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Die Gartenlaube (1854)/Heft 32

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[369]

No. 32. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Der Schutzgeist des Hauses.
Ein Bild aus der Wirklichkeit von Sigmund Kolisch.
I.

Durch die Güte eines Freundes in die Familie Duberville zu Paris eingeführt, lernte ich im Jahre 1853 ein Stillleben kennen, das mir durch sein besonderes Gepräge sowohl, als durch den Gegensatz mit den häufig vorkommenden zerrissenen Häuslichkeiten in der französischen Hauptstadt auffiel. –

Herr Alfred Duberville war zur Zeit meiner Bekanntschaft mit ihm ein Mann von ungefähr 35 Jahren, von hoher Gestalt, einnehmend eben so durch sein Aeußeres, wie durch seinen gebildeten, anmuthigen Geist, durch sein zartes Benehmen und sein rücksichtsvolles Auftreten. Madame Delphine Duberville mochte um fünf bis sechs Jahre jünger als ihre stärkere Ehehälfte sein, sie war kaum mittelmäßiger Größe, aber zierlich gebaut, von anziehender Gesichtsbildung, eine holde Erscheinung, sanft, ungekünstelt, kindlich unbefangen, weiblich – eine seltene Eigenschaft bei Französinnen. Sprache und Klang der Stimme so mild und wohlthuend, daß man sich freute, sie sprechen zu hören. –

Än den drei Kindern, zwei Knaben und einem Mädchen, mit welchen diese Ehe gesegnet war, fand ich reizende zuthunliche Geschöpfe, liebevoll gehegt, eine glückliche Mischung von Milde und Lebhaftigkeit.

Arnold Granier, Delphinen’s Bruder, von regelmäßigen, aber harten Zügen, von mittlerer Größe, aber von stämmigem Körperbau. In Blick, Wort und Geberde den Ausdruck der Entschiedenheit, ein Mann von Welt, Erfahrung und allerlei Kenntnissen, besonnen, ohne Kälte und zurückstoßende Selbstsucht.

Adele Blaireau muß nothwendig zur Familie gezählt werden, obgleich sie durch keine Bande des Blutes an dieselbe geknüpft ist. Sie hatte bereits die Dreißig überschritten, ohne jemals vermählt gewesen zu sein, und gehörte somit zu dem arg verschrienen Geschlechte der alten Jungfern. Die trockene gelbliche Hautfarbe, die sichtlichen Spuren des Hinwelkens, man möchte fast sagen, des Verdorrens, die sich im Gesichte, am Halse, an den Händen, an allen Linien des Körpers deutlich genug kundgaben, verriethen diesen unglückseligen Stand. Aber Adele schlug aus der Art. Weit entfernt von der grämlichen Bitterkeit, von der krittelnden Empfindlichkeit, die Mädchen ihres Alters eigen, war sie im Gegentheil freundlich, schonend, voll warmer Theilnahme, die Duldsamkeit selbst. Auch im Benehmen gegen sie zeigte sich ein auffallender Unterschied, im Vergleich zu den gewöhnlichen Fällen dieser Art. Anstatt jene spöttische Geringschätzung ertragen zu müssen, mit der aller Orte und Lande Geschöpfe ihrer Gattung behandelt zu werden pflegen, wurde sie in dem Hause von Allen verehrt und hoch gehalten wie eine Autorität. Alfred Duberville begegnete ihr stets mit der zartesten Rücksicht und Theilnahme. Er ließ es Adelen gegenüber auch nicht einen Augenblick an jener Zuvorkommenheit fehlen, die man füglich die Höflichkeit des Herzens nennen kann.

Arnold, der ernste Mann, erwies sich bei jeder Gelegenheit als ihr Ritter, stets mit ihr und um sie beschäftigt. Er leistete ihr jene kleinen Dienste, durch welche man eine Frau auszeichnet. In Gesellschaft war er stets an ihrer Seite und suchte sie zu unterhalten. Auf Bällen war er ihr Tänzer, auf Landparthieen ihr Führer, oft mit Hintansetzung junger, vornehmer Damen, welche auf diesen Vorzug Anspruch machten. Er war so beflissen mit seinen Diensten und Huldigungen, als hätte er dieses Herz erobern wollen, von dem er doch wissen mußte, daß es unneinnehmbar. Hat es doch die Zeit gelehrt.

Für Madame Duberville ist Adele mehr denn eine Freundin; sie ist eine Schwester, Vertraute, Rathgeberin. Madame Duberville unternimmt so zu sagen gar nichts, ohne sich früher mit Adele besprochen zü haben, und diese weiß aber auch über Alles so trefflich Bescheid, wie Dies und Jenes einzurichten, wie Manches im Hause am Zweckmäßigsten anzuordnen sei, wo man am Billigsten diesen, wo jenen Bedarf kaufen kann, wie man die Wäsche vor Schaden bewahrt, wie man die Blumen pflegen muß, damit sie nicht zu früh verwelken, wie man das Pelzwerk im Sommer versorgt, damit es nicht verderbe. Auf dies Alles verstand sie sich vermöge ihres praktischen Sinns. Gab es Zwist zwischen Mann und Frau, dessen sich wohl kaum ein Haushalt erwehrt, oder sonst Etwas, so war sie es, welche versöhnte und ausglich. War Delphine von Eifersucht gequält, was nicht selten vorkam, half Adele dem Uebel dadurch ab, daß sie Alfred veranlaßte, diese oder jene Gesellschaft, dieses oder jenes Haus zu meiden. Und das gelang ihr immer, denn Alfred hatte keinen Widerspruch für das Mädchen.

Als einmal der kleine Louis schwer erkrankte, war es Adele, welche bei ihm ganze Nächte hindurch wachte und sein wartete, denn Madame Duberville war außer sich gerathen und es fehlte ihr die Kraft und die Fassung, dem Kinde die nöthige Hülfe zu leisten. Auch die andern Hausgenossen waren nicht anstellig genug zu dem Geschäfte. Adele mußte sie Alle ermuthigen. Man nannte sie seit der Zeit den „Schutzgeist des Hauses.“

Die Kinder verließen, wenn sie kam, Spielzeug und volle Teller, und stürzten ihr jauchzend entgegen. Und ließ sie sich zwei Tage nicht sehen, fehlte sie allen im Hause. Die Kleinen wollten zu ihr geführt sein, man ging oder schickte zum Mindesten in ihre Wohnung, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Freilich [370] brachte Adele ihren kleinen Freunden die interessantesten Geschenke mit, bald einen Vogel, bald einen kleinen Hund, bald ein possierliches Spielzeug, einen wackeligen Juden, eine schreiende Puppe, einen nähenden Schuster, der bei dem Geschäfte die widerlichsten Gesichter schneidet. Es war aber noch mehr ihr Walten unter ihnen, das ihr die Kinder gewann. Niemand wußte wie sie die blonden Köpfchen zu beschwichtigen, Niemand sich mit ihnen so zu unterhalten und die kleinen Streitigkeiten unter ihnen zu schlichten. –

Auch ich fühlte mich hingezogen zu dem Wesen voll Liebe und Hingebung, das so lauter und klar in Wort und That, wie ich mir sagte, nie durch ein unerbittliches Schicksal gezwungen werden konnte, die Bestimmung des Weibes zu verfehlen. Sie war noch schön diese Blume im Verblühen. Die hohe Gestalt, die weichen und doch bestimmt ausgeprägten Züge erinnerten an das Bildniß der Charlotte Corday. Ist es möglich, daß sich kein Herz gefunden haben sollte für dieses reine, volle, pochende Herz? frug ich mich. Das schien mir nicht denkbar. Was konnte also dieses holde Weib bestimmt haben, die schönsten Gefühle der Jugend ungenützt verkümmern zu lassen? Ich ahnte eine Leidensgeschichte. Sie wurde mir erzählt, da ich in der Familie Duberville ganz heimisch und als ein Hausfreund betrachtet wurde. Wie ich vorausgesetzt, hat diese Geschichte ihre rührenden, erschütternden Momente.

Alfred Duberville und Arnold Granier waren Schulkameraden gewesen und wurden später im ungewöhnlichen Sinne des Wortes Freunde. Die jungen Leute hatten ihre nähere Beziehung zu einander von ihren Vätern geerbt, die in den letzten Kriegen des Kaiserreichs Waffenbrüder, nach der Wiederkehr der Bourbons im Jahre 1815 aus der Armee traten und in Vereinigung mittelst eines Kapitals, das Jeder von ihnen besaß, Handelsgeschäfte unternahmen. Die in Kaufleute umgewandelten Soldaten verheiratheten sich im Jahre 1816, erwarben ein beträchtliches Vermögen und starben, wie um ihre Anhänglichkeit an einander zu beweisen, im selben Jahre (1840). Sie ließen ihre Kinder wohlversorgt und in der Lage zurück, ihr Leben nach Gutdünken und Geschmack einzurichten.

Arnold war ein klar denkender Mensch, fast ohne Illusionen, den kein Ereigniß, keine Person und kein Verhältniß so leicht durch äußern Glanz zu täuschen vermochte. Er war nie fanatisch, sondern zugestehend; mit Ernst und Festigkeit anerkennend, jedoch mit Bedacht. Er war ein echter Bürger, ein Mann des Maßes. Er haßte die unnütze Verschwendung, gleichviel, ob es sich um Geld, Lob, Zeit oder Neigung handelte. Mit Enthusiasmus sparte er bis zum Geiz. Wie seine Kapitalien hielt er darauf, seine Gefühle gut zu placiren. An seiner Mutter hatte er mit frommer Verehrung gehangen. Seine Schwester Delphine liebte er aufs Zärtlichste; er war ihr nach dem Tode des Vaters ein sorgender, schützender Vater.

Seinem Freund Alfred, an welchem er den geraden Sinn und das offene Wesen, das unverfälschte Gemüth schätzte, war er von ganzer Seele ergeben.

Alfred, ganz verwaist, ohne Aeltern und Geschwister, fand Alles in seinem Freund und in Delphinen, die auch er wie eine Schwester betrachtete und behandelte.

Sie lebten alle Drei recht vergnügt mit einander, theils in großer, glänzender Gesellschaft, theils im engen Kreise, sich wechselseitig durch Antheil und Neigung das Leben erheiternd, durch Mittheilung und Gemeinsamkeit sich wechselseitig anregend und die Genüsse erhöhend. Dieser freundliche Verkehr, in den sich gar keine Leidenschaft mischte, dauerte ohne Störung zwei Jahre nach dem Tode der beiden Väter.

Eines Tages, im September des Jahres 1841, als Alfred auf den Boulevard des Italiens sich erging, ward er von Theophile Lamon, einer Salonberühmtheit von großer Eleganz, mit viel Renten, wenig Herz und etwas Geist angehalten.

„Sie ganz allein, ohne obligate Begleitung, Castor ohne Pollux; das muß was Außerordentliches zu bedeuten haben“, sagte heiter und sichtlich zufrieden mit seinen Einfällen Herr Lamon.

„Es bedeutet sehr einfach“, versetzte Alfred, „daß Arnold für einige Tage in einer Geschäftsangelegenheit nach Orleans gereist ist.“

„War irgend eine Tante so gefällig zu sterben und ihm eine Erbschaft zu hinterlassen?“

„Beim Himmel, Sie haben es errathen“, erwiederte Alfred mit beifälligem Lächeln.

„Die Freunde des Herrn Granier werden nun nicht wissen, ob sie ihm Glück wünschen oder Beileid bezeugen sollen.“

„Was Sie betrifft, können Sie unmöglich zweifelhaft sein, da Sie sich bereits selbst in diesem Conflict der Gefühle befanden.“

„Man muß sich sehr anstrengen, traurig zu sein“, sagte der Geck, „in dem Augenblicke, als man der Eigenthümer von vierzigtausend Franken Renten wird.“

„Ich möchte diese Annahme nicht im Allgemeinen gelten lassen“, versetzte mit Ernst Alfred.

„Sie leben in Paris und glauben also nicht, daß ich der einzige so Verworfene bin, daß mich der mir zufallende Besitz von vierzigtausend Franken Renten den Tod eines Anverwandten vergessen machen kann. Doch wir wollen uns lieber von andern Dingen, als von dergleichen Gewissenssachen unterhalten. – Ich habe etwas vor und da Sie eben verwittwet sind, macht es Ihnen vielleicht Spaß, Theil an meinem Project zu nehmen.“

„Wenn es angenehm oder nützlich ist – und Eins von Beiden ist es gewiß, womit Sie sich befassen – bin ich mit dabei.“

„Sie haben wohl von der schönen Lectionengeberin in der rue Mazagran gehört?“

„Neulich war von ihr in dem Salon bei B… die Rede, und es ward zum Verdrusse der Frauen nicht nur die Schönheit, sondern auch der gute Lebenswandel der jungen Professorin gerühmt. Sie ist ganz ungewöhnlich schön, ein ganz seltenes Exemplar von einer Brünette“, behauptete Lamon.

„Ihnen also schon bekannt?“ frug Alfred.

„Bis jetzt nur durch Ueberlieferung. Wissen Sie, wer sie besucht hat?“

„Ich errathe nicht.“

„Prénot! Und Sie werden nicht bestreiten, daß der über Frauenschönheit ein Urtheil hat. Und dieser, von den Blasirtesten Einer, der über die rasche Entzündbarkeit der Jugend längst hinaus ist, bewundert. Es kann keine bessere Empfehlung mehr geben. Wie er sagt, sind Gestalt, Augen, Zähne, Haare tadellos. Fuß und Hand Modelle. Ueberdies sind bisher alle Bekannten streng zurückgewiesen worden, sobald sie aus der Rolle der Schüler herauszutreten sich beikommen ließen. Die schöne Meisterin macht also in Tugend, eine Waare, die immer ihren Werth hat, wenn sie auch nicht echt ist.“ !

„Worin ertheilt die Prénot’sche Schönheit denn Unterricht?“ frug Alfred.

