Die Gartenlaube (1854)/Heft 10
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No. 10. | 1854. |
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Das liebe Geld!
„Da fährt es nun hin, mein Glück, mein Geschäft! Pah! Ich werde mich nach einer Andern umsehen müssen, das ist Alles!“
„„Man schätzt ihn allgemein auf 150,000 Pfund. Und sie ist die einzige Tochter, das einzige Kind. Du wirst Dich lange umschauen müssen, ehe Du eine ähnliche Parthie findest.““
„Ah was, 50,000 Pfund thun’s auch. Im Whole sale (Geschäft im Großen, en gros) macht man die 100,000 dazu bald.“
„„Heiho! Du speculirst schon auf einen großartigen Bankerott?““
„Hast Du schon eine Firma reich werden sehen ohne Bankerott?“
„„Das weiß ich besser wie Du. Bin ich nicht schon bei fünf in Condition gewesen, die sich bei 100,000, bei 350,000 Pfund mit zehn bis zwölf Procent abfanden und dann von ihren Gläubigern einen drei-, vierfachen Credit bekamen? Das ist ’ne alte Geschichte in der Haupthandelsstadt der Welt, daß ein guter Bankerott reich macht und den Credit um Hunderte von Procenten erhöht; aber die Kunst besteht darin, mit Ehren, d. h. mit mindestens 20,000 Pfund Schulden seine Zahlungen einzustellen. Die Kunst besteht darin, diese Schulden zu contrahiren.““
„Das ist meine Sorge. Der Mensch kann Alles, was er will. Ich bin entschlossen, die 150,000 Pfund, die jetzt mit dem liederlichen Lord dort in die Kirche fahren, durch eine Heirath und einen Bankerott zu ersetzen. Du kriegst Deine Procente. In einigen Tagen etablire ich Dich mit sehr alten Büchern und beziehe mich auf Dich. Zwei habe ich schon. Nun geh’ ich zum ersten Besten, und beziehe mich auf einige alte Firmen. So bekommst Du eines Tages einen Besuch: Mister Johnson bezieht sich auf Sie. Kennen Sie den Mann? – Johnson? Johnson? sagst Du und schlägst einige sehr alte Bücher nach. Wir machen mit sehr viel Johnsons. Welchen Johnson meinen Sie? Henry Johnson! Edward Johnson! William Johnson! Harry Johnson und zehn bis zwölf andere Johnson. Edward Johnson, sagt der Mann. O, Edward Johnson, sagst Du, Edward Johnson, Sir! Es ist meine Sache nicht. Andere zu rühmen, sagst Du, aber wenn Sie hier sein Conto nachsehen wollen, hier sehen Sie! Ich kann nicht für ihn bürgen, aber da sind Posten von 50 Pfund, 70 Pfund, 150 Pfund, 370 Pfund, 620 Pfund, 1500 Pfund creditirt auf drei, auf sechs Monate, fällig an dem und dem, bezahlt an demselben früh Morgens 101/2 Uhr. Für mich, sagst Du, ist er gut für 10,000 Pfund, rathe Ihnen aber doch, mit dem Herrn, der noch sehr jung ist, vorsichtig zu sein, sagst Du. Gut, denkt der Mann, das brauchst Du Gelbschnabel mit dem kümmerlichen Backenbart mir nicht erst zu rathen, und geht zu dem Zweiten und Dritten. Der Zweite ist grob und hat jetzt nicht Zeit. Wiederkommen! Der Dritte ist eben beschäftigt, mit einem Geschäftsfreunde zu streiten, daß die Verkaufssumme für so viele Centner Indigo nicht 2589, sondern 2598 Pfund betrage. Endlich belachen sie den kleinen Irrthum, der Geschäftsfreund nimmt nachlässig sein Wechselformularbuch und schreibt, eine Onkel-Toms-Arie pfeifend, einen Wechsel gut für 2598 Pfund. Im Weggehen sagt er: Noch einmal, wollen Sie mir die ganze Ladung für 1500 lassen? 