück; dort noch tüchtig gespielt, den polnischen Accent bemeistert, ein Dutzend großer Rollen klassischer Werke einstudirt, traurigen und doch hoffnungsglücklichen Abschied von einer geliebten Braut (einer liebenswürdigen feinen Schauspielerin am polnischen Theater zu Lemberg) – und nun hinaus in das Land seiner Sehnsucht, nach Deutschland. – Er kam zuerst nach Breslau. Der große, knochigstarke Mann mit dem gewaltigen Kopfe, den scharfen, leidenschaftlichen Zügen, den unruhigen, eckigen Bewegungen und dem noch immer fremdartigen Accent, der Mann ohne alle die nothwendigen Requisiten von blauem Frack mit blanken Knöpfen, goldener Uhrkette, großem Siegelring, gelben Glacéhandschuhen, Empfehlungsschreiben, fuchsschwänzelnden und einschmeichelnden Redensarten, sondern eben nur jene herbe, spröde, fremdartige Erscheinung, mit dem einfachen Worte: „Ich bin Pole, habe aber in Lemberg schon Deutsch gespielt und möchte das auch hier thun“ – bekam als Antwort ein höhnisch freundliches Achselzucken.
Fünf Jahre später stand dieser Mann auf demselben Platze, als der hochgefeierte Gast vom kaiserlichen Burgtheater in Wien. Denn jener vor Frost und Hunger und Seelenschmerz weinende Knabe vor dem farbenbeschmierten Brette im armen Zimmer der Vorstadt Warschaus: er ist jetzt der größte, gefeiertste Schauspieler der Gegenwart, die erste Zierde am edelsten und schönsten deutschen Theater; in Farbe und Marmor schon verewigt, und der Centralpunkt von intelligenter Bewunderung und Liebe in der intelligenten Hauptstadt Sachsens, – es ist Bogomil Dawison in Dresden. – Von Breslau ging der Abgewiesene tiefgekränkt, doch nicht entmuthigt, hinweg. Um die scharfen Züge, mit dem Sarkasmus des Genies durchzückt, mag da wohl ein stolz-ironisches Lächeln der Bitterkeit und des Selbstbewußtseins gespielt haben. – Und so noch oft, denn noch oft wurde der fremdartige Mann, – manchmal wohl mit einem gewissen unheimlichen Gefühle solch trotziger Kraft gegenüber, – abgewiesen. Er litt viel! Innerlich und äußerlich. Aber das waren eben nur die formenden, härtenden Hammerschläge des Geschicks. – Einer derselben und eigentlich der letzte der schweren, hätte ihn bald vernichtet: er kam nach Berlin und sein erster Eintritt war eigentlich kein solcher, sondern ein Niedersturz, der eine gefährliche und höchst schmerzliche Verrenkung eines Beins bewirkte. Der arme, kranke, fiebernde Mann wurde in das Krankenhaus gebracht. Hier lag er drei Monate. Sein erster Ausgang galt dem ungeschwächt festgehaltenen Ziel: er ging zu Louis Schneider, dem damals noch sehr beliebten Schauspieler am königlichen Theater, dem geist- und kenntnißreichen Schriftsteller und liebenswürdigen Baudeville-Dichter. Dieser hatte ihn schon in Warschau kennen gelernt und ihm seine künstlerische Aufmerksamkeit zugewendet. Jetzt gab er ihm einen warmen Empfehlungsbrief an seinen Freund, dem Director des damals noch neuen und vortrefflichen Thalia-Theaters in Hamburg, Herrn Maurice, und Dawison kam im Winter 1847 nach Hamburg. – Hier war die Grenze seiner Leiden, der Anfang seines Ruhmes. Er trat zuerst auf als Hans Gürge in Holtei’s: „Die Perlenschnur“ und als Czsolsky im Maltitzschen: „Der alte Student.“, Ein paar junge schwärmerische Dichter fanden sofort „das Genie“ heraus; der göttliche Instinct im anfangs stutzigen, dann frappirten, zuletzt electrisirten Publikum fühlte unbewußt dasselbe und während einige alte Kritiker und Recensenten auf den Corridoren sich noch herumstritten: ob der neue Gast wirklich Talent habe, hatte ihn der sichre und praktisch schauende Director Maurice schon zu 32 Gastrollen engagirt. – Nach 14 Tagen war Dawison schon „der Löwe des Tages“ und das Thalia-Theater durch ihn angefüllt wie sonst selten. – Noch einige Zeit – und er war mit bedeutendem Gehalte auf zwei oder drei Jahre engagirt. Nun reiste er nach Lemberg und holte seine theure Braut als liebes, junges Weib in die neue Heimath.
Das war der erste Abschnitt seines neuen Lebens.
Sein Ruf ging nun schon durch die deutsche Theaterwelt. Gutzkow, damals Dramaturg am dresdner Hoftheater, suchte ihn unter glänzenden Anerbietungen für dasselbe zu gewinnen; desgleichen der General-Intendant von Küstner, für das Hoftheater in Berlin; Beide aber unter der Bedingung, daß Dawison sich nach seinem ersten Gastspiel engagiren lassen müsse, wenn er gefalle; Dawison aber in seiner freien, echt künstlerischen Weise, wollte auch eine ähnliche Bedingung für sich haben.
„Ich soll zeigen ob ich gefalle, – nun, so will ich denn auch sehen, ob es mir gefällt; habt Ihr Eure Freiheit mich nicht zu engagiren, wenn ich Euch nicht gefalle: so will ich auch die Freiheit haben, mich nicht engagiren zu lassen, wenn es mir bei Euch nicht gefällt.“
Diese echt künstlerische, aber bei einem noch nicht „berühmten“ Schauspieler ganz unerhörte Bedingung, wurde nicht angenommen und Dawison blieb noch in Hamburg, bis Herr von Holbein, damals noch Intendant des kaiserl. Burgtheaters in Wien, sie annahm und ihn 1849 zu Engagements-Gastrollen auf gegenseitiges Gefallen einladete. Des Letzteren war Dawison so sicher, daß er seine Familie, die sich um einen reizenden Knaben vermehrt hatte, gleich mit nach Wien nahm. – Seine Sicherheit wurde so glänzend gerechtfertigt, daß er gleich nach den ersten Rollen auf mehrere Jahre und mit dem bedeutendsten Gehalte der ersten Koryphäen daselbst engagirt wurde. Bald zählte man auch ihn dazu. Nun wurde sein Ruf immer größer, seine Gastspiele in den ersten Städten Oesterreichs zündeten überall in selten erlebter Gewalt; dann kam er nach Breslau. Wo man ihn damals mit höhnischem Achselzucken nach Brieg und Ohlau verwiesen hatte, flogen ihm jetzt Lorbeerkränze entgegen. – Aber für das allgemeine Deutschland war er noch kein „berühmter“ Name. Erst der eifrig-künstlerischen Intendanz, dem lebendig empfänglichen und gebildeten Publikum und der warmen und geistvollen Kritik und Intelligenz Dresdens war es vorbehalten: von hier aus Dawison’s Name durch das ganze Vaterland tragen zu lassen und seinem großen Genius die vollste Anerkennung und Geltendmachung zu verschaffen.
Im Sommer 1852 gastirte Dawison zum ersten Male in Dresden, als hier noch nicht bekannter Name, in seiner ersten Rolle vor leerem Hause; in der zweiten schon vor weit vollerem, in der dritten vor gedrückt vollem Hause und mit den übrigen bewirkend, was Roger und Demoiselle Rachel nicht vermochten: bei peinigend schwüler Sommerhitze alle Räume des Hauses über und über zu füllen. Das war die Macht des Genies, das sich in wenigen Tagen eine große Stadt gewann. Freilich gehörten zu solchem Siege auch die übrigen oben berührten Elemente in dieser Stadt. Sie machten dieselbe dem Künstler auch unendlich lieb und schätzenswerth und mit demselben Eifer, womit ihm schon bald wieder ein zweites Gastspiel dort angeboten und von hoher Seite her ermittelt wurde, nahm er es an. So kam Dawison im Dezember 1852 zum zweiten Male nach Dresden und was seit Jahren bei einem Schauspieler nicht erlebt war: sein Gastspiel wurde mit erhöhten Preisen angekündigt und dennoch bei stets vollem Hause, unter dem donnernden Jubelrufe des Publikums, unter der höchsten und allgemeinsten Anerkennung der Kritik ausgeführt.
Dem armen, vor Frost, Hunger und sehnsüchtigem Geistesdrange weinenden Polenknaben vor dem farbenbeschmierten Thürschilde, gaben die Koryphäen der Intelligenz und Kunst der Hauptstadt Feste, als dem größten Schauspieler der Gegenwart; er wurde zu den Majestäten nach Hofe geladen und kehrte ruhmgekrönt zu seiner glänzenden Stellung in der Kaiserstadt zurück, wo Statuen und Bilder ihn verewigten, wo er mit dem größten Gehalte aller dortigen ersten Größen aufs Neue für viele Jahre gewonnen wurde.
Doch „der Mensch versuche die Götter nicht!“ So auf dem Gipfel seines äußeren Ruhmes und Glückes, sollte er doch nicht völlig glücklich sein. Die feine Organisation seiner Frau, begann an der wiener Luft zu kränkeln: es zeigte sich die Nothwendigkeit, die zarte, liebe Pflanze in ein helleres, frischeres Licht zu bringen und Dawison, der erst Gatte und Vater und dann erst Künstler sein wollte, sah die Nothwendigkeit ein, seine große und glänzende Stellung am kaiserlichen Theater zu verlassen. Er bat um Entlassung, – dringender und dringender; – man versprach, man wies ab und versprach wieder. Aber der heißblütigen und rasch energischen Natur Dawison’s, so wie seiner auch wohl zu ängstlichen Gattensorge, war solches Zaudern und Hin und Her unerträglich und führte dann, in Verbindung mit Direktor Laube’s [595] bekanntem Wesen leider zu jener Scene zwischen Beiden, die von den Journalen weidlich genug ausgebeutet wurde, um sie hier noch weiter zu verfolgen. Das Resultat war natürlich der Sieg der Macht. Dawison bekam die Weisung, vorläufig das Theater nicht wieder zu betreten, dessen Vorstand er so scharf verletzt hatte; seine Entlassung aber erhielt er nicht. Das war nun wohl die schrecklichste Lage, in die der gewaltige Wirkungsdrang des Genies gerathen kann. Durch die Gnade des Kaisers aber, gefördert durch den rastlosen Eifer der dresdner Intendanz, durch die Macht der öffentlichen Stimme, durch den feinen künstlerischen Blick des Kaisers auf die Genialität seines Künstlers, wurde derselbe doch schon bald aus jener Lage befreit. Er kam nach Dresden, wo er eine neue Epoche dieses herrlichen Theaters und seines eigenen Lebens begann.