„In Musik, Sprachen und Kalligraphie.“

„Sie ist also sehr vielseitig gebildet?“

„Spricht außer französisch, deutsch, englisch, spanisch und italienisch mit der größten Sicherheit und Geläufigkeit. Eben im Begriffe, mich zur schönen Meisterin zu begeben und mit ihr wegen einiger Lectionen zu unterhandeln, mache ich Ihnen den Vorschlag, mich zu begleiten.“

„Nichts kann mir erwünschter kommen. Da ich nächstes Jahr die „Niobe der Städte“ und die andern Wunder Italiens anzustaunen gedenke, wird mir einige Uebung in der Sprache dieses Landes von Nutzen sein.“

Ohne Aufschub schritten die beiden jungen Leute die Boulevards aufwärts, an dem Gymnase vorüber, um sich in die rue Mazagran und in die Wohnung der Mademoiselle Adele Blaireau zu begeben. Sie wurden von einer dienstthuenden Magd in einen kleinen Salon gewiesen, an welchen eine Art Unterrichtszimmer stieß, wo die beiden jungen Leute, als die Verbindungsthüre aufging, mehrere junge Mädchen um einen runden Tisch sitzen und schreiben sehen konnten.

Alfred war zunächst von der Ordnung, Stille und Reinlichkeit, die ihn umgaben, überrascht. Das Empfangszimmer, sehr einfach, aber geschmackvoll eingerichtet, war höchst anziehend und Jeder mochte sich gerne dort aufhalten. Die Kupferstiche an den Wänden, in goldenen Rahmen, Nachbildungen der idyllischen Scenen von Robert und anderer berühmter Bilder, dann die kleinen Gypsbüsten berühmter Künstler, das Alles war so ansprechend an einander gereiht, so sinnig vertheilt, daß es einen wohlthuenden Eindruck machte. Das Sopha, die Lehnstühle, die Vorhänge von blauem Stoff, sahen so frisch aus. Nirgends war eine Spur der Verletzung oder Abnützung zu gewahren. Die Bronze-Uhr auf dem Kamin zeigte auf’s Genaueste die Stunde. Nach einigen Minuten trat Adele ein, um ihre Gäste zu empfangen. Sie war einfach, aber elegant gekleidet und wirklich so schön, wie sie Herr Prénot geschildert hatte. Sie mochte zwanzig Jahre zählen und [371] Alfred mußte die Sicherheit, Unbefangenheit und natürliche Würde bewundern, mit welcher sie sich darstellte. Auf die ungezwungenste Weise grüßte sie und bot sie den jungen Männern Plätze an.

„Womit kann ich dienen?“ frug sie mit einer vollklingenden Stimme.

Alfred blieb im Anschauen der holden Erscheinung versunken, so daß er gar nicht daran dachte, irgend etwas zu sagen. Sein Gefährte jedoch begann mit geläufiger Zunge: „Wir haben von Ihren Talenten und Ihrer Schönheit gehört, mein Fräulein, und wir hegen den lebhaften Wunsch, unter Ihre Jünger aufgenommen zu werden, damit auch wir Ihren Ruhm verbreiten helfen. Und wenn die Verehrung für den Meister auf den Schüler wirken muß, so – –“

„Ich ertheile Unterricht in Sprachen, Musik und Kalligraphie“, unterbrach mit kaum merklicher Schärfe Adele zur nicht geringen Verlegenheit des jungen Weltmannes, der, wie es Alfred vorkam, erröthete. Nach dieser zurechtweisenden Erklärung schwieg das Mädchen, als erwartete sie nun eine einfachere Andeutung von den beiden Herren über den Zweck ihres Besuches. Und Alfred sagte bescheiden mit gedämpfter Stimme: „Wollen Sie so gütig sein, mein Fräulein, mir in der italienischen Sprache nachhelfen?“

„Und mir, worin Sie selber wollen, Fräulein; ich lasse Ihnen vollkommen die Wahl. Was Sie mich auch lehren, es kann für mich nur vortheilhaft sein“, sagte Theophile Lamon in einem einschmeichelnden Tone, nachdem er sich von seiner Betroffenheit erholt.

„Ich habe noch zwei Stunden der Woche frei“, versetzte die Meisterin zu Alfred gewendet, „und die stehen Ihnen zur Verfügung. Was die Bedingungen betrifft, finden Sie dieselben auf diesem kleinen Programme angegeben.“ Bei diesen Worten überreichte sie Alfred ein Blättchen gedruckten Papiers.

„Und mich lassen Sie leer ausgehen? Nicht doch, mein Fräulein“, bat Lamon und glaubte sich unwiderstehlich. „Sie glauben gar nicht, wie mir eine Verbesserung der Handschrift nach der neuen Methode Noth thut. Alle Welt beklagt sich über die Unleserlichkeit meiner Briefe.“

„Es thut mir recht leid“, entschuldigte höflich Adele; „es sind für den Augenblick all meine Stunden besetzt. Und nun verzeihen Sie, meine Herren“, setzte sie lächelnd hinzu, „die kleinen Wißbegierigen da drinnen fordern meine Gegenwart.“ Sie grüßte anmuthig, wie etwa eine Königin, die sich aus ihrem Rath zurückzieht, und verschwand in dem anstoßenden Gemach.

„Zum Entzücken ist dieses Weib; doch es will mich fast bedünken, daß sie wirklich tugendhaft ist“, ließ sich Theophile vernehmen. Alfred sagte nichts. Die beiden jungen Männer verließen die Wohnung der Lectionsgeberin.


II.

Von Orleans zurückgekehrt, erhielt Arnold aus dem Munde des Freundes eine so lebhafte Schilderung der schönen Lehrmeisterin, daß sie der Besonnene, wie natürlich, übertrieben schalt.

„Uebertrieben“, versetzte Alfred, „sind die Vorzüge dieses Mädchens, aber keineswegs die Darstellung derselben.“ Und es gab für ihn nun zwei Festtage jede Woche: Dienstag und Freitag, ohne Unterschied des Kalenders, oder eigentlich zwei Feststunden an diesen Tagen, wenn er Unterricht in der italienischen Sprache nahm. Und wie gelehrig war er. Alles, was die Meisterin während der Stunden sagte, selbst was keinen Bezug auf die Sprachwissenschaft hatte, behielt sein Gedächtniß fest. Wie konnte es da fehlen, daß die Meisterin mit dem lernbegierigen Schüler zufrieden war! Und es geschah wahrscheinlich, um ihn für Fleiß und Aufmerksamkeit zu belohnen, daß sie ihm einen Abriß ihres Lebens erzählte. „Ich bin die Tochter eines redlichen Kaufmannes zu Paris, und von beiden Aeltern verwaist“, erzählte sie. „Die Mutter verlor ich als ein Kind von zehn Jahren. Ich war alt genug, um aufs Tiefste den Verlust zu fühlen. Ich ward in eine Pension gethan, da mein Vater, von seinem Geschäft in Anspruch genommen, keine Zeit übrig behielt, um sich mit meiner Pflege und Erziehung zu befassen. Uebrigens liebte mich der treffliche Mann aufs Zärtlichste und that nach seinen Kräften Alles, was meinem Bruder Thomas und mir Nutzen oder Vergnügen gewähren konnte. Vor zwei Jahren folgte er, durch ein Nervenfieber hinweggerafft, der Mutter in’s Grab, und hinterließ uns ein mäßiges Vermögen und ein Geschäft, das gut im Gange war, und das mein Bruder weiter führen sollte. Thomas, durch das pariser Leben zu unbegrenzter Habgier gespornt, verfiel dem Börsenspiel, ließ das Geschäft zu Grunde gehen, verlor sein Vermögen und wußte mir, der ich dieser Dinge ganz unkundig war, auch das Meinige zu entlocken, um es ebenfalls in den finstern Schlund der Börse zu werfen. Was wußte er mir Alles vorzuspiegeln von glänzenden Aussichten und gewinnbringenden Spekulationen. Bald hatte er sich in eine große industrielle Unternehmung eingelassen, bei welcher sich der goldene Ertrag mit mathematischer Gewißheit erwarten ließ. Bald hatte er durch Bankerotte mit ihm in Geschäftsverbindung stehender Häuser Verluste erlitten, und ich sollte aushelfen. Kurz, es gelang ihm, das Vermögen der Unerfahrenen durchzuschlagen. Ich lebte während dieser Stürme bald bei meiner Tante in Montpellier, bald bei meinem Bruder in Paris, je nach den unglücklichen oder glücklichen Schwankungen des Spiels.

„Was war Thomas früher ein guter, hübscher Junge, und wie hat ihn das unselige Gewerbe physisch und moralisch zerstört! Bald konnte er sich vor Glück und bald vor Unglück nicht fassen. Er ist nur um fünf Jahre älter als ich und schon ein Greis mit Runzeln und grauen Haaren. Wenn er mich nun besucht, um sich Geld für seinen Unterhalt zu holen, und mich arbeiten sieht, weint er wie ein Kind und ich muß ihn noch trösten, ob er gleich selbst die Schuld an unserer Verarmung trägt. Als er mir vor fünf Monaten nach Montpellier schrieb, daß er nicht nur das Letzte verloren, sondern nach einer großen Bewegung auf der Börse – das erste Mal gestand er die Laufbahn, welche er eingeschlagen, auch die Differenzen, wie sie das heißen, nicht bezahlen könne, und daß ihm nichts Anderes übrig bleibe, als sich in die Seine zu stürzen, um der Schande und dem Hunger zu entgehen, eilte ich nach Paris, um ihn zu retten, und ich entschloß mich zu der Thätigkeit, von welcher Sie mich in Anspruch genommen sehen, und die mehr als hinreichend ist, uns Beide zu versorgen.“

Ist es nöthig zu bemerken, daß Alfred ganz glücklich durch das Vertrauen war, welches die Meisterin durch die Erzählung ihrer Geschichte ihm schenkte?

Es dauerte nicht gar lange, so kam er auch außer den Unterrichtsstunden, die übrigens diesen Namen zu verdienen aufgehört, zum Besuch in die Wohnung Adele’s und er durfte sich schmeicheln, denn es war zu sehen, daß er stets willkommen war, und daß er von den jungen Männern, mit denen die Meisterin durch ihren Beruf in Berührung kam, am Meisten begünstigt war. Ein einziger Mann, der ebenfalls mit Adelen im nähern Verkehr stand und zu ihrem Umgang gehörte, mochte hie und da die Eifersucht Alfred’s erregen. Dieser Mann war ein russischer Graf, Namens Worsakoff, der Schwester von dem Bruder vorgestellt und sehr angelegentlichst empfohlen. Der Russe war ein Mann in den Dreißigern, viel gereist, von feinem Benehmen und männlicher Haltung, der, wie sich aus seiner Art zu leben schließen ließ, über große Reichthümer verfügte.

Arnold erfuhr von dem Freunde Alles, was diesen erfreute oder beunruhigte; doch entschlüpfte ihm niemals ein Urtheil, weder ein tadelndes noch ein billigendes über diese Angelegenheit, wahrscheinlich, weil er diese Bekanntschaft zu denen zählte, die man eben so rasch abbricht, als man sie angeknüpft. Als ihn aber Alfred eines Tages von seinen ernsten Absichten in Bezug auf die Lehrmeisterin Eröffnungen machte, da glaubte der besonnene Mann seine Ansicht über den Gegenstand nicht länger zurückhalten zu dürfen und erhob Einwendungen gewichtiger Art.

„Mein Freund“, sprach er, „Du willst dem Irrlicht Deiner aufflackernden Leidenschaft folgen und denkst nicht daran, daß dergleichen Gestirne in den Sumpf, aber niemals an ein erwünschtes Ziel führen. Wer ist Mamsell Adele? Ist sie eine passende Lebensgefährtin für Alfred Duberville? Du kennst sie ja gar nicht. Und was von ihr bekannt, ist für eine dauernde Verbindung wahrlich nicht empfehlend.“

„Wir haben unsere Herzen einander geöffnet, wir haben unsere Gefühle einander bekannt. Ich habe tief in ihr Innerstes geschaut“, versetzte Alfred mit Begeisterung.

„Das Herz ist ein schlechtes Auskunftsbureau, mein Lieber“, gab Arnold zurück, „und die Gefühle sprechen häufig, was man ihnen dictirt. Und es handelt sich auch nicht um das allein. Ruf, [372] Charakter, Stellung wollen auch und zunächst berücksichtigt sein. Passen die Verhältnisse Deiner Lehrmeisterin zu dem Rang, den Du in der Gesellschaft einnimmst? Der Ruf dieser Dame ist jedenfalls, mit Recht oder Unrecht, zweideutig. Man weiß, daß sie jungen Leuten der großen Welt Unterricht ertheilt, die gewiß nicht Wissensdrang zu den Cursen der schönen Meisterin treibt. Was berechtigt Dich zu glauben, daß Mamsell Adele nicht dasselbe Spiel wie mit Dir, auch mit Andern treibt, und nicht auch noch andere vorgezogene Schüler hat? Ueberhaupt eine Stundengeberin, die allein dasteht, ohne einen andern Schutz, als den eines liederlichen Bruders, eines herabgekommenen Börsenspielers, der seiner schönen Schwester russische Grafen zuführt, um sie ausbeuten zu können und mit dem es eines schönen Tages zu einer rührenden Erkennungsscene in der Morgue kommen mag. Das sind keine Elemente, aus denen sich ein Mann von Ehre seine Häuslichkeit bauen darf. Lieben kann man wie und wen man will. Die Gesellschaft hat keinen Grund und kein Recht, sich in diese Angelegenheit zu mischen. Die Ehe aber gehört ihr und sie muß sich ihren Gesetzen und Forderungen unterziehen. Wer die Gesellschaft bei dieser Gelegenheit nur halb befriedigt, muß die schuldig gebliebene Hälfte theuer bezahlen. Sie ist und bleibt eine furchtbare Macht, die ein Genie wie Byron hat, sein Auflehnen gegen sie durch den Verlust des Vaterlandes und tausend andere Qualen gebüßt. Was wollen wir gewöhnliche Menschen gegen sie anfangen?“

„Es ist wohl besser, man legt ihr gleich ohne Widerstand das ganze Lebensglück zu Füßen“, sagte Alfred, der mit düsterem Sinnen den Worten des Freundes gefolgt war.