1750, keinen Farthing anders, antwortet er und wendet sich nun verächtlich an den Mann, der nach meinen Verhältnissen fragen will: Was steht zu Diensten? Edward Jobnson u. s. w. – Oh, Edward Johnson? Wie lange sind Sie Kaufmann? frägt er den Herrn mit ironischem Lächeln. So und so lange. Nun, sagt er, dann nimmt es mich nicht Wunder, daß Sie auf der Börse nicht von dem Mann gehört haben. Verlor 7000 Pfund an einem untergegangenen australischen Schiffe, wurde den folgenden Tag bestürmt, daß er wenigstens dreißig Procent zahlen möge, lachte sie alle aus, warf deren Forderungen seinem Kassierer hin, ließ die vollen Beträge zahlen, und bat die Herren, ihn nicht wieder zu incomodiren. Das ist Edward Johnson, Sir! – Der Zweite, der Grobe, ist endlich einmal zu sprechen. Edward Johnson? fragt er. Seine Verhältnisse? Wer sind Sie? Der und der. Gieb den Herrn Auskunft, sagt er ärgerlich zu einem Diener, während er einige schwere Säcke empfängt, sie auf den Tisch legt, ärgerlich besieht und sie in die große Geldkiste wirft. Die Quittung brummend hinwerfend, sagt er zu dem Geldlastträger: Sagen Sie Mr. So und So, er würde mich ein anderes Mal sehr verbinden, wenn er Wechsel statt Kasse schickte. Inzwischen hat der Diener dem Herrn, der nach Edward Johnson fragt, einige Kontobücher gezeigt. Credite von anständigem, doch nicht übertriebenem Betrage und die Quittungen dazu. Nun ist der Mann reif. Man nimmt Einiges, bezahlt es und fährt so mit etwas Avance fort, bis er sich geehrt fühlt, mit einer Lieferung von einigen hundert Pfund dienen zu können. So bringen wir uns gegenseitig in die Höhe, und ich vergesse meinen Liebesgram. Inzwischen bildet sich auch der Backenbart vollends aus. Mit diesem und dem stets hinten gescheitelten Haar und einer gestickten Weste bring’ ich ein Minimum von 50,000 Pfund dahin, daß es sich mir an den Hals wirft und erröthend lispelt: Ja, Edward, ewig die Deine! Damit 100,000 Pfund auf Credit bekommen und eine Zeit lang zu bezahlen, bis man einen Bankerott von 250,000 ansagen kann, [104] ist eine Kleinigkeit. Jeder weiß hinterher, daß man Geld hat, und man nun in den ersten drei Jahren nicht wieder fallirt. So bestürmt man mich mit Anträgen, hat in sechs bis sieben Jahren seine 150,000 Pfund baar, kauft sich eine Villa draußen und spielt mit Hunderttausenden, die es ebenso gemacht haben, den unabhängigsten Gentlemen.“ [1]
„„Das hast Du mir schon öfter gesagt, aber wenn ich an meine Mutter denke, die so ehrlich –““
„Ehrlich und arm und verachtet und ausgestoßen aus der „guten Gesellschaft“, nachdem sie ihr Geld verloren. In unserm großen, freien Lande, wo die Sonne nicht untergeht, frage und suche ringsherum, ob’s neben den beiden Tugenden: „Geld machen“ und „Geld haben“ noch eine dritte giebt. Ich für meinen Theil will den Pfad der Tugend wandeln, d. h. Geld machen und haben.“
„„Nun denn sieh da die beiden großen Tugenden in hoher Vollendung. Da sitzt der Mann mit 150,000 Pfund, verlacht und verspottet von Gassenbuben. Seine einzige Tochter an einen Lord verheirathet – und er die Hände ringend und ausgelacht, hörst Du, verhöhnt von dem fettigen Fleischerjungen da mit der Mulde? Da sitzt es, Dein Ideal, Dein Principal mit weißen Haaren, 150,000 Pfund werth!““
„Der Dummkopf besitzt das Geld nicht, es besitzt ihn – das ist der Fehler.“
„„Ich fürchte, dann sind die meisten Reichen die jämmerlichsten Sklaven, elender, als die Schwarzen, für deren Befreiung die fromme, reiche Welt Englands so viel Eifer zeigte, aber mit zugehaltenen Taschen.““
