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Die Gartenlaube (1854)/Heft 47

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 47. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Die Stedinger.
(Schluß.)
VII.
'Im Kerker.

Es war das unterste, das schauerlichste Verließ der Burg, darin der Junker lag; gefesselt an Leib, Arm und Bein; es war kalt und feucht und modrig; im trüben Schein einer Ampel sah er das gelbe Moos an den Wänden gespensterhaft glitzern und leuchten, in der grausigsten Stille hörte er die Tropfen von den feuchten Wänden niederfallen, vielleicht auf Knochen von Menschen, die hier ihren Tod gefunden; und wirklich, – jetzt entsann er sich, – es war eine blutige Erinnerung: als Knabe war er hier gewesen; man hatte ihm gezeigt: „hier hat einer Deiner Ahnen seinen Todtfeind verhungern lassen, der rannte im Hungerschmerz sein Haupt gegen die Mauer, da ist noch das verspritzte Hirn und Blut an der Mauer zu sehen, keine Uebertünchung haftet auf dem Fleck; immer fällt es wieder ab das Weiß, und immer wieder starrt der rothe Fleck.“ – Das war die blutige Erinnerung und jetzt war es ihm, als starre der fürchterliche Fleck ihn an, als grinse daraus das Antlitz des Gemordeten hervor, als träte er zu ihm hin, fasse ihn an, – fürchterlich, fürchterlich, – und er mußte schreien, daß es wiederklang vom Gewölbe. So lag er da, der Arme. Und dann dachte er an Elsbeth, und an die süße Stunde, wo der Schlag ihres Busens ihn durchglüht hatte; – und wie sie nun hoffen und harren und bangen würde, während der Geliebte wund von Ketten, klappernd vor Frost auf faulem Strohe verzweifele, – verflucht von der Kirche, verflucht von seinem zweiten Vater. Er wollte beten, – aber er konnte nicht. Das Vaterunser verwirrte sich in seinem Munde, es war ihm, als ob der lange, hagere, schwarze Kerkermeister mit den fürchterlichen Augen herankäme, ihm den Mund zuhielt und spräche: „Verfluchter, Du darfst nicht beten.“– Und keine Aussicht, keine Hoffnung auf Erlösung! – O, sterben wollte er! Sterben – dies war ihm Nichts, – Nichts, in diesem fürchterlichen Kerker. Nur noch einmal, den blauen Himmel sehen, frische Luft athmen, ein Menschenantlitz sehen, – – horch, da durch die Nacht, durch Moder und Qualen ein Laut, – ein fernes Klirren, – Tritte auf den Stufen, – im Schlosse ein Schlüssel, – ist es Tod, – ist es Leben, – sei was es sei, nur einen Odemzug[WS 1] Luft, und den Ton eines Menschen, – der Kerkermeister leuchtete mit einer Fackel voran.

Der Erzbischof trat ein. Furchtbar erschüttert schaute er sich um und auf den blassen, verstörten Jüngling, der die gefesselten Arme ihm entgegenstreckte und ausrief:

„Gelobt sei Gott! – O, heiliger Mann, Ihr bringt mir Rettung. Ihr könnt nicht Tod bringen.“

Der Erzbischof wollte segnend seine Hände auf des Junkers Haupt legen, dann besann er sich und ließ die feuchten Auges langsam niedersinken.

Der Kerkermeister entfernte sich.

Starren Blickes schaute der Junker den ernsten Mann an und der sprach: „Niemand kann Dich retten, als Du selbst!“

„Wodurch, heiliger Vater?“

„Durch eine That, die Manneskraft erfordert, schon sie zu denken: Entsage Deiner Liebe.“

„Nimmermehr!“

„Ich fürchtete diese Antwort und darum war ich so still und traurig. O Georg, Georg, mein geliebter Schüler; Du brichst mir das Herz, Du brichst mir’s durch Deine – Schwachheit!“

„Durch meine Stärke, Vater. Es wäre Schwachheit meiner Liebe zu entsagen.“

„Thörichter Knabe?“ rief der Erzbischof aus, mit Thränen im Auge und schönem Zorn auf den Wangen. Und nun erzählte er die Geschichte seiner Jugend, die Entsagung seiner Liebe in hohen, herrlichen, klangvollen Worten, die des Junkers Brust mächtig bewegten. Nun legte er ihm des Menschen Herz und des Menschen Hochmuth und die Gewalt des Willens in tiefer Weisheit dar und der Junker wagte nicht aufzuschauen in das Antlitz des weisen Mannes und doch klopfte auch sein Herz schon höher bei dem Gedanken: seiner Liebe, seinem Glücke zu entsagen und ein neues Leben mit neuen Thaten zu beginnen.

„Doch Sie, – Sie! Was wird aus Elsbeth?!“ so schrie er nun auf einmal auf.

„Rette Dich, um sie selbst retten zu können. Bleibst Du starr, so sind die Stedinger verloren, so wahr mir Gott helfe. Verloren schon um Deinetwillen und Dein Mädchen: sie vor Allen wird verfolgt werden mit fürchterlicher Grausamkeit.“

„Um meinetwillen! – O Vater, Vater! Haltet ein! Oder zeigt mir, daß ich sie retten kann, wenn ich sie verlasse.“

„Ich sinne dazu schon auf einen Plan; tritt herüber zu mir und meiner Waffe, wir retten sie und mit ihr viele Schuldlose.“

„O warum sagtet Ihr das nicht gleich, mein Vater?! Wie könnte ich nun noch zaudern! Sagt mir: was muß ich thun?“

„In wenigen Augenblicken wird Konrad von Marpurg sich hier einfinden zum Urtheilsspruch; dann gelobst Du, ewig zu entsagen, dies Gelöbniß wird Dir Deine Ketten sprengen. Nun?“

[562] „Da meine Hand, heiliger Vater! Nur bleibt mir nahe, daß ich standhaft das Todesurtheil meines Herzens sprechen kann.“

Der Erzbischof drückte den Jüngling an sein Herz, der eng seine Arme und Ketten um ihn schlang. In freudigem Schmerz und schmerzlicher Freude klopften da ein junges und ein altes Herz zusammen, bis Waffen klirrten und Tritte klangen und Konrad von Marpurg mit Burkhardt von Oldenburg eintraten, Gewaffnete und Fackelträger stellten sich am Eingang auf.

„Gerettet! Gerettet!“ rief der Erzbischof, der Beiden entgegen trat.

„Ist’s wahr?! Georg, mein Sohn! Mein wiedergeborener Sohn!“ rief der Graf und wollte hin zum Geliebten und ihn umarmen. Der Ketzermeister aber trat mit den Worten dazwischen: „Noch ist er in Bann.“ Dann wendete er sich zum Erzbischof mit forschendem Blicke: „Die Kraft des Herrn ist groß in Euch gewesen, Erzbischof; fast däucht’s ein Wunder.“ Nun trat er zum Junker, der halb sein Knie beugte und fragte ihn: „Kannst Du aussagen mit feierlichem Eide, daß Du bereuest, was Du gegen den Stellvertreter der heiligen Inquisition gethan, gesagt und gedacht hast?“

„Ja!“ preßte der Junker wie gefoltert heraus.

„Daß Du lösest Dein Verlöbniß mit Deiner von Dir so geheißenen Braut aus dem Stedingerlande?“

„Ja!“ erscholl es, wie aus dem Grabe.

„Daß Du das Kreuz zum Zuge gegen Steding nehmen willst, als Bürgschaft Deiner Glaubenstreue?“

Der Jüngling zuckte zusammen, warf einen verzweiflungsvollen Blick auf den Erzbischof. Der winkte strenge und zugleich milde und ein fast wimmerndes „Ja!“ entrang sich dem Munde des Junkers.

„Beschwöre dies Alles bei der heiligen Dreifaltigkeit!“

„Ich schwöre!“

„So hebe ich aus freier Gnade auf das Urtheil des Bannes über Dich, löse diese Ketten und spreche Dich los von jeder Buße.“

„Und ich schlage Dich hier zum freien Ritter!“ rief der Graf; „der Junker Georg von Oldenburg sollte das Tageslicht nicht wieder sehen; der Ritter soll es stolz begrüßen. Kniee nieder.“

Dem Junker waren währenddem die Ketten abgenommen; er brach fast zusammen unter der neuen Freiheit, er konnte nur leise vor sich hinmurmeln: „Der Ritterschlag an diesem Orte! – O, ein böses Omen!“ Dann kniete er vor dem Grafen nieder. Konrad und der Erzbischof legten die Hände auf sein Haupt, während der Graf ihm mit der flachen Klinge auf die Schulter schlug, sprechend:

„Zu Gottes und Maria Ehr’,
Empfange diesen und keinen mehr!
Für Kirche und Reich stark kämpfen.
Die bösen Lüste dämpfen! – Amen!“

„Amen!“ beteten nun auch der Erzbischof und Konrad. – „Amen!“ beteten die Gewaffneten und Fackelträger. Das gab ein seltsames Summen in dem öden, schauerlichen Raume! – dann tiefe Pause. Der Ritter stand auf, und geführt vom Erzbischof, folgte er still den stillen Männern hinauf an’s Tageslicht, an die Freiheit. Doch Freiheit und Tageslicht, – sie waren ihm im ersten Augenblicke schauerlicher, als die Entsetzen des Kerkers ihm gewesen waren.



VIII.
Ritter und Bauer.

Drei Wochen waren vergangen. In Oldenburg summte und brummte es sonderbar; durch alle Thore zogen Gewaffnete, geistliche Lieder singend, ernst und düster einherschreitend; die Bevölkerung sah sie ernst und düster an; schwarze und rothe Fahnen flatterten unheimlich durch die Straßen; unheimlich war die Luft, drückend heiß wie beim Moorbrand. Ein junger Bauer schritt über den Marktplatz, dem Schlosse zu; hastig, unruhig sich umschauend und dabei murmelnd: „Sind denn die Heiden in’s Land gefallen, daß es einen Kreuzzug gilt? – Und nirgend ein bekanntes Gesicht, das in dem Getümmel der großen Stadt Einen zurechtweise.“ Das Gesicht des jungen Bauers sah gespensterhaft weiß und bleich aus, wie von grausigen Leidenschaften durchschnitten und zerrissen; die Augen funkelten wie Dolchspitzen und die rabenschwarzen Haare hingen ihm wirr um den Kopf. – Noch schaute er sich fragend um, da hörte er von wohlbekannter, aber ängstlicher Stimme und halblaut seinen Namen rufen: „Kurt vom Bühel, um Gotteswillen wo kommst Du her?“

„Ach, ehrwürdiger Herr Pater Hieronymus, fast freut’s mich, Euch zu sehen, aber warum so bange? – So – ich weiß nicht wie?“

„Weißt Du’s denn noch nicht? Du bist ein Kind des Todes, wenn man Dich erkennt, – komm rasch hieher“ und der Pater zog den Bauer unter ein altes Gemäuer, wo sie vor Wenigen sichtbar waren. Nun erzählte er ihm rasch, daß Steding vogelfrei gegeben sei; daß in wenigen Tagen, vielleicht schon Morgen, ein Kreuzzug unermeßlicher Macht gegen sie losziehen werde.

Kurt erstarrte; „also wir sind die Heiden, nach denen ich vorhin fragte?! Uns also gelten alle die Männer, Fahnen und Lieder, – uns, – den guten, treuen Christen?!“ dies war Alles. Was er sagen konnte. Er sah einen Augenblick trübe vor sich nieder, dann den Pater forschend an und fragte: „Und Ihr, hochgelahrter Herr? Und Ihr? – Werdet denn auch Ihr das Kreuz tragen gegen uns? Gegen Eure Brüder?“

„Niemals! Niemals! – und vielleicht ist das mein Verderben,“ antwortete der Pater.

„Ihr habt uns verl– – doch davon nichts mehr; kommt wieder zu uns, Pater. Ihr werdet so lange in der Mitte stehen, bis Ihr platt gedrückt werdet; rettet Euch zeitig aus dieser Mitte heraus, kommt mit mir.“ So sprach Kurt und faßte die willige Hand des gerührten Paters.

„Rette Du Dich selbst, Kurt;“ sprach derselbe jetzt dringend.

„Eile zurück wie der Wind, sonst bist Du verloren.“

„Erst muß ich meine Botschaft werben und sollten mich darüber tausend Henker fassen. – Wo find’ ich ihn? – Ihr wißt ja doch schon, wen ich meine.“ Er sah aus wie eine Gewitterwolke, der Kurt, als er das sagte.

Der Pater verstand ihn und antwortete schüchtern: „Sie haben ihm arg mitgespielt, fürchterlich; da gab er nach; nun ist er elend geworden, ganz elend und zerschlagen. Manchmal ist er wild und trotzig.“

„Ich auch!“ knirrschte Kurt; „doch führt mich zu ihm; ich muß ihn sehen.“

„So folge mir durch dieses Gäßchen; ich führe Dich auf geheimem Weg auf’s Schloß; dort steht er oft auf der Rampe und schaut in’s Land. Ich glaube hinaus nach Steding.“

„Daß darf er nicht mehr, der Verräther,“ sprach Klaus mit bebender Stimme und beide stiegen schweigend hinauf auf’s Schloß.

Der Ritter stand oben; der Pater blieb zurück, – Kurt trat festen Schrittes vor Georg hin. Georg wurde noch bleicher als er schon war; er schlug die matten Augen nieder; dann sah er mit schmerzlichem Blicke den Bauer an. Dieser begann ruhig: „Herr Junker! An dem Abend, da das Mädchen, was ich mehr als meine Seligkeit liebte, Euch als verlobte Braut küßte, mich dann bei der Hand nahm, mich zu Euch führte und sagte: „„Kurt! Habe ihn lieb, meinetwegen, denn er macht mich so glücklich, wie nur ein Erdenkind sein kann,““ seht, da glaubte ich erst, der Boden müßte sich unter mir aufthun und mich verschlingen, Euch und auch das Mädchen. Dann aber faßte ich den Teufel in mir beim Hals und warf ihn zu Boden und trat auf ihn und dann – dann liebte ich Euch; – Gott sei mein Zeuge, – ich that’s, – weil Ihr sie so glücklich machtet. Und dann hielten wir Waffen- und Todesbruderschaft und duzten uns, – und ich will ewig in der Hölle lodern, wenn ich’s nicht gehalten hätte. Und Ihr schwuret auch mir: Ihr wolltet treu hangen an dem Mädchen, allewiglich. Nun sagt mir, Herr Junker, was habt Ihr darauf zu sagen?“ Kurt vom Bühel hatte noch nie so viel hintereinander gesprochen; noch nie so ruhig, so gemessen gesprochen und doch noch nie so gelitten, so grimmig gehaßt als jetzt.

Georg schwankte vor Schmerz wie eine junge Eiche im Sturm.

„O armer Kurt! Armer Genosse! O sag: wie geht es ihr?“

„Sie ist sehr blaß, sehr schwach geworden. Möchte Euch jetzt wohl nicht mehr gefallen. Sie ist weich und still wie eine Märtyrerin. O sie ist noch viel schöner so als ehedem. Und sie hofft auch noch. Ein liebend Herz hofft ja noch über die Hoffnung hinaus; das weiß ich an mir. Aber nun will sie Gewißheit haben. Vielleicht, so sagte sie beim Abschied – und nannte mich dabei lieber Kurt – vielleicht halten sie ihn fest, daß er [563] nicht kommen kann; vielleicht liegt er im Thurme. Geh zu ihm, sagte sie, frag ihn von mir; beschwör ihn bei jedem Kuß und jedem meiner treuen Augen: Ist’s Euer freier Wille, daß Ihr nicht kamet und Euer Mädchen verrathet? So sagte sie, so sollt ich fragen. Und Ihr schweigt Junker? Windet Euch nicht; sprecht ein einfaches Ja oder Nein. Und ist’s ein Ja, nun, um des Mädchens willen will ich’s denn schon einfädeln und verkrümeln, daß es ihr nicht gleich den Tod giebt, wenn auch ich Euch verabscheuen werde. Nun sprecht.“

„So sei’s denn ein starkes, ehrliches „Ja!“ sprach der Ritter, mit ernstem und festem Ton. Dann fuhr er milder fort: „Aber sage ihr auch, daß ich sie noch liebe, liebe bis über die Ewigkeit hinaus; daß mein Herz ihr noch angehört, aber daß die Pflicht – und daß ich sie retten will, retten! Sie und Dich und wen ich kann; sag’s ihr Kurt – sag’s ihr.“

„Ich werde. Aber nun ein Wort zu Euch. Euer Herz ist so faul wie Euere Pflicht. Ich hasse, ich verachte Euch. Und bei Euerm Schwur, den Ihr mir als Waffenbruder gegeben: versprecht mir einen Einzeln-Kampf mit Euch auf dem Schlachtfeld. Ich werde Euch suchen, finden und müßt’ ich durch tausend Söldlinge mich hindurchschlagen. Versprecht Ihr mir’s?“

„Ich verspreche es Dir, doch erst will ich sie retten.“

„Ihr habt sie aufgegeben, Ihr habt kein Recht mehr an ihr; nun ist sie mein und Du sollst, Du darfst sie nicht retten. Das ist mein Amt – und nun –“

In diesem Augenblicke hörte man von ferne ein furchtbares Geschrei, wie von Wahnsinnigen herrührend: „Nieder, nieder mit dem Ketzer! – Gott will es! – Wo ist er?!“ So scholl es grell zur Burg hinauf; hastig stürzte der Knappe Georg’s hervor: „Rettet Euch, Pater! Auf offenem Platze seid Ihr so eben verurtheilt, als Ketzer und Ketzerfreund. Heute Abend sollt Ihr verbrannt werden, man kommt Euch zu suchen.“

Der Pater sah entsetzt sich um.