„Daß Du doch gleich einen leisen Hang, der Dich überkommt, zu Deinem Herrn und Gebieter erhebst, welcher über Tod und Leben entscheidet. Nimm doch nicht eine Seifenblase für einen Berg. Bedenke, daß sie im nächsten Augenblick zerplatzt, daß aber doch geopfert bleibt, was Du in Deiner Verblendung geopfert.“

Es erfolgte keine Antwort mehr. Die Freunde trennten sich in kühler Spannung.

Alfred war ein Zögling des pariser Lebens, wo die Illusion wie ein verirrtes Kind einherläuft und keine Stelle findet, um sich zu bergen, und wo sie ohne Obdach und Nahrung gelassen, elendiglich zu Grunde geht. Von Natur heißblütig und schwärmerisch, hatte Alfred zu oft Gelegenheit, die trostlose Wirklichkeit zu erkennen, um nicht mißtrauisch gegen seinen Glauben, gegen jede Sprache an sein Gefühl zu werden. Die Erfahrung hatte Blei an die Flügel seiner Seele gehängt. Er wollte es so, er mußte es so wollen, um nicht betrogen und verlacht zu werden in der Welt, die ihn umgab. Dazu kam, daß ihn sein bedächtiger Freund schon oft von übel angebrachtem Vertrauen, von Verführungen durch falschen Schimmer zurückgehalten. Wie konnte daher diese neue Warnung ihre Wirkung auf den jungen feurigen Mann verfehlen! Sie schreckte ihn aus seiner Unbefangenheit empor, in die er vermöge seiner Natur zurückgefallen war. Sie erregten um so mehr seinen Argwohn, als er wieder einmal seiner Begeisterung blind vertraut, als er ohne Prüfung dem Drang des Herzens gefolgt war. Der russische Graf, Adele’s Bruder, ihr vielfacher Verkehr mit Leuten ohne Gewissen, ohne andere Gottheit als die Selbstsucht, stellten sich ihm nun als verunzierende Attribute des Bildes dar, das ihn so mächtig angezogen.

Und mit andern Gedanken, andern Blicken kam er nach der Unterredung mit dem Freund zu der schönen Lehrmeisterin. Früher ein argloses Kind, war er jetzt ein grübelnder Forscher, der an Alles, was das Mädchen sprach oder that, im Stillen die Frage richtete, woher es komme und wohin es gehe? Früher ein Glücklicher im Paradiese jener Liebe, stellte er sich wie als Wächter vor den Eingang in dasselbe, um sich selbst zurückzuweisen.

Adele hätte kein Weib sein müssen, um die Veränderung des Freundes, der ihr so werth geworden nicht zu bemerken, die zu plötzlich, ohne Uebergang gekommen war, um sich nicht deutlich genug zu geben. Sie frug, wenn sie den Mann oft tiefsinnig und düster sah, der sonst so froh und spielend gewesen, was ihn denn überkommen? Allein er hielt vor ihr den Zustand seiner Seele verborgen und schützte Gründe vor, die ihr kaum annehmbar erscheinen mochten. So wurden Beide einander räthselhaft, fühlten sich Beide beunruhigt und gequält. Aber sie suchten sich um so gieriger, fühlten sich um so heftiger aneinander gedrängt, als eine Vermittelung, eine Lösung des unklaren Zerwürfnisses Noth that.

Oft wartete Alfred stundenlang in dem kleinen Salon neben dem Lehrzimmer, während Adele Kinder und Erwachsene aus dem Quell ihres Wissens schöpfen ließ. Es war ihm eine Erleichterung in der Nähe des Mädchens zu sein, das in ihm eine Neigung erweckt, welcher er sich nicht erwehren konnte, wie leicht auch sein Freund die Sache nahm. Er sehnte sich nach Adelen, wenn er von ihr fern war, doch bei ihr trat eine Bitterkeit in sein Herz und auf seine Lippen, die dem armen Mädchen nicht selten Thränen kostete. Jeden Tag frug sie nach dem Grund seiner Verstimmung. „Wenn Ihnen etwas nicht recht ist an mir, so sprechen Sie. Ich will ja jeder Ihrer Weisungen folgen,“ setzte sie hinzu. Allein selbst diese Willfährigkeit, die so rührend klang, stieß auf Mißdeutungen bei dem mißtrauisch gewordenen jungen Mann.


III.

Also in Anspruch genommen und zugleich verstimmt mied Alfred die große bunte theilnahmlose Welt. Ja selbst Delphine und Arnold bekamen ihn nur auf Augenblicke zu sehen. Die Schwester des Freundes, gewohnt von ihm fast jeden Tag kleine Aufmerksamkeiten zarter Freundschaft zu erfahren, sah sich mit einem Mal vernachlässigt. Sie hatte die Gewohnheit, mit ihm mehr als mit ihrem Bruder, da er empfänglicher war, die kleinen weiblichen Angelegenheiten zu berathen, wie die Einrichtung einer Stube, Wahl eines Musikstückes, um es auf dem Flügel einzustudiren, Anordnung und Einrahmung ihrer Kupferstiche, deren sie eine schöne Sammlung zusammengebracht. Damit war es nun ebenfalls aus; denn wenn er kam, erkundigte er sich flüchtig nach ihrem Befinden, sprach sonst fast nichts, hörte kaum zu, wenn sie was erzählte und ging gleich wieder. Anfangs rieth und deutete sie im Stillen diese Veränderung Alfred’s. Später aber konnte sie sich nicht mehr enthalten ihren Bruder zu fragen, ob dem Freund ein Unglück zugestoßen, daß er so angegriffen und niedergeschlagen aussieht und sich so seltsam benimmt.

„Es ist nichts,“ antwortete Arnold. „Irgend ein Frauenzimmer hat ihm den Kopf verrückt. Mach Dir also keinen Kummer aus dieser Blässe auf seinen Wangen. Das Uebel ist nicht gefährlich.“

So wie sie diese Auskunft erhalten, ging Delphine aus dem Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. Den Tag nach dieser Enthüllung zeigte Arnold der Schwester an, daß Alfred die Einladung zum Essen nicht angenommen habe, wie auch daß er an der Landparthie nach Meudon, die für nächsten Sonntag verabredet war, nicht theilnehmen werde.

„Er verläßt uns ja ganz,“ sagte Delphine mit erzwungenem Lächeln. Hätte sie Arnold aufmerksam betrachtet, so würde er ein leises Zittern ihrer Lippen bemerkt haben.

„Die Leidenschaft sitzt ihm vielleicht tiefer als ich gedacht,“ versetzte Arnold.

„Wer ist die Glückliche?“ frug Delphine immer lächelnd weiter.

„Eine Stundengeberin.“

„Ist sie schön?“ frug Delphine nicht ohne Anstrengung, die schon ein wenig ihrem Bruder auffiel.

„Sie gilt dafür.“

„Und auch für liebenswürdig?“

„Das mag sie wohl auch sein.“

„Du hast sie nie gesehen?“

„Niemals.“

„Er ist wohl immer bei ihr?“ warf Delphine so leicht hin, als sie es nur fertig bringen konnte.

„Es fehlt ihm wie es scheint, die Kraft sie zu meiden.“

„Wer weiß, ob er das will?“

„Das wäre allerdings nicht nöthig, wenn er nur an keine ernste Verbindung weiter denkt.“

„Das ist sehr nöthig,“ rief Delphine, überwältigt von einem Schmerz, der sie selber überraschte. Und es klang wie ein Angstschrei, der ihrem Herzen entfuhr. Arnold erschrack.

„Was ist Dir, Delphine, Du armes Kind?“ frug er zart besorgt.

Delphine bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und weinte.

(Fortsetzung folgt.)
[373]
Wiborg.

Unter den Festungen, mit denen der finnische Meerbusen wie umpanzert ist, und welchen gegenüber die englisch-französische Flotte unter Napier und Parseval-Deschènes bisher eine nie geahnte Bedächtigkeit an den Tag gelegt hat, nimmt Wiborg keinen unbedeutenden Rang ein. Wenn von ihm auch gerade nicht gilt, was erst vor einigen Tagen ein Kollege Napier’s im englischen Parlament von den Festungen Kronstadt und Sweaborg sagte, „daß sie von der Seeseite her uneinnehmbar seien“, so ist ein Angriff auf Wiborg doch immer noch mit so viel Schwierigkeiten und Fährlichkeiten verknüpft, daß er nur mit außerordentlichen Anstrengungen und bedeutendem Kraftaufwande glücklich durchzuführen wäre. Gewissermaßen kann Wiborg „ein Kronstadt, in verjüngtem Maßstabe“ genannt werden; seinen ziemlich geräumigen Hafen schützen zwei stark befestigte Inseln, zu denen sich furchtbare in Granitfelsen angelegte Landbatterien gesellen, welche Tod und Verderben drohend in die See hinaus klotzen, während der Zugang zum Hafen außerdem durch unzählige kleine Inseln, Klippen, Scheeren, Untiefen, die sich wie überall an der Küste Finnlands so auch hier vorfinden, wesentlich erschwert wird.

Wiborg.

Wiborg ist die älteste Stadt Finnlands und kam schon 1745 von Schweden an Rußland, woher denn auch die Bewohner in weit höherem Grade russifizirt sind als die übrigen Finnländer. Ein englischer Reisender, der vor einigen Jahren Wiborg besuchte, spricht davon mit kurzen Worten wie folgt: „Als ich am Morgen nach meiner Ankunft in meinem Schlitten erwachte, kamen mir die Straßen wie ein Wunder vor. Die weißen Häuser mit grünen Dächern und orientalischen Kuppeln, die stolzen Paläste der Reichen, die Bewohner mit bloßen Hälsen, langen wallenden Bärten, in weite blaue Kaftan’s gehüllt, das Alles zusammen mahnte an den träumerischen üppigen Orient und nicht an das nüchterne bescheidene Finnland. Die Wiborger sind von heldenartig robustem und majestätischem Aeußern, so daß man sie kaum für die willenlosen Diener des nordischen Kolosses, dem sie unterworfen wurden, halten mag.“

Der östlich von Wiborg gelegene Winga-Sund wird neuerdings mehrfach als einer der Punkte bezeichnet, welcher von den Westmächten als Basis einer nachdrücklichern Operation gegen Rußland benutzt werden dürfte. Würde eine solche Landung im Winga-Sunde wirklich versucht und glücklich zu Stande gebracht, so wäre es jedenfalls um Wiborg zugleich mit geschehen, und Rußland säh’, so zu sagen, seine Feinde vor den Thoren Petersburgs stehen. Nur gehörten zu einem derartigen Beginnen mehr als 20,000 Mann, auf welche Stärke die unter Baraguy d’Hillier’s eingeschifften französischen Landtruppen angegeben werden, und ein verhältnißmäßig so schwaches Corps würde bei aller Tapferkeit hier wie auf jedem andern Punkte Finnlands dem sicheren Verderben Preis gegeben sein, wenigstens dann, wenn der Winter hereinbricht, wo Rußland von dem übrigen Europa förmlich abfriert, und der eisige Gürtel, der alle Küsten des baltisches Meeres umschlingt, jede Mitwirkung der westlichen Flotten unmöglich macht.




Ueber Somnambulismus.

Es giebt zwar ächte Somnambulen, aber auch viele falsche, d. h. Betrüger, die Somnambulismus heucheln. Man versteht nämlich unter Somnambulismus (auch Schlaf- oder Traumhandeln, Schlaf- oder Nachtwandeln genannt) einen Zustand, bei welchem ein Mensch in eine Art von Schlaf verfällt und mit geschlossenen oder offenen Augen, ohne es nach dem Erwachen zu wissen, körperliche oder geistige Handlungen vollzieht, die man sonst nur im Wachen, bei vollem Bewußtsein zu vollziehen im Stande ist. Diese Handlungen geschehen allerdings nicht selten mit außergewöhnlicher Geschicklichkeit, großer Kraft und scharfem Verstande, niemals aber werden sie gegen die bestehenden Naturgesetze verstoßen und übernatürliche sein. Es gränzt an Blödsinn [374] zu glauben, daß ein Somnambuler an einer geraden Wand in die Höhe zu laufen, mit dem Bauche zu lesen, die Krankheit eines Abwesenden anzugeben und zu heilen, eine nicht erlernte Sprache zu sprechen, das Treiben und Befinden Entfernter zu wissen u. s. w. im Stande ist. Wo immer von einem Schlafhandelnden Etwas geschieht, was nicht mit rechten Dingen zuzugehen und wunderbar zu sein scheint, da ist stets entweder Betrügerei im Spiele oder der Zufall that das Seinige.