Das Gedränge der Neugierigen und die durch’s Gewühl hindurchfahrenden Equipagen störte jetzt die weitere Unterhaltung. Glänzende, gepuderte Diener kamen aus der Kirche und liefen und riefen nach den Wagen ihrer Herrschaften, welche in Sammet und Seide, Gold und Juwelen und diamantenen Blumen im Haar dicht neben zerfetzten und schmutzigen Lumpen, in denen auch menschliche Wesen athmeten, vorbei in ihre seidengepolsterten Wagen sprangen und wie höhere, unsterbliche Wesen davonflogen. Endlich kam die Braut, die junge Frau, blaß wie die weiße Rose in ihrem Haar, neben ihr der große Lord Moretown, ihr jetziger Gemahl. Der alte Mann, der von dem Fleischerburschen so derb verhöhnt worden war, streckte seine Hände zitternd aus und stammelte mit blassen Lippen: „Meine Tochter!“
Sie stieß einen Schrei aus, prallte zurück, faßte sich aber wieder und lispelte ihm in’s Ohr: „Mein Frühstück hat die Katze verzehrt!“
Der alte Mann zitterte an allen Gliedern und sank zusammen, während das junge Mädchen davon fuhr. Die Menge gaffte und starrte und drängte, so daß es den beiden jungen Herren, die wir vorher reden hörten, schwer ward, mit Hülfe der Polizei durchzukommen. Man brachte ihn in eine Droschke, in welcher er zusammenfiel, wie ein Haufen loses Gebein, und die beiden Herren fuhren mit ihm ab.
Als sie vor seinem Hause angekommen waren, hatte er sich wieder etwas erholt. Sein Diener sagte, er werde das Fahrgeld für ihn auslegen. „Auslegen?“ kreischte der alte Mann und sah ihn mit scharfen, mißtrauischen, stechenden Augen an. „Habe ich die Droschke bestellt? Ich bin ein ruinirter Mann, ruinirt bis auf’s Arbeitshaus; ich habe nichts mehr. Alles gehört meiner Tochter. Sie können nichts auslegen! Sie werden bezahlen! Alles nimmt mir meine Tochter. Alles, allen Schweiß von siebzig Jahren. Ich muß zu Fuße in mein Grab gehen!“
Hier lachte der Diener laut auf.
Sein Freund bemerkte, man müsse einen Arzt holen.
„Arzt holen?“ schrie der alte Mann wieder, Beide scharf musternd, „Arzt holen? Vergiften lassen, dafür bezahlen, sterben wie eine Katze und Alles obendrein bezahlen? Nicht einen Tropfen Medicin bezahl’ ich! Keinen Farthing bezahl’ ich. Ich bin gesund. Wer sagt Ihnen, daß ich krank bin? Was soll das heißen? O, ich kenne die Welt. Wie viel Procente hat Ihnen der Doctor versprochen, den Sie holen wollen, he? Verrechnet! Erst muß er Geld von mir haben, eh’ er Procente giebt, und von mir kann er nichts bekommen. Ich habe nichts mehr, ich bin ein Bettler. Mein Arzt ist der Armendoctor, er wird mich nicht vergiften und eine Guinee dafür berechnen. Gift ist theuer, meine Herren! Geben Sie dem Kutscher keine halbe Krone! Sie wissen nicht, wozu Sie die sechs Pence brauchen können, wenn Sie ihm blos zwei Schillinge geben. Geben Sie mir die sechs Pence. Junge Herren wissen nicht mit Geld umzugehen, und denken nicht an ihre erwachsenen Töchter.“
Während er so ungereimt faselte, ward es den beiden jungen Herren unheimlich zu Muthe. Sie hatten einen blödsinnigen Greis vor sich, und suchten ihn so bald als möglich in’s Haus zu bringen, um dann weiter für ihn zu sorgen. An der Thür aber entspann sich ein förmlicher Kampf. Der alte Mann weigerte sich, aufzuschließen. Der Diener wollte ihm den Schlüssel gewaltsam aus der Tasche ziehen, ward aber davon durch ein förmliches Geheul und Kreischen des Alten abgeschreckt, der sich außerdem mit seinen schlotternden Gliedern kräftiger wehrte, als man ihm zutraute. Polizei, die zu Hülfe kam, drang endlich darauf, daß er sein Haus aufschließe und sich entferne, damit „der Verkehr auf der Straße“ nicht durch das sich sammelnde Volk gehemmt werde. Er that es unter der Bedingung, daß ihm die Polizei Niemanden in sein Haus lasse, und sie ihre Pflicht, „das Eigenthum zu beschützen,“ streng erfülle.