Nach dieser raschen Ueberschau seines Lebens, wollen wir nun noch einen Blick auf das eigentliche Wesen seines Schaffens werfen und darzulegen suchen, worin die seltene Macht desselben besteht. Ein Verzeichniß seiner Hauptrollen mag zuerst den weiten Kreis seines Wirkens bezeichnen: Carlos in „Clavigo,“ Alba in „Egmont,“ Marinelli in „Emilie Galotti,“ Burleigh in „Maria Stuart,“ Hamlet, Marc Anton in „Julius Cäsar,“ Richard III., Franz Moor in „die Räuber;“ von neuen Rollen: Holofernes in Hebbel’s „Judith,“ Mephisto in „Faust,“ Shyllock in „der Kaufmann von Venedig,“ Muley Hassan in „Fiesko,“ Fox in Gottschall’s „Pitt und Fox,“ Benedict in „Viel Lärmen um Nichts;“ in Vorbereitung: Othello. Von Genrebildern: Bonjour in „die Wiener in Paris,“ Spielwaarenhändler, Riccaut in „Minna von Barnhelm,“ Hans Jürge in „die Perlenschnur“ u. a.
Diesen so beschriebenen Kreis beherrscht er nun mit hinreißender Gewalt der höchsten Leidenschaft, mit bannender Macht keuschester und einfachster Natur, Wahrheit und Gesundheit und mit tiefster Erfassung, Durchdringung und Entwickelung des Gegenstandes durch seine große Intelligenz, seinen scharfen, scheidenden Verstand und sein geistreiches, tief psychologisches Eindringen in die innerste Werkstätte, in das feinste Räderwerk der Menschennatur. Jede einzelne dieser großen Gaben hat schon bedeutende Schauspieler gebildet; in Dawison vereinigt, haben sie ihn zum Bedeutendsten gemacht, wenn auch andere große Schauspieler wieder andere Gaben besitzen, die er nicht hat, wenigstens nicht so vollkommen wie jene. – In ihm vereinigt, reißt er uns hin, elektrisch durchzuckt, bis zum heftigsten Sturm und Donner der Leidenschaft, bis zum höchsten, kühnsten Schwung des Ideals; läßt er uns dabei doch stets die Beruhigung maßvoller Beherrschung zurück, läßt er uns stets auf gesundem, concretem Boden der Wahrheit stehen; führt er uns der Menschennatur tiefste und geheimste Laute in allen Tinten und Tönen ihrer ewigen Wechselwirkung vor. Da ist nirgends Willkür, Planlosigkeit, sondern überall tiefste Berechnung bei größter Unmittelbarkeit. Da ist kein Einzelnspiel, kein Kunststückchen, kein effectberechneter „Abgang,“ sondern immer nur ein Ganzes, Volles, Rundes. Da ist kein Machen, sondern ein Werden, ein organisches Wachsthum nach innerster Naturnothwendigkeit.
Das ist das Leben und die Charakteristik des Künstlers Dawison. Der prächtige, frische, kühne Mensch Dawison wird aus Jenem leicht zu erkennen sein. Das Motto zu ihm dürfte heißen: „Wär’ ich bedächtig, hieß ich nicht der Tell!“
Aus dem Alter des Neugebornen (s. Gartenlaube Nr. 43, S. 515) tritt der Mensch in das des Säuglings und dieses begreift, mit Ausnahme der frühesten Lebenstage, die ersten 9 bis 12 Monate nach der Geburt in sich, sonach die Zeit, während welcher das Kind von der Mutter gesäugt werden soll. In dieser Lebensepoche, in welcher jedenfalls schon die Erziehung durch richtige Gewöhnung beginnen muß, werden sehr oft so arge Verstöße gegen die Behandlung, zumal gegen die Ernährung des Kindes gemacht, daß dasselbe entweder zeitlebens an den Folgen derselben zu leiden hat oder daran sehr bald zu Grunde geht. – Die wichtigsten Momente im Säuglingsalter sind das allmälige Erwachen der Sinne, dem alsdann die ersten Spuren des Verstandes, der Sprache und willkürlichen Bewegung, das Aufmerken und Lächeln zu verdanken sind, und der Ausbruch der Zähne im 7., 8. oder 9. Monate. Der Körper des Säuglings gewinnt in Folge von Fettablagerung an Rundung, seine Muskulatur (das Fleisch) wird nach und nach kräftiger, die Haut derber, die Knochen härter und die große Neigung zum Schlafen nimmt immer mehr ab. Der weichen Beschaffenheit der Hirnsubstanz wegen ziehen stärkere, besonders krankhafte Reizungen der zum Gehirn leitenden Empfindungsnerven, durch Uebertragung ihrer Reizung auf Bewegungsnerven, sehr leicht widernatürliche Bewegungen nach sich und deshalb werden Säuglinge häufig, auch bei ganz unbedeutenden Krankheitszuständen, von Krämpfen (Convulsionen) befallen, die sonach in diesem Lebensalter weniger gefährliche Erscheinungen als im spätern Leben sind. Am Schädel des Säuglings befindet sich vorn in der Mitte über der Stirn eine dünne, nicht verknöcherte Stelle, die große oder Stirnfontanelle (das Plättchen), welche sich erst im 2. oder 3. Lebensjahre schließen darf, wenn das Verstandesorgan, nämlich das in der Schädelhöhle verborgene Gehirn, nicht in seinem Wachsthume gestört und das Kind schwachsinnig werden soll. – Von Seiten der Aeltern ist bei der Erziehung des Säuglings ebensowohl auf die körperliche wie auch schon auf die geistige Entwickelung große Aufmerksamkeit zu verwenden; in ersterer Hinsicht kommt vorzugsweise die Ernährung und Vermeidung von Krankheiten in Betracht, in letzterer findet das Gesetz der Gewohnheit und Nachahmung seine Anwendung.
Die Nahrung des Säuglings darf nur Milch sein und zwar die der Mutter, wenn nicht gewichtige Gründe derselben das Stillen verbieten. Man sollte aber zur Beurtheilung der Wichtigkeit dieser Gründe stets den Arzt zu Rathe ziehen, da in jedem einzelnen Falle die ernstlichste Erwägung nöthig ist. Im Allgemeinen läßt sich nur sagen, daß es weder für die Mutter noch für das Kind von Vortheil, aber wohl von Nachtheil ist, wenn kraftlose, blutarme, kurzathmige und hustende, überhaupt an irgend einem chronischen Uebel leidende Frauen stillen. Ebenso sollten auch die Mütter, welche schon mehrere Kinder verloren haben, die sie selbst stillten, ferner die, welche während des Stillens bleich (blutarm), mager, kraftlos und sehr reizbar werden, sodann diejenigen, denen das Saugen des Kindes heftige Schmerzen verursacht, die von der Brust zum Rücken und Kopfe ziehen, alle diese sollten, zumal wenn sie nicht bei gutem Appetite sind, vom Stillen ablassen. Stillt nun aber eine Mutter, dann hat sie auch die Verpflichtung Alles zu vermeiden, was ihrem eigenen Körper und dadurch auch dem des Säuglings schaden könnte (wie Erkältungen, Gemüthsbewegungen, Diätfehler, Mangel an Schlaf, starke Anstrengungen u. dgl.), dagegen Alles zu thun, was ihrem Kinde nützt. Zu Letzterem gehört ganz besonders die Wahl passender, nahrhafter und leicht verdaulicher, aus thierischen und pflanzlichen Nahrungsstoffen zusammengesetzter Speisen, d. h. solcher, welche eine gute, die richtige Menge an Käsestoff, Butter, Zucker und Salzen enthaltende Milch zu erzeugen im Stande sind, wie: Milch und Fleisch (mit dem gehörigen Fette), Ei (Eiweiß und Dotter), Hülsenfrüchte (Erbsen, Linsen, Bohnen) und Nahrungsmittel aus den verschiedenen Getreidearten (aus Weizen, Roggen, Mais, Reis, Hirse etc.). Neben dem Essen muß aber auch auf reichliches Trinken nicht erhitzender Getränke (von Wasser, Milch oder leichtem Biere) gehalten werden, damit das Blut und die Milch der Mutter stets den gehörigen Flüssigkeitsgrad erhalte. Es versteht sich übrigens ganz von selbst, daß ebensowohl im Essen wie im Trinken gehörig Maaß zu halten ist, um die Verdauung nicht zu stören. – Zur richtigen Diät einer Stillenden gehört nun außer der passenden Kost, auch noch das Einathmen einer reinen Luft, mäßige Bewegung, hinreichender Schlaf und Gemütsruhe. Nach Gemüthsbewegungen (Aerger, Schreck, großer Freude) ist es gut, das Kind nicht sogleich anzulegen, wohl aber die Milch abzuziehen.
[596] Muß die Stelle der Mutter von einer Amme ersetzt werden, dann sollte die Wahl derselben zuvörderst nur durch den Arzt und zwar nach vorheriger sehr genauer Untersuchung geschehen, und nur mit Zustimmung des Arztes sollte eine Mutter ihrer Sympathie oder Antipathie bei einer solchen Wahl folgen. Wo möglich muß das Kind der Amme, welches natürlich ebensowenig wie die Milch derselben unbeachtet zu lassen ist, dasselbe Alter wie das zu stillende haben, weil sich während der Zeit des Stillens allmälig nach dem Bedürfnisse des wachsenden Kindes die Beschaffenheit der Muttermilch etwas ändert. Die Amme sollte wenigstens nicht über 6 oder 8 Wochen vor der Mutter entbunden worden sein. Die Milch von Brünetten soll übrigens nahrhafter als die von Blondinen sein. Hat man unter mehreren gesunden Ammen die Wahl, dann wähle man die, welche mit der Mutter von gleicher oder ähnlicher Constitution ist. Durchaus nöthig ist es, daß die Amme von der Mutter fortwährend gehörig beaufsichtigt wird, besonders hinsichtlich der Menge ihrer Milch, der richtigen Nahrung, der Vermeidung von Erkältung und wegen der Reinlichkeit. Nicht selten gebrauchen Ammen, bei denen die Milch sparsamer wird, diese und jene Hülfsmittel zur Sättigung des Kindes, welche demselben Nachtheil bringen. Man beobachte deshalb das Kind beim Trinken und achte auf die Menge der Urin- und Stuhlausleerungen des Säuglings, der natürlich auch nicht viel ausleeren wird, wenn er nicht genug Nahrung bekommt. Unpassend ist die Amme für das Kind, wenn dasselbe nicht zunimmt, wohl gar welk und mager wird, fortwährend unruhig und mit Blähungen oder Durchfall behaftet ist. – Was die Behandlung der Amme betrifft, so muß die Nahrung derselben natürlich gehörig nahrhaft sein, wie bei der stillenden Mutter, einfach und der Amme zusagend, aber nicht zu sehr von der abweichen, welche die Amme früher genossen hat. Ebenso darf eine an anstrengende Arbeit gewöhnte Person nicht müßig dasitzen. Mäßiges Arbeiten und der tägliche Genuß frischer Luft nutzt jeder Amme. So wie nun die Mutter an die Amme ziemlich viele Ansprüche macht, so vergesse eine Mutter aber auch nicht, daß sie Pflichten gegen eine Amme zu erfüllen hat. Eine freundliche, übrigens aber ernste und konsequente Behandlung, ohne zu weit getriebene Freundlichkeit und Vertraulichkeit, wird bei den meisten Ammen gut anschlagen. Daß einer Amme Manches nachzusehen ist, versteht sich von sich selbst, sie ist ja aber auch nicht die Mutter des Säuglings. Daß ein Kind mit der Mutter- oder Ammenmilch den Charakter seiner Ernährerin oder wohl gar Laster mancher Art einsaugen sollte, ist blanker Unsinn; Laster sind stets erst anerzogen. – Weder Mutter noch Amme dürfen das Kind zu sich in’s Bett nehmen, weil im Schlafe schon manches Kind erdrückt worden ist. Der Eintritt der Regel während des Stillens ist kein Hinderniß für dessen Fortsetzung.