„Ich verberge Euch, Pater,“ sprach Georg, „rasch in mein Gemach.“

„Die Burg wird durchsucht,“ mahnte Ehrenfried ab; „kein Winkel in Oldenburg verbirgt Euch.“

„Eure Heimath bleibt Euch treu,“ sagte jetzt Kurt, indem er zum Pater herantrat und seine Hand erfaßte, „folgt und vertrauet mir. Ich kenne manche Schliche hier, draußen vor dem Thore stehen meine schwarzen Rappen und sind die erst im Zuge, holt uns kein Teufel mehr ein. Rasch die Kutte herunter; – Knappe, rasch einen Mantel.“

In wenigen Augenblicken war das geschehen. Der Pater faßte die Hand des Bauern und sprach mit tief erschütterter Stimme: „Furchtbares Jahrhundert! Adel und Kirche stößt aus den Gerechten in düsterer Verblendung, nur des Volkes Herz wankt nicht in Liebe und Treue. Gott! Laß dieses Herz nicht brechen.“

Nun davon durch krumme, steile, dunkle Treppen, Gänge und Wege, hinaus zum Thore, da standen die muthigen Rappen vor sicherem Wagen – rasch hinauf und wie im Sturmwind davon, während die heulende Menge der fanatischen Kreuzträger nach dem Geächteten suchte und der Ritter todesbleich auf der Rampe stehen blieb und hinaus schaute zum Stedingerlande.



IX.
Der Kreuzfahrer Weihe.

Während der Bauer und der Pater nach Steding sausten, zogen sich die Haufen der Kreuzfahrer auf dem Markte wieder zusammen. Das rothe Kreuz sollte ausgetheilt werden und der Ketzermeister sollte zum Volke sprechen: so war es herumgegangen. Es war ein ungeheueres Drängen und Wogen von Völkern aus allen Theilen des Reiches; wüste, wilde, verzottelte Gesichter und Kleider vom Rhein und der Elbe, vom Harz und aus Thüringen, aus Westphalen und gar von der Donau und aus Böhmen, darunter eiserne und fanatische Kriegerreihen in Diensten deutscher Herzoge und Fürsten. Und diese selbst kamen nun heran, blinkend in Gold, Stahl und Eisen. Ihnen voran Konrad von Marpurg und dienende Brüder, die Tausende von rothen Kreuzen trugen. Ueber die brausende Menge ging tiefes Schweigen, als Konrad, die Rednerbühne bestieg, feierlich ein Pergament entfaltete und mit weithin dröhnender Stimme also las:

„Wir Gregor IX. römischer Papst, Knecht der Knechte, fordern auf zu streiten auf Leben und Tod mit den verdammten Ketzern, genannt die Stedinger. Denn sie haben mit dem Gifte ihrer Ketzerei viele Unschuldige gemordet. Wer mag ihre Gräuel aufdecken! Höret aber und schauert: Wenn ein Neuling von ihnen aufgenommen wird, erscheint ihm ein Frosch, ihn küssen sie und saugen in sich sein kaltes Gift. Er ist groß, mächtig, giftgeschwollen, einem Ofen vergleichbar.“ Ein wildes Geheul des Volkes unterbrach den Vorleser; er hielt einige Augenblicke ein, dann fuhr er fort: „Nun erscheint dem Neuling ein Mann, furchtbar bleich, glühende Kohlen statt Augen, mager, ohne Fleisch, nur Haut und Gebein, ihn küßt der Elende und mit diesem Kusse verschwindet aus seinem Herzen ganz und gar die Erinnerung an Gott und seine Kirche.“

Das Geheul des Volkes ertönte fürchterlicher. Dann fuhr der Ketzermeister fort, immer neue Gräuel aufzählend, bis das Geheul des Volkes anwuchs zu Meeresbrandung und Nordsturm. Ein Wink des Ketzermeisters aber genügte wieder Ruhe zu schaffen.

„Ihr habt die Gründe vernommen und das Gesetz spricht: „„Du sollst die Gräuel weg thun!““ Seid Ihr bereit?“

„Gott will es! Gott will es!“ donnerte das Volk.

„Ihr seid gesegnet. Bereitet Euch, heiligt Euch. Schon von heute an winkt Euch die Märtyrerkrone. Wir aber verkünden Jedem, der sich das Kreuz anheften läßt und mitzieht in die heilige Schlacht, Ablaß aller bösen Gedanken und Missethaten, deren er schuldig vom Leibe der Mutter an, in Kraft unserer Vollmacht als Legat und Vicarius des allerheiligsten Vaters Gregorius IX. Amen!“

Und „Amen! Amen!“ braußte es durch die Menge.

„Nun knieet und empfanget Kreuz und Segen.“ Die wilde, wüste Menge knieete nieder, kein Laut mehr zu hören, nur das Tappen der Mönche zwischen, neben, über und auf den Knieenden, um die rothen Kreuze auszutheilen.

Konrad heftete nun sich selbst das Kreuz an und den Fürsten, die solches noch nicht trugen; dann ergriff er mit der Linken ein langes, goldenes Kreuz, mit der Rechten ein blankes Schwert, hob Beides in die Höhe und rief: „Der König der Heerschaaren schütze, die für ihn streiten und sein Haus. Er mache scharf Eure Schwerter und fest Eure Schilder. Amen!“

Und auf einmal erklang ein weithin grollendes „Amen!“ dann löste sich die ungeheuere Gruppe und die tiefe Stille auf in neues Wogen, Drängen und Treiben, in neues, wilderes, fürchterlicheres Geschrei und Geheul.



X.
Auf Altenesch.

Eine saftige Anhöhe in der Nähe von Bardenfleth hatte ihren Namen von einer uralten Esche, die hier stand. Die Sage ging: unter dieser Esche hätten noch die Heiden ihren Göttern geopfert, rundum habe sich ein Graben gezogen, der sei oft übergeflossen vom Blute der Gefangenen, die hier geschlachtet seien. Das hatte den Platz unheimlich gemacht im Volke und Niemand saß gerne unter der alten Esche. Nur zu St. Johannis Abend brachten die Burschen Feuerräder hinauf und ließen sie dann hinunterrollen in die Ebene und im Rollen sprangen die Burschen hinüber und die Mädchen nahmen sich Abends von den Brandstücken mit nach Hause, legten sie unter das Kopfkissen und träumten dann den Schatz, den sie bekommen würden. Heute aber war noch nicht Johannis, erst morgen und doch saßen heute zwei Frauen da oben unter der Esche. Es war die Elsbeth und des Klaus Frau, die Margareth, die treu zum Mädchen hielt und mit ihr hinaufgegangen war, wenn auch widerstrebend.

„Wahrhaftig, es duftet nach Blut hier, Elsbeth,“ sagte die Margareth. „Das ist ein schlimmes Zeichen, an solchen Orten giebt’s bald eine Schlacht.“

„Sorgt Euch nicht, Margareth,“ antwortete Elsbeth. „Das Korn duftet gegen die Erndte, wenn so die Sommerhitze darauf brütet.“

„Aber warum bist Du so gern hier?“

„Habt Ihr’s denn noch nicht gemerkt, Frau Margareth? Schaut dort fern, ganz fern hin, im Abendduft! Das sind die [564] Thürme von Oldenburg; Morgens kann man auch das Schloß sehen, wenn die Sonne recht hell scheint. Dort wohnt Er.“

Sie saß da und sprach so, wie der Kurt sie dem Junker geschildert hatte; blaß, weich und still wie eine Märtyrerin und hoffend, noch über die Hoffnung hinaus.

„Nicht, daß ich sein Weib werde, das wäre zu viel gehofft, doch daß er mich noch lieb hat, das glaub’ ich fest und das ist mir genug;“ so antwortete sie jetzt der abwehrenden Freundin und dann schaute sie wieder hinaus in den Abendduft, nach den Thürmen Oldenburgs und auf die Landstraße; dorther mußte ja der Kurt kommen, kommen mit der Gewißheit, ob er sie noch liebe. Und da wirbelte Staub auf und es kam näher, ein Wagen, zwei Pferde, der Kurt und ein Mann im Reitermantel ihm zur Seite; das war Er! Das mußte Er sein! So dachte, zitterte, schrie das Mädchen und konnte sich kaum aufrecht halten und wunderbar verklärt sah sie aus im Glanze der untergehenden Sonne. Aber Margareth hatte schon erkannt, daß Er’s nicht war, da schwankte das Mädchen, wie eine bleiche Lilie auf dem schwanken Schafte im Winde. Die Männer stiegen aus, der Kurt voran.

„Lebt er?“ rief Elsbeth ihm entgegen.

„Er lebt!“ rief Kurt.

„Gott sei gedankt!“ mit diesen Worten faltete Elsbeth die Hände. Kurt stand nun vor ihr mit todesbleichem Gesicht.

„Und – – – ko– kommt – Er?“ so fragte Elsbeth leise, zitternd, und schloß die Augen, weil ihr bangte vor der Antwort.

„Er kommt!“ sagte Kurt und konnte nicht weiter.

„Er kommt!“ lispelte sie in namenloser Seligkeit.

„Er kommt als Feind gegen Steding! Er kommt mit dem rothen Kreuze des Kriegsheers, das uns als Ketzer vernichten wird;“ so brauste jetzt Kurt heraus; da brachen Sinne und Glieder des Mädchens in Ohnmacht zusammen.

Der Priester war währenddem herangetreten und er, Kurt und Margarethe trugen die schwer sich Erholende hinunter in’s Dorf, in das Haus des Vaters. Dort blieb sie unter dem Schutze der Frau, während der Kurt Alle hinauf beschied zum düstern Platz unter der Esche, als einzig würdig der Stelle, zu dem was er zu sagen habe. Die Bauern waren von den Feldern zurückgekommen, Andere, von weiter her, und die Schöffen waren schon da, weil morgen großer Landthing gehalten werden sollte, zu Ehren des St. Johannisfestes und so waren denn die besten Männer bald alle versammelt. Der Kurt trat unter sie und sprach: „Ihr seid Männer, da braucht’s keines Breies drum: Wir sind verloren!“

„Das ist viel auf Einen Schlag: kurz und bündig. Erkläre.“ So sprach der Schultheiß, fest und ruhig.

„Das kann der Pater besser als ich, den hab’ ich mitgebracht, als Einen der unsern wieder. Der mag erzählen.“

Und der Pater erzählte, alles was er wußte und kein Jota weniger und das Verderben stand lebendig vor aller Augen. Aber kein Glied rührte sich; keine Miene zuckte; kein Roth wurde blässer; kein Wort vernahm man, als das des Klaus vom Ipenhof: „Gott sei’s gedankt! Nun gilt’s! Nun kämpfen Hölle und Himmel um uns.“

„Schweige, Klaus!“ rief streng der Schultheiß; „erst Rath, dann That; Schöffe Enno von Waldhalden, was meint Ihr?“

Der Schöffe Enno trat hervor und meinte: „Was dünkt Euch, wenn wir den Bluthunden das Nest räumten? Unsere Schiffe liegen auf der Weser und in den Sümpfen. Diese Nacht packen wir das Beste ein, Kurt kennt das Fahrwasser, die Fackel werfen wir in Aecker, Häuser, Scheunen, und suchen ein Land, wo wir uns neu anbauen.“

Es blieb Alles unbewegt und stumm wie vorher. Man sah Detmar von Dieke an die Stelle des Enno treten und hörte ihn also sprechen: „Nimmermehr! Jedem Volk ist seine Grenze gesetzt von Gott, die soll es schützen und nicht überschreiten. Niemand nähme uns auch auf, weil wir im Bann sind. Seeraub müßte uns nähren und wir müßten ein Land mit dem Schwerte gewinnen. Unrecht leiden, aber nicht Unrecht thun. So sagt der alte Detmar.“

Ein ruhiges Gemurmel des Beifalls ging durch den weiten Männerkreis. Der Schultheiß trat vor: „Auch ich mag das Land nicht lassen, wo ich geboren bin. Ich liebe dies Land wie meine Seele und will begraben sein, wo ich gekämpft habe.“

Ein „Hoch dem Schultheiß!“ rang sich jetzt los aus der Menge und der Enno von Waldhalden rief mit.

„Also wehren wir uns auf Leben und Tod!“ rief der Klaus mit funkelnden Augen.

„Auf Leben und Tod!“ rief der Schultheiß, rief jeder Schöffe und jeder Mann, der dort stand auf Altenesch.

„Aber unsere Weiber?“ fragte Enno.

„Die helfen uns kämpfen und sterben mit uns!“ jauchzte der Klaus.

„Und wenn sie über die Sümpfe sind?“ rief Detmar von Dieke.

„So stehen wir bis auf den letzten Mann und Der fällt und ruft im Fallen: „Es lebe das Recht!“ so flammte es empor aus der Brust des dämonisch ergriffenen Klaus.

„Ist das Euer aller Meinung?!“ So donnerte nun der Schultheiß hin, daß jeder Mann ihn deutlich verstehen konnte und ein gewaltiges „Ja!“ aus aller Munde rauschte durch den goldenen Abend, hinab von der Höhe durch das Thal.

„So helfe uns Gott! So spreche ich Amen!“ sprach nun feierlich der Schultheiß, indem er sein Haupt entblößte und so erscholl denn auch hier ein weites, feierliches Amen. „Und nun gehe Jeder in seine Kundschaft und künde den Beschluß dem Nachbar an. Morgen bei Sonnenaufgang soll ein Jeder gewappnet sein, gewaltig nach seiner Macht. Dann halten wir unsere letzte Landsprache, damit keine ungesühnte Feindschaft und Klage mit uns in’s Grab gehe. Du Kurt, sammelst Deine Seefahrer und besetzest den Norderteich schon nach Mitternacht. Wir schwören einen Eid, daß Keiner sich entziehen will dem Tode für die heimathliche Erde.“ So sprach der Schultheiß mit männlicher Würde und wendete sich dann zum seitabstehenden Pater: „Und Ihr, ehrwürdiger Herr! da Ihr wieder zu uns gekommen seid! Wollt Ihr den Geächteten noch einmal das Wort Gottes lesen? Noch einmal das heilige Mahl ihnen reichen? Noch einmal den heiligen Glockenklang durch unser Land ertönen lassen und so von uns heben des Herrn Fluch und uns bezeugen, daß wir kämpfen im Recht?“

„Ich will’s! Ich will’s! Und stände mein Leben darauf!“ rief begeistert, fast verklärt der Priester.

„Ihr Männer Stedingens: seid Ihr gewillt und bereit, daß der Priester thue wie ich gesagt? Wer da nicht will, der gehe von fernen.“ Doch Niemand ging als der Klaus, vor sich hinmurmelnd: „Ich will keine Gnade, wo ich nicht gesündigt.“

Der Priester erhob nun die Hände, segnete und betete dann mit tiefklingender Stimme ein Vaterunser. Dann ladete er zum letzten Kirchgang ein, bei Sonnenaufgang am nächsten Tage. – Lautlos gingen die Männer auseinander, nur der Schultheiß blieb noch zurück mit dem Pater; da kam weinend die Margareth und sagte, daß Elsbeth schlafe, aber elend, todeselend sei.

Der Pater ergriff des trauernden Schultheiß Hand und sagte: „Schultheiß, Ihr thatet doch ein Unrecht, daß Ihr das zugabt. Wie konntet Ihr’s für möglich halten: Graf und Bäuerin?!“

„Ich träumte die Zukunft schon zu nahe, Pater. Seht, einst muß es doch dazu kommen, daß das Blut braver Menschen sich nicht mehr so scheidet. Und ich trauete auch zu viel! Und ich hatte ihn so lieb. – Und ich dachte auch: Sie ist so schön wie er; und so jung, so keusch und rein wie er; sie ist die Tochter eines freien Mannes; Erbin auf ihrer freien Scholle. Sie hat noch mehr des Goldes und Silbers in ihrer Truhe als er, und – doch! Nun, es war zu weit, zu – zu gut gedacht; aber kein Unrecht.“ Er sah so weich und gerührt, so fromm und einfältig aus, der alte, eiserne, brave Bauer als er so sprach, als er eine Thräne in den Wimpern zerdrückte.

Der Pater sah gerührt ihn an. Das Abendroth legte sich seltsam um die beiden schneeweißen Männer unter der riesigen, oben noch grünen und unten schon leuchtenden Esche. Friede ruhte all überall, die Grillen fangen und die Lindenblüthen gaben weit hin ihren Duft. Schweigend schritten die Männer den Hügel hinunter; sie mußten an der Linde des Gerichts vorbei, der Schultheiß trat hinzu und sprach leise: „Still wie da Außen wird’s in mir. Mein Leben ist ausgelebt. Kein fröhlich Loos war mir beschieden. Das Volk, das ich vierzig Jahre geweidet habe, führe ich in den Tod. Vater, Dein Wille geschehe! Ich will mein graues Haupt neigen in Demuth und den Todesstoß abwarten in starkmuthiger Geduld.“



[565]

Das Haus der Gemeinen in London.

XI.
Das Kreuzheer kommt.

Um Mitternacht schon standen sie auf dem Wall des Landes, auf dem Norderdamm, der Kurt und der Enno mit ihren Mannen. Ihre Augen funkelten wie Irrwische hinaus über die Weser. Horch, da rauschte es über dem Flusse, man hörte fernen Ruderschlag und dann Gesang von vielen tausend Stimmen.

„Das sind sie!“ rief der Enno.

„Donner, die waren eilig, sie haben uns überrascht!“ sprach der Kurt; sonst nichts.