So verschwand er hinter seiner Thür, die er leidenschaftlich hastig wieder verschloß.
Nikolas Arden – so hieß der alte Mann – krappelte und klirrte lange mit einem Schlüsselbunde im Hause umher, öffnete und schloß Kisten und Kasten, zählte Gelder und Geldscheine und murmelte und fluchte und zitterte dabei auf eine schreckenerregende Weise. Endlich ächzte er mit seinen klappernden Gliedmaßen die Treppe hinauf, öffnete eine Thür und trat ein, stolperte aber sogleich über den steifen, schrecklich verzerrten Körper einer todten Katze, deren offene Augen ihn wie vorwurfsvoll anstarrten. Auf dem Tische stand noch der Teller mit einem unberührten Butterbrote, ein anderes lag in Stückchen zum Theil noch um die Katze herum. Er begriff sogleich, wie sein Verbrechen vereitelt worden war. Wüthend stieß er die Katze mit dem Fuße und kreischte in wahnsinniger Wuth: „Warum liegt sie nicht hier? Die Katze hätte mich nicht meines Vermögens beraubt. Das einzige Kind, und der Räuber meines ganzen Vermögens? Nein, sie soll es doch nicht haben! Der betitelte Bettler soll sich nicht von den Früchten eines siebenzigjährigen Fleißes mästen.“
Er warf sich in einen Stuhl und murmelte und speculirte, wie er seiner Tochter das von mütterlicher Seite ihr zufallende, unantastbare Vermögen vorenthalten könne. Dabei rollten ihm die Augen in fieberhafter Hast umher, bis sie auf einen an ihn adressirten Brief fielen. Er war von seiner Tochter. Sie schrieb:
„Vater!“
- „In diesem Worte finde ich hinreichenden Grund, das Verbrechen, das Sie gegen mich beabsichtigten, vor aller Welt zu verbergen. Ist es möglich, fragte ich mich selbst, daß Habsucht Sie, mit dem Stempel des Greisenalters auf dem Gesicht, dem Grabe, Ihnen zu Füßen gähnend, die Stimme der Natur, so weit ersticken konnten, Ihr eigenes, einziges Kind zu morden? Ich habe alle Qualen, die Ihre wahnsinnige Leidenschaft von Geiz und Habsucht mir auferlegte und mich um die unschuldigsten Freuden der Unschuld und Jugend betrog, ruhig ertragen: dieser letzte Akt – der Beweis liegt in ganzer Wahrheit noch vor mir – bricht hiermit alle Bande der Kindespflicht. Ihret- und meinetwillen habe ich eine unübersteigliche Schranke zwischen uns aufgestellt und meine Hand einem edeln Manne gegeben, unter dessen Schutze ich mich sicher fühle. Bitten Sie Gott um Vergebung! Und wenn Sie wieder mit Hoffnung gen Himmel blicken können, soll Ihnen auch meine Vergebung nicht vorenthalten bleiben, da ich noch immer Ihre Tochter bin! Ellen.“
„Mag sie leben, die Stunde zu verfluchen, in der sie floh!“ heulte der alte Mann und schleuderte den Brief weit von sich. „Sie soll nun keinen Farthing haben für ihren hochgebornen Bettler! Mein Geld! Mein Geld! All mein Geld! Huh! In Stücken sollt ihr mich reißen, eh’ ich euch nur einen falschen Schilling zeige! O es giebt noch Polizei, Polizei, Polizei, die das Eigenthum schützt, das Eigenthum, mein, mein Eigenthum!