Das Aufziehen des Kindes ohne Mutter- oder Ammenmilch ist ein äußerst schwieriges, nur von sehr gewissenhaften Müttern richtig auszuführendes Geschäft und darf in den ersten 6 bis 8 Monaten nur durch Thiermilch geschehen, welche in ihrer Beschaffenheit und Temperatur der Muttermilch so ähnlich als möglich herzustellen ist. Eine Hauptbedingung des glücklichen Erfolges hierbei ist gute Milch und die größte Reinlichkeit. Eselsmilch würde der Kuhmilch deshalb vorzuziehen sein, weil jene in ihrer Zusammensetzung der Frauenmilch am ähnlichsten ist. Kuhmilch, welche in der Regel zum Aufziehen der Kinder verwendet wird, ist im Vergleich zur Frauenmilch zu reich an Butter und Käse, dagegen zu arm an Milchzucker, sie muß deshalb mit Wasser verdünnt und mit Milchzucker versetzt werden. Der Grad der Verdünnung richte sich nach dem Alter des Kinden; anfangs ist wenigstens die Hälfte oder ein Drittel Wasser zuzusetzen, allmälig ein Viertel und endlich ein Fünftel; erst nach dem 6. oder 7. Monate kann unverdünnte Milch gereicht werden. Da aber durch dieses Verdünnen der Buttergehalt der Milch mehr als gehörig vermindert wird, so ist es nöthig noch etwan Sahne (Rahm) zuzufügen. Man verfahre deshalb auf folgende Weise: man nehme nicht blos Milch (von der Kuh weg), sondern auch noch Rahm und zwar von beiden gleiche Theile, verdünne diese Mischung nach dem Alter des Kindes mit einer größern oder geringern Menge Wassers und setze soviel Milchzucker hinzu, daß diese Verdünnung schwach süßlich schmeckt. Die Milch ist wo möglich von ein und derselben Kuh zu nehmen und diese Kuh, welche nicht vor zu langer Zeit geworfen haben darf, muß gesund, von gutem Ausehen sein. Es giebt viel schwindsüchtige Kühe, deren Milch möglicher Weise schädlich sein könnte. – Die Temperatur des Getränkes muß stets von einigen zwanzig Graden sein und das Gefäß, woraus das Kind trinkt (am besten eine gläserne Saugflasche oder ein Schiffchen von Porzellan), immer äußerst rein. Wäre eine gute Milch nicht zu erlangen, dann würde eine Verdünnung derselben mit schwacher Fleischbrühe anstatt mit Wasser die Nahrhaftigkeit vermehren, auch könnte allenfalls noch eine Eilösung (des Eiweißes und Dotters) als Nahrungsmittel angewendet werden.
Das Entwöhnen des Kindes von der Brust, ein sehr wichtiger Moment für das Kind, sollte niemals vor oder gerade während des Ausbruchs der Zähne, sonach vor Ablauf des ersten Jahres und bei Kindern schwächlicher, ungesunder (besonders brustkranker) Aeltern noch weit später stattfinden; es geschehe nicht plötzlich, sondern allmälig, innerhalb eines Zeitraums von etwa 14 Tagen bis 3 Wochen, womöglich in einer Jahreszeit, wo das Kind in die freie Luft getragen werden kann. Die Stillende genieße jetzt weniger nahrhafte und milchmachende Speisen, das Kind werde seltener an die Brust gelegt und erhalte dafür andere aber ja nur flüssige Nahrung (gute Kuhmilch und Fleischbrühe mit Milchzucker). Nie werde dem Kinde, welches entwöhnt werden soll, zuerst bei Nacht die Brust entzogen. Nachdem dasselbe immer seltener die Brust und dafür immer mehr andere Nahrung erhalten, gebe ihm die Mutter oder Amme in einer Morgenstunde den letzten Trunk und gehe ihm dann soviel als möglich aus den Augen, um keine Erinnerung an die Brust im Kinde zu erwecken. – Wird ein Kind bald nach dem Entwöhnen unwohl, magert es sehr ab, bekommt Durchfall oder Brechen, dann muß es durchaus wieder einige Zeit lang von einer Amme ernährt werden.
Die Luft, welche der Säugling einathmet, sei stets rein und niemals sehr kalt, weil sonst ziemlich gefährliche Krankheiten im Athmungsapparate äußerst leicht zu Stande kommen können. Besonders werde schneller Wechsel zwischen warmer und kalter Luft ängstlich vermieden und während des Schlafens immer auf reine warme Luft (von etwa 14–16° R.) gehalten. Bei Ost- und Nordwinde, überhaupt bei kalter Luft, sollten Säuglinge stets in der warmen Stube bleiben. Ganz vorzüglich ist dies aber nothwendig, wenn sich Zeichen vom Schnupfen oder Husten beim Säugling einstellen; denn werden diese nicht beachtet, dann entwickelt sich sehr leicht eine tödtliche Lungenentzündung.
Warme Bäder oder Waschungen der Haut sind dem Säugling zu seinem Wohlsein ganz unentbehrlich. Sie müssen täglich und mit der nöthigen Vorsicht angewendet werden, womöglich am frühen Morgen, bald nach dem Erwachen und vor dem Trinken des Kindes. Vorsicht ist aber insofern beim Baden und Waschen anzuwenden, als sehr leicht dabei eine Erkältung der Haut und dadurch ein gefährlicher Magen-Darmkatarrh (mit Durchfall, Brechen) zu Stande kommen kann. Die Temperatur der Zimmerluft und des Badewassers ist deshalb wohl zu beachten, erstere darf nicht unter +14° sein, letztere in den ersten Monaten gegen +27°, später etwa 25 bis 23°. Die alte gebrauchte Wäsche des Kindes gleichzeitig mit in das Bad zu legen, ist eine nicht zu billigende und dem Säugling nachtheilige Unreinlichkeit. Bisweilen, besonders bei sogenannten unruhigen Kindern, ist es von Nutzen, beruhigend und schlafbringend, das Kind Abends unmittelbar vor Schlafengehen noch einmal oder nur zu dieser Zeit zu baden. Im Bade ist die Haut mit einem Schwamme oder einem Stückchen Flanell gehörig abzureiben, niemals aber das Auge mit demselben Schwamme zu reinigen, sondern immer nur mit eigens für die Augen bestimmten reinen, weichen Leinewandsläppchen. Beim Herausnehmen des Kindes aus dem Bade, hülle man es in ein gewärmtes Leinwandtuch, trockne und reibe es ab, und reiche ihm nach dem Anziehen die Brust oder Milch. Gleich nach dem Bade das Kind an die freie Luft zu schicken, kann gefährlich werden. – Das Waschen des Kindes mit warmem Wasser kann das Baden nie ersetzen und verlangt eine noch weit größere Vorsicht (vor Erkältung) als dieses. – Es gibt übrigens Kinder (gewöhnlich blonde, mit sehr zarter Haut), welche das Baden nicht vertragen können, sehr aufgeregt und schnupfig danach werden; bei diesen sind dann weit seltener (die Woche ein- oder zweimal) Bäder oder nur Waschungen anzuwenden.
Was die Kleidung des Säuglings betrifft, so ist hierbei zuvörderst auf die größte Reinlichkeit und Trockenheit zu halten, sodann darauf zu sehen, daß sie nirgends, besonders nicht am [597] Brustkasten und Bauche beengend oder die Bewegungen hindernd wirkt und doch auch gehörig wärmt. Besonders dürfen Arme und Beine nicht fest eingewickelt werden, auch ist die Leibbinde nicht fest anzulegen, damit das Athmen nicht behindert werde, jedoch ist dieselbe nicht wegzulassen, weil sie den Bauch warm hält, und dadurch dem bei Säuglingen stets gefährlichen und durch Erkältung des Bauches leicht entstehenden Durchfall entgegentritt. – Der Kopf muß im Zimmer bei Tag und Nacht unbedeckt bleiben, im Freien aber leicht bedeckt werden. – Ganz vorzüglich ist beim Austragen des Kindes darauf zu achten, daß die Luft nicht unter die Kleider an die bloßen Beine und den nackten Bauch zieht, weil sonst recht leicht auch Erkältung und Durchfall zu Stande kommt. Ebenso müssen Kinder, welche herumzukriechen anfangen, nicht zu kurze Kleidchen tragen; übrigens darf das Gewicht der Kleider nur auf den Schultern ruhen (durch Schulterbänder), ja nicht etwa durch festes Anlegen an den Körper getragen werden. Die Füßchen sind, besonders im Winter, durch weiche, wollene Strümpfe gehörig warm zu halten. Eine schlechte Mode ist es, die Hemdchen und Röckchen, doch wohl nur wegen leichtern Anziehens, hinten am Rücken offen sein zu lassen, weil so der Rücken, der durch das Liegen warm wird, sehr leicht erkältet werden kann. Man kleidet das Kind deshalb am besten so an, daß der offene Theil des Hemdchens nach hinten, der des Röckchens aber nach vorn kommt. – Die Windel muß hübsch warm, rein und weich sein.
Die Sinneswerkzeuge des Säuglings verlangen eine sehr aufmerksame Behandlung, wenn sie nicht für das ganze Leben geschwächt oder gar gelähmt werden sollen. – Das Auge ist vor jedem starken und grellen Lichte zu schützen (s. Gartenlaube Nr. 39. S. 459) und nie darf ein plötzlicher Uebergang vom Dunklen in das Helle stattfinden. Es ist eine sehr schädliche Gewohnheit der Aeltern und Erzieher, das Kind nahe an helles Licht zu halten und hineinsehen zu lassen; ebenso auch längere Zeit den Mond oder blitzenden Himmel anzuschauen. Wird der Säugling im Bett oder Wagen liegend in’s Freie gebracht, so darf ihm die Sonne ja nicht senkrecht in’s Gesicht scheinen. Glänzende und kleine Gegenstände müssen dem Kindesauge nicht zu nahe und lange vorgehalten werden. – Das Gehörorgan ist vor starken und grellen Tönen, das Geruchsorgan ist vor allen starken Gerüchen zu schützen.