Nun theilten sich die Mannen in zwei Hälften; der Enno führte die Einen, der Kurt hielt oben mit den Andern. Nun Ruderschlag und Gesang immer näher und nun dicht vor den Stedingern. Die warfen und schossen auf sie hinunter und die schwimmen konnten, nestelten sich an die Kähne und bohrten Löcher hinein und versanken mit den Kähnen und Denen, die darin waren. Aber das Lied scholl immer lauter und wilder, jemehr der Kähne herankamen; dann kamen auch Viele zu Roß geschwommen über den Fluß. Nun gab’s ein fürchterliches Schlagen und inmitten des Schlagens ein geller Jubelruf: der kam von den Ersten der Kreuzfahrer, die das Land erstiegen hatten. Noch wenige Minuten und der Enno stand auf einem Hügel von Leichen, der Einzige von Allen, die vom Damm in den Graben gestiegen waren. Als er das sah, kletterte er wie eine Katze hinauf und nun fort, fort auf Sturmesflügeln, um Alles wach zu rufen, was da noch dem Tode entgegen schlafe. Auf dem Damme aber stand der Kurt mit Zweihundert, die hatten auch hinunter gewollt, aber der Kurt [566] hatte es nicht gelitten. Hier oben wollt’ er sie packen, die Feinde. Da aber wurd’s auf einmal stille unten, denn die Kreuzfahrer rasteten und vom Flusse stiegen die Nebel auf und verdeckten Alles. Aber durch den Nebel hörte man nun die Kreuzfahrer beten und dann auf einmal ein fürchterliches Geschrei: „Gott will es!“ Dann Alle mit einem Zuge hinauf gegen den Damm, und so wie Einer den Kopf hervorhob, hatte er auch schon die Keule davor oder den Spieß im Halse. Von den Stedingern fiel Keiner. Auch Keiner sprach ein Wort; es war graulich still; man hörte nur, wie die Erschlagenen röchelnd hinunterrollten und unten mit den Köpfen auf die Steine im Fluß schlugen. Da auf einmal trieben Morgenschein und Wind die Nebel auseinander und da sahen erst die auf dem Damme, wie es aussah. Jenseits der Weser zogen erst die großen Schaaren heran, die Banner der Ritter und jede Schaar hinter ihrem Banner, Oldenburg voran und in guter Ordnung setzten sie über den Fluß hinüber. Unten aber lag’s voll Leichen und den Damm herunter war es ganz schlüpferig und die Weser trieb roth von Blut. Nun drängten, die schon da waren wie ein Keil sich zusammen an einer einzigen Stelle und hinauf; da fiel Mann über Mann, doch Einer kletterte über den Andern hinweg, da wurd’s wie ein ganzer Berg von Leichen.

Da stellte sich Konrad von Marpurg an die Spitze; in der Linken sein Kreuz, in der Rechten statt des weggeworfenen Schwertes eine blutigrothe Keule und er war der Erste, der oben stand und rief: „Das Kreuz hat gesiegt! Mir nach!“ – Und Tausende draußen nach und die von den Stedingern noch lebten, wurden die Dämme hinuntergedrängt.

Noch Eine Hoffnung blieb ihnen: die Moore. Auf schmalen Stegen, die durch sie hinführten, flohen die Letzten davon und rissen hinter sich alle Stege ab und stellten sich dann wieder auf; sie glaubten nun sicher zu sein, wenigstens für einige Zeit. Aber der Ketzermeister rief: „Vorwärts, die Krone der Märtyrer winkt!“ und stimmte wieder ein Lied an und unter Gesang ging’s nun stracks in das Moor hinein, als wär’s gefroren. Zahllose sanken, aber über den Vorderdamm stiegen Folgende und so immerzu, bis eine feste Brücke wurde. Keiner schrie beim Ersaufen oder Ersticken; ein Jeder starb als müßte es so sein, und ein Jeder sang fort, bis der Folgende ihm auf den Kopf trat und ihn hinunterdrückte. Die Stedinger sausten Schleudersteine und Pfeile ihnen entgegen, aber jemehr derselben, desto schneller wurde die Brücke fertig. Und nun war sie fertig und der Feind war im Lande.

Die hundert Stedinger, die noch übrig geblieben, zogen sich zurück auf das feste Kloster Ahden, mitten in den Mooren und mit starken Mauern. Dahin zog auch ein Theil der nun gerüsteten Hauptmacht der Stedinger, während ein anderer zum Heidenhügel auf Altenesch hinzog; da wo gestern die Elsbeth gesessen und wo die Margareth das Blut gerochen hatte.

Menschen waren es nicht, die Kreuzfahrer, die jetzt verheerend durch die Gaue zogen, das Korn im Felde niederbrannten, das Vieh auf den Weiden und in den Ställen lähmten, den gefangenen Weibern die Brüste abschnitten und die Kinder in die Flammen warfen; Menschen waren es nicht, es waren Teufel, losgelassen aus der Hölle.

Vergebens baten die Fürsten und der Erzbischof den Ketzermeister: Einhalt zu befehlen, den entsetzlichen Gräueln. Der Ritter Georg sendete einen Boten, der sollte den Stedingern Rettung verheißen, wenn sie sich unterwerfen wollten.



XII.
Die Todesschlacht.

Sie schlugen bis gegen Abend bei Ahden eine fürchterliche Schlacht; dann mußten die Stedinger zurück und Alles sammelte sich am Heidenhügel. – Der Klaus trat erst noch in sein Haus und suchte eine Axt, die Frau schwieg, aber der Knabe, den sie damals in der Kirche unter dem Herzen getragen, fragte: „Willst Du Holz fällen, Vater?“

„Nein, Junge, Köpfe!“

„Das muß hübsch sein, nimm mich mit.“

„Schweig und gieb mir einen Kuß. Und nun lege Dich in’s Bett zum Schwesterchen und dem ganz kleinen Brüderchen. Geh.“

Der Knabe ging. Klaus trat zu seiner Frau und fragte:

„Margareth, was beschließest Du?“

„Ich lebe nicht ohne Dich, und Deine freien Kinder sollen keine Knechte werden.“

„Gieb mir einen Kuß darauf.“

Die Margareth gab ihm einen Kuß, – dann ging der Klaus still fort, die Margarethe ging still zur Scheune und holte Brennstoff herbei, so viel als möglich und legte ihn durch’s ganze Haus. Dann nahm sie ihre Kinder auf den Arm und an die Hand, stellte sich auf den Söller des Hauses und sah hin zum Heidenhügel und eine brennende Fackel stand wohlverwahrt in ihrer Nähe. So wie es der Klaus und die Margareth gemacht hatten, machten es zur selben Stunde noch viele Männer und Frauen im Stedingerland und viele hatten es vorher schon so gemacht.

Am Heidenhügel waren sie nun versammelt, die letzten und besten Männer.

„So schöne, haushohe Johannisfeuer haben wir noch nie gehabt,“ sagte der Klaus zum Enno. Der dachte aber an sein Weib, das kurz vorher sich schon den Tod gegeben hatte, – darum schwieg er.

„Da brennt auch mein Haus auf!“ rief jetzt der Klaus.

„Nun wird mein Weib vollendet haben! – Jetzt stürzt das Dach – so! nun ist Alles aus, Alles! Aber unsere Weiber, Enno, haben doch den Andern Muth gegeben.“

„Freilich, freilich!“ murmelte Enno.

„Nun ist mir’s eigentlich erst recht wohl,“ – sprach der Klaus nach kurzer Pause und dann schrie er: „Aber nun bebt mir auch der Spieß in meiner Hand! Die Adern wollen mir bersten! Meine Seele schreit nach Blut, wie das Kind nach der Muttermilch.“

„Ein Herold! Ein Herold!“ rief es auf einmal, – „ein Herold vom Ritter Georg von Oldenburg!“ und Ehrenfried, der Knappe, war vom Rosse gesprungen und in den Kreis der Männer getreten. Zu seinem Verderben dicht vor den Klaus und der stieß ihn im Augenblick den Spieß durch’s Herz, daß er keinen Laut mehr von sich gab. Sprachloses Entsetzen lag da auf Allen.

Der Schultheiß trat hinzu, hörte was geschehen und rief: „O Steding, du bist entehrt in deiner Todesstunde. Bindet den Mörder des Herolds und Ihr Schöffen tretet zusammen und richtet.“

Und die Schöffen richteten den Klaus zum Tode im Augenblicke; nicht zum Tode im Stedingerland, sondern zum Tode von der Hand dessen, der den gemordeten Herold gesendet; der Klaus wurde gebunden in das Lager des Ritters Georg von Oldenburg geführt. Schweigend ließ er’s geschehen; kein Laut kam über seine Lippen. Nun gab der Schultheiß ein geheimes Zeichen, das verstanden zwölf Männer, die sofort zu ihm traten und einen dicht geschlossenen Kreis bildeten. Es waren die Vehmrichter des Landes. Und sie vehmten nun Konrad von Marpurg und setzten zum Vollstrecker des Urtheils denjenigen fest, der der Letzte im Kampfe sei.

So wurd’s beschlossen und ein Jeder gab den Beschluß einem Andern, bis Alle es wußten.

„Wo ist Kurt?“ fragte nun der Schultheiß.

„Er sorgt für Elsbeth und daß das Dorf brenne,“ sagte Detmar von Dieke, – „doch da brennt es schon und der Kurt kommt mit der Elsbeth.“

Ehrfurchtsvoll machten Alle Platz, wo das Mädchen ging. Sie stieg den Hügel hinauf und setzte sich unter der alten Esche auf die Bank. Der Schultheiß stellte sich ihr zur Rechten und hielt das Banner so, daß es sie umwehte. Der Pater stand ihr links und legte seine Hand auf ihr Haupt. Der Kurt ging schweigend den Hügel hinunter und sagte:

„Jetzt nur noch Eines: der Ritter Georg!“

„Der Feind ballt sich zusammen im Thal!“ So stürmte jetzt Thanno von Huntorp hervor; – „wir müssen auf freiem Plan ihm begegnen!“

„Im Namen Gottes also, der uns so schönen, hellen Tag zum Sterben giebt!“ rief der Schultheiß und wendete sich zum Pater: „Thut Euer Amt und gebt uns den Todessegen!“ Er kniete nieder, – Alle ihm nach und der Priester segnete herab vom Heidenhügel die Todesschaar. „Versöhnt mit Gott! Los von der Erde und ihrer Lust. Muth nun und freudige Kraft! Hinab zum Streit!“ So rufend, schwang der Schultheiß das Banner – von fern Trompeten- und Hörnerklang und gräßliches Geheul durch die Lüfte.

[567] Bald entbrannte ein schrecklicher Streit; Elsbeth und der Pater blieben zurück unter der Eschen ruhig und gefaßt.

Aber nicht lange waren sie allein. Ein abgesendetes Häuflein wahnsinnig angefachter Kreuzfahrer stürmte von unbedeckter Seite den Hügel hinauf, – der Pater ihnen entgegen, im Augenblicke zu Boden geschlagen, über den Todten weg mit gräßlicher Gier zur bebenden Elsbeth – schon faßten sie sie an, da sausten Hiebe, links und rechts flogen die Wüthenden auseinander, und in panischem Schrecken davon; solche Hiebe konnten nur aus dem Himmel oder der Hölle kommen, glaubten sie. Der Ritter Georg hatte sie geführt, und jetzt umfaßte er das Mädchen in größter Seligkeit:

„Du bist mein! Du bist gerettet! Auf, auf, folge mir!“

Aber sie konnte nicht folgen, nicht stehen, nicht sprechen; nur in zitternder Lust an seine Brust sich lehnen und ihn anschauen mit unsäglicher Liebe. Da donnerte es auf einmal hinter ihnen: „Ritter Georg von Oldenburg, bei Eurem Schwure: stellt Euch meinem Schwerte!“

Es war Kurt, der den Ritter gesehen, die Schlacht verlassen und hierher gerannt war wie ein angeschossener Eber.

„Zurück, Kurt, oder ich zermalme Dich!“ schrie Georg und faßte mit einer Hand sein hingeworfenes Schwert, während er mit der andern Elsbeth an sein Herz drückte. Kurt wollte auf ihn eindringen, doch Elsbeth deckte ihn rasch mit ihrem schwankenden Körper. Kurt blieb stehen, sah Beide ernst und tief an und sprach:

„Elsbeth, werde klar. Du sollst nun frei wählen. Ritter, laßt sie frei einen Augenblick, bis sie gewählt hat!“ Der Ritter that es; Elsbeth wankte von ihm zurück und stand wie ein Opferlamm zwischen den beiden Männern. „Elsbeth, nun wähle! Das Weib des Ritters darfst Du nie sein; nur seine Geliebte. Willst Du das sein und von uns gehen, den Sterbenden, und von Deinem verwüsteten Vaterlande, oder willst Du den Tod? Elsbeth, ich frage Dich laut und wahrhaftig und ebenso antworte!“

Elsbeth bebte zusammen, sie sah den Ritter nicht an und nicht den Kurt, sie sah hinaus in die dampfende Schlacht; dann schritt sie langsam hin zum Kurt und sagte fest und ruhig:

„Ich will den Tod!“

Und wie sie das gesprochen hatte, ein Augenblick: da lag sie am Boden und das Schwert des Kurt war roth von ihrem Herzblut. „Ich danke Dir!“ das war das letzte Wort, was sie sagte, und der letzte Blick und Wink voll namenloser Zärtlichkeit war auf den Ritter gerichtet. Der kniete nun nieder zu ihren Füßen und drückte der Sterbenden die Augen zu und legte seinen Mantel über die Todte. Dann sprach er klar und fest zum Kurt:

„Gieb mir Dein so geweihtes Schwert und nimm das meine, dann laß uns den Todeskampf begehen, den ich Dir versprochen.“

Sie wechselten die Schwerter, ohne weiter ein Wort zu sprechen; der Ritter küßte das Blut an seinem neuen Schwerte, und nun kämpften Beide den grausigsten Kampf, den wohl je zwei Männer mit einander kämpften. Es dauerte wohl eine Viertelstunde, dann lag der Ritter todt neben Elsbeth und Kurt stürmte den Hügel hinunter in die noch immer wogende Schlacht. Dann kam er zurück, mit einem Pfeil tief in der Brust und kniete nieder an der Leiche der Elsbeth, zog den Pfeil heraus und ließ das Blut hinströmen und mit dem Blute das Leben.

Da kam leisen Ganges und düster brütenden Sinnes der Klaus heran. Er war vom Ritter Georg freigegeben und hatte sich dann wieder beim Schultheiß und den Schöffen gestellt. Die wollten ihn nun nicht dulden unter sich, doch gaben sie ihm noch ein großes Amt: die Urtheilsvollstreckung der Vehme an Konrad von Marpurg, wenn dieser wieder aus Stedingen und Oldenburg fort sei. So durfte er nicht kämpfen mit den Brüdern, nicht sterben auf heimathlichem Boden, der wilde, heiße, kampfesmuthige Klaus. Er trat zu den drei Leichen heran, er schaute in den verrinnenden Kampf und noch einmal über die Lande hin; dann schwur er bei Allem was er nun gesehen: ein treuer Rachebote der Vehme zu sein, und dann ging er, floh er, sich verbergend, wo ein Menschenantlitz war, bis er hinaus kam über Steding und Oldenburg. Er hat seine Heimath nicht wiedergesehen.

Im Thale unten wurde der letzte Kampf, wurde Stedingen zu Boden geschlagen; das letzte Banner hielt der Schultheiß und ließ es nicht los, bis es mit ihm sank und kein Mann blieb übrig. Was von Alten, Mädchen und Kindern und Knaben fliehen konnte, floh zu den Friesen. Die Fürsten und der Erzbischof wendeten nun freilich ihre Macht gegen den Ketzermeister und den Rest seines fürchterlichen Heeres; ließen die Todten begraben am Heidenhügel und schenkten Gnade denen, die noch lebten. Aber Steding war nicht mehr und freudlos und traurig zogen die Sieger wie Besiegte heim.




Das Haus der Gemeinen
im Parlaments-Gebäude zu London

Der glänzende, gothische Raum des Parlaments-Gebäudes (vergl. Gartenl. Nr. 6.), worin die eigentlichen Gesetzgeber des Landes Großbritannien nicht nur über England und die besten Stücke anderer Erdtheile entscheiden, sondern auch die Mittel des Krieges der „westlichen Civilisation“ gegen „östliche Barbarei“ (wie die gemünzte Redensart einmal lautet) dirigiren, gewinnt unter den jetzigen Verhältnissen eine besondere Bedeutung für den ganzen Verlauf der jetzt zum offenen Kriege ausgebrochenen Krisis zwischen dem Osten und Westen d. h. der östlich und westlich Gesinnten und Interessirten, so daß eine Schlacht, welche die Engländer und Franzosen gewinnen, eben so sehr und noch mehr eine Niederlage der russisch gesinnten Engländer sein kann, als Rußlands selbst. Immer sitzt das Parlament in diesem Augenblicke nicht beisammen, um die Staatssecretaire (Minister) zu fragen, was sie mit den Geldern und den ihnen eingeräumten Vollmachten zum Kriege für Gebrauch oder Mißbrauch gemacht haben; aber es dauert auch nicht lange mehr, denn spätestens im Februar ruft die Königin die fünfhundert und mehr englischen Könige zusammen und eröffnet eine neue Periode ihrer gesetzgebenden und die vergangenen Thaten und Unthaten ihrer Diener d. h. des Ministeriums richtenden Thätigkeit. Da das Haus der Gemeinen nicht nur die drei Hauptwaffen des Krieges, nämlich erstens Geld, zweites Geld und drittens Geld, in den Händen hält, sondern auch das Recht und die Macht, seine untreuen und veruntreuenden Diener abzusetzen und zur Rechenschaft zu ziehen, kann man wohl Neugierde fühlen, ob es diesmal von seinem Rechte und seiner Macht gehörigen Gebrauch machen werde; „denn im Staate Dänemark ist etwas faul“ und weder die englischen Soldaten, noch die englische Flotte selbst sind Schuld, daß der Name England jetzt so verhöhnt und verunglimpft von Feinden und verdächtig bei Freunden in der Geschichte schwankt. „Karlchen“ ist im baltischen Meere mit seiner Flotte, wie sie die Welt noch nie so mächtig beisammen sah, ein Witzstoff, Dundas im schwarzen Meere gleichbedeutend mit, „Dumm das“ geworden, während die englischen Soldaten, die endlich auf der Krim und vor Sebastopol starben, ihre besten und meisten Kameraden vorher durch das Ministerium verloren hatten.