“ – So heulte und kreischte er in seinem Stuhle sich fieberhaft schüttelnd, bis es ihm einzufallen schien, den Brief lieber zu zerstören. [105] Er versuchte aufzustehen, aber die schlotternden Füße trugen ihn nicht mehr, die Hebelkraft der alten ausgetrockneten Muskeln und Sehnen war durchschnitten, und auch die wüthend unterstützenden Hände knickten in den Gelenken, so oft als er sie brauchen wollte, zusammen. So zappelte und ächzte der alte Mann schaudererregend umher, bis er wieder aufheulte, sich zu Boden warf und wie ein fabelhaftes, vorsündfluthliches, krokodilartiges Thier nach dem Briefe hinkroch. Er zerriß ihn mit Hülfe der Zähne, da die Hände sich zu schwach erwiesen und schob sich auf die elendeste Weise umher, um wieder auf die Füße zu kommen. Vergebens. Die Schrecken des Todes überfielen ihn in ihrer gräßlichsten Gewalt und Gestalt und beschleunigten sein furchtbares Ende von Innen und Außen. Er heulte, fluchte und schäumte und warf die klappernden Glieder umher, als hingen sie gar nicht mehr zusammen und bot dann in schmeichelndem Tone dem Tode, den er in Person vor sich sah, eine bedeutende Summe, die er immer wieder steigerte, wenn Freund Hain still blieb. „Tausend Pfund, tausend Pfund baar!“ rief er, „wenn Du mich nur noch einen Tag leben läßt! Tausend Pfund, Freundchen, welch’ eine Summe. Nur noch einen Tag, einen einzigen Tag!“ Aber Freund Hain stand da vor ihm ruhig lächelnd von einem Ohre bis zum andern, unbeweglich, unbestechlich – erhabener wie Tausend christliche Diplomaten und Philanthropen, und immer weiter den ganzen Reichthum seiner Zähne zeigend, mit der Sense im Arme – die dem alten wahnsinnigen Greise so scharf erschien, daß er wieder aufkreischte und ihn frug, was er verlange, wenn er die Sense ablegte. Auch hier ließ er sich nicht bestechen. Und, so blieb er stehen und wartete ruhig, bis er die scheußlichsten Todesqualen ausgestanden und neben der durch Convulsionen entstellten Katze ruhig da lag wie ein liederlich durcheinandergeworfener Haufen menschlichen Gebeines.
Nur noch einmal kreischte er auf und schabte mit Händen und Füßen umher und horchte und heulte wieder und suchte mit dem letzten Funken entweichender Lebenskraft aufzuspringen. Er vermochte es nicht mehr.
Draußen rollten die Wagen in tausenderlei Gestalten und liefen die Menschen gierig hin und her. Jeder in die Luft starrend, als wenn er Goldstücken und Anstellungen in der Luft nachliefe, und die Häuser öffneten und schlossen sich und gekaufte und verkaufte Waaren und Güter und Lebensmittel drängten sich und wurden in allen Tonarten ausgeschrieen, und Ochsen- und Hammelheerden liefen wild und springend zwischen Rädern, Pferden und Menschen hindurch, Kinder und Weiber nach allen Seiten in die Flucht jagend und die Hunde, welche mit dem athemlosesten Eifer Ordnung machen wollten, zur Verzweiflung bringend, so daß sie oft in großer Rathlosigkeit ihre Herren anblickten, um zu sehen, ob sie ihnen nicht mit einem guten Rathe unter die Arme greifen könnten. Kurz London war wie gewöhnlich lebendig und schien kein Fleckchen zu haben in ganzer, endloser Ausdehnung, wo ein Mensch sich ruhig hinsetzen und einen Gedanken fassen könnte. Nur das eine Haus war und blieb ruhig. Schon Mancher war gekommen und hatte geklopft und geklingelt und die Thür angesehen und gewartet und war dann – wenn die Wagen einen Uebertritt gestatteten – auf die andere Seite gegangen, um die Fenster oben zu mustern und dann endlich mit beschleunigtem Geschäftsschritt davongelaufen. Im Laufe des Tages fiel das geschlossene Haus immer mehr auf. Der Magistrat erfuhr endlich, daß dort etwas „nicht richtig sein müsse“ und ließ von vereideten Personen im Beisein von „Aldermen“ die Thür öffnen.