Das Zahnen, der Ausbruch der ersten Zähne, wird von den Müttern weit mehr, als es nöthig ist, gefürchtet, denn es veranlaßt niemals ernstliche Erkrankungen, nämlich bei Kindern, welche richtig und nach den vorstehenden Regeln erhalten wurden. Alle gefährlichen und tödtlichen Krankheiten bei zahnenden Kindern, wie Lungenentzündungen, Brechdurchfall, Fieber mit Krämpfen u. s. w., rühren von andern Ursachen (meist von Diätfehlern und Erkältungen), als vom Zahnausbruche her. Sectionen von Kindern, die am Zahnen gestorben sein sollten, ergeben die Wahrheit dieses Ausspruchs. Allerdings geht nicht immer, doch sehr oft, der Zahnausbruch ohne alle Beschwerden vorüber, jedoch sind diese stets ungefährlich, auch wenn sie bis zu fieberhaften und krampfhaften Affectionen (Convulsionen) ausarten sollten. Die gewöhnlichsten Erscheinungen beim Zahnen sind folgende: das Kind ist zeitweilig unwillig und unruhig, speichelt viel, es schreit bisweilen laut auf, ist aber bald wieder ruhig, es schreckt im Schlafe manchmal zusammen, die Wangen bekommen in der Nähe des Mundes manchmal rothe Flecke und selbst Ausschläge, das Zahnfleisch wird heiß, roth, geschwollen; das Kind, welches anfangs öfters in den Mund griff und sich gern am Zahnfleische streichen ließ, will jetzt den Mund unberührt haben; es trinkt und urinirt weit öfterer als gewöhnlich, nichts ist ihm recht. Mit dem Durchbruch einiger Zähne verschwinden meistens alle Zufälle. Die durchbrechenden Zähne werden Milchzähne genannt; sie erscheinen gewöhnlich im 7ten oder 8ten, wohl auch im 10ten oder 11ten Monate, meistens paarweise und in dem Unterkiefer früher, als im Oberkiefer, zuerst unten die beiden mittelsten Schneidezähne, dann oben das mittlere Paar derselben, hierauf folgen die äußern Schneidezähne wechselnd bald oben, bald unten. Erst im 3ten Jahre brechen die vordern 2 Backzähne und zuletzt die Eckzähne durch, so daß ein Kind gegen das Ende des 2ten Lebensjahres 20 Milchzähne besitzt, die ihm bis zum 7ten Jahre bleiben. Die angegebene Ordnung, in welcher die Milchzähne hervortreten, steht aber nicht ganz fest, sondern kann mannigfache Abänderungen erleiden, ohne deshalb Gefahr zu bringen oder auf eine schlechte Constitution hinzudeuten. Mädchen sind im Zahnen den Knaben gewöhnlich voraus. Das beste Linderungsmittel bei Zahnbeschwerden ist öfteres Betupfen des Zahnfleisches mit kaltem Wasser; übrigens ist das zahnende Kind nicht anders als vorher angegeben wurde zu behandeln, also mit passender Milch, reiner warmer Luft, zweckmäßiger Kleidung und großer Reinlichkeit. – Soviel von der Erhaltung des Säuglings; von der körperlichen und geistigen Erziehung, sowie von den Krankheiten desselben soll ein späterer Aufsatz handeln.
Jagd nach Gold und materiellem Reichthum überhaupt, ohne die milderen Formen civilisirter alter Länder, im Kampfe mit roher Natur, wilden Menschen und Thieren ist ein wesentlicher Charakterzug des jetzigen Lebens in Australien. Es hat zwar die Bürgschaften einer großartigen Entwicklung in die Civilisation hinein in sich, aber diese wird zu unsern Verhältnissen immer sehr antipodisch bleiben. Wo sich Schäferknechte, Goldgräber und glückliche, rücksichtslose Spekulanten ohne Bildung und Humanität plötzlich oft über Nacht zu den Reichsten und Mächtigsten im Lande erheben, wo die meisten Menschen, welche in der alten Welt durch bedeutende Kenntnisse, Talent und Genie und Geistesschätze überhaupt sich auch ohne materiellen Erfolg achtbare Stellungen unter der „Geistesaristokratie“ erwarben, überall bei Seite geschoben werden und oft froh sein müssen, wenn sie dem als Gold-Lord etablirten Schatzgräber die Stiefeln wichsen dürfen, und erbliche, Standes-, Beamten und Militär-Aristokratie rein unbekannte, unmögliche Größen sind, da muß sich eine Lebensformation begründen, die zu den socialen, politischen und konfessionellen Schichtungen der alten Welt immer im schneidensten Gegensatze bleiben wird. Vielleicht wird es der erfreulichste Gegensatz: die Versöhnung, das Heruntersinken aller schleichenden und brennenden Zeitfragen der alten Welt zu einer geologischen Bodenschicht, auf welcher sich Menschen entwickeln, die von Staats- und diplomatischen und konfessionellen Reibungen, von Grenz-, Klassen-, Standes- und Verfassungskriegen niemals incommodirt werden und daher unter Verhältnissen, die man wirklich Freiheit nennen mag, sich eines irdischen Wohlseins erfreuen, wie es in Europa stets für unmöglich, utopisch gehalten ward. Dies kann man wahrscheinlich finden, obgleich auch Manche aus dem rohen Durste nach Gold und materiellem Reichthum das Gegentheil prophezeien. Darüber läßt sich viel streiten, aber noch nichts entscheiden. Man muß sich zunächst darauf beschränken, Thatsachen, das Leben, wie es sich dort giebt, anzusehen. Und hier sind denn einige Bilder, in denen man Australien, wie es jetzt ist, abgespiegelt finden wird. Sie sind aus den Briefen eines dahin ausgewanderten Engländers.
„Zu Hause“ schreibt dieser, „war mir das Bett in der prächtigen Schlafstube bald zu weich, bald zu hart, das Wasser zum Rasiren bald zu heiß oder zu kalt, die Vatermörder nie steif und glatt genug gewesen; hier mußte ich unter dem regnenden Himmel im Busche 14 Tage lang mit der nassen, kalten Erde als Nachtlager fürlieb nehmen, ohne mich Morgens weder mit kaltem, noch warmem Wasser rasiren zu können. Und was die Wäsche betrifft, so laßt mich schweigen.
Ihr wißt schon aus dem vorigen Briefe, daß ich ohne ein Stäubchen Gold aus den schmierigen, lehmigen, löcherlichen Gruben nach Melbourne zurückgekehrt war. Hier konnte ich auf keine Weise ein Unterkommen finden, da ich zum Hausknecht, zum Stiefelputzer u. s. w. den Herrschaften zu schwach aussah und zu „vornehm“ sprach. Ein Handwerk versteh’ ich nicht. Für Kaufmannshäuser hatte ich keinen Anzug, keine Wäsche, kein glattes Kinn mehr. Bedeckte Schlafstellen kosten selbst in den schmutzigsten Zelten und Hütten 4 Schilling für die Nacht, und ich war pennylos. So schlief ich im Freien und ließ mich vom Himmel mit Regen und [598] Kälte zudecken. Weiß der Himmel, wie ich das ausgehalten. Freilich hatte mich das Goldgräberleben abgehärtet genug. Ich konnte Tage lang hungern und mich dann von wilden Tauben, deren Nachtlager ich vorher ausspionirte, sattessen. Endlich hörte ich von unserm H… , der in Cowie (am andern Ende der Bucht, an welcher Melbourne liegt) tief im Golde sitzen sollte. Sofort machte ich mich auf durch Wald und Thal, Schmutz und Lachen, durch Tag und Nacht, ohne Weg und Steg und kam nach manchen Abenteuern, die hier kleinlich erscheinen, glücklich wie ein wüster Waldmensch in Cowie an. Hier erfuhr ich, daß er sich in der Nähe des Wilhelm-Berges, wo neue Gruben in Angriff genommen worden waren, niedergelassen habe und mit den Goldgräbern Handel treibe. Ich werde die etwa 150 (englischen) Meilen, die ich umherirrte, um H…zu suchen, nie vergessen. Davon vielleicht später. Ich fand H… endlich und zwar ganz menschlich gegen den Wilden. Er gab mir nicht nur gemünztes, sondern auch einen tüchtigen Sack voll ungemünztes Gold, das ich in Melbourne verkaufen sollte, um damit „etwas anzufangen“ oder in einem Handlungshause „irgend“ eine Stellung, die ich bekommen könnte, anzunehmen.
„So ritt ich stolz und hoffnungsvoll davon, denn ein Pferd und Pistolen und Schlachtmesser hatte er mir auch geschenkt und mir gute Regeln gegeben, wie ich es anfangen sollte, um nicht nur mit dem Leben, sondern auch mit dem Golde davon zu kommen. Die Buschräuber, meinte er, nähmen gern beides, da die, welchen sie das Leben „schenkten,“ gegen die Polizei nur Mißbrauch davon machten. Besonders warnte er mich vor dem einäugigen Jerry, der nie Pardon gebe oder nehme. Das waren hübsche Aussichten für meine goldene Reise über 100 Meilen Wüste, Wald und kahle Ebene. Doch meine Nerven waren stark geworden, eben so wie mein Arm, und so ritt ich, scharf und muthig um mich schauend, vom Wilhelms-Berge abwärts dem Meere und Melbourne zu. Die erste Nacht schützte mich vor allen Unbequemlichkeiten unter dem dicklaubigen Baume, der mir als Himmel zum Bette diente. Ich erwachte ganz frisch und kräftig, aber mein Pferd war zum Nachtwandler geworden. Ich konnt’ es nirgends entdecken. So nahm ich endlich mein Kopfkissen d. h. den Sattel selbst auf meinen Rücken und arbeitete mich durch Dickicht und Schmutz immer vorwärts, bis meine Füße eine Masse von Blasen geworden. Es war siedend heiß im Walde und noch sengender in der Sonne, besonders zwischen den Steinen der Ebene, wo ich die Spur des Pferdes ganz verloren hatte. Ich warf mich nieder in Verzweiflung und schöpfte Athem. Die Stille um mich ward plötzlich durch ein ängstliches Geheul meines Pferdes unterbrochen. Ich sprang auf und sah es in einer Entfernung von einigen hundert Schritten sich zitternd mit emporstarrenden Mähnen im Kreise drehen. Ich rief ihm zu, doch in demselben Augenblicke erstickte meine Stimme. In voller Wuth schnaubte und brüllte ein kohlschwarzer, zottiger Büffel mit großen, rothglühenden Augen auf mich zu. Ich hatte eben nur Zeit, mich platt auf die Erde hinzuwerfen, so daß er schnaubend und donnernd vor mir vorbeischoß. Eh’ er umkehren konnte, war ich hinter den nächsten Busch gekrochen, der nur aus jungem Reißig mit Ausnahme eines einzigen starken Baumes bestand. Das Ungeheuer schnüffelte wüthend in die Luft hinein, um sein Opfer wieder heraus zu riechen. Zuerst witterte er den Sattel, den er mit seinen spitzigen Hörnern hoch in die Luft schleuderte. Dann rollten seine rothglühenden Augen wieder umher aus seinen schwarzen, fliegenden, wirren Zotteln, als wollt’ er mich zuerst mit diesen durchbohren, wie mit glühenden Eisen, eh’ er das Werk mit den Hörnern begönne. In ein paar Secunden sah er mich und stürzte krachend und brüllend auf mich zu, wenigstens auf den dicken Baum, von welchem er so mächtig zurückprallte, daß er auf die Kniee sank. Das Messer hatt’ ich Tags vorher zerbrochen, die Pistolen staken im Sattel: ich war ganz wehrlos, so daß ich todesmatt, mit zitternden, wunden Füßen, vom brennendsten Durste gequält, die wiederholten und immer wieder erneuten Anfälle des scheußlichen Ungeheuers wohl Stunden lang aushalten mußte.