Der schlafähnliche Zustand beim Somnambulismus tritt entweder ganz von selbst, bei Tage oder bei Nacht (besonders gern bei Vollmond) ein oder er kann auch künstlich durch Streichen und Manipuliren (Magnetisiren) hervorgerufen werden. Das durch sogenannte animalisch-magnetische Einwirkung künstlich hervorgerufene Schlafwachen (das Hellsehen, la Clairvoyance) unterscheidet sich vom natürlichen dadurch, daß bei letzterem mehr die Bewegungsthätigkeit, bei ersterem die geistige Thätigkeit ungewöhnlich erweckt ist. Um nun aber in diesen Schlaf von selbst zu verfallen oder von Andern hinein versetzt zu werden, dazu gehört ohne Zweifel ein krankhafter, zur Zeit freilich noch unerforschter Zustand desjenigen Organs, durch welches ebensowohl der Schlaf, wie auch die menschliche Thätigkeit vermittelt wird. Dieses Organ ist aber das Gehirn und der Somnambulismus könnte sonach als eine Hirnkrankheit bezeichnet werden, die mit dem gesunden Schlafe darin übereinkommt, daß dabei das Bewußtsein geschwunden ist, sich aber vom Schlafe darin unterscheidet, daß gewisse Hirnthätigkeiten ohne Bewußtsein fortbestehen. Das Träumen könnte als der niedrigste Grad des Schlafhandelns bezeichnet werden und der Somnambulismus als der höchste Grad des Träumens. Ein ziemlich ähnlicher Zustand findet sich gar nicht selten bei Berauschten, bei betäubten und bewußtlosen Kranken (beim Phantasiren in Fiebern) und bei Chloroformirten; auch diese sprechen und handeln, ohne daß sie nur das Geringste davon wissen, oft so gegen ihre gewöhnliche Art und Weise vernünftig oder unvernünftig, daß man staunt. Am Häufigsten ist bei sogenannten sensiblen (sensitiven, nervösen, hysterischen) Frauenzimmern das Gehirn geneigt, Somnambulismus zu treiben. Zieht dann derselbe die Aufmerksamkeit der Welt auf sich, so wird er aus Coquetterie oder Gewinnsucht künstlich weiter ausgebildet und zum Betrug vieler Narren weidlich benutzt.

Wollten wir uns die Thätigkeit des Gehirns und so das Zustandekommen des Somnambulismus recht materiell erklären, dann müssen wir uns zuvörderst vorstellen, daß dem Gehirne von Natur sein Thätigsein nicht so wie den meisten andern Organen des menschlichen Körpers vorgeschrieben ist, sondern daß es dasselbe erst durch die verschiedenen Eindrücke von der Außenwelt her in verschiedenem Grade erlangt. Würde z. B. ein Mensch gleich nach seiner Geburt nur mit Thieren Umgang haben, dann würde er, natürlich nur soweit es sein Körperbau zuläßt, auch nur die Manieren dieses oder jenes Thieres annehmen und vom Thun und Treiben des menschlichen Verstandes nichts wissen. Ich erinnere an Caspar Hauser. Es ist durchaus nothwendig, daß ein Mensch, wenn er menschlichen Verstand haben will, nicht blos ein gutgebildetes und gut ernährtes Gehirn besitzen, sondern demselben durch die Sinne auch solche Eindrücke zuführen muß, welche das Gehirn zur Entwickelung und Ausbildung des Verstandes bedarf. – Man denke sich einmal, daß Alles was wir durch unsere Sinne wahrnehmen, im Gehirne einen ganz bestimmten Eindruck macht oder ein den Daguerreotypen ähnliches Bildchen (Hirnbild) erzeugt. Von solchen Hirnbildchen wird man natürlich eine um so größere Anzahl in seinem Verstandesorgane (dem Gehirne) besitzen, je mehr man durch seine Sinne von der Außenwelt in sich aufgenommen hat. Es werden ferner diese Bildchen dem in der Außenwelt Wahrgenommenen um so ähnlicher sein können, je genauer man durch scharfe Sinne die Außenwelt wahrzunehmen sich bemühte. Es werden sodann diese Hirnbildchen um so deutlicher und bleibender (fixirter) sein müssen, je stärker und je öfter sie eingeprägt werden. Sehr viele dieser Bildchen verschwinden nach und nach wieder, wie ein nicht fixirtes Daguerreotypbild, und deshalb vergißt man so oft das früher Wahrgenommene und Erlebte. Bei mangelhaften Sinnen wird wie bei Mangel und Abnormität des Gehirns natürlich auch die Bildung der Hirnbildchen mangelhaft sein. – In der frühsten Jugend bilden sich wegen der Unvollkommenheit der Sinne und des Gehirns nur wenige, ganz undeutliche und leicht wieder verschwindende Hirnbildchen. Nach und nach aber, mit zunehmender Ausbildung der Sinne und des Gehirns, sowie in Folge der Erweiterung des Gesichtskreises und der Erziehung, mehrt sich die Zahl, die Deutlichkeit und die Dauer dieser Bildchen. Während man sie sich anfangs ungeordnet wie in einer Mappe im Gehirne umherliegend denken kann, so daß sie nur mit Mühe von einander unterschieden und hervorgeholt werden konnten, findet später durch Uebung ein genaues und übersichtliches Ordnen derselben statt, so daß sie nun leicht von einander getrennt und aufgefunden werden können. Dieses schnellere oder langsamere Auffinden solcher Bildchen kann als besseres oder schlechteres Gedächtniß, als Erinnerung oder Vorstellung bezeichnet werden, während das Zusammenstellen mehrer derselben zu einem neuen Bilde, welches man von außen her als solches niemals in sich aufnahm, die Phantasie sein dürfte. In den spätern Lebensjahren, wo das Gehirn an Größe und Weichheit und die Sinnesorgane an Schärfe abnehmen, wird auch die Fähigkeit des Gehirns, Hirnbilder zu erzeugen, immer geringer, obschon die früher erzeugten längere Zeit noch ganz fest darin haften. Deshalb erinnern sich Greise auch recht gut längst vergangener Thatsachen, vergessen aber schnell die Gegenwart. – Diese Hirnbildchen sind es nun, durch deren genaues Vergleichen wir uns Begriffe sammeln, sowie Urtheile fällen und Schlüsse ziehen, also denken lernen; sie sind es auch, welche unsere Bewegungen, unser Handeln veranlassen.

Das dem Gehirn innewohnende Bewußtsein könnte nun als die Hirnthätigkeit oder die Kraft angenommen werden, welche im gesunden und wachen Zustande die Hirnbilder von einander unterscheidet, ordnet, schneller oder langsamer herbeiholt und zusammenstellt, ihre Wirkung auf unser Thun regelt. Durch Uebung läßt sich, wie es scheint, der Einfluß des Bewußtseins auf die Hirnbilder immer mehr steigern und es möchte deshalb wohl die Aufgabe der Erziehung sein, zunächst so viele als möglich von guten, deutlichen und bleibenden Hirnbildern zu erzeugen und diese dann gehörig verarbeiten zu lernen. – Denkt man sich nun aber das Bewußtsein durch irgend eine Ursache (durch Schlaf, Alcohol, Schwefeläther, Chloroform, Krankheit) auf einige Zeit aufgehoben, die Hirnbilder aber noch vorhanden, dann ließe sich allenfalls auch annehmen, daß dieselben durch irgend einen Anstoß in ganz andere Ordnung und Verknüpfung zu einander gebracht würden, als dies im bewußten Zustande in Folge der Gewöhnung der Fall ist. Diese veränderte Lagerung und Einwirkung der Hirnbildchen auf einander könnte dann recht wohl zu einem ungewöhnlichen Handeln des Bewußtlosen Veranlassung geben, was jedoch stets das Resultat früher aufgenommener Eindrücke und niemals ein übernatürliches oder wunderbares sein müßte. Bei schwächerem Grade der Trübung des Bewußtseins läßt sich bisweilen das ungewöhnliche Spiel der Hirnbildchen vom Bewußtlosen mehr oder weniger deutlich wahrnehmen, so daß er sich dessen nach dem Erwachen erinnern kann, wie dies beim Träumen und Rausche vorkommt. Nach der einfacheren oder verwickelteren, geordnetern oder ungeordneten Verknüpfung der Hirnbildchen unter einander zeigt sich dann Reden und Thun des Bewußtlosen in verschiedenem Grade vernünftig oder unvernünftig. So sprechen und handeln Somnambule und Chloroformirte nicht selten weit vernünftiger, als sie dies im bewußten Zustande thuen, dagegen können sehr anständige Personen im Rausche und in Fieberphantasien sehr unvernünftig und unanständig handeln. – Alles Thun und Treiben Bewußtloser wäre sonach ein unwillkürliches und in Folge der eigenthümlichen Einrichtung unseres Gehirns (vorzüglich der Uebertragungsfähigkeit von Empfindungs- und Sinnes-Eindrücken auf Bewegungsapparate) ein erzwungenes. – Diese materielle Erklärung der Hirnthätigkeit und des Somnambulismus, sowie der diesem verwandter bewußtloser und schlaf- oder traumähnlicher Zustände, welche freilich total falsch sein kann, möge dem Leser wenigstens zeigen, daß auch beim Somnambulismus Alles so natürlich wie bei den Zauberern unserer Zeit (Taschenspielern) zugehen könnte.
(B.) 
[375]
Die Osseten.
Deutschland im Kaukasus.

Von all’ den Völkerinteressen, welche sich an den gegenwärtig im Osten geführten Kampf knüpfen, ist keins so wichtig und bedeutend für die Zukunft, als das, welches die Völker des Kaukasus betrifft. Ob Cirkassien von der russischen Herrschaft frei oder nicht, ist eine Frage, die mindestens so wichtig ist, wie die Rettung der gesammten Türkei.

Wie sich auch deren Schicksal durch die Hülfe Englands und Frankreichs gestalten mag, sie bleibt immer eine untergehende und dem Untergange gewidmete Welt und kann erst dann für uns wahrhaftes Interesse erwecken, wenn sich aus diesem Untergange ein neues Leben erzeugt, das fähig ist, die europäische Civilisation in sich aufzunehmen.

Anders verhält sich dies mit Cirkassien. Dort hausen Völker, die in voller Jugendkraft leben und nur des Augenblickes ihrer Selbstständigkeit harren, um ein frisches, geschichtliches Leben zu beginnen, und sie sind es zugleich, welche die Brücke für die Vorbereitung der Kultur nach Central-Asien bilden und von denen daher auch dessen Wiedergeburt und Civilisirung wesentlich abhängt.

Seit achtzehn Jahren fechten die Bergvölker des Kaukasus gegen die alljährlich gegen sie ausgesandte Militairmacht Rußlands mit derselben Tapferkeit und Hingebung, mit der sich einst unsere germanischen Vorältern der Eroberungslust der Römer gegenüberstellten, und alle Schilderungen, welche die neueren Reisenden über sie entworfen haben, sagen uns, daß auch in ihren Sitten, ihrem Denken und Fühlen eine tiefe Verwandtschaft zwischen ihnen und den alten Germanen stattfindet.

Die Religion, welche Schamyl für seinen Stamm aus dem Islam hervorgebildet hat, geht weit über alle übrigen Religionsrichtungen der Muhamedaner hinaus und zeugt von der tiefsten Anlage zu natürlicher Philosophie und einem Gemüthsleben, das an Fülle und Reichthum den Deutschen nahekommt.

In Georgien, das eins der ältesten Königreiche war, denn es ist im Stande seine Tradition bis in’s zweite Jahrtausend zu verfolgen, sehen wir noch jetzt eine feudale Organisation, die vollkommen der des mittelalterlichen Deutschlands gleicht. Wir sehen dort Fürsten, Grafen und deren Vasallen, die den Adel bilden, eine Geistlichkeit, die sich diesem in gleicher Abstufung anschließt und eine Einreihung der Handwerker und Künstler in Gilden.

Muß dies Alles nicht die tiefste Sympathie bei uns Deutschen erwecken und den Wunsch rege machen, daß es uns endlich gelingen möge, unsererseits mit diesen uns so verwandten Völkern in Verkehr treten zu können?

Es giebt aber eine noch eigenthümlichere Erscheinung in Cirkassien, welche dieses Verlangen noch heftiger steigern muß. Es giebt eine Völkerschaft in Cirkassien, die dem deutschen Wesen nicht nur verwandt, sondern ganz unzweifelhaft ein Ueberbleibfel der deutschen Stämme ist, die sich einst zur Zeit der Völkerwanderung vom Kaukasus aus in die Ebenen Europa’s ergossen. Es giebt noch Alanen in Cirkassien, die sich selbst Iren oder Eisenmänner und ihr Land Ironistan nennen, von den Tataren aber Oss, von den Lesghiern Otz und von den Georgiern Ossi genannt werden. Ihre eigene Tradition sagt, sie hätten früher die Bergthäler Cirkassiens bewohnt und seien aus dem Norden gekommen. Die Nachrichten der Georgier besagen jedoch, daß sie früher am Ufer des Don gewohnt und von dort gekommen wären. Dies ist allerdings wahrscheinlicher, da Ptolemäus eines solchen Stammes als dort wohnend erwähnt, der zu den Alanen gehörte.

Sprechender aber noch als alle diese Traditionen ist die ganze Erscheinung dieses wunderbaren Volksstammes, den man eine lebendige Versteinerung der Geschichte nennen könnte.

Ein neuerer Reisender, H. von Haxthausen, der so eben seine Reise durch Transkaukasien in englischer Sprache hat erscheinen lassen, entwirft über die Osseten eine Schilderung, die so merkwürdig ist, daß wir uns nicht enthalten können, sie ihrem Hauptinhalte nach unsern Lesern mitzutheilen.

Die Osseten wohnen eine Tagereise weit von Tiflis, der Hauptstadt Georgiens und nehmen ein nicht unbedeutendes Gebiet ein, das sie mit ihren Dörfern besetzt haben. Als H. v. Haxthausen diese betrat, wurde er augenblicklich von dem tiefsten Erstaunen ergriffen. Nicht nur die Gestalten der Menschen erinnerten ihn lebhaft an die Bauern in Niedersachsen, auch ihre Häuser und Geräthe sahen ganz so aus, als befände er sich dort oder in Westphalen. Und dabei war Alles anders als in dem übrigen Cirkassien.