Wird sich das Unterhaus diese beispiellose Veruntreuung von Geld und Menschenleben gefallen lassen?

Im Wesentlichen: Ja. Man wird, um „die Menge“ zu befriedigen, den Ministern einige unangenehme Dinge sagen, die Minister werden einige unangenehme Dinge erwiedern, aber Niemanden klug machen, nicht einmal sich selbst, und Ober- und Unterhaus werden mit denselben Ministern fortfahren, das Land so zu regieren, daß die „westliche Civilisation“ sich nicht zu weit für einen Frieden von Rußland entferne.

Es ist eine schwierige Aufgabe, das Haus der Gemeinen und diese Situation Englands verständlich zu machen. Wie die grandiose Menge gothischer Pfeiler und Spitzbogen und gemalter Fenster „wo selbst das liebe Himmelslicht taub durch gemalte Scheiben bricht,“ wie diese unmodernen, imposanten, Ehrfurcht gebietenden architektonischen Hallen, in denen die Hunderte von englischen Regenten tagen, wie der „Sprecher“ mit seiner großen Allongen-Perrücke und seinem von Pagen getragenen langen Schlepptalare auf seinem ehrwürdigen gothisch zugeschnitzten und ausgeschnörkelten [568] Throne, der „Parlaments-Polizei-Direktor“ auf seinem päpstlichen Stuhle und sonstige seit Jahrhunderten conservirten Aemter und Namen das uneingeweihte, moderne Auge verwirren und ihm bald Stückchen aus alten Ritterschauspielen, bald abenteuerliche Scenen aus einer Posse der Neuzeit zuzusenden scheinen, so ist auch die historische Composition und die gegenwärtige Lage des Parlaments zunächst etwas Räthselhaftes, Ehrwürdiges und Lächerliches, vielleicht auch Tragisches, und dies wahrscheinlich desto mehr, je genauer man es zu kennen glaubt. Die Herren im Unterhause gelten als souveraine Vertreter des souverainen Volks und sind abhängige, durch allerhand verwickelte Interessen getragene Festungsmauern gegen das Volk. Sie sind der Mehrheit nach ganz russenfreundlich und haben Geld und Soldaten und Waffen gegen Rußland bewilligt, womit man die halbe Welt zerstören könnte. Ihre Papiere steigen beim Falle Sebastopols und ihr Jubel erschrickt vor der Theilnahme des Volks an dieser Siegesfreude. Man freut sich als „freier Engländer“ über die Demüthigung Rußlands und fürchtet in der Schwächung desselben die Macht zu Hause, welche das Sebastopol der englischen Gesetzgeber, das sie gegen weitere Ausdehnung oder vielmehr Verehrlichung des Wahlrechts aufrichteten, anzugreifen Miene macht. Das Kriegsgeschrei gegen Rußland ging wirklich aus der „westlichen Civilisation“ des Volkes hervor. Die Minister und das Parlament gaben diesem Schrei Gehör, um ihr Sebastopol zu schützen und die „Reformen“ zu Hause durch „Manoeuvres“ zu zerstreuen. So war ihr Krieg eine Diplomatie der innern Politik, ein Spaß; aber man dachte zugleich auch, halb Ernst zu machen, um Rußland, das die englische Politik seit Menschenaltern unterstützt hatte und nun zu weit gehen zu wollen schien, bei der Theilung der Hinterlassenschaft des „kranken Mannes,“ nicht zum Haupterben werden zu lassen. Die Cholera im friedlichen Heere bei Varna u. s. w. und das rebellische Geschrei, besonders der Franzosen, daß man lieber im ehrlichen Kampfe wie ein Mann sterben wolle, machten aus halb Spaß, halb Ernst ganzen Ernst und die Krim-Expedition. Von nun an wurde „die Geschichte“ Feldmarschall und wird weiter commandiren, vielleicht auch „das Haus der Gemeinen.“

Die letzte von Russel, in Folge einer allgemeinen Agitation angebrachte Reformbill, obwohl nur ein Schatten und Schemen, wurde in der vorigen Parlaments-Sitzung auf den Vorschlag Palmerston’s unter allgemeinem Jubel beinahe einstimmig zum Hause hinaus geschrieen: „weil Krieg ist.“ Da das Parlament und besonders die eigentlich gesetzgebende Versammlung im Hause der Gemeinen nun auch die wichtigsten andern Reformen, welche die „westliche Civilisation“ verlangte, abwies, kann man der ganzen regierenden Körperschaft Englands ein gewisses Russenthum gegen das eigene Land nicht absprechen. Das sehr complicirte und widerspruchsvolle Verhältniß der regierenden Körperschaft Englands in diesem Kriege läßt sich in einfachster Form so darstellen: Scheinkrieg gegen Rußland, um unser Rußland zu Hause zu erhalten, Scheinkrieg mit der Miene des Ernstes, damit Rußland für unsere Handelsinteressen nicht zu weit gehe, Scheinkrieg aber so, daß man im schlimmsten Falle doch Ernst machen kann, aber nur im schlimmsten Falle, wenn alle unsere Friedenskünste bis zum letzten Witze erschöpft sein sollten, aber auch dann nur so, daß Rußland als Bürgschaft der conservativen Interessen in Europa nicht wesentlich geschmälert und geschwächt werde, endlich Unfähigkeit, den halben Schein und halben Ernst in seinen Konsequenzen und in der Gewalt der wirklich tapfern Soldaten und Offiziere, der noch tapferen Geschichte aufzuhalten, deshalb feiger Gedanken bängliches Schwanken, ohnmächtiger und immer ohnmächtiger kämpfend gegen die diplomatisch heraufbeschworene Krisis.

Das „Haus der Gemeinen“, obgleich der eigentliche König Englands, kann darin nichts mehr ändern. Es wird wie das Ministerium von dem Strome der Ereignisse getrieben, und jedes Mitglied liest eifrig jeden Morgen die Zeitung, ob der Telegraph keinen Trost, keinen Halt, keine Entscheidung irgendwoher gebracht habe, denn die ganze vielgliedrige Regierung weiß oder fühlt wenigstens, daß der Geist und die Macht von ihnen gewichen, seitdem die Cholera, die Rebellion, die Commandeurs, die Kanonen zu commandiren angefangen und die vielverletzten Grundlagen des europäischen Gleichgewichts und Friedens von 1815 vollends durchlöchert haben.

Das Haus der Gemeinen vertritt nicht Volk, nicht Klassen, nicht Demokratie, nicht Constitutionalismus, nicht Absolutismus, sondern große Geldmassen, die in der Industrie und dem Handel angelegt sind, gegen das aristokratische Interesse des großen Grundbesitzes. Der Baumwollen-Lord und der Lord des Grundes und Bodens sind die einzig wahren und wichtigen Parteistoffe.

Die Hauptinteressen im Unterhause zerfallen in folgende Bestandtheile:

1) Shopkeepers (Besitzer offener Detailgeschäfte, Läden), mit Solchen, die Häuser vermiethen und verpachten, vorherrschend in den meisten Wahlbezirken Londons, von Bath, Cheltenham, Brighton, Universitätsstädten und Folkesstone. Vertreten durch 22 Mitglieder des Unterhauses.

2) Interessen großer Fabrikanten, a) der Baumwollen-Industrie in Manchester, Preston, Stockport, Blackburn, Bolton, Oldham, Leicester, Wigan, Salford, Bury, Ashton, Rochdale und Clitheron in England, und Glasgow und Prisley in Schottland. Vertreten durch 24 Mitglieder. b) der Wolle in Leeds, Bradford, Stroud, Halifax, Huddershield, Wakefield, Tiverton, Kendale und Frome in England und Montgomery in Wales: 15 Mitglieder c) Seide in Norwich, Nottingham, Derby, Mecclesfield, Coventry und Taunton: 12 Mitglieder. d) Hartwaaren (Eisenindustrie) in Birmingham, Sheffield, Wolverhampton, Dudley und Valsall: 8 Mitglieder. e) Töpferei und Glasindustrie in Stoke und Warrington: 3 Mitglieder. Cidderminster und Wilton sind die Orte der Teppichfabrikation, aber in ersterem dirigirt Lord Ward, in letzterem die Pembroke-Familie die Wahlen.

3) Die Bergwerks- und Minen-Interessen senden von Newcastle, Durlam, Sunderland, Gateshead, Süd-Shields und Tynemouth 9 Vertreter. Dazu kommen aus Minendistrikten von Wales noch 7, zusammen 16 Vertreter. In den Händen der Regierung sind die Wahlen an folgenden Orten: Portsmouth, Devonport, Chatam, Sandwich, Darmouth, Leith, Greenwich, Dover, Rochester, Plymouth und Falmonth, aus denen sie sich 21 Vertreter kauft. Die großen Seehäfen mit ausgedehnter Aus- und Einfuhr: Liverpool, Bristol, Hull, Dundee und Greenack, wo allgemeine wirkliche Kultur-Interessen zur Majorität kommen könnten, sind theils von der Regierung, theils von großen Dampfschiff-Compagnien (besonders in Southhampton) beherrscht und senden 10 Mitglieder. Von Yarmouth, Colchester, Harwich, Hastings, Scarborough, Whitby und Aberdeen wählen 12 Mitglieder für das Interesse der Küsten-Fischerei. Die zahlreichen andern Hafenstädte von Chester bis Lymington stehen unter den mannigfaltigsten Einflüssen anderer Interessen.

In London, Edinburg, York, Exeter und Shrewsbury haben die gebildeten Mittelklassen einigen Einfluß auf die Wahlen, sonst nirgends, die Millionen unter den Mittelklassen haben zu drei Viertheilen gar keine Stimme, oder wenigstens keinen Einfluß.

Von den 99 übrig bleibenden Wahldistrikten stehen noch 42 fest unter aristokratischem Einflüsse, d. h. sie werden gekauft und bearbeitet im Interesse des großen Grundbesitzes zu wählen, und die übrigen 57 unter einem Wirrwarr örtlicher Einflüsse, in denen aber stets die großen Kapitalisten und großen Grundbesitzer vorherrschen. Wales wählt 9 Mitglieder, von denen 5 der Aristokratie und 4 dem großen industriellen Kapital dienen. Die 14 übrigen schottischen Mitglieder vertreten Schifffahrt und großes industrielles Kapital. In Ireland herrschen katholisch-ultramontane und hierarchisch-revolutionäre Interessen bei den Wahlen vor.

Ueberhaupt besteht die Zahl der politisch berechtigten und einflußfähigen Personen unter den 22 Millionen Bewohnern Englands aus nicht mehr als etwa 25,000 Personen. Alle andern sind politisch Nullen, die sich zwar durch Presse, Versammlungs- und Redefreiheit vertreten und auch oft so geltend zu machen wissen, daß die 25,000 deren Majorität durch ihre Vertreter im Unterhause wirklich anerkennen, aber ohne große, bedeutende Veranlassungen und Aufregungsstoffe bleibt die Menge ruhig und einflußlos, da sie freiwillig unter der milden und ungemein einschmeichlerischen Herrschaft einer ungeheuer reichen Hochkirche, einer ungeheuer reichen Grund-Aristokratie und einer ungeheuer reichen Körperschaft von industriellen Kapitalisten sich in ihren Versammlungen, Vereinen, Bildungs-Instituten aller Art leiten und lenken läßt. Dabei werden die Regierenden mächtig durch die Tagespresse unterstützt. Es giebt keine große Tageszeitung, welche unabhängig und ohne besondere Interessen dem wirklichen Gemeinwohle das Wort redete. Und insofern auch einige gegen die monströsesten politischen und socialen Verhältnisse Opposition machen, alle zusammen sind [569] noch lange nicht so viel, als die einzige Times, welche auf die geschickteste Weise alle Pläne der Regierenden, der großen Grundbesitzer und Kapitalisten, durchzusetzen und mit „Recht, Großmuth und Christenthum“ zu beschönigen weiß.

Jede Nummer einer politischen Zeitung muß mit einem Regierungsstempel, der jedesmal 1 Penny kostet, versehen werden. Die Times brauchte im zweiten Quartale dieses Jahres allein 3,976,720 Stempel, alle andern politischen Tageszeitungen zusammen aber nur 1,665,094, so daß die Stimme der Times allein alle andern politischen Organe mit einem 2,311,626fachen Uebergewicht schlug. Sie ist die Stimme des großen Kapitals und des großen Grundbesitzes und hat alle Verletzungen des europäischen Gleichgewichts seit 1815, alle Vergehen gegen das europäische Staaten- und Völkerrecht und alle Eroberungen Rußlands gutgeheißen, unterstützt und begünstigt. Vielleicht war ihre Beschönigung der letzten russischen Eroberung – in Dänemark, das Londoner Protokoll – eine ihrer höchsten und letzten politischen Preßthaten auf Rechnung Rußlands. Sie ist jetzt geschlagen, geschlagen wie das ganze Heer der Könige im Ober- und Unterhause und mußte seit Monaten den Krieg gegen Rußland predigen, rühmen und anfeuern, nachdem sie alle ihre Künste erschöpft hatte, Verachtung vor der Türkei und Furcht und Hochachtung vor Rußland zu verbreiten. Der Krieg ist eine Macht über den sechs Großmächten (die Times bildet nicht die letzte) geworden. Die Mächte des Friedens und der Civilisation, welche einst die Kriegsfurie bändigen und binden werden, sind wohl noch nicht Mitglieder des Unterhauses. Sie bilden sich erst, unabhängig von den jetzigen Mächten und Interessen. Wenigstens würde der Friede, der durch die jetzt herrschenden Interessen Englands dictirt und vollzogen zur Geltung käme, sich über ein Kleines nur als Waffenstillstand erweisen.

Die Zeitverhältnisse und die merkwürdige Situation der regierenden Klassen in England zu denselben nehmen uns die Ruhe, die architektonische Schönheit und Größe ihres parlamentarischen Tempels gehörig zu würdigen. Wir begnügen uns deshalb, auf die Totalansicht in Nr. 6 der Gartenlaube und die beifolgende hinzuweisen und auf die einzelnen Bestandtheile der großartigen, architektonischen Composition aufmerksam zu machen. Die genaue, sorgfältige Ausführung der kleinsten Theile bei den großartigen Ausdehnungen der Säulen, Pfeiler und Bogen macht einen imposanten Eindruck, der aber nicht mit dem Charakter des alten, echten gothischen Styls harmonirt, da letzterer vom Einzelnen in’s Große, vom Irdischen ab und auf in ein weites, himmlisches Jenseits strebte und die Materie, das Detail, die Befriedigung an demselben negirte und aufhob. Hier im Parlamentsgebäude hält uns die Pracht und sorgfältige Technik des Einzelnen fest, so daß im großartigsten gothischen Bauwerke der neuen Zeit sich der alte, religiöse Charakter dieses Styls gleichsam auf den Kopf stellt. Indessen flößen die langen, schlanken Säulen, die sich weit oben in Spitzbogengruppen verzweigend einigen, ziemlichen gothischen Respekt ein. Die Felder zwischen den Spitzbogen sind dicht überladen mit heraldischen Ornamenten, mit Wappen und andern Zeichen mittelalterlicher Herrlichkeit, die in dem gothischen Parlaments-Tempel ihre feudalistischen Privilegien noch gegen die modernen Ritter der Baumwolle und des industriellen Eisens wacker zu vertreten und zu conserviren weiß. Der Himmel hängt hier nicht voll „westlicher Civilisation“ und Zukunft und moderner Kultur, sondern voll Vergangenheit, die in andern, weniger freien Ländern schon längst begraben liegt und allen Wiederbelebungsversuchen einen hartnäckigen Tod entgegenstellte. Zwischen den Fenstern und den Thürbogen höhlen sich Nischen, die sich innen reichlicher mit entsprechenden Statuen füllen. Sie werden zu Hunderten von einem begünstigten Bildhauer fabrikmäßig gemacht und stellen den lebenden Privilegirten die todten Muster und Vorbilder der alten, guten, hohen Gesellschaft vor, welche noch muthig fortleben in 5,600,000,000 Thalern Kriegsschulden, die sie dem Lande hinterlassen haben, um überall in Europa bald da, bald dort, Privilegien und Monopole politischer Art aufrecht zu halten oder wieder aufzurichten. Das Meiste verwandte man für die Bourbonen gegen Napoleon, mit dessen Enkel sie jetzt Hand in Hand in treuer, jubelnder Freundschaft als Vertreter und Kämpfer der „westlichen Civilisation“ gegen asiatische Barbarei in den Krieg zu ziehen vorgaben.

Das Parlamentsgebäude, die Herren, die darin Gesetze geben, ihr Krieg, ihre Interessen sind Gewebe von Widersprüchen, die hier zum Theil angedeutet wurden, und welche die große Krisis und Kritik, die jetzt hauptsächlich als Krieg erscheint, wohl auch in England endlich zersetzen und zur Harmonie mit der jetzigen Kultur auflösen werden.