Manchmal ras’te er brummend wie Donner davon, als wollt’ er seine Mordgedanken aufgeben, aber immer besann er sich wieder und kehrte mit erneuertem Muth zurück, bald von dieser bald von jener Seite ansetzend, so daß ich mich immerwährend mit der größten Geschwindigkeit hinter die entgegengesetzte Seite des Baumes flüchten mußte. Das dünne Gestrüpp war von allen Seiten niedergetreten und gebrochen, so daß die Windungen für meine knickenden Füße immer schwieriger, immer unmöglicher wurden. Abgehetzt und durch natürlichen und Angstschweiß wie ausgerungen, überzeugte ich mich, daß die scheußliche Creatur es darauf abgesehen habe, mich so lange zu quälen, bis ich erschöpft niedersänke, um mir dann seine spitzigen Gabeln durch den Leib zu bohren. Schon blieb mir keine Wahl mehr zwischen Widerstand und Ergebung, denn ich fühlte, wie ich an den Baum geklammert, doch nicht mehr fähig war, mich aufrecht zu erhalten, als ich durch himmlische Musik gleichsam zu neuem Leben gestärkt ward. Die himmlische Musik war zwar blos Pferdegetrappel, aber es war himmlische Musik, mit herzhafter Allegro-Begleitung: dem Bellen eines Hundes. Hinter ihm her sprengte ein Reiter heran.
„Die lange „Lash“ pfiff in der Luft und umschlang den Bullen wie ein biegsames Rasirmesser. Er rollte seine Augen, donnerte ein wildes Gebrüll heraus und stürzte auf seinen neuen Feind. Das Pferd, offenbar ganz geschult für dieses Handwerk, sprang auf die Seite. Die „Lash“ pfiff wieder, der Bulle donnerte wieder und stürzte wieder auf ihn zu, daß Erde und Gesträuch hoch umher flog; aber das teuflische Ungethüm war zu rasend, als daß es hätte sicher zielen und messen können. In seinen wahnsinnigen Schüssen stürzte es sich immer weit über sein Ziel hinaus und krachte auf die steinige Erde. Wohl zwanzigmal zischte und traf die Lash, zwanzigmal schoß das Vieh auf seinen Gegner und verfehlte ihn, bis es sich nur noch mühsam aufraffte und zu neuen Angriffen ansetzte. Plötzlich sprang der Reiter, mit einem ellenlangen Messer im Munde, vom Pferde, kniete nieder und ließ den Bullen sich in das Messer stürzen. Er schien ihn dann bei den Hörnern zu fassen und mit ihm zu kämpfen, denn sehen konnte ich durch den aufwirbelnden Staub nichts deutlich. Nach einer Minute legte sich der Staub, das Ungethüm lag zuckend und schnaubend in seinem Blute, das in einem dicken Strahle aus dem Halse schoß.
„Mein Retter setzte sich mit freudestrahlendem Gesicht (so weit man dies aus dem Barte, der wie die schwarzen Mähnen des Bullen um seine Physiognomie flatterte, sehen konnte) auf seine noch zuckende Beute und rief mir zu, auf seinem „Sopha“ neben ihm Platz zu nehmen. Ich that es mit Freuden und schüttelte ihm die rauhe, stählerne Riesenhand, in welcher die meinige verschwand, wie ein Lamm im Löwenrachen. Ich hatte schon manchen wilden, riesigen Waldmenschen gesehen, aber das war ein Kerl wie geschaffen, um diese teufelischen australischen Bullen bei den Hörnern zu fassen und ihnen das Genick zu brechen. Er zählte die Bestien, die er erlegt und abgezogen, nach Hunderten, verweigerte alle goldene Anerkennung meiner Dankbarkeit, da er reicher sei, als 100 Goldgräber zusammen und nur zu seinem Vergnügen und aus Gewohnheit umherreite, um die schwarzen Teufelspestien vollends auszurotten, und nachdem er mir mein Pferd hatte einfangen helfen, machte er mir und sich ein hübsches Nachtlager auf dem Büffel zurecht, das uns in seiner Weichheit und Wärme während der schnell tief sinkenden Temperatur gar komfortabel vorkam. Gegen Morgen war es freilich so eisig kalt, daß wir ein tüchtiges Feuer anzünden und unterhalten mußten, bis die Sonne kam, die mir nach zwei Stunden auf meinem Wege so auf den Rücken brannte, daß ich Schutz und Schatten suchen mußte. Doch das sind Alles alltägliche Geschichten hier, so daß ich bis zum Morgen des dritten Tages seit dem Büffel-Abenteuer nichts von Bedeutung erlebte. Ich hatte die erste Nacht darauf in einer Buschherberge geschlafen, wo man so schreckliche Geschichten von dem einäugigen Jerry erzählte, daß ich mir ein Paar löwenstarke, riesige Bulldoggs kaufte, die mir denn auch gute Dienste thaten. Die berittene Polizei hatte seit 8 Tagen nach dem einäugigen Jerry die ganze Gegend auf 20 Meilen ringsum durchsucht und ihm sein Pferd erschossen, ohne ihn zu fangen. Es war ihm gelungen, in Gesträuch und Felsengewirr zu entkommen. Uebrigens war er allgemein bekannt und geächtet, selbst bei seinen Collegen, den Buschräubern, so daß er von keiner Seite auf Hülfe und Mitleid rechnen konnte. Er war ein Mörder aus Liebhaberei, während die Buschräuber sich in der Regel damit begnügen, den einsamen oder in der Minorität bleibenden Reisenden, wenn sie sich nur nicht zu arg wehren, Steuern zu dictiren und abzunehmen, so daß man sie als Constitutionelle bezeichnen kann. Unser Ober- und Unterhaus machen’s der Sache nach doch auch nicht besser.
„So viel und noch mehr hatte ich von Jerry in der Buschherberge, [599] wo ich mir die Hunde kaufte, erfahren, so daß ich nicht eben im Gefühle großer Sicherheit reiste, obwohl ich mich mit den Hunden und dem Umstande zu trösten suchte, daß in Busch- und andern Herbergen viel übertrieben und gelogen wird. Doch als ich den einäugigen Cyklopen wirklich zu Gesicht bekam, half mir das Alles nichts. Zittert nicht für mich, denn ich schreibe meine Geschichte, wie jede andere, nachdem sie geschehen. Mich durch einen engen, steil zwischen Hügeln und Gebüsch herabfallenden Hohlweg hindurchwindend ward ich an einer Biegung plötzlich von einem überaus großen Känguruh beinahe mit sammt dem Pferde umgerissen. Es sprang in wilder Flucht über Büsche und Felsen. Meine Hunde setzten ihm nach, und ehe ich ihnen pfeifen konnte, ward ich aus gar nicht großer Entfernung von einer rauhen, heiseren Stimme angeschrieen: „Ergieb Dich oder ich blase Dir’s Hirn aus!“ Da stand das häßliche, einäugige Gespenst leibhaftig vor mir – mit zwei Augen, denn das fehlende ersetzte der mich sehr unfreundlich anglotzende Flintenlauf. „Dein Pferd und Du sollst leben!“ setzte er hinzu, während ich das Pferd schon gewendet, mich platt auf dessen Hals niedergedrückt und um die Biegung davon gesprengt zu sein glaubte. Doch fühlte ich seine Kugel noch ziemlich dicht am Nacken hinstreifen. Ich peitschte auf das Pferd, daß es sich wie rasend empor wand. Ich zwang es seitwärts in das Gebüsch hinein, da die Flucht aufwärts sehr riskant erschien. Aber hier ritt ich ihm gerade wieder entgegen. Er stürzte auf mich zu mit umgekehrter Flinte, um mit dem Kolben zu arbeiten. Ein riesiger Baum, der uns im Wege lag, ward von meinem braven Thiere meisterhaft übersprungen, aber auf der andern Seite hing sich ein Fuß im Gesträuch, so daß es auf den Kopf und ich über es hinstürzte, jedoch ohne den Zügel zu verlieren. Jerry, ganz außer Athem und mit aufgeblasenen Nüstern hervorstürzend, holte mit aller seiner Wuth aus, doch fing sich beim Schlage der Kolben in einem starken Baumzweige, so daß ihm das Gewehr aus der Hand geschleudert wurde. Das Pferd erhob sich, der Kerl griff nach dessen Zügeln, ich hieb ihm aber mit dem dicken Ende der Reitpeitsche einen so herzhaften Schlag über’s Gesicht, daß er unwillkürlich mit der Hand danach fuhr. Nach dem zweiten Hiebe griff er mich wüthend mit beiden Händen, ich desgleichen, so daß wir auf die roheste, ungekünstelte Weise um’s Leben rangen. Wir rollten über einander, während ich mit der rechten Hand sein linkes Handgelenk festhielt und mit der rechten in seinem Barte gleichsam festen Fuß gefaßt hatte, da mir es nicht gelungen war, die Gurgel zu packen. Bald hatte er mein Halstuch, zwischen welchem er seine furchtbaren Knöchel in meinen Hals drückte, so daß er mich jedenfalls erwürgt haben würde, hätte der leichte Stoff unter seiner furchtbaren Faust nicht nachgegeben. Jetzt griff er nach seinem Messer. Ich benutzte diesen Augenblick, ihm mit geballter Faust das einzige gesunde Auge auszuschlagen. Er brüllte und knirschte und kniete auf meiner Brust, während er nach dem Messer umhergriff. Mir fielen die Hunde ein, ich rief ihnen mit aller meiner Kraft und hatte die Genugthuung, zu finden, daß sie ihrem neuen Herren zu dienen verstanden. Das Fluchen und Brüllen des Räubers verwandelte sich plötzlich in ein entsetzliches Geheul. Der eine Bulldogg hatte den Räuber im Nacken, der andere in der Seite gepackt. Er ließ mich los und kämpfte mit ihnen, doch nur kurze Zeit. Bald lag er zerrissen und zuckend unter ihnen. So lange er noch zuckte, waren die Hunde nicht abzubringen. Als er todt war, sahen sie mich beide an und wedelten mit den Schweifen, als wären sie von den Lobpreisungen, die ich fühlte, vollkommen überzeugt.
„Die Hunde sahen noch mehrmals auf ihr Werk. Ich konnte es nicht und ritt in einer Tour fünfzehn Meilen, wie ein auf den Fersen verfolgter Mörder. Erst auf der nächsten Viehstation kam ich ordentlich zur Besinnung, und die Polizei, der ich meine Mordthat mittheilte, erlöste mich von meiner wirren Pein, indem mich Einer auf die Schultern klopfte und schmunzelnd sagte: „Nur keine Sorge, mein Herr! Ist schon Alles gut nun. Und was die Beerdigung betrifft, werden ihm schon die Geier und Adler zeitig genug ein anständiges Begräbniß besorgen.“ (Es folgen einige minder interessante und tragische Abenteuer, zuletzt die Bemerkung:) Ich trage jetzt jeden Morgen um das frisch rasirte Kinn frische Vatermörder und sehe überhaupt wieder wie ein Gentleman aus. Bei einem deutschen Holzhändler in Melbourne [1] habe ich eine ganz einträgliche Stellung gefunden.
Miniébüchsen und Lancasterkanonen.