Die Georgier wohnen in schlechten Erdhütten, die sie an einen Hügel anlehnen oder vielmehr aus diesem aushöhlen. Die Osseten haben tüchtige, gut gemauerte und geräumige Häuser, in deren Mitte sich ein runder mehrere Stockwerke hoher Thurm erhebt, in dem ein Wächter sitzt und das Nahen jedes Fremden beobachtet und anmeldet. Außerdem laufen um die Häuser, die ein Dorf ausmachen, Befestigungen; zuweilen liegen die Häuser aber auch einzeln oder in geringer Vereinigung zusammen. In den Häusern sah Haxthausen, was er nirgend in ganz Transkaukasien gewahrt hatte, eine Scheuer zum Dreschen. Ueberall hatte er sonst das Korn im Freien durch Ochsen dreschen sehen. – Die Osseten haben ferner Pflüge, die ganz den mecklenburgischen gleichen. Auch ihre Wagen und sonstigen Ackergeräthe sehen ganz deutsch aus. Als er in die Häuser trat, sah er zwischen zwei hohen Steinen an eisernem Haken den Kessel hängen, unter dem alsbald ein großes Feuer gemacht wurde, um das sich die Familie versammelte. Vor dem Feuer stand ein hölzerner Armstuhl, der für das Haupt der Familie bestimmt war, und an den Wänden befanden sich Bänke, die an das Feuer gerückt wurden für die übrigen Mitglieder der Familie. Die Osseten setzen sich nie, wie die übrigen Cirkassier mit gekreuzten Beinen auf den Boden, sondern auf Stühle und Bänke wie wir.

Sie haben ferner Bettstellen und Wiegen, die man in Cirkassien nirgend kennt. Sie machen Butter in Butterfässern, während die Cirkassier nur den Rahm der Sahne kennen und dieser bei ihnen die Stelle der Butter vertritt. Sie brauen Bier aus Gerste und trinken es aus Trinkhörnern und hölzernen Kannen, die sie im Kreise herumgehen lassen, wenn sie beisammen sind, und wozu die Gesellschaft ein Trinklied singt, das lebhaft an unsere bekannten Studententrinklieder (So sauf doch, so sauf doch) erinnert. Es lautet folgendermaßen:

Banas, na kuchta furesti
Denvason, famesta
Banas, banas, banas!

d. h. Trinke, unsere Hände giepern. Es läuft aus. Trinke, trinke, trinke!

Diese Anführung verräth den Lesern freilich, daß die Osseten nicht deutsch sprechen, aber das wäre etwas zu viel verlangt, daß die Alanen unser deutsch geredet haben sollten. Die Sprache der Osseten gehört aber zu dem indogermanischen Sprachstamm und an Verwandtschaft fehlt es also auch nach dieser Seite hin nicht.

Die Osseten sind Christen, aber es steht noch etwas schief mit ihrem Christenthum. Sie haben namentlich eine große Abneigung gegen die Sonntagsfeier. Sie sehen nicht ein, weshalb sie den ihnen aufoktroyirten Sabbath anders begehen sollten, als die übrigen Tage.

Von den Festtagen lieben sie nur die, an denen geopfert und in Folge dessen auch geschmaust wird. Zu Ostern wird ein Schaaf oder Lamm, zu Weihnachten ein Schwein, ein Ochse oder mindestens eine Anzahl Gänse geopfert. Das Opfern scheinen sie aus ihrer Heidenzeit beibehalten zu haben. Einige von ihnen opfern auch noch in’s Geheim in Höhlen, die jetzt einzelnen Heiligen, namentlich dem Elias gewidmet sind. Es giebt unter ihnen auch noch Zauberer und Wahrsager, welche Glauben finden. Ferner hat sich der Wahn unter ihnen erhalten, daß die Katzen, Hunde und Esel verzauberte Thiere sind. Kommt ein Diebstahl unter ihnen vor, so nimmt der Bestohlene eine Katze, geht damit nach dem Hause dessen, den er in Verdacht hat, fragt ihn nach dem Gestohlenen und wirft, wenn er läugnet, die Katze mit den Worten in sein Haus: „Möge diese Katze die Seelen Deiner Vorfahren quälen!“ Ist sein Verdacht begründet gewesen, so soll der Dieb diesen Fluch selten aushalten, sondern das Gestohlene wieder geben. – Es kommen übrigens wenige Diebstähle und Unsittlichkeiten [376] bei den Osseten vor, ihr Leben ist im Ganzen sittlich, und ein Aeltester, der in jedem Dorf gewählt wird, genügt, um die Ordnung aufrecht zu erhalten.

Sie haben unter sich Edle, Freie und Sclaven. Die Zahl der Adelsfamilien ist gering und die Sclaven stehen in keinem andern Verhältniß, als dem der Knechte. Sie werden in jedem Hauswesen als zu diesem und der Familie gehörend betrachtet und gut behandelt. Die Osseten sind die einzigen Leute in Cirkassien, die sich vermiethen. Die übrigen Cirkassier sind dazu zu stolz. Die Osseten beweisen dadurch aber gerade, daß sie ungleich arbeitsamer sind, als die Cirkassier. Ihre Dörfer sind in ungleich besserem Stande, als die der Georgier. Die reicheren Osseten lassen ihre Aecker theils durch freie Bauern, theils durch Knechte bewirthschaften; dies ist ein ungleich höheres Kulturverhältniß, als das Georgiens, wo selbst die Adelsfamilien in sehr ärmlichen Verhältnissen leben, weil sie nicht zu wirthschaften verstehen und selbst zu arbeiten verschmähen. Auch die Osseten halten sehr auf Reinheit des Blutes. Die einzelnen Klassen heirathen unter einander. Sie nehmen nur eine Frau, und nur selten kommt es vor, daß ein Reicher eine zweite in sein Haus führt. Jedes Mädchen wird um seine Einwilligung befragt, wenn um sie geworben wird. Giebt sie ihre Zustimmung und ist der Tag der Hochzeit festgesetzt, so erscheint an diesem der Bräutigam mit seinen Freunden und Verwandten und es beginnt das Fest bei den Aeltern der Braut. Am folgenden Tage geht die Gesellschaft zu dem nächsten Nachbar und so geht es fort, bis das ganze Dorf an der Reihe gewesen ist. Vorher darf der Bräutigam die Braut nicht in sein Haus nehmen. Endlich bringen die Verwandten sie dahin, der Bräutigam empfängt sie an der Thür mit einem brennenden Licht und leuchtet ihr in’s Haus, dann geht sie dreimal um den Herd umher und setzt sich in den Stuhl vor dem Feuer; darauf erscheinen die Frauen aus dem Dorfe, setzen sich um sie herum und singen ihr etwas vor, bis der erste Hahnenruf erschallt. Sobald dieser gehört wird, kommt ein Junge gelaufen, der darauf zu passen hatte, nimmt der Braut den Schleier vom Gesicht, zerreißt ihn, heftet die Stücke auf einen Stab und ruft: „Neun Knaben und ein Mädchen.“ Damit ist sie die Herrin des Hauses, d. h. es beginnt ihr Dienst in demselben. Die Gesellschaft setzt sich abermals zum Schmausen nieder und sie hat dabei aufzuwarten. In ihrer Gegenwart darf sie nicht essen. Ihr wahres Ansehn beginnt überhaupt erst, wenn sie ein Kind zur Welt gebracht hat.

Die Frauen herrschen im Hause und sind ungemein fleißig und arbeitsam. Sie besorgen nicht nur die Wirthschaft, sondern besorgen auch das Schneiden und Einbringen des Korns, ja häufig pflügen sie auch. – Stirbt der Mann vor der Frau, so bleibt diese in der Familie, und es heirathet sie entweder ein anderes Mitglied derselben oder sie lebt für sich fort. Alle Kinder, die während dieser Zeit geboren werden, haben gleiche Rechte mit denen aus der ersten Ehe. Ist aus dieser kein Knabe vorhanden, so erbt der später Geborene den Hof. – Haxthausen war selbst in einem Hause einquartirt, in dem die Wirthin, eine junge Wittwe, einen solchen Erben auf dem Arme trug.

Die Osseten sind bei weitem nicht so hübsch, wie die übrigen Cirkassier. Sie sind kurz und gedrungen, selten über 5’ 4″ groß, haben blaue Augen und lichtbraune oder rothe Haare, und sehen ganz so aus, wie niedersächsische Bauern. Die Frauen haben etwas zu flache Nasen, um für hübsch gelten zu können.

Die Osseten sind auch die einzigen Cirkassier, die ordentlich zu singen verstehen. Sie lassen einen Sänger die Melodie und den andern die Worte singen und ihr Gesang ist gut und kräftig. Die übrigen Cirkassier bringen dagegen nur ganz dünne zum Vorschein, die der Violinstimme gleichen.

Das Criminalrecht der Osseten gleicht vollkommen dem der alten Germanen. Ist ein Mord vorgefallen, so tritt die Blutrache ein, die zwei Geschlechter hindurch währt. Für jede Verletzung steht ein Tarif der Entschädigung fest, der nach Kühen berechnet ist.

Die Osseten haben stets ihre Unabhängigkeit zu bewahren gewußt. Die Könige von Georgien haben einmal einen Theil von ihnen unterworfen, aber diese Abhängigkeit ging auch nicht weiter, als daß sie ihnen einen Tribut bezahlten. Die Russen haben keinen Einfluß auf sie zu üben vermocht.

Nach all’ diesen Notizen über die Osseten, die man zum Theil auch in Kohl’s Reisen durch Rußland bestätigt findet, muß man höchst gespannt darauf sein, ob es nicht gelingen könnte, diese wunderlichen Reste des alten Deutschthums mit unserer jetzigen deutschen Kultur in Verbindung zu bringen. Sollten sie nicht dazu dienen können, die weitere Kolonisation Cirkassiens durch deutsche Elemente zu bewerkstelligen?

Auch die Russen haben bereits die Wichtigkeit der deutschen Kolonisation erkannt. Sie haben Schwaben nach Georgien wie nach den Ufern der Wolga gezogen, und beide Kolonien gedeihen vortrefflich. Die in Georgien, welche seit 1818 in der Nähe von Tiflis bestehen, versehen die ganze Gartenarbeit für dieses, da die Georgier zu faul dazu sind, und gewinnen viel Geld damit. Die Mährischen Brüder, welche Katharina II. 1769 nach den Ufern der Wolga unterhalb Samtova verpflanzte, haben jetzt 100 Dörfer mit je 1000 Einwohnern inne und liefern die beste Handwerkerarbeit in ganz Rußland, so daß die Regierung ihren Arbeitern das Recht ertheilt hat, gleich den Kaufleuten erster Gilde durch ganz Rußland zu handeln. Sie wie ihre Brüder in Georgien werden auch in ihren Gemeindeverhältnissen ungestört gelassen. Sie verwalten alle ihre Angelegenheiten selbst und bedürfen keiner Staatsregierung!

Liegt nicht in diesen Vorposten der deutschen Kultur schon eine große geschichtliche Bedeutung? Beweist das Gelingen dieser Kolonisation nicht, daß die Deutschen mit ihrem Fleiß und ihrem tiefen Sinn für freies Familien- und Gemeindeleben vorzugsweise dazu gemacht sind, die Kultur über die Erde zu tragen?

Wie trefflich wäre es daher, wenn auch die Osseten dafür gewonnen werden könnten, wenn in ihnen das Bewußtsein erweckt würde, daß sie zu dem großen deutschen Stamme gehören, der jetzt erst, nachdem das angelsächsische England ihm vorgearbeitet hat, dazu gelangt, seinen wahren Kulturberuf zu erfüllen.

Die Deutschen haben bisher die Kolonisation noch nicht als Volkssache, als allgemeine Angelegenheit betrieben, und doch haben die Einzelnkräfte, die sich ihr zugewandt haben, schon dahin geführt, daß der deutsche Fleiß und der deutsche Geist dem englischen auf dem Boden Nordamerika’s ebenmäßig zur Seite getreten ist. Das Gleiche wird auch in Australien geschehen und es ist offenbar ebenso unsere Aufgabe, über Cirkassien nach Central-Asien vorzudringen, um dort den Engländern in Indien zu begegnen und an der Kultur dieses herrlichen Landes mitzuarbeiten.

Auch Indien ist ein uns stammverwandtes Land und die deutsche Civilisation muß nothwendig dahin zurückstreben.

Die Kultur muß zur zirkulirenden Kraft der Menschenwelt werden, wie der Blutumlauf in dem einzelnen Individuum, dann hat die Menschheit erst ihre Aufgabe erreicht, und erst dann kann die Freiheit der Völker eine Wahrheit werden.

Erst wenn sie vollkommen Raum zu ihrer Entwicklung haben, wenn sie sich nicht mehr eingeengt und beschränkt fühlen, wird sich auch ihre Kraft entfalten.

Deshalb ist es an der Zeit, daß die gesammte Presse für diese Völker aus Gründen der geschichtlichen Nothwendigkeit und der national-ökonomischen Wohlfahrt Europa’s ihre Stimme erhebt und dazu beiträgt, ihnen eine Zukunft zu bahnen. Daß ihnen bei ihrer großen Kulturfähigkeit eine große und weitgreifende Zukunft erwächst – wer will es bei ihrer Stammverwandtschaft mit deutschem Charakter und deutschem Streben läugnen?

[377]
Kulturgeschichtliche Bilder.
1. Theure Zeiten.