Kulturgeschichtliche Bilder.
4. Die Fortschritte in der Bequemlichkeit des städtischen Zusammenlebens.
Die Beseitigung der Festungswerke und ihre Vortheile für die Gesundheit, Wohnlichkeit und Annehmlichkeit der betreffenden Städte. – Störungen der städtischen Reinlichkeit und Behaglichkeit in frühern Zeiten durch das Sicheindrängen landwirthschaftlicher Beschäftigungen in die Städte. – Mangelhafte Pflasterungs- und Reinigungsanstalten. – Die Straßenbeleuchtung in der ältern Zeit. – Die Häusernummern. – Ein Gang durch eine Stadt im vorigen Jahrhundert.

Wir haben in unserer letzten Schilderung den Zustand der Landstraßen, der Reisegelegenheiten und des Briefverkehrs in einer frühern Zeit mit denen der Gegenwart verglichen. Heut wollen wir ein dem verwandtes Thema behandeln: die Bequemlichkeiten des städtischen Zusammenlebens sonst und jetzt. Wenn wir ein Bild einer unsrer größern Städte aus dem vorigen oder ehevorigen Jahrhunderte betrachten, so fällt uns davon vor Allem auf, wie damals die Ausdehnung der Stadt beschränkt, die Bequemlichkeit des Sichausbreitens, der Anbau von Gärten, die Anlegung öffentlicher Spaziergänge, freier Plätze oder schattiger Alleen gehemmt war durch die rings um die Stadt enschließenden Befestigungswerke, Wälle und Gräben, Bastionen und Thore. Der ursprüngliche Zweck der Anlegung von Städten war ja die gemeinsame Vertheidigung hinter Mauer und Wall und, obgleich seit der Erfindung des Pulvers und der Einführung der Feuerwaffen diese Schutzwehren viel von ihrem Werth verloren hatten, so dauerte es doch noch geraume Zeit, ehe man das Vermächtniß einer frühern Kulturperiode aufgab, die Scheidewand, welche die Städte vom offenen Lande trennte, niederriß und der städtischen Bevölkerung freien Raum zur behaglichen Ausbreitung und zur Gewinnung von allerhand, bis dahin entbehrten Bequemlichkeiten verschaffte. Erst die neueste Kriegskunst, welche überall mit großen Massen operirt und daher höchstens solchen festen Plätzen, welche einem bedeutenden Truppencorps als Stützpunkt oder Rückzugslinie dienen konnten, einen strategischen Werth beimißt, hat die Zwecklosigkeit der Befestigung solcher Orte, denen jene Bedeutung abgeht, völlig außer Zweifel gestellt und den gewichtigen Gründen Geltung verschafft, welche vom nationalökonomischen, kommerziellen und allgemein kulturhistorischen Standpunkte aus längst schon für die Beseitigung aller derartigen Festungswerke, für die Verwandlung der abgeschlossenen Städte in offene Plätze sprachen. Daher sehen wir nach den letzten französischen Kriegen sogar solche Städte, die mit besonderem Fleiß befestigt waren und sich auch wirklich bisweilen als nicht ganz verachtungswerthe Objekte einer militärischen Vertheidigung erwiesen hatten, wie z. B. Dresden, ihrer Wälle und Gräben entkleidet.

Wie sehr durch diese Veränderung die ganze Physiognomie der Städte sich verjüngen, wie groß der Gewinn sein mußte, den sie in Bezug auf Gesundheit, Wohnlichkeit und Annehmlichkeit aller Art daraus zogen, liegt auf der Hand und lehrt der oberflächlichste Blick auf ihre jetzige und ihre frühere Gestalt. Die bis dahin auf einem kleinen Raume eng zusammengepferchte Bevölkerung dehnte sich jetzt behaglich aus, indem sie sich ungehindert über die Vorstädte ausbreitete, die, nicht mehr durch Zwinger und Thore von der innern Stadt abgeschlossen, ja in mancher Beziehung noch größere Annehmlichkeiten des Wohnens darboten. Die Straßen und Plätze der innern Stadt selbst waren nun dem freien Durchzuge der frischen Luft geöffnet, welchen bis dahin die [570] umgebenden Mauern zum größten Theil ihnen versagt hatten, wurden nicht mehr durch die Ausdünstungen des in den Stadtgräben sich ansammelnden fauligen und schlammigen Wassers verpestet. Vielmehr erhoben sich jetzt auf dem durch Auffüllung dieser Gräben geebneten Boden gewöhnlich anmuthige Baumpflanzungen, welche ebenso sehr durch ihren luftreinigenden Einfluß für die Gesundheit, wie durch ihren kühlenden Schatten für das Wohlbehagen der Bevölkerung vom größten Werthe waren. Oder man benutzte wohl auch diese Vertiefungen rings um die Stadt, um Blumen- und Gemüsebeete oder Obstpflanzungen darin anzulegen. Manche öffentliche Anlagen, z. B. der Park zu Leipzig, der Thiergarten bei Berlin, der Augarten bei München, der Wiener Prater, die Anlagen in Mannheim und Kassel u. s. w., waren zwar schon zu einer Zeit entstanden, wo an die Beseitigung der Festungswerke um die Städte noch nicht Hand angelegt war, allein eben deshalb erwies sich ihr Gebrauch vielfach erschwert, ihr Bestehen selbst nicht selten gefährdet, so lange sie von den Städten, denen sie als Zierde und Erholungsorte dienen sollten, durch die zwischen ihnen und dem Kerne der Stadt mitten hindurch laufenden und gewöhnlich nur mit wenigen Durchgängen versehenen Zwinger abgesperrt waren. Man kann also wohl sagen, daß die eigentliche Verschönerung und Modernisirung unserer Städte hauptsächlich von der Zeit anfängt, wo sie aufhörten, befestigte Orte zu sein.

Nicht so leicht ließ sich ein anderes Ueberbleibsel aus den kriegerischeren Zeiten unserer Altvordern beseitigen, welches ebenfalls viele Städte in ihrem Aussehen und ihrer innern Bequemlichkeit beeinträchtigt: wir meinen die vielen engen und krummen Gassen.

Zum Theil allerdings mögen diese ihr Entstehen einer bloßen Sorglosigkeit der ersten Erbauer und dem Mangel baupolizeilicher Vorschriften in jenen früheren Zeiten verdanken; zum Theil aber war es wohl auch berechnete Absicht, welche dem Zwecke leichterer Vertheidigung die Anforderungen der Symmetrie und Bequemlichkeit opferte. Auch das Ueberbauen der obern Stockwerke über die untern, wodurch in manchen älteren Städten die ohnehin engen Straßen noch mehr verengt und verdüstert werden, mag seinen Grund häufig in dem Mangel an Platz gehabt haben, der durch die Umwallung der Städte, innerhalb derselben herbeigeführt ward. Solche Uebelstände verminderten sich wohl allmälig durch theilweise Neubauten; gänzlich verschwinden konnten sie nur da, wo etwa in Folge großer Feuersbrünste ganze Stadttheile aus dem Frischen aufgeführt werden mußten.

Aber auch noch andere, für den Schönheitssinn und das Behagen der Bewohner äußerst störende Unterbrechungen der Regelmäßigkeit der Häuser und Straßen finden wir in den meisten Städten einer frühern Kulturperiode. Viele derselben, auch von den größeren, trieben damals neben den eigentlich städtischen Gewerben mehr oder weniger ausgedehnte Feldwirthschaft. In Folge dessen drängten sich dann hervor mitten zwischen die städtischen Wohnungen hinein, landwirthschaftliche Baulichkeiten aller Art, Schuppen und Scheunen, Ställe und Höfe. Selbst in der Residenzstadt Berlin traf man solche noch bis gegen das Ende des 17. Jahrhunderts an, und mit Mühe gelang es der Regierung des großen Kurfürsten die Hinausverlegung derselben vor die Thore durchzusetzen. Ja, was noch ärger, an vielen Häusern Berlins waren damals mitten auf die Straße hinaus Schweineställe angebaut, und in ganzen Heerden liefen die Mastschweine in den Straßen und auf den öffentlichen Plätzen umher. Man konnte dem Unwesen nicht anders steuern, als durch ein, 1681 erlassenes allgemeines Verbot des Schweinemästens im Umkreise der Stadt. In kleinern Städten war dieser Unfug noch viel schlimmer. Noch im vorletzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts trieben die Hirten ihr Vieh durch die Straßen der herzoglichen Residenzstadt Gotha und mußte den Bewohnern Stralsunds (einer im Uebrigen durch Stattlichkeit und Bildung sich auszeichnenden Stadt) streng eingeschärft werden, keine Schweine und Hühner auf den Straßen wühlen zu lassen. Auch war es nichts Seltenes, daß man mitten in einer Stadt, zwischen bewohnten Straßen, wüste, entweder mit Sumpflachen bedeckte, oder zu Weideplätzen für das Vieh dienende Stellen fand.

Ordentliches Pflaster gab es noch vor etwa siebzig Jahren bei Weitem nicht in allen, Trottoirs nur in äußerst wenigen Städten. Schleußen oder ähnliche Anstalten zur Reinlichhaltung der Straßen wurden, als eine Seltenheit, allemal besonders gerühmt. Am aller Uebelsten aber sah es mit der Beleuchtung aus. Macaulay in seinem berühmten Geschichtswerk über England hat uns eine interessante Schilderung von der Einführung der ersten Straßenlaternen in London geliefert. „Im letzten Jahre der Regierung Karl’s II.,“ erzählt er, (also im Jahre 1684) „fand eine große Veränderung in dem londoner Polizeiwesen statt, eine Veränderung, welche vielleicht eben so Viel zu dem Wohlsein dieses großen Gliedes des Volkskörpers beigetragen hat, als Revolutionen von viel größerem Ruf. Ein sinnreicher Projectmacher, Namens Heming, erhielt ein Patent, welches ihm auf bestimmte Jahre das ausschließliche Recht der Straßenbeleuchtung in London verlieh. Er verpflichtete sich gegen eine mäßige Vergütung in mondlosen Nächten von Michaelis bis zu Mariä Verkündigung, von 6 bis 12 Uhr vor jeder zehnten Thür ein Licht anzubringen. Wer die Hauptstadt jetzt sieht, wie sie das ganze Jahr hindurch, vom Dunkelwerden bis zum Tagen, mit einem Glanze strahlt, im Vergleich mit welchem die Illuminationen für La Hogue und Blenheim blaß erschienen wären, wird vielleicht mit Lächeln an Heming’s Laternen denken, welche ungefähr den dritten Theil des Jahres vor einem Hause unter Zehen einen kleinen Theil der Nacht ein schwaches Dämmerlicht warfen. Aber das war nicht das Gefühl der Zeitgenossen. Sein Plan erfuhr begeisterten Beifall und wüthenden Angriff. Die Freunde des Fortschritts priesen ihn als den größten aller Wohlthäter seiner Stadt. Was, so fragten sie, waren die gerühmten Erfindungen des Archimedes im Vergleich mit der Leistung den Mannes, der die nächtlichen Schatten zum Mittag verwandelt hat? Trotz dieser beredten Lobeserhebungen ward die Sache der Finsterniß nicht unvertheidigt gelassen. Es gab Thoren in jenem Zeitalter, welche sich der Einführung dessen, was „das neue Licht“ genannt wurde, so eifrig widersetzten, wie Thoren in unserm Zeitalter sich der Einführung der Kuhpockenimpfung und der Eisenbahnen widersetzt haben, so eifrig wie die Thoren eines frühern Zeitalters in der Frühdämmerung der Geschichte sich ohne Zweifel der Einführung des Pfluges und der Buchstabenschrift widersetzten. Viele Jahre nach dem Ausstellungstage von Heming’s Patent gab es ausgedehnte Bezirke in London, in denen keine Lampe zu sehen war.“

So Macaulay. Aehnliches läßt sich aus derselben Zeit, zum Theil sogar aus einem noch spätern, von den meisten Städten des Festlandes berichten. Als man zuerst die Nothwendigkeit empfand, die Straßen zu erhellen, verfiel man auf folgendes Auskunftsmittel. Man befahl dem einzelnen Hausbesitzer, während gewisser Stunden der Nacht abwechselnd – gewöhnlich von 3 zu 3 Häusern – ein Licht oder eine Laterne vor dem Fenster anzubringen. Auch in London scheint dies die früheste Art der Straßenbeleuchtung gewesen zu sein. In Paris ergingen solche Verordnungen, in Folge der Unsicherheit, welche Räuber und Mordbrenner in den dunkeln Straßen der Stadt verbreiteten, schon beim Anfange des 16. Jahrhunderts, wurden auch mehrmals in der nächstfolgenden Zeit wiederholt, bis man endlich, 1558, an den Ecken der Gassen und wo diese zu lang waren, noch außerdem in der Mitte derselben, sogenannte Fallots errichtete, ein den Grubenlichtern in unsern Bergwerken ähnliches Geleuchte. Es läßt sich denken, daß die Wirkung dieser vereinzelten und schwachstrahlenden Lichter keine sehr glänzende war. Zwar setzte man bald an die Stelle der Fallots ordentliche Laternen, aber auch dennoch muß die Beleuchtung eine sehr mangelhafte gewesen sein, denn im Jahre 1662 ließ sich ein Italiener ein Patent auf die Vermiethung tragbarer Laternen und Fackeln ertheilen. Solche waren auch an andern Orten in Gebrauch, wo es an Straßenlaternen fehlte, so z. B. in Leipzig bis zum Anfange des vorigen Jahrhunderts. Diese wandelnde Straßenbeleuchtung mochte aber wohl, namentlich die offen getragenen Fackeln, allzu feuergefährlich erscheinen, denn man verbot deren fernern Gebrauch auf’s Strengste nach der Einführung der Straßenlaternen, welche in Leipzig 1701, in Dresden 1705 statt fand. In Paris, um auf diese Stadt noch einmal zurückzukommen, datirt die erste ordentliche Straßenbeleuchtung – jedoch nur für etwa 5 Monate des Jahres, vom 20. October bis zum letzten März – aus dem Jahre 1671. Ohngefähr eben so alt ist diese Einrichtung in Amsterdam, im Haag, in Hamburg, Berlin und Wien. In Frankfurt am Main ließ der Rath 1707 einige Laternen auf dem Römerberge aufrichten, aber sie fanden keinen Beifall und erst 1711 kam es zu einer allgemeinen Anlegung derselben durch [571] die ganze Stadt. Kassel und Darmstadt, zwei fürstliche Residenzen, hatten noch in den 60. und 70. Jahren des vorigen Jahrhunderts eine nur sehr unvollkommene und auf wenige Theile der Stadt beschränkte Straßenbeleuchtung. In Italien waren noch um 1780 nur wenige, selbst der größten Städte beleuchtet: Rom nicht, Neapel nicht, wohl aber Venedig. Ein Reisender, der im Jahre 1771 Sicilien und Griechenland besuchte, fand nur in Palermo eine regelmäßige Straßenbeleuchtung. Auch Lissabon entbehrte dieses Vorzugs bis in die 80. Jahre, während Madrid, obschon übrigens vernachlässigt und unsauber, doch an Glanz seiner Beleuchtung damals mit London wetteiferte.

Natürlich waren die technischen Mittel dieser Beleuchtung damals noch sehr unvollkommen und wir dürfen uns daher auch von den angeblich besterleuchteten Städten in jener Zeit nicht entfernt ein ähnliches Bild machen, wie das ist, welches heutzutage die im Glanze vieler Tausende von Gasflammen strahlenden Plätze und Straßen unserer großen und sogar vieler Mittelstädte gewähren. Noch eine Bequemlichkeit – auf die wir heutzutage, wo sie allgemein ist, kaum mehr achten, die wir aber, wenn sie uns plötzlich wieder entzogen werden sollte, schmerzlich vermissen würden, fehlte in den meisten Städten noch vor etwa 100, in vielen und selbst bedeutenden noch vor 70 – 80 Jahren – die Nummern an den Häusern zur Orientirung beim Aufsuchen eines bestimmten Hauses. Von London erzählt Macaulay, daß man dort statt der Nummern (die doch von geringem Nutzen gewesen sein würden, weil die Kutscher, Sänftenträger und Laufburschen damals nur selten lesen konnten) an den Häusern und Läden allerhand groteske Bilder angebracht habe, an denen die Vorübergehenden dieselben unterschieden. Auf ähnliche Weise mögen auch bei uns die vielen Bezeichnungen solcher Art entstanden sein, die sich namentlich in den Städten finden, wo ein zahlreicher Verkehr von Fremden auch in den Privathäusern, theils um da zu wohnen, theils um Handel zu treiben, statt fand, wie z. B. Leipzig.

Stellen wir uns einen Fremden vor, der im vorigen Jahrhundert am Abend in einer Stadt ankommend, ausgeht, um einen Bekannten oder Geschäftsfreund aufzusuchen, und nun – im besten Falle – bei dem zweifelhaften, mehr blendenden als erhellenden Lichte einiger, weit von einander entfernter, über der Mitte der Straße sich hin- und herwiegender Laternen, bald über das holprichte Pflaster hinstolpert, bald durch bodenlosen Morast und nicht zu umgehende Pfützen waten muß, oder, wenn er sich längs der Häuser halten will, jeden Augenblick in Gefahr steht, über einen der dort aufgethürmten Schmutzhaufen zu fallen, an irgend einen Vorbau, der ungenirt in den Weg vorspringt, sich zu stoßen, von allerhand, rücksichtslos aus den Häusern gegossenen Unreinigkeiten überströmt, auch wohl, wenn es gerade regnet, von einem der Löwen- oder Delphinköpfe, welche das Wasser der Dachrinnen in weitem Bogen auf die Straße ergießen, durchnäßt zu werden – dazu endlich die Schwierigkeit, die gesuchte Wohnung, welche keine Nummer, vielleicht kaum den angeschriebenen Straßennamen andeutet, in solchem Halbdunkel zu finden – und wir werden gestehen müssen, daß die Bequemlichkeit, die Leichtigkeit, der Comfort des Lebens und des Verkehrs in dieser Beziehung auf erfreuliche Weise zugenommen hat!