Die Ereignisse in Bomarsund haben der Ungewißheit über die Wirksamkeit mehrerer der neuerfundenen Kriegswerkzeuge ein Ende gemacht und es ist jetzt klar, daß die stärkstgebauten Batterien, selbst wenn sie aus fest mit Klammern verbundenen Granitblöcken bestehen und mit Eisenplatten kasemattirt sind, in Trümmer gehen müssen, wenn eine schwere Metallmasse auf geschickte Weise gegen sie gerichtet wird. Eben so klar ist, daß ein mit der Miniébüchse bewaffnetes Infanteriepeloton selbst bei Belagerungsoperationen eine höchst wirksame Hülfe leisten kann und daß die Spitzkugel würdig ist, der Vollkugel und Bombe der weittragenden Kanone und des Mörsers an die Seite gestellt zu werden. Es sind in der letzten Zeit so viele Verbesserungen mit diesen Feuerwaffen vorgenommen worden, daß eine kurze Beschreibung der neuesten für unsere Leser nicht ohne Interesse sein wird.
Schon im Jahre 1827 lenkte Delavigne, Offizier bei der Garde du Corps Karl’s X., die Aufmerksamkeit des Königs auf mehrere Verbesserungen an der Büchse, wobei sein Hauptzweck vermehrte Leichtigkeit des Ladens war. Er war der Erste, welcher den Kammerstoß vorschlug, der jetzt seinen Namen trägt. Dieser Stoß war in der Kammer, welche das Pulver enthält, nach Art dessen in einem Mörser gebildet und die Kugel rollte frei in den Lauf hinein, bis sie auf den Vorspringen oder Schultern dieser Kammer liegen blieb, wo sie dann mit dem Ladestock einige kräftige Stöße erhielt, um sich ein wenig in die Breite zu drücken. Anstatt dies aber zu thun, nahm die Kugel meistentheils dadurch eine unregelmäßige Gestalt an, welche ihren Flug wesentlich beeinträchtigte. Um diesem Mangel abzuhelfen, erfand Delavigne eine längliche Kugel mit Furchen oder Einschnitten, welche den Zweck hatten, die Reibungsfläche oder Friction zu vermindern. Kurz darauf bemerkte Tamassier, daß solche gefurchte oder mit Einschnitten versehene Kugeln weit richtiger gingen als glatte und schloß daraus, daß die Atmosphäre auf sie eben so wirke, wie auf die Federn eines Pfeils. Deswegen begann man überall sie einzuführen. Bald nachher verbesserte Oberst Thouvenin die von Delavigne erfundene Stoßkammer dadurch, daß er einen stählernen Dorn in den Stoß der gewöhnlichen Muskete einschraubte, auf welchen die Kugel zu sitzen kam, während das Pulver vollauf Raum zur Explosion hatte. Diese einfache Vorrichtung, welche als eine große Verbesserung der Idee Delavigne’s betrachtet ward, ist diejenige, welche noch jetzt an den Büchsen der Jäger von Vincennes angebracht ist.
Die Miniékugel, nach welcher die Miniébüchsen benannt sind, ward von dem Capitain Minié, einem Offizier der französischen Armee, erfunden, und war die erste, die unten mit einem
[600]1. Bukowina | 11. Braila | 21. Baltsi | 31. Matschin | 41. Marmarameer | 51. Bolu | 61. Kaukasische Berge | 71. Berislaw | 81. Kertsch |
2. Sereth | 12. Bukarest | 22. Kischenau | 32. Babadagh | 42. Dardanellen | 52. Sinope | 62. Neu Tscherkark[2] | 72. Perekov | 82. Anapa |
3. Fluß Sereth | 13. Wallachei | 23. Fluß Pruth | 33. Varna | 43. Gallipoli | 53. Trebizond | 63. Fluß Don | 73. Die Krim | 83. Schwarze Meer |
4. Siebenbürgen | 14. Oltenitza | 24. Fluß Dnjestr | 34. Baltschik | 44. Sultanieh | 54. Angora | 64. Rostov | 74. Simferopol | |
5. Kronstadt | 15. Giurgewo | 25. Donau | 35. Balkan | 45. Bunarbatki | 55. Tokat | 65. Asow | 75. Sebastopol | |
6. Karpathenkette | 16. Bessarabien | 26. Bulgarien | 36. Burgas | 46. Besika-Bay | 56. Amasia | 66. Asowsche Meer | 76. Eupatoria | |
7. Moldau | 17. Bender | 27. Schumla | 37. Adrianopel | 47. Berg Ida | 57. Ritsar | 67. Odessa | 77. Balaklava | |
8. Botuschan | 18. Akerman | 28. Rustschuk | 38. Constantinopel | 48. Berg Olymp | 58. Erzerum | 68. Nikolaijef | 78. Aluschta | |
9. Jassy | 19. Kilia | 29. Silistria | 39. Bosporus | 49. Brussa | 59. Kars | 69. Das Dorf[3] | 79. Caffa | |
10. Galatz | 20. Kagul | 30. Hirsova | 40. Skutari | 50. Ismid | 60. Stavropol | 70. Cherson | 80. Meerbusen von Caffa |
[601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] hohlen Kegel und einem eisernen in die Höhlung passenden Einsatz versehen war. Die Kugel läuft ohne Zwang in den Lauf hinein und ruht auf dem Pulver; wenn das letztere explodirt, so wird der eiserne Einsatz in die Höhlung hineingetrieben und die dadurch ausgedehnte Kugel füllt die Furchen oder Züge des Laufes, ehe sie vollends hinausgestoßen wird.
Es sind jedoch im Laufe der Zeit mit der Miniékugel so wie auch mit der Büchse, die diesen Namen trägt, verschiedene Verbesserungen vorgenommen worden. Die letzte, auf welche wir uns hier beschränken werden, ist die jetzt bei der englischen Armee eingeführte und die sich sowohl in Bezug auf die Form der Kugel, als auf die Züge des Laufes von der ersten Erfindung unterscheidet. Wir schicken hierbei die Bemerkung voraus, daß die Züge des Büchsenlaufes auch die Wirkung haben, daß der Kugel dadurch eine rollende oder drehende Bewegung mitgetheilt wird. Diese Züge gehen von einem Ende des Laufs bis zum andern und zwar in spiralförmiger Richtung. Da die Kugel von weicherem Metall ist, als der Lauf, so nimmt sie, wenn sie durch das Pulver fortgetrieben wird, die Richtung der Züge und erlangt dadurch zugleich eine drehende Bewegung auf einer der Spirallinie des Laufes entsprechenden Axe. Aus mehreren Beobachtungen hat sich ergeben, daß die Schnelligkeit der Kugel, wenn sie den Lauf verläßt, auf zweitausend Fuß in der Secunde zu schätzen ist, während sie in demselben Zeitraum zugleich ungefähr achthundert Umdrehungen macht.
Die Kugel der gewöhnlichen Muskete durchschneidet ihre Bahn in ziemlich horizontaler Linie und wenn man damit auf einen, wir wollen sagen, hundert und zwanzig Schritt entfernten Gegenstand zielt, so muß sie einen solchen von gleicher Größe treffen, welcher sich ihr auf diesem Wege entgegenstellt.
Die Kugel der Miniébüchse dagegen macht einen so bedeutenden Bogen, daß sie, wenn man gerade auf die Brust eines vierhundert Schritt entfernt stehenden Mannes zielt, beinahe zwei und ein halb Fuß über den Kopf eines andern in derselben Linie stehenden hundert Schritt von dem Schützen entfernten Mannes hinwegfliegt. Die Miniékugeln werden nicht gegossen, sondern gepreßt und zwar mit Hülfe einer sinnreich construirten Maschine, welche jetzt Tag und Nacht arbeitet und in kurzer Zeit eine ungeheure Menge solcher Kugeln liefern kann.
Der durch die Miniébüchse erreichte Hauptzweck ist offenbar große Tragweite, diese reicht aber nicht aus, um die Bedingungen zu erfüllen, welche man an eine gute Schußwaffe stellt, denn Sicherheit des Schusses ist eben so wichtig. Um diese Eigenschaft sicher herbeizuführen, müssen zunächst die Kräfte untersucht werden, welche die Kugel von dem ihr angewiesenen Wege abziehen. Denken wir uns eine Linie A D als den Lauf einer Büchse und A C als die Fortsetzung der Axe des Laufes oder die Linie, in welcher die Kugel sich bewegen würde, wenn blos die treibende Kraft des Pulvers darauf einwirkte. Flüchtige Beobachtung aber lehrt schon, daß sie sich in dieser Linie nicht bewegt, sondern eine Kurve (krumme Linie) unter derselben beschreibt. Früher glaubte man allgemein, die Kugel beschriebe eine richtige parabolische Kurve und die Atmosphäre setze ihrem Fluge nur wenig Widerstand entgegen; jetzt aber ist bewiesen, daß der Widerstand der Atmosphäre gegen Körper, die sich mit großer Geschwindigkeit bewegen, bedeutend ist, wornach sich jene Theorie als unhaltbar erweist. Während des Fluges der Kugel ist ihre Schwerkraft fortwährend thätig und zieht sie von der gedachten Linie A C abwärts und da die Wirkung der Schwerkraft auf einen Körper, derselbe möge nun senkrecht fallen oder in horizontaler Richtung aus einem Geschütz geschleudert werden, in einem gegebenen Zeitraume dieselbe ist, so kann man ihre Wirkung leicht bemessen. Ein Körper, den man senkrecht fallen läßt und der in der ersten Secunde sechzehn Fuß fällt, fällt in der zweiten vierundsechzig Fuß, in der dritten hundertvierundvierzig und so fort nach dem Verhältniß von 1, 4, 9 etc. Darnach läßt sich auch die beschriebene Kurve bemessen. Die Schwerkraft ist hier als einfache Kraft betrachtet, welche die Kugel von ihrem natürlichen Wege abzieht und da ihre Thätigkeit sowohl in Bezug auf Richtung als Quantität eine beständige ist, so läßt sie sich auch leicht berechnen und dadurch, daß man über den zu treffenden Gegenstand hinauszielt, ausgleichen.
Diese Theorie ist es, auf welcher die ganze Kunst des Schießens in der Hauptsache beruht und die auf Kriegsgeschosse angewendete Wissenschaft wird nach den Prinzipien bestimmt, welche sie der Praxis nach in sich schließt. Die französischen Chasseurs lieferten einen schlagenden Beweis von der Wahrheit der Theorie durch ihr Feuer bei der Belagerung von Bomarsund und haben die Büchse zu der vernichtendsten unter den kleinen Kriegswaffen gemacht.
Die elliptische Lancaster-Kanone, von welcher wir hier eine Abbildung beifügen, verspricht diese Theorie auf noch wirksamere Weise zu entwickeln und bildet gegenwärtig die gigantischste Anwendung des Schußwaffenprinzips.