Die Betrachtung der Fortschritte des Menschengeschlechts in der Ausbildung seiner Geistesanlagen und ganz besonders in deren Anwendung zur Bewältigung, Verschönerung und Nutzbarmachung der Natur, also das was man mit einem Worte Kulturgeschichte zu nennen pflegt – muß bei jedem Denkenden ein lebhaftes Interesse erwecken, Lehrt sie uns auch nicht so unmittelbar, wie die Beobachtung der Natur und ihrer Gesetze, das was uns für unsern täglichen Lebensgebrauch von Nutzen sein kann, so ist der Vortheil, den sie uns bringt, darum kein geringerer. Sie zeigt uns, was der Menschengeist vermag, wenn er seine Kräfte und namentlich die ihm verliehene Herrschaft über die Natur recht gebraucht, und spornt dadurch uns selbst zu einem solchen rechten Gebrauche, zu einer fleißigen Ausbildung unsrer mannigfachen geistigen Anlagen und Fähigkeiten an. Sie macht uns aufmerksam auf die Mittel, durch welche es gelungen ist, so manche früher unvollkommene Einrichtung zum Wohlbefinden der menschlichen Gesellschaft allmälig immer mehr, oft bis in’s Staunenswertheste, zu vervollkommnen, so manches natürliche Hinderniß menschlicher Glückseligkeit und menschlichen Fortschritts zu besiegen, und regt dadurch auch in uns neue Ideen, neue Pläne zu noch weiteren Verbesserungen an. Sie erweckt unsern gerechten Stolz, wenn wir sehen, wie die Menschheit, von der wir ein Theil sind, immerfort vorwärtsschreitet, welche Höhepunkte in Wissenschaft, Kunst, Gewerbe, Kenntnisse und Fertigkeiten jeder Art sie bereits erreicht hat; aber zugleich lehrt sie uns auch Bescheidenheit, indem sie darauf hinweist, wie frühere Geschlechter ebenfalls schon auf einer hohen Stufe der Vollkommenheit zu stehen vermeinten, zum Theil auch wirklich standen, aber doch von ihren Nachkommen weit überflügelt wurden und daß es auch uns einmal von Seiten späterer Geschlechter so gehen wird. Sie läßt uns nicht verzweifeln, wenn in der Gegenwart uns Manches nicht so erscheint, wie wir es wohl wünschen möchten, denn in frühern, oft nicht einmal fernen Zeiten sind ja diese Zustände oft weit unbefriedigender gewesen und sind seitdem um Vieles besser geworden, so daß wir hoffen dürfen, sie werden künftig sich noch immer besser und befriedigender gestalten.

Wir beginnen unsere kulturgeschichtlichen Vergleichungen zwischen dem Sonst und Jetzt mit einer Frage, die eine leider nur zu unmittelbare und dringliche Wichtigkeit für uns hat – bei der jetzt herrschenden Theurungsfrage. Man hört wohl bisweilen in Bezug auf die jetzt schon seit längerer Zeit ziemlich hohen Preise der ersten Lebensbedürfnisse die Aeußerung: Das sei doch früher nicht so gewesen; da hätten die Armen billigeres Brot gehabt und der Mittelstand besseres Wirthschaften als jetzt! Wir wollen sehen, ob diese Lobeserhebungen der Vergangenheit und diese Klagen über Verschlimmerung in der Gegenwart gegründet sind! Gehen wir zu dem Ende einmal um 100 Jahre zurück, also in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts, in die Zeit nach dem Ende des siebenjährigen Kriegs, wo, nach langen Drangsalen, schon wieder ein besserer Zustand begann, und fragen wir, wie es damals aussah! In gewöhnlichen Jahren war allerdings damals das Getreide um die Hälfte, bisweilen um noch mehr billiger, als es in diesen letzten zehn bis zwanzig Jahren gewesen ist. Der dresdner Scheffel Korn kostete zu jener Zeit im Durchschnitt höchstens 2 Thaler. Aber auf den Preis der Lebensbedürfnisse allein kommt es nicht an, sondern auf das Verhältniß dieses Preises zu den Preisen der Arbeiten, durch welche die Mittel zur Bezahlung solcher Bedürfnisse erworben werden. Wenn für dieselbe Arbeit, welche in der damaligen Zeit mit 2 Thaler bezahlt ward, jetzt ebenfalls 3 Thaler oder mehr gegeben werden, so ist das Verhältniß zwischen Erwerb und Verbrauch kein ungünstigeres, als damals; nur der allgemeine Maßstab der Preise ist ein anderer geworden, oder wie man es auszudrücken pflegt, das Geld (der allgemeine Werthmesser aller Dinge) ist im Preise gesunken. So verhält es sich nun aber, in der That, ja der Preis der Arbeit ist seit hundert Jahren (wenigstens in vielen, wohl den meisten Fächern) um weit mehr als die Hälfte, zum Theil auf das Doppelte, bisweilen sogar noch höher gestiegen.

Der Tagelohn eines Handarbeiters z. B. war im vorigen Jahrhundert auf dem Lande häufig nur 21/2 Ngr., in den Städten, 4, 5, höchstens 51/2 Ngr.; jetzt steht er fast nirgends unter 71/2 Ngr., wohl aber häufig auf 10, 121/2, ja 15 Ngr. Dienstboten, welche damals 6 Thaler jährlich nebst Kost erhielten, sind jetzt mit 16 bis 20 Thaler kaum zufrieden. Maurer und Zimmerleute und ähnliche Handwerker mußten in jener Zeit mit 71/2 – 10 Ngr. der Geselle, mit 81/2 – 12 Ngr. der Meister täglich auskommen – jetzt ist der Gesellenlohn in diesen Gewerben 18 – 20 Ngr. Und so finden wir es fast durchgängig, wenn wir die frühere Zeit mit der jetzigen vergleichen. Ein Rath in einem höheren Landescollegium erhielt damals 600 Thaler, der jetzt vielleicht 1200 – 1500 Thaler bezieht, ein Secretair 300 Thaler, der sich jetzt wenigstens auf das Doppelte steht. Der gewöhnliche Gehalt eines ordentlichen Professors an einer Universität ersten Ranges war 200 Thaler, und selber berühmten Gelehrten bot man an einer andern nicht mehr als 500 Thaler nebst einigen Naturalemolumenten. Also in allen diesen Verhältnissen sind, wie man sieht, eben so große, wenn nicht größere Veränderungen vorgegangen, als in den Preisen der Lebensmittel, und man kann daher eigentlich nicht sagen, daß diese theurer geworden wären: verhältnißmäßig genommen, das ist im Vergleich zu den vorhandenen Erwerben und Verbrauchsmitteln sind sie viel eher billiger geworden.

Bis hierher sprachen wir nur von den gewöhnlichen oder Durchschnittspreisen, nicht von den Zeiten besonderer Theuerung. Solche Zeiten kamen in früheren Perioden z. B. während des ganzen vorigen Jahrhunderts viel häufiger und, so zu sagen, regelmäßiger vor, als jetzt. Man kann rechnen, daß in jener Zeit ziemlich alle zehn Jahre einmal ein allgemeiner Nothstand durch Theuerung der ersten Lebensmittel eintrat, die theilweisen Nothstände ungerechnet, welche einzelne Länder oder Gegenden in Folge der damals so häufigen Kriegsdrangsale erlitten. In diesem Jahrhundert haben wir seit dem schweren Nothjahre 1816/17 eigentlich nur erst eine länger andauernde und ziemlich hoch steigende Theuerung gehabt, die von 1846. Denn die gegenwärtige ist, wenn schon immerhin drückend genug, doch noch keineswegs eine wirkliche Lebensmittelnoth zu nennen, auch hoffentlich nur von schneller vorübergehender Dauer. Und selbst die Theuerung von 1846 will wenig bedeuten im Vergleich zu denen früherer Zeiten, z. B. zu der furchtbaren Theuerung von 1771–72, wo der Scheffel Korn, der noch kurz zuvor 12/3 – 2 Thaler gekostet hatte, zuerst auf 33/4 Thaler, dann gar auf 8 Thaler, ja in manchen Gegenden auf 13 – 16 Thaler stieg (was im Verhältniß ohngefähr eben so ist, als wenn er jetzt, wo er in guten Jahren etwa 3 Thaler gilt, auf 12, 18 bis 24 Thaler steigen würde) und wo in Sachsen allein in einem Jahre 150,000 Menschen in Folge der Hungersnoth umgekommen sein sollen.

Wenn die Preise der Lebensmittel fortwährend eine gewisse Höhe behaupten, dieselbe aber auch selten und nur mäßig überschreiten (wie das im Ganzen jetzt der Fall ist), so befindet sich die verzehrende Bevölkerung und namentlich die vorzugsweise sogenannte arbeitende Klasse dabei besser, als wenn sie das eine Mal sehr niedrig, dann wieder plötzlich ganz übermäßig hoch stehen. Denn in jenem ersten Falle richten sich, (wie wir dies schon oben gesehen haben) die Preise der andern Waaren und also auch der Arbeit (die ja auch eine Waare ist) mehr oder weniger nach den Preisen der Lebensmittel, und jeder Einzelne verdient dann verhältnißmäßig so viel mehr als sonst, daß er auch das theuere Brot ohne Beschwerde bezahlen kann. Bei plötzlichen Steigerungen und häufigen Schwankungen der Getreidepreise dagegen können die Arbeitspreise denselben nicht folgen; im Gegentheil, der Arbeiter mit einem Male durch die theueren Nahrungsmittel in Noth versetzt, ist oft gezwungen, zu noch niedrigeren Preisen zu arbeiten als gewöhnlich, um nur überhaupt seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Daß unverhältnißmäßige Schwankungen, wie früher, in den Preisen der Lebensmittel nicht mehr vorkommen, das verdanken wir, nächst dem bedeutend verbesserten Anbau des Bodens und dem Seltenerwerden jener Störungen des friedlichen Verkehrs, welche im vorigen Jahrhundert und bis in das zweite Jahrzehnt des gegenwärtigen die fortwährenden Kriege herbeiführten, ganz besonders [378] den gegen damals so unendlich vervollkommneten Transportmitteln, welche es möglich machen, dahin wo ein Mangel an den ersten Lebensbedürfnissen eintritt oder einzutreten droht, allemal sogleich in kürzester Zeit den Ueberfluß anderer Gegenden, anderer Länder, ja anderer Welttheile zu versenden. Wie ganz anders war dies vor hundert, vor fünfzig, ja noch vor zwanzig Jahren! Heut zu Tage können, wenn es nöthig ist, mittels der Eisenbahnen Tausende von Scheffeln Getreide binnen wenigen Tagen von einem Ende Deutschlands, ja des europäischen Festlandes, nach dem andern, mittels der Dampfschiffe in verhältnismäßig ebenso kurzer Frist vom schwarzen Meere in die Nord- und Ostsee, von Amerika nach Europa verfahren werden. Früher, als man noch keine Eisenbahnen, sondern nur etwa gute Chausseen hatte, brauchte man bei sechsmal so viel Zeit, als jetzt, zu diesem Transport. Auf dem Wasser war es dasselbe; bei widrigen Winden oder auf Flüssen, bei der Bergfahrt konnte man sich wochen- oder monatelang quälen, um eine Strecke zurückzulegen, die man jetzt in dem dritten oder vierten Theile dieser Zeit durchführt. So lange mußten also die Nothleidenden die sehnlich erwartete Zufuhr von Lebensmitteln entbehren, und ein Glück war es, wenn nicht noch gar diese letztern durch die lange Wasserfahrt zu Grunde gingen oder in einen verderbteren, der Gesundheit nachtheiligen Zustand geriethen. Nun aber vollends in jener frühern Zeit, wo es nicht einmal ordentliche Kunststraßen gab! Und das ist keineswegs so sehr lange her. Vor 70 Jahren war in den sämmtlichen preußischen Landen noch keine einzige Chaussee zu finden und selbst vor 40 Jahren gab es in den drei Provinzen Ost- und Westpreußen und Posen erst eine, sage eine Meile chaussirten Weg!

Man versuchte in früheren Zeiten oft, durch Magazinanstalten, durch strenge Anweisungen von oben her für einen rationellen Betrieb der Landwirthschaft, durch Getreideankäufe im Auslande auf Staatskosten, durch künstliche Regelung der Preise und andere dergleichen Maßregeln dem Eintreten von Lebensmitteltheurungen vorzubeugen oder die eingetretenen zu lindern. Man hat ähnliche Maßregeln auch neuerdings wieder von manchen Seiten in Vorschlag gebracht. Aber alle künstlichen Vorkehrungen vermögen zur Abstellung solcher Uebelstände viel weniger als die natürliche Entwickelung des freien Verkehrs, als die Vervollkommnung der Verkehrsmittel, des Transportwesens, der Straßen, der Eisenbahnen, der Kanäle, der Dampfschifffahrt, als die Beseitigung der künstlichen oder gewaltsamen Störungen dieses Verkehrs der Ausfuhrverbote, der Hemmungen der freien Schifffahrt, der Verwüstung ganzer Lander durch die Kriegsfurie, mit einem Worte also als die fortschreitende Kultur. In den civilisirten Ländern mag sich immerhin die Bevölkerung verdoppeln und verdreifachen – an Lebensmittelmangel oder gar an Hungersnoth ist deshalb noch lange nicht zu denken, wenn nur die täglich fortschreitende Kultur mit Hülfe einer vervollkommneten Technik immer neue Mittel und Wege auffindet, um die Erzeugnisse der verschiedenen Gegenden und Zonen der Erde gegen einander auszutauschen. Trotz der in den letzten fünfzig Jahren beinahe um die Hälfte gestiegenen Bevölkerung Deutschlands hat sich der Verbrauch dieser Bevölkerung an Nahrungsmitteln nicht vermindert, im Gegentheil in Bezug auf manche Arten der Nahrungsmittel vermehrt. Der Fleischverbrauch z. B. betrug im Jahre 1806 erst 33 Pfund auf jeden Einwohner Preußens, im Jahre 1849 aber schon 40 Pfund; an Getreide rechnen manche Statistiker jetzt noch einmal so viel als früher auf den Kopf. – Andere freilich meinen, der Verbrauch dieses Artikels sei sich seit beinahe fünfzig Jahren so ziemlich gleich geblieben, jedenfalls hat er sich nicht verringert, und dazu kommt jetzt ein, vor hundert Jahren noch sehr wenig benutztes, jetzt beinahe in jeder Haushaltung als unentbehrlich geschätztes, für die ärmeren Klassen oft alle anderen ersetzendes Nahrungsmittel, die Kartoffel. Auf alle Fälle können die sich beruhigen, welche jeden neuen Fortschritt der Kultur mit Angst betrachten, weil sie meinen, die immer raschere Vorwärtsbewegung der Menschheit sei im Grunde doch nur ein Schwindel, der dieselbe in Bezug auf wahres Wohlbefinden und Lebensbehagen weit mehr zurück als vorwärts bringe. Es läßt sich mit Zahlen nachweisen, (wie theilweise in dem Vorstehenden geschehen ist[1], daß die Menschen heutzutage, und zwar auch die unbemittelteren Klassen, im Durchschnitt besser leben, reichlichere Nahrung haben, gesünder wohnen, sich behäbiger kleiden können, daß Theuerungen und Nothstände, wenn sie auch noch immer nicht ganz den Völkern erspart werden können, doch seltener sind und viel weniger Verheerung anrichten, daß für die Nothleidenden besser gesorgt wird und besser gesorgt werden kann, als ehedem, und daß man keinesfalls jetzt Hunderttausende von Menschen vor Hunger und Entbehrung umkommen läßt, wie in der vielgepriesenen „guten alten Zeit.“
C. B. 