Fürst Sergiewitsch Mentschikoff.[1]

Kaum hatte Fürst Leiningen im Februar 1853 die Forderungen Oesterreichs bei der hohen Pforte durchgesetzt, und zu großer Genugthuung der geängstigten Gemüther Constantinopel unter dem Donner der Geschütze von Topana verlassen, als die durch das Resultat der Unterhandlungen wenig befriedigte Partei der griechischen Hetäristen sofort Alles in neue Spannung versetzte durch das ausgesprengte Gerücht, daß in wenig Tagen ein Gesandter des Kaisers Nikolaus mit noch ganz andern Forderungen eintreffen würde. Nur die Griechen schienen, das durfte man aus der gesteigerten Arroganz ihres Auftretens schließen, etwas Bestimmtes von der Sache zu wissen; der übrige Theil der Bevölkerung war über das „wann“ und „warum“ gleich sehr im Dunkeln, und selbst die Diplomatie mußte diese Ungewißheit theilen, da Herr von Lavalette, der die Frage der heiligen Orte eingefädelt hatte, erst in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar plötzlich einpacken ließ und vor Tagesanbruch mit einem französischen Dampfer das Feld räumte.

Es war ein heiterer Morgen, als ich durch Zufall in die Nähe des russischen Gesandtschaftshotels kam, vor dem sich schon seit einigen Stunden die Massen gesammelt hatten, die bis zum Mittage durch die immer zahlreicher herbeiströmenden Griechen zu einer undurchdringlichen Phalanx von orthodoxen Fanatikern heranschwollen, – eine Zusammenrottung, wie sie eben nur in der Hauptstadt der viel angefochtenen Türkei geduldet werden konnte, unter den Augen einer Regierung, gegen die sie den Stempel einer herausfordernden Demonstration offen zur Schau trug. – Um zwei Uhr öffneten sich die Thore des Palastes und der Wagen des russischen Geschäftsträgers, gefolgt vom ganzen Gesandtschaftspersonale, gab das Signal zum Aufbruche nach Topana, wohin das ganze wilde Heer nun strömte. Ich folgte langsam dem großen Zuge. Um drei Uhr verkündeten einundzwanzig Kanonenschüsse die Ankunft des russischen Dampfers, und eine halbe Stunde später setzte sich der Zug vom Landungsplatze wieder in Bewegung die steile Straße hinauf nach Pera, voran in der Equipage der Gesandtschaft Fürst Mentschikoff in voller Uniform neben dem bisherigen Geschäftsträger, Staatsrath Ozeroff, ihm nach ein endloses Gefolge zu Pferde, russische Generale, das Personal der Gesandtschaft, die Notabilitäten der russischen und griechischen Colonie, und hinterher der ganze Troß der gläubigen Menge, die in dem Fürsten nichts weniger als den Messias erblickte, der das Kreuz wieder auf die Aja Sofia zu pflanzen gesandt war. In dem zahlreichen Gefolge von Offizieren befand sich unter den glänzendsten Namen des russischen Adels auch Admiral Kornilew, der sich bald darauf durch eine in Mentschikoff’s Auftrag unternommene Mission nach Griechenland und den ihr auf dem Fuße folgenden Aufstand im Epirus und Thessalien einen Ruf erwarb, und seitdem beim Beginn des Bombardements von Sebastopol als eines der ersten Opfer fiel.

Auf den weiteren Verlauf der vielbesprochenen Sendung Mentschikoffs zurückzukommen, ist hier nicht der Ort, obwohl über die vielfachen Manöver, die von der russisch-griechischen Partei theils zur Sondirung der Ansichten im Publikum, theils zu Lenkung derselben durch Drohungen, Einpacken und ostensibles Umherschleppen der eingepackten Effekten durch die Straßen Pera’s ausgeführt wurden, sich manches Interessante erzählen ließe; – es genüge, hier noch auf den Gegensatz zu dem prunkvollen Einzuge dieser Gesandtschaft hinzudeuten, der in dem endlichen, von keinem Auge bemerkten Verschwinden derselben, ohne Sang und Klang, bei Nacht und Nebel, liegt, nachdem sich der Fürst schon acht Tage zuvor, das Scheitern seiner Mission ahnend, auf sein Dampfschiff und nach Buyukdere, drei Stunden oberhalb Constantinopels in der Nachbarschaft des schwarzen Meeres, zurückgezogen, eine Unschlüssigkeit zeigend, die einen seltsamen Kontrast zu seinem entschiedenen und herausfordernden ersten Auftreten bot.

Ich gebe nachstehend sein Portrait, nach einem in Constantinopel für den Staatsrath Ozeroff gefertigten Daguerreotyp gezeichnet, meines Wissens das einzige authentische Bild des Fürsten. Wenigstens darf ich aus guter Quelle versichern, daß sich der Fürst stets geweigert, zu seinem Portrait zu sitzen und daß deshalb alle von ihm existirenden Bildnisse nur aus der Erinnerung gemalt und wenig zuverlässig sein können. Von der charakteristischen Wiedergabe seiner Züge in vorliegendem Bilde hatte ich wiederholt Gelegenheit, mich zu überzeugen, sei es, daß der glanzvolle Vertreter Rußlands in seiner unscheinbaren, man möchte sagen abgetragenen,

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Fürst Sergiewitsch Mentschikoff.

bürgerlichen Kleidung, mit zerknittertem Hute, in durchaus nachlässiger Haltung durch die Straßen Pera’s wandelte, auf den Krückstock gestützt, seinen beständigen Begleiter seit der etwas sonderbaren Verwundung bei der Belagerung Varna’s im Jahr 1828, – sei es, daß er, noch weit unbemerkter, von zwei Ruderern gefahren, im einfachen Kaik an den reizenden Gestaden des Bosphorus hinglitt, denen er einen andern Herrn zu geben gekommen war. Mentschikoff wurde uns vielfach als geistreich geschildert, wenigstens circulirten damals in Constantinopel viele treffende geistreiche Bonmots, die ihm zugeschrieben wurden. – Mit demselben etwas abgeschabten Hute, in demselben Paletot, denselben Krückstock in der Hand, war er auf der Hohen Pforte erschienen, so gegen das uralte Herkommen verstoßend, demgemäß der Gesandte einer fremden Macht nur mit möglichster Entfaltung von Pracht und Glanz zur Antrittsaudienz auffahren durfte. Nichts verzeiht der Türke schwerer, als eine Nichtachtung der hergebrachten Etiquette, und wäre Mentschikoff in Gala statt im Paletot erschienen, er hätte wahrscheinlich eine weniger starre Opposition gefunden; ja in Constantinopel kann man die Ansicht vielfach äußern hören, daß ohne diesen unseligen Paletot die Sachen nie so auf die Spitze getrieben, vielleicht der Weltfriede erhalten worden wäre. Wie manches Stückchen Weltgeschichte ist schon durch einen Unterrock gemacht worden, warum nicht auch einmal durch einen russischen Paletot?



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Pariser Bilder und Geschichten.
Mademoiselle Rachel.

Wer die berühmte Schauspielerin in ihrem eigenen Hotel Rue Trudon besucht, sie wie eine Königin von Schmeichlern, Verehrern, Bewunderern jedes Ranges, von Bewerbern um Gunst oder irgend eine Fürsprache oder Verwendung umgeben sieht, zu ihren Füßen alle Herrlichkeiten der Erde: Ruhm, Glanz und Reichthum, oder wer der gefeierten Künstlerin in der vornehmen Welt begegnet, wo sie stets mit Anmuth und Takt den Mittelpunkt der Unterhaltung bildet, der wird es kaum glauben, viel weniger errathen, aus welchem Grund und Boden diese Wunderpflanze emporgewachsen, welche Dürftigkeit ihre Amme, welcher Jammer ihr Erzieher gewesen. Sie ist eine Jüdin, der Typus ihres Stammes ist scharf in ihren Zügen ausgeprägt, die nichts weniger als schön sind, die aber schön werden durch geistige Belebung, durch den Zauber, den ihnen der Genius verleiht. Ihr dunkles Auge geht tief in die Seele hinein und zeigt Stürme ohne Besänftigung. Wer da so recht hineinblickt, dem ist es, als würde er von einem Wirbel erfaßt. Dieses Weib bezwingt und beherrscht, sie gewinnt nicht; sie fesselt, aber sie beglückt nicht.

Es war im Sommer des Jahres 1833, als Herr Etienne Choron, der berühmte Gründer des königlichen Instituts für religiöse Musik an einem der Kaffeehäuser der elyseeischen Felder vorüberzugehen im Begriff, stehen blieb, von den Tönen eines Mädchens festgehalten, das den Gästen ein Lied zur Guitarre vorsang, um dann freiwillige Spenden dafür einzusammeln. Es war viel Ausdruck in dem regellosen Gesang; es war Metall und Kraft in dieser Stimme, die niemand Andrem als der kleinen Rachel gehörte, damals ein Kind von zwölf Jahren. – Der Meister näherte sich der Sängerin, deren Anzug theils zerfetzt, theils mit ungleichartigem Stoff geflickt, ein sprechendes Aushängeschild der tiefsten Armuth war, und bot ihr seinen Unterricht und seine Schule an.

„Wie sehr würde ich mich freuen, Ihre Schülerin zu werden, mein Herr,“ antwortete das Kind in einem sehr schlechten Französisch, „doch weiß ich nicht, ob es meine Aeltern zugeben.“

„Wir wollen sehen,“ sagte der würdige Greis, erbat sich von dem Mädchen die Adresse und begab sich den andern Tag zu Herrn und Madame Felix, den Aeltern der kleinen Sängerin.

Diese wohnten mit dem Elend und mehreren Kindern zusammen in einer winzigen Wohnung, sechs Treppen hoch. Sie lebten nun zu Paris vom Handel mit alten Kleidern, den sie früher wie Zigeuner von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt wandernd getrieben hatten, und von dem, was zwei der Mädchen durch ihren Gesang auf den Straßen und in Kneipen erwarben. Herr Felix erwies sich alsogleich bereit, auf den freundlichen Antrag des Musikmeisters einzugehen, der den alttestamentarischen Namen Rachel in Elisabeth verwandelte, weil ihm jener dem Institut für heilige Musik wenig entsprechend vorkam. Das war der Moment, in welchem das Loos der kleinen Jüdin eine Wendung zum Bessern nahm; bis dahin jedoch, welchen Entwürdigungen war sie preisgegeben; was hat ihr Auge zu sehen, ihr Ohr zu hören bekommen! Man muß Paris und seine Tiefen, Herrn Felix und seine Moral kennen, man muß wissen, wie ein ununterbrochener Verkehr mit dem Gemeinen, mit dem Verwerflichen auf Glauben, Urtheil und Meinung eines Kindes wirkt, um die ganze Gesunkenheit des armen Geschöpfes zur Zeit, da sich Herr Choron dessen annahm, zu ermessen, um manches der Künstlerin von heute, der Emporgerichteten, nachzusehen, was sie sicherlich aus dieser Zeit des Verfalles mitgebracht. Wer in solchem Schlamm, wie die Rachel getaucht, und sich doch emporgerafft, wem die Kinderjahre solche Blüthen gebracht, wie ihr, der mag, wenn auch nicht fleckenlos gegen jede menschliche Anklage sicher gestellt sein. Denn es muß ihm jeder Vorzug hundertfach angerechnet werden, um seine Fehler und Schwächen aufzuwiegen.

Als Herr Etienne Choron der kleinen Jüdin seinen Schutz angedeihen ließ, konnte sie mit großer Schwierigkeit lesen und mit noch größerer höchst mangelhaft schreiben, eine Unzulänglichkeit, welche selbst von der Künstlerin und Weltdame noch heute nicht gänzlich überwunden ist. Mademoiselle Rachel liest und schreibt nicht mit jener Geläufigkeit, die eine frühzeitige Uebung verleiht.

„Sie haben die französische Sprache gerettet,“ sagte der berühmten Schauspielerin der galante Graf Molé, der sich mit ihr in einem Salon zusammenfand. Sie verneigte sich ehrerbietig für die Höflichkeit und erwiederte:

„Das ist ein besonderes Glück, denn ich habe sie nie gelernt.“

Nach ungefähr einem Monat erkannte Herr Choron, daß die Stimme seines Schützlings mehr zur Deklamation als zum Gesang geeignet sei, und empfahl sie dem Herrn Pagnon Saint-Aulaire, der Privatstunden in der recitirenden Kunst ertheilte. Dieser nahm sie auf und verwendete alle Sorgfalt auf ihre Ausbildung für die Tragödie. Vier Jahre lang arbeitete der väterliche Lehrer an Auffassung, Verständniß und Ausdruck seiner Schülerin und legte den Grund zu künftiger Vorzüglichkeit und Auszeichnung. Große Verstandesfähigkeit, die herrlichsten physischen Mittel, Ausdauer, Geduld und Unermüdlichkeit des Zöglings erfreuten und ermunterten den Meister. Die Rollen der Hermione, der Iphigenie und der Maria Stuart wurden der jungen Rachel von Herrn Saint-Aulaire bis auf die Betonung jedes einzelnen Wortes einstudirt. Außer der Unkenntniß der angehenden Schauspielerin hatte ihr Meister auch noch ihren Hang zum komischen Fache zu bekämpfen, den sie, ihre Natur und Fähigkeit verkennend, geltend zu machen suchte. Auch jetzt noch hat die berühmte Rachel die Sucht, Lachen zu erregen, und sie läßt gewiß keine Gelegenheit vorbeigehen, auf einem zweiten Theater oder sonst wo eine heitere Rolle zu spielen, ob sie gleich auf keinen erheblichen Erfolg zählen darf. Es ist eben in der menschlichen Natur, das am Meisten zu wollen, was man am Wenigsten kann. Da die achtzehnjährige Schauspielerin zum Auftreten auf eine Bühne hinlänglich vorbereitet war, besuchte sie Herrn Vedel, den Cassier des Theater Français, dessen Einfluß auf die innern Angelegenheiten der Staatsanstalt bekannt war, und lud ihn zu einer Vorstellung, bei welcher sie mitwirkte, in das kleine Theater Molière, Rue St. Martin, das Herr St.-Aulaire zur Uebung für seine Zöglinge gemiethet hatte.

„Welche Rolle werden Sie spielen, liebes Kind?“ frug Herr Vedel.

„Die Sobrette im „verheiratheten Philosophen.“

„Sonst nichts?“

„Nein. Anfangen werde ich mit der Hermione; doch diese verstehe ich nicht recht zu spielen. Belieben Sie nur zum zweiten Stück zu kommen.“

Herr Vedel verstand sich zu gut auf diese Dinge, um nicht an dem Organ, an dem ganzen Wesen des jungen Mädchens das Gegentheil von dem was sie sagte zu erkennen. Er fand sich am Anfang der Vorstellung ein. Nach dem ersten Akt, der ihn staunen gemacht, nahm er einen Wagen und jagte in die Rue Richelieu, um Herr Touselin, Direktor des Theater Français abzuholen.

Dieser theilte die Bewunderung des Cassier für das Talent der jungen Schauspielerin, die er im dritten Akt von Andromache sah, wie sie eine Kraft des Ausdrucks und der Rede entfaltete, deren er sich später oft erinnerte. Er ließ sich die begabte Schülerin vorstellen.

„Es liegt Ihnen daran, in das Conservatorium zu treten?“ frug er das Mädchen.

„O, mein Herr; es ist mein heißester Wunsch.“

„Das soll geschehen. Und ich nehme es über mich, Ihnen außerdem eine Unterstützung von 600 Franken jährlich zu verschaffen. Doch wenn Sie noch eine einzige Sobrette zu spielen sich vermessen, dann haben Sie es mit dem Minister und mit mir zu thun.“

Es war am 27. Oktober 1836, als Fräulein Elisabeth Rachel Felix zu den Vorlesungen des Herrn Michelot im Conservatorium zugelassen wurde.

Herr Vedel folgte Herrn Touselin in die Direktion des berühmten Theaters; allein statt daß dieses ein Vortheil für die Schülerin des Conservatoriums hätte werden sollen, gereichte es ihr vielmehr zum Nachtheil; denn die leitenden Gesellschaftsglieder der klassischen Anstalt machten Herrn Vedel durch ihre Angriffe und Intriguen in seiner neuen Stellung so viel zu schaffen, daß ihm nicht Athem genug übrig blieb, sich mit einem wirklichen Interesse der Kunst zu beschäftigen und der kleinen Rachel einige [574] Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Felix’s, welche Zuwachs an Kindern, aber nicht an Vermögen erhielten, waren sehr ungeduldig, die Vortheile, welche ihnen das Talent ihrer Tochter versprach, zu benützen. Sie liefen, sie drängten, sie trieben besonders Vater Felix, der die Sache gar nicht anders als seinen Handel mit alten Kleidern ansah.

Es fügte sich, daß der Direktor des „Gymnase“ bei einer Vorstellung der Chantereine gegenwärtig war, unsere junge Tragödin als Eriphile sah, und seine Verwunderung durch einen verhältnißmäßigen Antrag zu erkennen gab. Er lud die junge Schauspielerin zu sich, welche sich zur festgesetzten Zeit in Begleitung ihres Vaters einstellte.

„Welchen Gehalt sprechen Sie an, Fräulein, als Mitglied meines Theaters?“ frug Herr Poirson.