Die Haupteigenthümlichkeit dieser Kanone besteht darin, daß die innere Fläche des Rohres glatt ist, anstatt wie bei allen gezogenen Läufen mit Einschnitten versehen zu sein. Statt dieser Einschnitte oder Züge hat man dem innern Raume des Rohrs die Form einer Ellipse gegeben, deren größere Axe die kleinere um einen halben Zoll übertrifft, indem die eine acht Zoll und die andere acht und einen halben Zoll mißt. Die Ellipse hat eine Drehung von ungefähr 1/2 auf die ganze Länge des Rohrs. Unsere Abbildung zeigt die genaue Form der Ellipse; der lange Durchmesser liegt bei Fig. A an der Kammer horizontal und an der Mündung senkrecht; bei Fig. B ist der Fall umgekehrt. Die Querdurchschnitte C und D zeigen dieselben Formen, während E die Gestalt der Kugel veranschaulicht, die zuweilen voll und zuweilen hohl ist und in beiden Fällen aus gegossenem Eisen besteht. Eins dieser gigantischen Geschütze, welches gegenwärtig bei der Belagerung von Sebastopol mit thätig ist, schleudert eine Kugel von fündundneunzig Pfund über zehntausend Fuß weit und legt auf siebentausend Fuß noch Bresche.
Als vor mehreren Jahren Oschibbeway-Indianer in London waren, versuchte man sie zum Christenthum zu bekehren, der Häuptling aber antwortete: „Als wir in dieses Land kamen, glaubten wir alle weißen Männer wären gut und mäßig, aber wir erkannten bald, daß wir uns irrten; wir meinten, der Glaube der Weißen mache alle zu redlichen Menschen, aber wir glauben es nicht mehr. Wir hören, daß Ihr Schwarzröcke zu den Indianern senden wollet, aber wir haben unter uns keine hungernden und frierenden Kinder, keine Trunkenbolde, Keine, die den großen Geist lästern. Wir meinen also, es wäre besser, wenn Euere Prediger [603] unter Euch blieben und in Euern Straßen thäten, was sie bei uns thun wollen.“
Der Indianer hatte wohl Recht und es fand sich auch ein menschenfreundlicher Mann, David Nasmyth, der zuerst vier Missionäre für London besoldete. Gleichgesinnte schlossen sich ihm an und so entstand eine Gesellschaft, welche jetzt zweihundert und fünf und vierzig Missionäre unter den „Heiden“ der Weltstadt beschäftiget und jährlich etwa 160,000 Thaler zu diesem Zwecke verausgabt.
Einer dieser Missionäre, der sich sechs Jahre lang seinem schweren Berufe gewidmet, Vanderkiste, hat eben ein Buch herausgegeben, in dem er erzählt, was er gesehen und erfahren, so weit er sich nicht scheute es vor die Öffentlichkeit zu bringen. Das Buch enthält vielleicht das Gräßlichste, was über den Menschen in Elend und Sünde geschrieben worden ist und man kann es nicht lesen ohne daß Einem eiskalter Schauer über den Rücken läuft.
Der Bezirk Vanderkiste’s, Clerkenwell ist einer der schmuzigsten in ganz London und von den 54,000 Einwohnern, d. h. Bettlern, Dieben, jüdischen Hehlern etc. befinden sich mindestens zwei Dritttheile in einem Zustande der Armuth, von dem wir keine Vorstellung haben. Es ist die Heimath des Schmuzes, der Unwissenheit und des Lasters und seine Gäßchen kennt nur der verkleidete Polizeimann und der aufopfernde Missionär, der, in abgeschabtem Rocke, um Mitternacht vielleicht, vor dem faulenden Stroh kniet, auf dem ein Verbrecher verscheidet. „Fast stets,“ sagt Vanderkiste, „wenn ich in einem Hause in der Nacht erschien, bedeckte sich mein Rock und mein Hut mit Regimentern von Wanzen und der Gestank war oft so arg, daß ich umkehren mußte.“ Alle, Diebe und ehrliche Bettler, gehen fast nackt, liegen auf Stroh und – verhungern endlich. „Eines Tages besuchte ich eine Familie und sah, daß der Hausvater, der lange nichts verdient hatte, an etwas Schwarzem kauete. Ich fragte ihn was es sei und nach langem Zögern gestand er, es sei ein Knochen, den er in einem Kehrichthaufen gefunden und der vorher im Feuer gelegen habe. Die ganze Familie hatte seit drei Tagen keinen Bissen gegessen. Wie es solchen Leuten zu Muthe ist, erklärte ein Zigeuner: am ersten Tage ist der Hunger nicht schwer zu ertragen, wenn man etwas Tabak zu kauen hat; am zweiten Tage wird es fürchterlich, die Zähne knirschen schauerlich; am dritten Tage ist es nicht sehr schmerzhaft mehr, man fühlt sich matt und erwartet jeden Augenblick ohnmächtig zu werden.“ Aber denkt man auch immer darüber nach, welcher außerordentliche moralische Muth bisweilen dazu gehört dem Laster und dem Verbrechen zu widerstehen? Vanderkiste lernte ein achtzehnjähriges Mädchen kennen, das verführt worden war und ein Kind hatte. Nur durch die angestrengteste Arbeit wurde es ihr möglich sich und das Kind zu erhalten, das sehr unruhig war und fast ihre ganze Zeit in Anspruch nahm. Sie mußte deshalb in der Nacht arbeiten, in der Kälte, bei leerem Magen, Hemden nähen und Schuhe einfassen. „Wenn ich das kleine Wesen ansah,“ erzählt sie, „und bedachte, in welcher Noth ich seinetwegen war, wandelte mich eine grauenhafte Lust an es zu tödten und ich konnte der Versuchung kaum widerstehen. Da träumte ich einst, ich habe das Kind umgebracht und es liege todt in dem kleinen Sarge. Ich empfand eine unbeschreibliche Angst und mir war als höre ich eine Stimme, die sagte: Du sollst nicht tödten! Als ich erwachte und sah, daß das Kind lebte, ach wie inbrünstig dankte ich Gott!“
Noch schwerer fast mag es sein, der Entmuthigung zu widerstehen und mitten in der tiefsten Armuth die Liebe zur Reinlichkeit zu bewahren. Die Geschichte eines armen Mannes, der nur ein Hemd hatte und dies immer rein erhielt, verdient deshalb Erwähnung. „Ich gehe in einen Winkel und ziehe mein Hemd aus; dann laufe ich in einer Straße an eine Stelle, wo warmes Wasser von einer Dampfmaschine herausläuft. Hier wasche ich mein Hemd und gehe damit eine halbe Stunde weit zu den Kalköfen, wo ich es trockene. Dann ziehe ich es wieder an und fühle mich wie neugestärkt.“
Sollen wir den Lesern eine Familie schildern, die unser Missionär kannte? „Die beiden C. waren seit langer Zeit Diebe, die Mutter immer betrunken und der Vater ausschweifend. Die Mutter starb plötzlich an der Cholera; der Vater stand im 60. Jahre. Eine Verwandte, ein Mädchen von 19 Jahren, pflegte die Frau in der Krankheit und am Tage nach deren Tode stellte sie sich als „die neue Frau“ vor. So schlecht die Söhne waren, protestirten sie doch gegen diese Mißachtung ihrer Mutter und wurden deshalb von dem Vater aus dem Hause gejagt. Dieser zog mit seiner „neuen Frau“ aus, die nach etwa acht Tagen die Stube ausräumte und mit einem andern Manne durchging. Als der Alte nach Hause kam, erkannte er, „daß der Weg der Sünder ein gar beschwerlicher sei.“ Er ging in das Haus, in dem seine erste Frau gestorben war und erhing sich da in einem Schuppen, der so niedrig war, daß der alte Mann die Beine hatte hinaufziehen müssen, um seinen Vorsatz auszuführen.“
Vor einigen Jahren hielten tausend Weiber, deren Anzug aus weniger als Lumpen bestand, eine Versammlung. Fünf von ihnen hatten in der letzten Woche 6 Schilling (2 Thaler) verdient, das Höchste, 96 hatten es bis zu 1 Schilling gebracht, 100 auf 1/2 Schilling u. s. w.; 233 hatten gar nichts verdienen können.
Die Missionäre haben die Aufgabe, unter diesen Leuten Christenthum zu predigen. Kommen sie zu Katholiken – Irländern namentlich – so überzeugen sie sich, daß diese, so liederlich und verbrecherisch sie auch sein mögen, fast nie versäumen das Zeichen des Kreuzes zu machen, bisweilen zu beten oder eine Kapelle zu besuchen, während die Protestanten, sobald sie unehrlich geworden sind, auch jedes äußere Zeichen ihres Glaubens vergessen und vollständig zu Heiden werden. Oft bekommen die Missionäre von betrunkenen Irländern Schläge oder werden die Treppen hinunterworfen. Einer starb an den Folgen. – Sie scheinen indeß einen großen Theil der Schuld selbst zu tragen, weil sie sich stets bemühen, aus diesen sogenannten Katholiken – Protestanten zu machen!
Die Unwissenheit in Glaubenssachen unter diesen „Wilden“ ist grenzenlos und Vanderkiste erzählt viele Beispiele. Sehr viele, die Meisten haben in ihrem Leben von Jesus nichts gehört. Eine Frau glaubte, die Taufe sei eingeführt, weil die Kinder besser gediehen, wenn sie getauft wären. Einer wußte sich viel mit seinen Kenntnissen und nannte Jesus „den Vater des lieben Gottes.“ „Bekennen Sie, daß Sie ein Sünder sind?“ fragte Vanderkiste einen alten Dieb, mit dem er lange gesprochen hatte. „Sünder sind wir doch alle,“ antwortete der Mann. „Was ist ein Sünder?“– „Ja sehen Sie, ich bin dumm immer gewesen; ich kann’s Ihnen nicht sagen.“
Einige, denen der Missionär aus der Bibel vorlas, nahmen alles was sie hörten buchstäblich und wagten nichts zu deuten, weil es in der Bibel stand; noch zahlreicher aber waren die Freigeister, die bei allem, was ihnen die Missionäre vorsprachen, pfiffig blinzelten und zu verstehen gaben, auch wohl es gerade heraus sagten: sie ließen sich nichts weis machen; sie kennten die List der Geistlichen schon; ihnen dürfe man so nicht kommen.
Das Entsetzlichste unter diesen unwissenden, armen, verbrecherischen Menschen ist die Trunksucht. Die Unwissenheit läßt sich bannen und sie kehrt dann nicht wieder, aber die Trunksucht scheint unausrottbar zu sein. Vanderkiste gesteht, daß ihm da keine Bekehrung ganz gelungen sei und erzählt Beispiele von schrecklichen Rückfällen. Ein Ehepaar, das viele Jahre dem Trunke ergeben gewesen war, ließ sich bekehren und sehr bald trat in Folge davon eine Besserung in der Lage der Leute ein. Es vergingen einige Jahre und man hielt sie für gänzlich bekehrt. Da wandelte sie eines Tages die Versuchung an, die stärker war als ihr Muth. Sie fingen wieder an zu trinken, erst mäßig, aber bald ganz wie sonst. Sie verkauften und versetzten, was sie hatten und die Armuth kehrte zurück. Sie waren nun aber schlimmer daran als früher, denn sie hatten auch die Reue zu tragen und sie machten einander Vorwürfe über ihre neue Noth. Ein Mann, der unter ihnen wohnte, hörte eines Morgens großen Lärm oben; er ging hinauf und sah, daß die Frau aus Verzweiflung sich gehenkt hatte.