Amerikanische Briefe.
III. Neu-Schottland. (Schluß.)

Reise nach Windsor. – Annapolis. – Rückkehr nach Halifax. – Besuch bei Sam Slick. – Dessen Persönlichkeit. – Sam Slick’s Charakteristik eines Yankee.

Um die Halbinsel im Innern näher kennen zu lernen, unternahm ich Landkutschen-, Wasser- und Fußreisen, um bis Annapolis und St. Johns vorzudringen. Ein rohes, altes Ungeheuer von Landkutsche brachte mich zunächst in das 45 englische Meilen entlegene Windsor durch rohe Natur und Felsen, weidendes Vieh, weiße Landhäuser, an Flüssen, Höhlen, wilden Weinlabyrinthen, Kürbissen und Indiokornfeldern vorbei, ohne beim Essen unterwegs jemals etwas von Bier oder gar Branntwein zu sehen. Windsor ist im Kleinen, was Halifax im Großen, doch Alles mehr eben, niedlicher, gemüthlicher, besonders durch die vielen zerstreuten Landhäuser, Bäume in den Straßen und den Fluß Avon, der hier sich mit einem andern vereinigt und bis in die Minen-Bay schiffbar wird. Als ich hier geschlafen, fragte ich das Landhaus, die eigentliche Wohnung des lustigen „Sam Slick“, aus. Doch von diesem Besuch will ich ja besonders sprechen.

In Windsor mit seiner Universität und vierzehn Studenten, Unter-Horton, Wolfville, Kentville, Cornwallis und anderen Orten, die alle denselben Charakter tragen, nur daß Alles allmälig kultivirter ringsum aussieht, will ich mich auch nicht weiter aufhalten; es verdient Cornwallis mit seiner herrlichen Ebene, die als die fruchtbarste in ganz Neuschottland gilt, ein Paar Worte. Die ganze Ebene ist dem Wasser (der Fundy-Bay) durch ungeheuere Dämme abgetrotzt worden, welche die ersten Colonisten, die Franzosen, im großartigsten Style angelegt hatten. Als die größte Merkwürdigkeit des Landes gilt der Wellington-Damm, 30 Fuß hoch und ebenso dick von Erde und Reisholz, mit glücklichem Erfolg den Angriffen des Weltmeeres als eine der praktischsten, modernen Fortifikationen entgegen gemauert. Das so geschützte „Damm-Land“ bildet hier den Maßstab für den Reichthum der Farmer. Dieser dem Meere abgewonnene Boden ist so fruchtbar, daß er seit einem Jahrhundert ohne Dünger die reichlichsten Ernten liefert. Freilich thut eine Art Erdflöhe dem Weizen viel Schaden, so daß man mit großem Nutzen angefangen hat, Kartoffeln zu bauen, die in ungeheuern Massen nach Nordamerika ausgeführt werden. Farms mit solchem Dammland werden hier mit 30 bis 50 Pfund (200 bis 400 Thaler) auf jeden Acker verkauft und sind immer leicht zu haben, da die Besitzer den Wechsel sehr lieben, so gut sie sich auch stehen.

Nur die eigentlichen Boden-Eigenthümer (die meisten andern stehen noch in feudalistischer Abhängigkeit, wie sie von den ersten Herren Canada’s, den Franzosen, eingeführt ward) lieben ihren Boden und ihre schöne gebildete Heimath in ganz fein-studirt eingerichteten Villa’s, wo Speise-, Besuch- und Studirzimmer und schöne, kleine Equipagen die Freunde und Nachbarn gar oft zu schönen, geselligen Freuden vereinigen. Sie haben über nichts zu klagen, über keine Polizei, keine Steuern, Landräthe und Soldaten; doch auch sie schimpfen auf eine Regierung, nämlich die nordamerikanische, welche allerdings den ziemlich dummen Streich gemacht [379] hat, 30 Prozent Eingangszoll auf die neuschottischen Kartoffeln zu legen. Außerdem sind Arbeiter schwer zu haben. Für 140 Thaler jährlich und noch Fleisch, Pudding und Torte täglich muß man den Pferdeknecht noch sehr warm halten, wenn er nicht aufsagen soll. Lebensmittel, Hotels und Reisen sind fabelhaft billig, zumal wenn man aus England kommt, das seiner Gasthöfe wegen weltberüchtigt ist. Für eine Nacht mit Zimmer, Thee und prächtiges Frühstück bezahlte ich drei Schillinge. Das würde in England 20 - 30 Schillinge gekostet haben.

Von der nun folgenden langen Reise nach Annapolis will ich schweigen, sie bot nichts Merkwürdiges. Nur des „Teufels Gänse-Weide“, die wir öfter passirten (große, sandige und sumpfige Ebenen, mit Gänsen reichlich bevölkert), find’ ich des Witzes wegen, den Sam Slick darüber gemacht hat, erwähnenswerth. Er sagt, diese Teufels-Gänse seien so glücklich und unverdaulich, daß kein Fuchs zu bewegen sei, sich einmal eine zu holen, er könne sie doch nicht beißen. Später sah die Gegend wieder freundlicher aus, besonders im Thale des Flusses Annapolis, den wir bei der rasch aufblühenden Stadt Bridgeton passirten, um durch lachende grüne Thäler in die Stadt Annapolis zu kommen. Diese Stadt hat den historischen Ruhm, die erste europäische Ansiedelung in Nordamerika zu sein. Franzosen waren es, die sich hier 1603 zuerst niederließen. Die Stadt wurde mehrmals erobert, niedergebrannt und neugebaut, bot mir aber nichts besonders Merkwürdiges, da das Gemisch von Französisch und Englisch, das sich hier noch bietet, eben nicht sehr angenehm erschien. Sie liegt an einer Meeresbucht und steht mit St. Johns in Dampfschiffverbindung, so daß ich dachte, dort hinunter zu dampfen und in das eigentliche Amerika einzudringen. Doch man erzählte mir, daß das Dampfschiff gerade jetzt einer gründlichen Reparatur unterworfen werde, ich aber desto besser fahre, wenn ich nur vier bis sechs Wochen warten könne. Dazu hatt’ ich keine Lust, ich fuhr also meinen Weg zurück und eilte in Halifax athemlos nach dem Hafen, wo eben das große Dampfschiff „Canada“ angekommen war, in welchem ich mich vor allen Dingen schlafen legte, um für neue Eindrücke in der neuen Welt die Folgen meiner beschwerlichen Rückreise loszuwerden. Inzwischen will ich aber meinen Besuch bei Mr. Haliburton, Sam Slick, niederschreiben, in der Hoffnung, daß er bei meinem lieben Freunde E. Keil, alte Welt, Leipzig, Königsstraße Nr. 14, wohlbehalten ankomme. Für ansprechenden Inhalt in meinen weiteren Briefen wird die ungeheuere, neue Welt, der ich nun immer näher entgegenbrause, gewiß nur zu gut sorgen, so daß ich schon fühle, wie meine Hauptarbeit darin bestehen wird, tausenderlei Dinge, die mir im Augenblicke ganz ungeheuer wichtig erscheinen, ganz zu unterdrücken, und kurz und bündig und in den Grenzen zu bleiben, von denen hier Niemand die geringste Ahnung hat. Insofern ich hoffe, daß Sie meine Briefe der Veröffentlichung werth halten, erlaube ich mir alle Leser ohne Ausnahme unbekannter, aber herzlicher Weise zu grüßen.


Als ich in meinem neuschottischen Windsor wohlfeil ausgeschlafen und gefrühstückt hatte, begab ich mich mit einem meiner englischen Reisegefährten auf den Weg, in die reichlich zwischen Wiesen und Baumgruppen zerstreuten Landhäuser, deren eins dem lustigsten und schneidendsten aller amerikanischen Humoristen, dem schon erwähnten Advokaten Haliburton, der als Sam Slick schon lange auch in Deutschland eingeführt ist, gehören sollte. Wir fragten nicht lange, da Jeder seine Wohnung zu kennen schien. Und so kamen wir nach etwa einer halben Stunde vor einen großen, reichlich mit Baum- und Blumenwerk besternten Rasenplatz, auf welchem frei und luftig eine herrliche Villa im schönsten englischen Landsitzstyle sich erhob. Hier wohnt der Weise des modernen amerikanischen Charakters. Es war noch ziemlich früh, und wir trugen Bedenken, so ohne Weiteres einzudringen; aber es war nun nicht mehr gut warten. Wir ließen uns also als ein Paar Ankömmlinge aus zwei verschiedenen Theilen der alten Welt melden, wurden in ein großes, prächtiges, ganz aristokratisch-englisch ausgeschmücktes Besuchzimmer geführt, das in seinem Teppich, seinen Stühlen und Tischen, Büchern und Gemälden wohl auch den luxuriösesten Ansprüchen wenig zu wünschen übrig ließ. Kaum hatten wir Platz genommen, meldete ein reizendes, schlankes, kastanienbraunes Mädchen (ein Neger hatte uns die Thür geöffnet), daß der Herr in einigen Minuten die Ehre haben werde. So machten wir denn bald einer epigrammatisch überraschenden Erscheinung unsere Verbeugungen. Ein vom Kopf bis zu Fuß lachender, frischer, derber, untersetzter Vierziger mit einem Kopf voll ewig junger, unsterblich lachender Heiterkeit. Die Stirn groß und weit und edel gewölbt und ohne Spur von Sorgenfalten. Die Augen unter starken, buschigen, etwas spöttisch herabgezogenen Brauen, ein Arsenal blitzender, stechender, schneidender, schießender, durchdringender Waffen des Witzes und Humors. Nase schmal und groß und in der Mitte konvex und scharf in der Linie, wie denn überhaupt im ganzen Gesicht nichts Stumpfes zu entdecken war. Mund, etwas dicht zusammengepreßt, wodurch die Winkel noch spöttischer, jovialer, schäkernder wurden.

Die ganze Persönlichkeit machte den wohlthuendsten und edelsten Eindruck. Er sprach sehr ruhig, klangvoll und gemüthlich über alle mögliche Gegenstände mit uns und bemerkte in Bezug auf mich, es thue ihm sehr Leid, daß er Deutschland niemals gesehen und nichts von der Sprache Goethe’s, Humboldt’s, Jean Paul’s und Gutenberg’s verstehe. „Aber ich kann den Deutschen nie verzeihen, daß sie das Pulver erfunden haben“, setzte er mit der trockendsten Schalkhaftigkeit hinzu. „Ich säh’ es auch lieber, wenn sich alle Menschen und Völker blos mit den Waffen schlügen, deren Meister wir die Ehre haben, persönlich vor uns zu sehen“, versetzte ich. Die Unterhaltung lief nun wieder rasch durch Alt- und Neu-England, Nord- und Südamerika, die Sklaven- und die Fischereifrage, neuschottische Eisenbahnen, Literatur u. s. w., wobei ich nur bemerkte, daß sich der Schalk nicht die geringste Mühe gab, witzig zu erscheinen, daß aber seine harmlosen Fragen und Entgegnungen fast immer unwillkürlich etwas Epigrammatisches, Scharfsinniges und ungenirt Kurzes und Bündiges annahmen. Viel Komik lag dabei in einer Art von englischem Platt, das etwa mit „Keener“, „Nee“, „Appel“, „Boom“ u. s. w. im Deutschen zu vergleichen wäre. Aehnlich läßt er bekanntlich gern „Sam Slick“ selbst und seine Neger reden. „Sam Slick“ ist das personificirte und individualisirte Urtheil der Neu-Engländer in Canada über die eigentlichen Yankees und der schlaue, spekulative, durchdringende, furcht- und schonungslose Genius Amerika’s selbst, oder wie er selbst zu Ende seiner „Weisen Sprüche und modernen Zustände“ sagt: „Na also, Mr. Slick, ich sage Ihnen, ’S sind der Mann für mein Geld. Sprechen den meesten Sinn und den meesten Unsinn in der Welt. Spielen mit de Mächens, haben de Mannsleute zum Besten, schneiden uf nach der Uhr und sind ’n gebornes Schäkerken. Dabei sind S’ der Mann, dem man den Spruch gleich an der Nase ansieht: Bange machen gilt nich! und ’ne Macht, Ihn’n ’s Maul zu stoppen, is nich.“

Nachdem wir ziemlich eine Stunde mit diesem nicht bange zu machenden und nicht zu stopfenden personificirten Yankee-Humor gesprochen hatten, verabschiedeten wir uns. Ich erwähne nur noch, daß er uns die Entstehungsart seines neuesten Buches: „Weise Sprüche und moderne Zustände“ (vielleicht besser „Beispiele“) mittheilte. Er erhielt von der Regierung den Auftrag, die Fischereifrage in Neuschottland, Neubraunschweig und auf der Prinz Eduard-Insel an Ort und Stelle selbst zu untersuchen und darüber zu berichten. Er bekam außer sechs Dollars Diäten noch täglich sechs Dollars Reisegeld und ein eigenes Dampfschiff zu seiner Verfügung. Dabei ließ sich schon lustig sehen und schreiben. Seiner Gesandtschaft nach England verdanken wir die sarkastische, witzige Schilderung altenglischer Zustände in: „Ein Attachée oder Sam Slick in England.“ Er ist der einzige Diplomat, der lustige Bücher schreibt und die Wahrheit ungenirt sehr spitz heraussagt, statt sie abzustumpfen oder gar zu verbergen. Ist er schon als „Wanduhrmacher“ (er schrieb früher viel unter diesem Namen) in Deutschland bekannt?