Das Mädchen sah, ohne zu antworten, den hebräischen Erzeuger an, der ohne Säumen in seinem Dialekt erwiederte: „Von 2000 Franken jährlich darf nicht ein Liard fehlen, Herr Direktor. Sie müssen besser wissen als ich, was meine Tochter werth ist.“

„Das denke ich selbst, und darum biete ich ihr 3000 Franken an, die jährlich um das Dritttheil vermehrt werden, wenn der Erfolg meinen Erwartungen entspricht.“

„So handeln habe ich mein Lebetag nicht gesehen,“ murmelte Herr Felix, nur von seiner Tochter verstanden, auf Deutsch vor sich hin, und zum Direktor gewandt sagte er:

„Ich unterzeichne sogleich, Herr Direktor.“

Die Sache ward ganz in Richtigkeit gebracht. Nach pariser Weise ward sogleich bei dem Handwerker Paul Duport ein Stück bestellt, mit einer Rolle, in welcher die junge Schauspielerin den ganzen Umfang ihrer Mittel und Fähigkeiten zeigen könnte. In kaum drei Wochen stand die „Vendeerin“ der Direktion des Gymnase zur Verfügung und wurde einstudirt. Herr Poirson sorgt dafür, daß die Presse mit Posaunenschall ein Wunder ankündigt, um ein zahlreiches Publikum zu den Vorstellungen zu locken. Die Spekulation schlug fehl. Mademoiselle Rachel hatte nicht den geringsten Erfolg und sie wird fortan nur mit untergeordneten Rollen bedacht. Nun kam der Moment, da die Tragödin die ganze Kraft ihres Willens, die Richtigkeit ihres Urtheils und ein gewaltiges, unüberwindliches Streben emporzukommen an den Tag legte.

Vater Felix war mit dem Verlauf der Dinge ganz zufrieden. Er hielt den unterzeichneten rechtsgiltigen Kontrakt in Händen, welcher ihm 3000 Franken jährlich zusicherte, und er sagte:

„Wenn ich meine Waare gut verkauft habe, was geht das mich an, wie man sie verwendet.“

Anders dachte die Tochter. Sie, die gerade nicht viel Thränen, weder entlockte noch geweinte unter ihren Perlen zählt, hat feuchte Augen, wenn sie darauf zurückkommt, was sie damals gelitten, was für Zweifel an ihrer Fähigkeit sie beschlichen und folterten, wie sie sich sorgsam prüfte, um herauszufinden, woran es ihr fehlte.

Nur großen Talenten ist es eigen ihre Kraft und Schwäche genau zu messen. Mademoiselle Rachel legte zu jener Zeit, da sie eine entmuthigende Niederlage erlitten, eine glänzende Probe ihrer künstlerischen Bedeutung ab; sie gab sich weder auf, noch schrieb sie, wie das bei Mittelmäßigkeiten gewöhnlich der Fall ist, die Erfolglosigkeit auf der kaum betretenen Laufbahn auf Rechnung äußerer Umstände und Verhältnisse wie Urtheilsunfähigkeit des Publikums, Intriguen ihrer Genossen u. s. w. Sie erkannte, daß ihrer theatralischen Ausbildung der letzte Schliff, die letzte Hand so zu sagen fehle und sah sich eifrig nach einem Meister um, der sich zu diesem Werk herbei ließe. Auf ihren Meister im Conservatorium, Herrn Michelot, konnte sie nicht zählen; denn dieser hat es sie nur zu deutlich fühlen lassen, daß er keine große Meinung von ihrer Fähigkeit hege und sich nicht sonderlich viel von ihrer Zukunft verspreche, so daß sie all ihres Bewußtseins bedurfte, um sich durch ihn nicht von dem eingeschlagenen Wege gänzlich abbringen zu lassen. Sie wandte sich an Herrn Vedel, der ihr so viel Freundlichkeit und ihrem Talent so viel Anerkennung erwiesen. Allein der Vielbeschäftigte, von Sorgen und Unannehmlichkeiten aller Art in Anspruch Genommene blieb ihr unzugänglich und ließ sogar ein Schreiben, was sie an ihn gerichtet, der viel gepriesenen französischen Galanterie ungeachtet, unbeantwortet. Flehend geht sie Herrn Provost, ersten Komiker am Theater Français, um seine geistige Unterstützung an. Doch dieser ist bis zur Unzartheit hart und nachdem er sich Einiges von ihr hat hersagen lassen, fällt er im Tone des Richters dieses geistige Todesurtheil: „Sie sind nicht für die Bühne gemacht, meine Liebe. Es ist besser Sie gehen auf die Boulevards Blumen verkaufen.“ Auch diesem Streich widersteht die kräftige Natur der Jüdin. Sie macht einen Versuch den Unterricht des Herrn Samson, des Professors am Conversatorium, zu erlangen, der Schauspieler und zugleich Theaterdichter. Nachdem ihm die Schauspielerin einige Verse rezitirt, ruft der tiefblickende Meister aus: „Gerechter Himmel, welche Wunder wollte ich wirken, wenn ich Ihr Organ hätte.“ Sie wurde seine Schülerin. Er, ein Mann von Bildung und Geschmack, in der Kunst des Mimen durch Theorie und Praxis erfahren, war der rechte Mann, dessen die unfertige Schauspielerin bedurfte. Er lehrte sie die reichen Mittel zur vollen Geltung bringen, er lehrte sie Maß halten, das Ausprägen der Einzelnheit ohne die großen Umrisse der Gebilde zu vernachlässigen, er lehrte sie nicht nur in den Sinn der Rolle, sondern jedes Wortes eingehen. Ihr rasch erforschender, treu bewahrender Geist, verbunden mit einem Körper, dem die Natur griechische Schönheit, plastische Vollendung verliehen, thaten das Weitere und so wurde sie – die Rachel. Herrn Vedel wird von seinen Gegnern Ruhe und Zeit gegönnt sich mit der von ihm geleiteten Anstalt zu beschäftigen und er fängt damit an, daß er die Verbindung der Rachel mit dem Gymnase, vermittelst Entschädigung auflöst und sie für das Theater Français mit 4000 Franken jährlich engagirt. Der hergebrachten Förmlichkeiten wie Probespielen und Antrittsrollen überhoben, ist Demoiselle Rachel bald darauf (am 12. Juni 1838) auf dem Anschlagzettel als Camille in den Horaciern von Corneille angekündigt. Die Vorstellung war wenig besucht, woran zum Theil die heiße Jahreszeit Schuld war, welche die vornehmen Leute d. h. die gewöhnlichen Theaterbesucher aus Paris in Badeorte, auf Reisen oder ihre Landwohnungen treibt, zum Theil aber die verjährte Richtung des Theaters, das sich dem Drang der Zeit und dadurch auch dem Publikum entzog. Unter den wenigen Zuhörern in dem halb leeren Saale befanden sich zwei, die der jungen Schauspielerin allein zahlreiches lärmendes, klatschendes Publikum waren. Ich meine Jüle Janin und Merle, damals kritische Autoritäten, die in dramatischen Dingen den Ton angaben. Seitdem ist Merle gestorben und Janin, der sich sehr wohl befindet, hat gänzlich sein richterliches Ansehen eingebüßt. Auch diese Unfehlbarkeit hat der Zweifel angefressen. Der Jupiter von ehemals schleudert keine Blitze mehr, die vernichten und versetzt nicht mehr unter die Sterne.

Janin und Merle erzählen Wunder von der Jüdin, die in Kaffeehäusern zur Guitarre gesungen, die nicht recht schreiben, lesen und selbst errathen gelernt und die Zauberkraft genug besitzt, die Werke Corneille’s und Racine’s aus dem Grabe heraufzubeschwören. Ganz Paris lief in’s Theater Français, um die Rachel zu sehen, zu hören und zu bewundern.

Es sind nun sechzehn Jahre seitdem verflossen und Paris, das eben so rasch ist, wenn es gilt, seine Idole zu zerstören, als zu schaffen, drängt sich heute noch athemlos in das Theater Français und überfüllt die Räume, wenn der Name der Rachel auf dem Zettel prangt. Sie hat der Anstalt, trotz der vielen Urlaubsreisen, vom Jahre 1838 bis 1852, die enorme Summe von 3,804,048 Franken eingebracht. Von der Seine bis zur Newa, von der Themse bis zum Arno hat man sie mit Gold und Lorbeeren überschüttet. Nun ist sie für die neue Welt jenseits des atlantischen Meeres für 12,000 Franken per Vorstellung, angeworben. Hierzu Lande mißt man Alles, selbst das Talent, ökonomisch nach Zahlen; die arithmetische Größe hat oberste Geltung.

„Wenn ich von Amerika zurückkehre, verlasse ich die Bühne,“ sagte Fräulein Rachel kürzlich zu Madame Aland, ihrer Collegin.

„Sagen Sie das noch nicht, was Sie schon so oft gesagt und doch niemals ausgeführt. Weder Ihr Alter, noch sonst ein Umstand veranlassen Sie, eine Thätigkeit aufzugeben, die Ihnen ein Bedürfniß geworden.“

„Das sagt meine Familie auch; allein ich weiß es sehr wohl, daß ich jeden Tag abwärts gehe.“

Der außerordentliche Erfolg der jungen Schauspielerin öffnete ihr alle Salons. Die vornehme Gesellschaft aller Parteien bemühte sich, sie in ihre Mitte zu ziehen. Als sie einmal in der Deputirtenkammer zu sehen war, richteten sich alle Blicke der Landesvertreter auf die berühmte Künstlerin und es fehlte nicht viel, so wären die wichtigen Verhandlungen in’s Stocken gerathen. Erstaunlich, wie gut und edel das jüdische Proletarierkind, das im [575] schlechten wie im guten Wetter mit der Guitarre umhergelaufen und allen Rohheiten des Haufens ausgesetzt war, die große Dame spielen gelernt. In engern Kreisen, wo sie sich mehr gehen ließ, schlug freilich sehr häufig die Erziehung der pariser Straßen durch und man vermißt an ihr die feine Sitte, die Zartheit des Gefühls, die man sich, wie es scheint, nicht angewöhnen und nicht anlernen kann, wenn man sie nicht mit der Muttermilch eingesogen. Die idealere Lebensanschauung fehlt der berühmten Schauspielerin gänzlich. Sie ist aber nicht verantwortlich für diesen Mangel; weder ihre häusliche Umgebung, in der sie emporgewachsen, weder die untere Sphäre, in der sie ihr Bestes aufgeben mußte, um wenig Geld zu gewinnen, noch die vornehme Welt, wo eben auch die Selbstsucht vorherrscht, mochten ihr eine Schule höherer Anschauungen sein. Ihre literarischen Freunde beklagen sich und mit Recht, daß der dramatischen Künstlerin aller Sinn für Kunst und Poesie abgehe. Die ehemalige Sängerin in den Kneipen langweilt sich und schläft ein, wenn man ihr Shakespeare oder Goethe vorliest. Sie zieht dieser Unterhaltung ihr Lieblingsspiel „Lotterie“ in einer Gesellschaft mir sehr schätzenswerthen Frauen vor. Aber sie ist so gewandten Geistes, so taktvoll, so überaus fein und geschmeidig, daß sie sich sogar im „Abbaye-aux-Bois“ wo Madame „Récamier“ die intime Freundin Chateaubriand’s, die auserlesenste, theils weltliche, theils geistliche Gesellschaft von Paris um sich versammelte, mit Glück zu bewegen wußte. Hier versuchten einige devote Gräfinnen Fräulein Rachel katholisch zu machen; allein sie widerstand der Bekehrung und blieb Jüdin nicht ohne eine gewisse Anhänglichkeit an ihren Glauben und mehr noch an ihren Stamm.

Als sie sich einst im Abbaye-aux-Bois mit dem Erzbischof von Paris zusammenfand, drückte der würdige Prälat sein Bedauern aus, daß er sie nie zu hören Gelegenheit gehabt und äußerte die Bitte, daß sie irgend etwas vortrage. Sie sprach den Monolog aus Polyeukt von Corneille, der mit den Worten schließt, die durch sie so berühmt geworden: „Ich sehe, ich weiß, ich glaube.“ Der Erzbischof war auf’s Tiefste erschüttert und konnte gar nicht genug seine Bewunderung aussprechen.

Dankbar erinnert sich die berühmte Schauspielerin der gastlichen Aufnahme, welche sie in dem Hause ihres Meisters, des Herrn Samson gefunden und der außerordentlichen Dienste, welche er ihr geleistet. Sie läugnet es nicht, daß sie ihm zum größten Theil ihr Emporkommen verdanke. Sie erzählt, daß sie bei Samson’s das erste wohlschmeckende Mahl eingenommen und in Berührung mit gebildeten Menschen kam, deren Nähe ihr wohlthat und sie erhob.

Als Herr Samson mit seiner Familie des Sommers in Charanton, einem Dörfchen bei Paris wohnte, geschah es, daß Fräulein Rachel später als verabredet war, zum Unterricht kam. Auf die Frage des pünktlichen Meisters nach dem Grund dieser Verspätung, gestand das Mädchen wehmüthig, daß sie nicht mehr als ein Kleid im Vermögen habe und warten mußte, bis es gewaschen war, um anständig erscheinen zu können. – Eine freundliche Beziehung bildete sich zwischen der Tochter des Herrn Samson und der Schauspielerin, mit der sie im gleichen Alter war. Die jungen Mädchen mochten sich gerade durch die Verschiedenheit ihrer Stellungen zu einander hingezogen fühlen. Wie wenig die arme Jüdin um jene Zeit von den Gesetzen der Schicklichkeit auch nur eine Ahnung hatte, mag folgender Zug beweisen.

Eines Tages kam sie zu Samson’s und fand ihre junge Freundin mit deren Aeltern beisammen. Sie grüßte diese und reichte Jener die Hand, bei welcher Gelegenheit sie dem Mädchen geheimnißvoll ein Papier zusteckte. Dieses ließ mit weiblichem Instinkte von dem was geschehen, nichts merken, entfernte sich auf eine Weise, die nicht auffiel, um nachzusehen, was das Papier zu bedeuten habe. Wie groß war ihr Erstaunen, als sie darauf eine ernste Liebeserklärung von Herrn Berton geschrieben fand, der sie nachmals heirathete und der, ein Zögling des Herrn Samson, in’s Haus kam und sie zu sehen Gelegenheit hatte.

Fräulein Samson, ein wohlerzogenes Mädchen, machte der Schauspielerin ernste Vorstellungen wegen des Ungeziemenden dieses Thuns.

„Aber liebe Rachel,“ sagte Fräulein Samson, „wie können Sie sich zu so etwas brauchen lassen? Und vergessen, daß Ihnen meine Aeltern die Thüren des Hauses gastlich geöffnet?“

Da fing die ehemalige Sängerin bitterlich zu weinen an und versetzte: „Ich habe geglaubt, Ihnen damit ein Vergnügen zu machen.“

Eine pariser Berühmtheit, zielt Fräulein Rachel auch außer der Bühne auf Effekt. In ihrem Salon findet man eine alte Guitarre an der Wand ausgehängt, angeblich dieselbe, welche ihr einst zu ihrem kümmerlichen Broterwerb gedient und die sie als eine Reliquie ihrer traurigen Vergangenheit präsentirt. Es ist indessen ausgemacht, daß dieses Instrument bereits zwei, drei Mal nachgekauft wurde, da das echte durch irgend einen Zufall längst abhanden gekommen.

In Paris gehört die Komödie zu jedem Handwerk. Napoleon I. hat sich von Talma Stellungen und Mantelwurf einstudiren lassen, um sich dem Volke in kaiserlicher Haltung darstellen zu können.

Die schönste Seite an dem Privatleben der Schauspielerin ist die Anhänglichkeit an ihre Familie; darin verläugnet sie ihren Stamm nicht, der wie kein Anderer die Bande des Blutes heilig. Das Verwandtschaftsgefühl hat sogar über ihren Hang zum Golde die Oberhand.

Als sie kürzlich die Nachricht von der bedenklichen Krankheit ihrer Schwester Rebecca erhielt, die sich in den Pyre, im Bade (eaux bonnes) befand, reiste sie unverzüglich dahin ab, ob sie gleich auf dem Anschlagzettel als Adrienne Lecouvreur in dem Stücke gleiches Namens angekündigt war, und sich der Kaiser für die Vorstellung hatte anmelden lassen. Der Tod dieser Schwester hat sie auf’s Schmerzlichste ergriffen, und ihre Thränen waren ungekünstelt.




Blätter und Blüthen.

Bärenjagden in Rußland. Wer jemals im Winter in Petersburg war, wird gewiß von Einladungen zu Bärenjagden und diesen selber zu erzählen wissen. Die Jagdclubs der russischen Hauptstadt machen jeden Winter große, kostspielige, glänzende Touren bis tief nach Finnland hinein, um Bären zu jagen. Sie haben Bauern in ihrem Solde, welche Bären im Winterschlafe aufsuchen und dann Bericht erstatten müssen. Der Bär liegt im Winter in seiner Höhle, nicht sowohl fest schlafend und von seinem Fette lebend, wie die Sage geht, sondern singend und gemüthlich brummend, während er sich an den Pfoten saugt, wie ein „Daumenlutscher“ in der Wiege. Dieser Gesang mit Hungerpfotensaugen verräth ihn den Bauern. Sie berichten, und nachdem Braun mit Hülfe anderer Bauern durch Geschrei und allerhand Stimmen- und Instrumentallärm aufgestört ist und schlaftrunken Anstalt macht, zu sehen, was los sei, umzingeln ihn die Jäger, um ihm beim ersten Erscheinen eine gute Menge blaue Bohnen auf den Pelz zu brennen. Doch schießen die Meisten zuerst blind, da nach den ersten Schüssen Gefahr und Jagd erst beginnen. Für so dumm man auch den Bär hält, er hat Mutterwitz. Merkwürdig und seinem Scharfsinne Ehre machend ist der Umstand, daß er allemal schnurstracks auf den Jäger zustürzt, der ihn zuerst getroffen. Schon haben zwanzig Jäger auf einmal geschossen, neunzehn blind und nur einer mit Ladung, es ist niemals gelungen, den Bär in sofortiger Ausfindung seines Feindes zu täuschen. Auch behält er diesen allein im Auge, so viele ihn auch auf dem Wege seiner Verfolgung treffen. Der träge Bursche ist in seinem Sturze auf den Feind so fabelhaft schnell, daß eben so viel Geschick als Geistesgegenwart dazu gehören, ihn unterwegs zu erlegen.