Auch eine Frau, eine Riesin, eine Amazone in Lumpen, die den ganzen Tag betrunken war, dann mit dem Besen in der Hand in ihrem Gäßchen umherging und mit Jedem und Jeder Prügelei anfing, ließ sich durch Vanderkiste bekehren. Sie wurde sogar Predigerin der Mäßigkeit. Nach einigen Jahren traf sie der Missionär wieder, blutig geschlagen, besinnungslos betrunken, in der Gosse liegend.
Vanderkiste gesteht offen, daß alle seine und seiner Eollegen Bestrebungen bisher – nutzlos gewesen sind und zwischen den Zeilen seines Buches liest man, daß sie vielleicht mehr gewirkt haben würden, wenn sie – Zwang hätten ausüben können.
[604]Spanisches. Espartero wird also seinen Ministerposten aufgeben und in’s Privatleben zurückkehren. Was wird aus Spanien werden, wenn dieser ehrliche Mann nicht mehr an der Spitze der Regierung steht? – Das etwa 140 geographische Meilen lange und 120 breite Land ist in seinem Boden und Klima das herrlichste in ganz Europa, in seiner Geschichte, seinen historischen und Kulturdenkmälern der alten römischen, gothischen, maurischen und romantisch-mittelalterlichen Zeit eins der unerschöpflichsten, in seinen Naturbildungen mit ungeheueren Gebirgszügen gleich nach der Schweiz das erhabenste, mit seinen milden Wäldern von Süd- und gar tropischen Früchten und Blumen, seinen ganzen Gebirgen von Marmor und Alabaster (177 Arten allein in Catalonien), seinem grünen und fleischfarbigen Marmor von Granada, seinen durch Faulheit, Ritterlichkeit und Möncherei verschuldeten Quecksilber-, Röthel-, Silber- und Goldminen, seiner Sonne, welche die feurigsten Weine kocht und Palmen, Aloen, Zuckerrohr und Baumwollenbäume und die balsamischen Fruchtöle ohne des Menschen Zuthun cultivirt und selbst in seiner Luft, welche durch bloßes Einathmen unzählige Leiden der Menschheit heilt, das von Natur himmlische Land. Aber die Inquisition, das Gold, die Ritterlichkeit, die Möncherei, die Ketzerverbrennung, die Bourbonen und die alte englische Politik für dieselben waren zusammen doch stark genug, dieses Paradies Europa’s und dessen alte Kultur materiell und moralisch zu verwüsten und die 40 Millionen Bewohner unter der Römerzeit trotz allen gesegneten Nachwuchses zu 12 Millionen herabzubringen. Und unter diesen 12 Millionen sind gegen 400,000 Mönche und Nonnen, 600,000 Adelige und nur 300,000 Dienstboten, so daß sich mindestens 300,000 Aristokraten ihre Stiefeln, die sie etwa haben, selbst wichsen müssen, wenn sie sich Wichse und Bürsten dazu kaufen können. Manche müssen sich die Rittersporen an den baaren Fuß schnallen und dann fehlt Rocinante immer noch.
Jetzt liegt das halbe Land wüst, und wo nach einer ökonomischen Berechnung 80 Millionen Menschen glücklich leben und reich werden könnten, sind jetzt von 12 Millionen die Hälfte Bettler. Die Oliven Südspaniens sind zweimal so groß, als die, aus welchen das Provenceöl gepreßt wird; die Weine von Alicante, Xeres und Malaga wärmen wie flüssig gewordene Sonnenstrahlen und die in alle Welt versandten Trauben erquicken manches kranke Menschenherz; die spanische Wolle ist durch keine Zucht und Kultur an Zartheit zu erreichen, Wälder von Palmen bieten sich ohne Wüste, Zuckerplantagen ohne schwarze Sklaverei, aber alle diese Segnungen der Natur, des himmlischen Klima’s und der balsamischsten Luft können die Wunden nicht heilen, welche dem durch politische Kunststücke und Gewaltthaten entarteten und entwürdigten Lande und von Natur edeln und würdigen Volke geschlagen wurden. Nur wenn es Espartero gelungen, den englischen Geist der Municipalfreiheit, der Selbstbeherrschung und Selbstverwaltung in das soldatisch und mönchisch verzogene Volk zu pflanzen und zu acclimatisiren, hätte der pyrenäischen Halbinsel noch eine Zukunft in der Kulturgeschichte erblühen können.
Die verkannten Geologen. Der Geolog ist, wenn er draußen in der Natur seinem Berufe nachgeht, nach seinem Tagwerke in der Regel viel zu müde, als daß er sich weiter um die äußere oder innere Erscheinung des Gasthauses kümmern sollte, in welchem er von seinen Anstrengungen ausruht und überdies geräth auch bei dem Herumklettern über Berg und Thal sein äußerer Mensch in einen so unsaubern Zustand, daß ein großes Hotel Bedenken tragen würde, ihn aufzunehmen. Humboldt’s Freund, der geniale und mit Glücksgütern reich gesegnete Leopold von Buch, kehrte einmal auf einem seiner Ausflüge in den schlesischen Gebirgen, nachdem er sich den ganzen Morgen rechtschaffen abgemühet, in einer Dorfschenke ein und verlangte hier Brot, Käse und Bier. Als er fragte, was er zu bezahlen habe, verlangte die Wirthin so wenig, daß er nicht umhin konnte, ihr seine Verwunderung darüber zu erkennen zu geben. „Ja freilich,“ sagte sie, „ein Anderer müßte noch einmal so viel bezahlen, aber Euch sieht man’s an, daß Ihr nichts übrig habt und die Armuth muß man nicht drücken.“
Ein andermal, als er nicht weit von einem Spazierwege an einem Felsen herumhämmerte, blieb eine vorübergehende Dame, welche ihn für einen gewöhnlichen Steinbrecher hielt, bei ihm stehen, ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein und wollte ihn, „weil er so hübsch auf Alles zu antworten wüßte,“ beim Fortgehen einen Silbergroschen schenken. Sie erstaunte natürlich nicht wenig, als sie ihn den nächstfolgenden Tag auf dem nahegelegenen Schlosse des Grafen von H. bei der Mittagstafel traf.
Professor Sedgwick, ein ebenfalls sehr wohl bekannter Geolog, ward einmal, während er seinem Berufe nachging, für einen entsprungenen Wahnsinnigen gehalten und mit Gewalt bis in die nächste Stadt geschleppt. Ein andermal benutzte er, nachdem er sich mit der Ausbeute einen besonders glücklichen Tages die Taschen gefüllt, zur Heimfahrt einen bereits mit vielen Passagieren besetzten Personenwagen und schlief ermüdet von vielen Strapatzen unterwegs ein. Als er am Ziele der Reise angelangt, aufwachte, fand er zu seinem Entsetzen seine Taschen vollständig ausgeleert. Eine alte Frau nämlich, die neben ihm gesessen und bemerkt, daß er alle Taschen voll Steine gepackt, hatte ihn abermals für einen Wahnsinnigen gehalten, der sich auf diese Weise beschwert, um sich desto sicherer zu ersäufen. Und deshalb hatte sie aus reiner Menschenliebe dem schlafenden Naturforscher einen Stein nach dem andern aus den Taschen stipitzt und hinaus auf die Straße geworfen!
Was der Krieg kostet. Man gebe mir, sagt ein Freund den Friedens, das Geld, welches seit Anbeginn zu Kriegszwecken verwendet worden und ich will damit jeden Fuß breit Land auf dem ganzen Erdball kaufen. Ich kleide dafür jeden Mann, jedes Weib und jedes Kind in ein Gewand, auf welches Könige und Fürsten stolz sein würden. Ich baue dafür eine Schule an jedem Bergesabhange und in jedem Thale auf der ganzen bewohnbaren Erde. Ich baue dafür eine Universität in jeder Stadt und gebe ihr die Mittel zu ihrem Unterhalt. Ich kröne jeden Hügel mit einer Kirche, welche der Ausbreitung des Friedens gewidmet ist, so daß an jedem Sabbathmorgen der Glockenklang auf einem Hügel dem Glockenklang auf dem andern rund um die ganze Erde antworten und Lob, Preis und Dank wie ein allgemeines Brandopfer gen Himmel steigen sollen.
Gedächtnißstärke. In Virginien lebte ein Negersklave, Fuller mit Namen, der es im Rechnen so weit gebracht hatte, daß, als man ihn fragte, wie viel Sekunden in anderthalb Jahren enthalten seien, er nach zwei Minuten antwortete: 47,304,000, auf eine zweite Frage, wie viel Sekunden Jemand gelebt habe, der 70 Jahre, 17 Tage und 12 Stunden alt geworden sei, antwortete er in anderthalb Minuten: 2,210,500,800 und da Jemand, der mit der Feder die Aufgabe nachgerechnet hatte, ihn eines Irrthums beschuldigte, ergab es sich bald, daß der Nachrechner die Schalttage versehen hatte. – Dieser Mann konnte Anfangs nur bis 10 zählen und ließ sich sehr viel bedünken, als er bin 100 zählen konnte. Er zählte die Haare in einem Kuhschwanz, deren er 1872 fand; dann die Körner in einem Scheffel Waizen, und so kam er im Zählen und Rechnen immer weiter.
Literarisches. Die nahende Weihnachtszeit hat zwar viele gar bunt und brillant gebundene Bücher gebracht, literarisch-wichtige Neuigkeiten sind indeß wenig angekommen. Des Grafen Strachwitz Lieder eines Erwachenden sind in fünfter Auflage erschienen, brillant ausgestattet, mit Illustrationen von Koska, die indeß nicht viel sagen wollen. Arnold Schloenbach giebt unter dem Titel: Weltseele eine Sammlung Dichtungen aus dem Naturleben, die er den Naturforschern widmet. Von demselben Autor erschienen zugleich zwei Bände Erzählungen und Novellen. Baron Klesheim, bekannt durch seine Vorträge in österreichisch-tyroler Dialekt, veröffentlicht unter dem Titel Von der Wartburg, eine Taubenpost in Liedern, ein kleines Bändchen Gedichte in österreichischer Mundart und widmet diese dem Großherzog von Weimar mit den Worten:
Und bist Du ihnen gut, wann sie
Sich Dir zu Füß’n legn
Da kann’s ihnen an Glück nit fehln,
Da habn’s den best’n Seegn.
hoffentlich wirft aber diese Zufüßenlegerei keinen Falkenorden ab. Von Gutzkow haben wir in den nächsten Tagen einen einbändigen Roman: Die Diakonissin, zu erwarten und von demselben Autor eine vollständig umgearbeitete zweite Ausgabe seiner Tragödie: Nero.
für alle Diejenigen, welche noch Freude an gesunder, kräftiger und wahrer Poesie haben, empfehle ich die
In fast allen deutschen Organen, welche eine kritische Stimme haben, sind diese Gedichte mit eben so großer Freude begrüßt wie mit ungetheilter Anerkennung und Achtung besprochen worden. Storch zählt seitdem mit unter die besten Lyriker der Neuzeit. – Die prachtvolle Ausstellung macht das Buch auch äußerlich zu einem sehr werthvollen Geschenk.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: micht