[380]
Blätter und Blüthen.

Tanzende Hunde und wandelnde Taschentücher. Daniel Collis und William Poland, gut gekleidete junge Herren, wurden neulich vor den Magistratsherrn auf der Surreyseite Londons, Norton (nicht im besten Lichte berühmt durch seine geschiedene Frau, den „weiblichen Byron“’, Mrs. Norton) gestellt, angeklagt, einen Hund tanzen und Taschentücher wandeln gelassen zu haben. Durch Zeugen stellte sich heraus, daß Collis in einer belebten Straße durch seinen tanzenden und sonst in Künsten und Wissenschaften sich sehr bewandert und ausgebildet bewährenden Hund Aristoteles große Massen von Menschen so zur Bewunderung hingerissen, daß es seinem Geschäftsgenossen Poland gelungen war, verschiedene Taschentücher, in Gedanken versunken, aus fremden Taschen zu reißen. Ein Polizeibeamter sagte auch aus, daß er den jungen Herrn Poland seit drei Jahren als eines der geschicktesten und thätigsten Mitglieder einer sehr genialen Diebesbande zu kennen die Ehre, aber zugleich das Unglück gehabt habe, ihn nie zu erwischen. Zuerst seien sie mit ausstudirten weißen Mäusen auf der Straße erschienen, welche durch ihr graziöses, zartes Benehmen und ihre Anhänglichkeit an ihre Lehrer namentlich das schöne Geschlecht an- und ihm die Taschentücher ausgezogen hätten. Außerdem wurden die sieben Weißen aus dem Geschlechte der Mäuse mit vielem baaren rothen Kupfer honorirt. Doch die weißen Mäuse wurden in der freien Presse Englands endlich unehrlichen Lebenswandels beschuldigt, so daß sie in ihrer gekränkten Ehre sich zurückzogen (und vor Gram grau wurden), um das Feld einem unschuldigen, aber sehr gelehrten Spatze zu räumen. Spatz machte aber als Künstler nicht besondere Kasse, so daß er bald einem Eichhörnchen weichen mußte, welches, von Natur mit viel liebenswürdiger Komik ausgestattet, auch noch in der drolligsten Weise verschiedene Leute judasküßte, während die Verräther hinten Taschentücher für andere Nasen abführten, als die der Eigenthümer. Doch auch der größte Künstler und die berühmtesten Sängerinnen haben ihre Zeit, wie nach Salomo viele andere Dinge und Menschen. So auch das Eichhörnchen (das londoner wie das berliner). Vom Eichhörnchen kommen die londoner Künstler und Diplomaten auf den Hund, einen Hühnerhund von der berühmten Sorte auf der Insel Skye. Seine Kunst auf den Hinterbeinen war heiter, aber ernst das Leben, in welches er seine Lehrer hineintanzte. Er tanzte fehlerfrei, klassisch, aber Mr. Poland griff zu unrechter Zeit und fehl. – Das treue, unschuldige Thier, sich keines Unrechts bewußt, folgte den Gefangenen mit fragenden, theilnehmenden Blicken nach dem Gefängnisse und winselte Tag und Nacht so jämmerlich vor der eisernen Thür, die sich ihm nicht öffnen wollte, daß der Gefängnißwärter Cook mit großer Wärme, die ihm gegen Menschen völlig fremd geworden war, vor Gericht den höchsten Ruhm des Thieres schilderte. An seinem Leben habe er nicht so etwas vor Freude und Entzücken gesehen, als diesen Hund, als er ihn zu den Gefangenen gelassen. Eine halbe Stunde habe er sich wie ein Rasender geberdet, und sei ununterbrochen an seinem Lehrer in die Höhe gesprungen, um ihn zu küssen, und so oft er auch dabei jämmerlich auf den Rücken gefallen, immer sei er wieder aufgesprungen, um in neue leidenschaftliche Beweise seines Entzückens auszubrechen. Die Ungeheuer von Lehrern des Hundes verleugneten jede Bekanntschaft mit ihm. Der Gefängnißwärter hatte große Schwierigkeiten, das von ihm geliebte Thier zu überreden, mit ihm in bessere Gesellschaft zu kommen. Norton: „Haben Sie gefunden, daß er wirklich so geschickt ist?“ Cook: „O und wie, Sir! Es ist ein bewundernswürdiges Geschöpf: Tanzen ist das Wenigste. Er thut fast Alles, was man ihm heißt.“ Cook versprach, ihn in Moral zu unterrichten, während seine Elementarlehrer ihre drei Monate absitzen.




Visionen großer Männer. Das Gespenst ist ein Gespinnste unseres eigenen Gehirns, welches von der Gestaltungskraft unserer eigenen Phantasie zu einem Wesen außer uns erhoben, nun den Zusammenhang mit uns verliert und als ein eigenes, fremdes Wesen uns entgegentritt. Geschwächte, überarbeitete Geisteskraft begünstigt oft dieses plastische Spiel der Phantasie, da der Geist eben zu schwach ward, sich die Meisterschaft über die Phantasie zu erhalten. So hatten oft große Geister in schwachen Stunden Visionen. Man kann sagen: alle großen, produktiven Männer haben zuweilen an Visionen gelitten. Goethe ritt in seinen alten Tagen einmal aus in Weimar, und war ganz abergläubisch erschrocken, als plötzlich ein genaues Bild seiner selbst im hellen Rocke ihm entgegenritt und ihn grüßte, indem es verschwand. Er hielt die Vision für sein höheres Ich, das einen Versuch gemacht, außer dem Kerker des Körpers zu leben, da es diesen Körper bald verlieren werde. – Der Maler Spinello, welcher den Fall des Erzengels Lucifer zur Hölle gemalt hatte, wurde im Alter von seinem eigenen gemalten Teufel so oft erschreckt, daß er’s endlich nicht mehr aushalten konnte und sich ermordete. – Von einem englischen Carikaturmaler heißt es, daß er sich ebenfalls das Leben genommen, weil ihm seine „Spottgeburten“ lebendig und in Lebensgröße jede Nacht den Schlaf raubten. – Müller, der Schöpfer der Kupferplatte der Sixtinischen Madonna, war glücklicher. In seinem Alter besuchte ihn die liebliche Madonna und ihm mit süßer Stimme dankend für die künstlerische Liebe, die er in Ausgrabung ihres Bildes ihr so lange gewidmet, lud sie ihn zugleich ein, ihr in den Himmel zu folgen. – Der berühmte Ben Johnson betrachtete öfter die ganze Nacht seine große Zehe, um den Kämpfen von Tataren und Türken, Katholiken und Protestanten u. s. w. zuzusehen, welche sich diesen etwas unbequemen Kriegsschauplatz zur Ausfechtung ihrer Ansprüche gewählt hatten. – Beethoven, der bekanntlich in den letzten Jahren taub ward, bekam dadurch ein so feines Gehör, daß er nicht nur beim Dirigiren jeden Ton genau hörte, sondern ganze große Compositionen Ton für Ton vollständig auf- und ausgeführt hörte, während Alles um ihn her todtes Schweigen war. Man glaubt es der jetzigen allgemeinen Bildung schuldig zu sein, Träume, Visionen, magnetische Affectionen und „Nachtseiten der menschlichen Seele“ stets sehr nüchtern und verständig mit „Blut, schwachen Nerven, Mangel an Stuhlgang“ und dergleichen zu erklären. Man thut dies bereits bis zum Ueberdruß, so daß man hoffen darf, es werde nun bald wieder für anständig gelten, auch an noch nicht erklärte Kräfte des menschlichen Organismus zu glauben.




Dr. Peithmann und Prinz Albert. Beide studirten einst zusammen in Bonn. Ersterer wurde Dr. der Philosophie, letzterer Gemahl der englischen Königin. Dr. Peithmann reis’te seinem ehemaligen Universitätsgenossen nach London nach, als dieser sich vermählt hatte und speculirte auf Begünstigung. Er reichte dem Prinzen Bittschriften ein, die jedoch ohne Berücksichtigung blieben. So begab er sich nach Irland, um dort in der Familie des Chefs der englischen Admiralität, Lord Normanby Hauslehrer zu werden. Der Sohn des Lords wurde hier, ohne daß er’s, wünschte, Vater zu einem Kinde der deutschen Gouvernante im Hause. Der Schein mußte gerettet und die Gouvernante nach Deutschland geschafft werden, Dr. Peithmann ward mit dem Auftrage beehrt, sie verschwinden zu lassen. Er verweigerte es mit Entrüstung, mußte seine Stelle verlassen und hielt Vorlesungen in Dublin. Hier wandte sich die davongejagte Gouvernante um Schutz an ihn, den er auch heroisch zusagte, da er wußte, daß der junge Lord ihr die Ehe versprochen, was in England sehr kostspielig ist, wenn man nicht Wort halten will. Hier kam noch die nothwendige „Scheinrettung“ hinzu. – So ward Dr. Peithmann eines Morgens von Polizei abgeholt und in das Irrenhaus Bedlam zu London gesperrt, wo er funfzehn Jahre blieb und als Lehrer der Wahnsinnigen wirkte, da er wirklich etwas Doctor der Weisheit war und blieb. Neulich (im Juni 1851) endlich durch Fürsorge der „Gesellschaft für Wahnsinnige“ entlassen, hatte er nichts Eiligeres zu thun, als sich an seinen ehemaligen Universitätsfreund, Prinz Albert zu wenden und um Rückgabe von „Papieren“ zu bitten. Da er keine Audienz erhalten konnte, wußte er es möglich zu machen, sich eines Sonntags in der Privatcapelle der königlichen Familie im Buckingham-Palast zu zeigen, um, wie er aussagte, sich durch sein persönliches Erscheinen dem Prinzen in Erinnerung zu bringen. Hierauf ward er wieder von der Polizei ergriffen und des Wahnsinns angeklagt und – überführt. Der Beweis wurde in dem Privatzimmer der betreffenden Magistratsperson mit Ausschluß aller Oeffentlichkeit und selbst der nothwendigen Freunde und Zeugen geführt. Die Sache ist der unverschämteste Schlag in das Gesicht der Gerechtigkeit und Humanität. Allerdings ist Dr. Peithmann ein doppelter Verbrecher, nicht weil er das Bewußtsein verloren, sondern von Kindern weiß, deren Väter die Welt nicht kennen lernen soll. Der Fall ist vor das Parlament gekommen, aber schwerlich werden die beiden Parlamente um eines Menschen willen, der nichts als ein deutscher Doctor der Philosophie ist, Heiligenscheine, welche die hohe Gesellschaft innen trägt und der ihr angewachsen ist, wie der Backenbart, zerstören oder nur lüften. „Schein retten“ ist die erste Cardinaltugend in der offiziellen guten Gesellschaft Englands. Berühmte Aerzte, die für eine Handvoll Guineen Menschen für verrückt erklären, damit deren Vermögen in die Hände Verständiger falle, sind nirgends häufiger, als in England, weil sie nirgends so häufig gebraucht und so gut bezahlt werden, als hier. Manchmal geschieht’s auch zum „Schein,“ nicht wegen klingender Münzen.




Der Präsident der Republik Costa Rica. Das unter den centro-amerikanischen Staaten in neuerer Zeit häufig genannte Costa Rica, auch vielfach und nicht ohne allen Grund der deutschen Auswanderung empfohlen, steht gegenwärtig unter der Präsidentschaft Don Juan Rafael Mora’s. Mora ist ein kleines Männchen, dessen Aeußeres die Liebe zum Frieden, zur Ruhe und zur Behaglichkeit verräth. Er ist trotz seiner energischen Reden und des diktatorischen Auftretens im Congreß auch von Charakter sanft und wohlwollend, und kann, so sehr er auch versucht, sich das Air eines Staatsmannes nach europäischem Zuschnitt zu geben, doch den ehrsamen Bürger nicht verleugnen. Zum großen Theil hat dies seinen Grund mit darin, daß Mora nicht nur blos Präsident ist, sondern auch ein bürgerliches Gewerbe mitbetreibt. Er besitzt sehr bedeutende Kaffeepflanzungen und hält in der Hauptstadt San José einen offenen Kramladen. Da sich mehrere andere Regierungsbeamte, namentlich auch der Premierminister Corazo, der einen Bandwaarenkram betreibt, in derselben Lage befinden, so ruhen außer an den Sonntagen die Staatsgeschäfte auch an den Sonnabenden, wo großer Wochenmarkt in der Hauptstadt ist, zu welchem sich die Landbevölkerung in Masse einfindet. Das Regierungsbureau wird dann geschlossen und die ersten Beamten der Republik stehen mit Elle, Scheere und Waage hinter ihren Ladentischen. Gestern bat vielleicht Seine Excellenz Präsident Don Juan Rafael Mora in einer Staatsschrift an die Königin von England diese „Buena amiga“ (gute Freundin) vertraulich angeredet, heute schneidet und klebt er in seinem Laden neue Muster von gestreiftem Kattun, schottischen Callicos, neuesten Hosen- und Westenstoffen für irgend einen zu seiner Kundschaft gehörenden Landhausirer. Der Verkehr an solchen Tagen beseitigt alle Rangverhältnisse; von Excellenz dem Präsidenten ist keine Rede mehr, die Krämer und Bauern bedienen sich selbst des den höhern Ständen gegenüber gebräuchlichen „Caballero“ oder „Senor“ nicht, sondern sagen ganz einfach: „Don Juanito,“ etwa wie wir sagen würden, „mein gutes Müllerchen, Schulzchen etc.“ Das Wohl der Republik leidet übrigens hierunter nicht und Costa Rica geht einer recht gedeihlichen Zukunft entgegen.


  1. Ausführlichere Nachweisungen über diese und ähnliche Verhältnisse findet man in dem unlängst erschienenen kulturgeschichtlichen Werke von C. Biedermann: „Deutschlands politische, materielle und sociale Zustände im 18. Jahrhundert.“