Ein Engländer, den wir in London kennen lernten, wußte eine drastische Geschichte mit einem drastischen Beweise von der furchtbaren Schnelligkeit des angeschossenen Braun zu erzählen. Er war im December 1852 mit einer Gesellschaft von etwa zwanzig Russen, Engländern und Deutschen von Petersburg aufgebrochen, um in Finnland eine große Bärenjagd mitzumachen. Zwischen Wäldern und Wüsten, Bergen und gefrornen Seen erfuhren sie durch einen Muschick, daß ein Sänger und Daumenlutscher mitten in einem Fichtenwalde entdeckt worden sei. Aus seiner Höhle herausgetrieben sah er sich erst eine Zeit lang um und schenkte Jedem der rings um ihn her stehenden Jäger einige Aufmerksamkeit, doch ohne besonderes Interesse an ihnen zu verrathen. Die Jäger winkten sich zu und den Kreis etwas enger ziehend machten sie Anstalt zum Feuern. Die Schüsse fielen. Der Bär stand ein Paar Secunden, als ginge ihn dies gar nichts an. Dann war er plötzlich mit wenigen Sätzen vor den Augen des Engländers, der seinen zweiten Schuß applicirte und floh. Der Bär, obgleich von beiden Kugeln gut getroffen, verfolgte den Engländer doch mit solcher Furie und Eile, daß er ihm beinahe auf den Fersen war, als ein Nachbar von 40 Yards Entfernung ihm ein Kugel durch die Rippen sandte. Ein dumpfes Geheul war Alles, was er als Quittung für diese Zahlung von sich gab, im Uebrigen setzte er seine Verfolgung fort. Schon hörte der Engländer die Bestie hinter sich schnauben, so daß er mit den letzten Resten seiner Kraft weiter sprang, dabei aber über eine Baumwurzel in den Schnee hinstürzte. Wenn der Bär seinen Feind nicht „umarmen“ kann, (oder ehe er’s thut), schlägt er mit seiner Vordertatze nach dem Kopfe und reißt, wenn er trifft, alles Fleisch bis auf die Knochen herunter. Hat er ihn unter sich, schält er zunächst mit einer unglaublichen Geschwindigkeit das ganze Gesicht ab, das ihn mit seinem menschlichen, geistig überlegenen [576] Ausdrucke in seiner Mahlzeit zu stören scheint. Hat er so das Gesicht weggelöscht, saugt er, falls er ungestört ist, mit Muse die Knochen ab und aus. Dabei geht er so ökonomisch zu Werke, daß er oft mit dem kleinen Finger anfängt, dann jeden andern Finger einzeln vornimmt, zur Hand, dann zu den Füßen fortschreitet und so endlich alle Knochen aussaugt, ohne diese selbst zu zerbeißen.

Unser Engländer erhob sich, gerade dem Bären dicht gegenüber, von seinem Falle und hielt unwillkürlich eine Hand gegen die ausschlagende Tatze. Der Schlag fiel, so daß ihm der Arm zerbrochen und ein Theil des Gesichts zerrissen ward. In demselben Augenblicke fuhr dem Bären eine vierte Kugel durch die Ohren in’s Gehirn, so daß er todt auf den Engländer hinstürzte und ihm den gebrochenen Arm dabei noch einmal brach. So zugerichtet, ward er schnell, aber doch sehr mühselig und kostspielig über Land nach London gebracht und zwar vollkommen wieder hergestellt, aber nicht ohne den Denkzettel, den ihm Braun zwischen Ohr und Auge eingegraben, sehr deutlich zu behalten.

Die finnischen Bauern, die nicht mit Schießgewehr spielen dürfen, haben eine geniale Methode erfunden, den Bären zum Selbstmörder zu machen. Seine Passion für Honig benutzend, hängen sie vor die Baumhöhlungen, in denen wilde Bienen ihren Honig getragen, an langen Stricken große Steine oder Kanonenkugeln. Der Bär schiebt das Hinderniß auf die Seite, das ihm in den Honigkeller im Wege ist. Das Hinderniß kommt dadurch in Schwingung und giebt ihm einen leisen Schlag an den Kopf. Er schiebt den Stein unwilliger hinweg, das dritte Mal schon ärgerlicher, das vierte Mal aufgebracht, das fünfte Mal wüthend, das sechste Mal rasend und so fort, da der Stein jedesmal desto schwerer und wuchtiger zurückprallt, je leidenschaftlicher er ihn von sich schlug. So sieht man ihn Stunden lang mit Pfoten, Klauen, Kopf und Rachen gegen den Stein kämpfen und brüllen und wüthen, bis er sich durch seine eigene Wuth thatsächlich selbst den Kopf zerschlagen hat, nachdem Hals, Rücken und Tatzen mit Beulen bedeckt sind. Nur zuweilen rettet ihn der Zufall seiner Wuth, wenn er den Strick selbst faßt, zerkratzt und zerbricht. Das geschieht jedoch selten, so daß die finnischen Bauern alle Winter eine Menge Bären abziehen, die auf die angegebene Weise an sich zum Selbstmörder wurden.




Kinder-Ausstellung in Amerika. Die Leistungen der Menschheit werden jetzt in allen Sphären und Phasen der Kritik und Oeffentlichkeit, der Concurrenz und Veredelung anheim gegeben, selbst Kinder. Die letzte große Kinderausstellung in Springfield (Staat Ohio, unweit Cincinnati) wird als wahrhaft glänzend geschildert. Auf einem 30 bis 40 Quadratfuß großen Plakate waren alle Besitzer und Besitzerinnen von Kindern zur Theilnahme und Concurrenz für die ausgestellten Preise aufgefordert worden. Es lautete (in der Uebersetzung) folgendermaßen:

„Große National-Convention von Säuglingen.

„Die Säuglinge der vereinigten Staaten werden eingeladen, auf dem Platze der Clark-Kreis-Ackerbaugesellschaft, Donnerstag, 5. Oktober 1854 sich mit Aeltern und Liebhabern einzufinden. Man wird für die beste Bequemlichkein Sorge tragen. Zu diesem Zwecke wird für die Versammlung ein glänzenden Zeltenhaus, das 10,000 Personen fassen kann, errichtet werden. Die Unterzeichneten hoffen deshalb, die größte Kinder-Convention, die jemals gehalten worden, zu sehen. Ein aus unbetheiligten Damen und Herren bestehendes Comité wird für die am Besten befundenen Kinder drei Preise im Werthe von 500 Dollars zuerkennen. Um diese Preise kann sich Jeder bewerben, nur unter der Bedingung, daß das concurrirende Kind nicht über zwei Jahre alt und in den vereinigten Staaten geboren sei. Das Comité verbürgt sich für alle Bedingungen des Gelingens, die irgend mit Geld, Mühe und Sorgfalt erreicht werden können. Es wird für die strengste Ordnung und die genaueste Beobachtung des Anstandes Sorge getragen werden, wozu eine Specialpolizei von hundert Mann angestellt werden wird, die Jeden, der sich die geringste Verletzung des Anstandes zu Schulden kommen lassen sollte, zu verhaften Befehl hat, so daß keine Dame Bedenken zu tragen braucht, sich zu betheiligen. Hoffen wir, daß Kinder in möglichst großer Anzahl erscheinen werden, so daß wir eine herrliche Ausstellung von Knospen zu sehen hoffen, mit der keine Blumenausstellung concurriren mag. Wir werden das Unsrige thun; thue Jeder das Seine. – Das Lokal-Executiv-Comité: H. Vival, J. Paist, J. Kleinfelder (Deutscher), R. Masow, G. H. Frey (Deutscher), E. B. Cassilly, B. H. Warder. –“

So hatten sich denn zum Jahrmarkt in Springfield im großen Zelte am 5. Oktober 120 tüchtige Schreihälse eingefunden, Knospen von Ohio, Pennsylvania, Luisiana, Massachussets und Indiana. Zwölf Frauen und zwölf Herren saßen zu Gericht, als man die übliche Vieh-Prüfung und die Ackerbauwerkzeug-Concurrenz (Wettpflügen u. s. w. – die olympischen Spiele Amerika’s, Stellvertreter der Paraden in der alten Welt) vollendet und mit Preisen gekrönt hatte. Das ungeheuere Zelt war übervoll und 120 Knospen bemühten sich, das Publikum durch ein sehr naives Vocal-Concert zu unterhalten, wozu die Mütter pischten und huschten, damit die Knospen den Preis nicht verschrieen. Den ersten Preis erhielt die zehn Monat alte Tochter eines William Rower aus dem Clark-Kreise (blieb also im Kreise) – ein Silber-Service; den zweiten, eine silberne Schüssel, der Sohn von M. M’Dovell aus Hamilton, den dritten, eine einfache silberne Schüssel, die Tochter eines Mr. Cann aus Philadelphia. Nach diesem Urtheilsspruche mit Preisvertheilung entstand ein ungeheurer Jubel, aber nur auf kurze Zeit, da das Volksurtheil im Widerspruche mit den Richterinnen die Tochter eines Mr. Howe aus Cincinnati allgemein für die schönste „Baby“ erklärt hatte. Ein Herr Graff beschenkte, dem Volksurtheile huldigend, die Schönste mit einem silbernen Krucifixe, einem vermeintlich frommen, aber wirklich sehr gottlosen Spielzeuge. Nach diesem Kinderfeste kam das Damenwettrennen, d. h. Prüfung der Damen in ihrer Reitkunst. Der erste Preis bestand aus Sattel, Zaum und Peitsche, der zweite einem silbernen Becher, der dritte silbernen Sporen. – Lächerlich für uns, nicht wahr? Aber in Amerika strebt man ernstlich nach Kräftigung des schönen und Veredlung des aufwachsenden Geschlechts. In Turn-, Kraft- und Geschicklichkeitsfesten kräftigen sich Jünglinge, so daß alle Elemente zusammenstreben, der Verweichlichung anderer Civilisation entgegen zu wirken.




Die Know-Nothings in Amerika. Die außerordentliche Zunahme von Einwanderern aus Europa in den verschiedenen Staaten Nordamerika’s hat bewirkt, daß es jetzt unter den 20 Mill. Bewohnern der Vereinigten Staaten etwa 4 Millionen giebt, die nicht dort geboren wurden. Da dieselben aber, besonders im Norden, wo sie schon nach einer Anwesenheit von einem halben Jahre alle Bürgerrechte ausüben dürfen, großen Einfluß, oft einen entscheidenden, auf den Gang der Verwaltung und Politik haben, so ist der Patriotismus der eingebornen Amerikaner empfindlich und gereizt worden. Schon vor zwanzig Jahren zwar bildete sich eine Gesellschaft mit der ausgesprochenen Absicht, alle „Fremden“ von den Staatsämtern auszuschließen und zehn Jahre lang wirkte sie in ihrem Sinne nach verschiedenen Seiten hin; weil indeß gerade damals die am Ruder stehenden Staatsmänner der Einwanderung günstig waren und dieselbe durch mancherlei gesetzliche Bestimmungen zu fördern, statt zu hemmen suchten, so erlosch die „Gesellschaft der eingebornen Amerikaner“ (native Americans) allmälig, in unsern Tagen aber erhebt sie sich mit unerwartetem Ungestüm und blinder Rücksichtslosigkeit von Neuem unter dem Namen der Know-Nothings (Nichtswisser), und vor mehreren Monaten machte sich ihr Bestehen gleichzeitig auf fast allen Punkten des Landes bemerklich. Sie zeigte sich nicht blos in den östlichen Staaten und in den großen Städten, sondern hauptsächlich im Westen, in dem sich die meisten Einwanderer finden.

Die Know-Nothings geben sich offen als das, was sie sind, als die Todfeinde aller Eingewanderten und Naturalisirten und nennen sich die wahren Vertreter der amerikanischen Nationalität. Von Parteifragen unter sich wollen sie nichts wissen, sondern alle Kraft nur gegen den „Einfluß der Fremden“ richten. Um diesen Einfluß zu bekämpfen, handelten sie wie die Revolutionäre in der alten Welt und organisirten sich unter dem Namen Freiheitshüter fast militärisch in Regimenter, Compagnien und Brigaden. Sie verlangen von dem zu ihnen Tretenden zwar keinen Schwur, aber die Versicherung auf Ehrenwort, die Gesetze des Landes als guter Bürger zu vertheidigen. Sobald eine Ruhestörung, ein Straßenauflauf erfolgt, begiebt sich der Commandant der Know-Nothings zu dem Mayor oder Sherif den Ortes, um seine Dienste zur Herstellung der Ordnung anzubieten. Auch in dieser Weise suchen sie die Herrschaft in ihre Hand zu bringen, aber sie gehen weiter: sie verlangen die Einführung eines rein amerikanischen Schulunterrichtes, namentlich aber die Abschaffung aller Naturalisationsgesetze und wissen bei jeder Gelegenheit den an sich gewiß richtigen Satz zu verfechten, daß Fremde nie und unter keiner Bedingung an der Regierung und Verwaltung eines Landes, in dem sie nicht geboren sind, das sie nicht kennen, Theil nehmen dürfen.

Noch nicht genug. Da der bei weitem größte Theil aller Einwanderer, die in Amerika ankommen, der katholischen Kirche angehören, so haben die Know-Nothings angefangen einen Kreuzzug gegen den Katholizismus zu predigen, den sie den gefährlichsten Feind der amerikanischen Freiheit nennen. Sie richten die dringendsten Aufforderungen an die Protestanten und scheinen sogar nicht abgeneigt zu sein, den alten Fanatismus der Puritaner, wenn es möglich wäre, neu in’s Leben zu rufen. Zu diesem Zwecke haben sie bereits eine Zeitung gegründet, den Know-Nothing and American Crusader, in welchem es heißt: „Der größte, der furchtbarste Feind des Landes, den, welchen wir Amerikaner vor jedem andern zu fürchten haben, ist die außerordentliche Macht der katholischen Kirche und ihr bereits bestehender nicht zu berechnender Einfluß auf unsere Angelegenheiten. Schon hat sie ihre Riesenhand erhoben etc.“ Und so schürt die neue Partei unablässig, um den – Religionshaß zum Brande anzufachen.

Die Disciplin der Know-Nothings ist charakteristisch. Sie treten nirgends geräuschvoll und eitel hervor; sie sammeln sich nicht um eine offen getragene Fahne, ja sie sprechen nicht auffallend oft; sie wirken mehr negativ und im Stillen, namentlich bei den Wahlen, um ihre Leute in den Congreß und in Stellen zu bringen, wie sie sich nie über den letzten Zweck erklären, welchen sie verfolgen.

Leider aber bleibt es bei der grundsätzlichen negativen Thätigkeit der Gesellschaft nicht. Wenn der amerikanische Parteigeist gereizt wird, wüthet er wie ein wildes Thier. So begannen die Know-Nothings in New-Orleans gegen die Irländer, die sie vorzugsweise hassen, einen blutigen Kampf, der vierzehn Tage dauerte, viele Opfer kostete und nicht anders zu unterdrücken war, als daß die Miliz ein Militairregiment einführte, das ziemlich dem Belagerungszustande glich. In St. Louis hatten die Demokraten, um die Wahl ihrer Candidaten für den Congreß durchzusetzen, hundert Meilen weit die irländischen Eisenbahnarbeiter herbeikommen lassen. Trotzdem setzten die Know-Nothings die Wahl ihres Candidaten durch und die Folgen davon waren blutige Schlägereien, die mehrere Tage lang andauerten.

Die verständigen und ruhigen Amerikaner verwerfen die Bestrebungen der neuen Partei, denn wenn es sich auch recht wohl erklären läßt, daß das protestantische und amerikanische Gefühl mißtrauisch gegen das riesig anschwellende Zuströmen fremdartiger Elemente wird, so ist es doch noch viel zu früh, schon jetzt den Nothschrei zu erheben, und mit Bangen blicken die Freunde der Vereinigten Staaten in und außerhalb derselben auf das Umsichgreifen einer Partei wie die Know-Nothings, die politischen und religiösen Fanatismus zu Hülfe rufen, um ihre Zwecke zu erreichen, die wie die Freimaurer in Europa geheime Zeichen und Logen haben und sich nicht scheuen, ihre Lehren mit Flintenschüssen zu begründen.



  1. In einem Augenblicke, wo die Aufmerksamkeit Europa’s durch die Ereignisse in der Krim neuerdings auf den Mann gerichtet ist, der vor anderthalb Jahren als Diplomat den Grund zu der kritischen Lage legte, aus der er nun als Feldherr die Armeen, die Flotte, die Ehre des gefürchtetsten Reiches Europa’s zu retten sich abmüht, dürfte es für unsere Leser von Interesse sein, aus der Hand einen Augenzeugen sowohl ein authentisches Bildniß des Fürsten Sergiewitsch Mentschikoff, als einige Notizen über sein Auftreten in Stambul zu erhalten. Der Zeichner des Bildnisses und zugleich der Verfasser der nachfolgenden Zeilen ist ein junger talentvoller Maler, der die letzten zwei Jahre in Constantinopel verlebte.
    Die Redaktion. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Odenzug