Die beiden Todten und das Stückchen Butterbrot und die sonstigen Inventarien wurden zu Protokoll genommen und nach Wegschaffung der beiden Leichname das Haus amtlich wieder verschlossen. Lord Moretown – der sich als der einzige rechtmäßige Erbe herausstellte, ward amtlich von dem Ableben seines Schwiegervaters benachrichtigt und ihm anheimgestellt, über sein neues Eigenthum zu verfügen.
Die Wochenzeitungen brachten den Sonnabend darauf unter den stets reich vertretenen Rubriken: „Morde,“ „mysteriöser Mord,“ „erwiesener Mord,“ „grausamer Mord,“ „Ermordung einer Frau durch ihren Mann“ (drei- und viermal in jeder Nummer wiederkehrend) auch die mysteriöse Vergiftung des Nikolas Arden, eine sehr interessante Geschichte, da der Phantasie und der Detectiv-Polizei noch zu ermitteln übrig blieb, ob er sich selbst vergiftet habe, oder von seinem Diener Edward Johnson oder von seinem erhabenen Schwiegersohne, Lord Moretown, oder von einem Schuldner vergiftet worden sei. Edward Johnson war verhaftet aber bereits nach einigen Tagen wieder frei gelassen worden. Die Gerichts-Chemiker hatten in dem Magen der Katze Gift gefunden, in dem Magen des alten Mannes aber kein Gift. Das Gift, an welchem er zeitlebens litt und gestorben – wie viele andere christliche Mitbrüder – ein Gift, das neun und neunzig Procent der modernen Menschheit mehr oder weniger durchtobt, stellt sich auch durch den feinsten Proceß Liebig’scher Analysen nicht dem Auge dar.
Der edelmüthige Lord Moretown hatte sich der unglücklichen Ellen Arden mehr als Beschützer, wie als Anbeter dargestellt und in ersterer Eigenschaft war er auch so glücklich gewesen, ihr Herz zu gewinnen. Der alte Arden hatte den edeln Beschützer durchschaut und sah in ihm nichts, als den Räuber seines Geldes. Er wüthete über den Entschluß Ellen’s und bestärkte ihn dadurch nur. Da sie mündig war, konnte der Vater die Verbindung nicht hindern. Wir wissen, auf welche Weise er sein Geld zu retten suchte.
Die Flitterwochen dauerten kaum einige Tage. Lord Moretown war Wittwer gewesen und ließ seinen einzigen „Erben“ von einer jungen Französin erziehen. Der Erbe, ein Knabe von acht Jahren, ward seiner neuen Mutter vorgestellt, die ihn an ihr Herz drücken wollte. Der Junge wehrte sich und sagte trotzig: „Ich kann Dich nicht leiden. Du sollst mich nie küssen. Du sollst meine Mutter nicht sein.“ Vater und Erzieherin waren zugegen. Die neue Mutter fragte ihn, ob er sie nie lieben wolle, wenn sie recht gut zu ihm wäre. „Du sollst nicht gut zu mir sein!“ antwortete der Junge und lehnte sich trotzig an den Schooß der Erzieherin, welche darüber auf eine entzückende Weise lächelte. Die neue Mutter wandte sich an seinen Vater und bat ihn um Aufschluß über diese unerklärliche Abneigung. „Ist ein selbstständiger Charakter,“ sagte der erhabene Vater: „willst Du Deiner Mutter nicht die Hand geben, mein Kind?“ – „Nein, will nicht!“ Die Erzieherin lächelte noch entzückender und der Vater auch, die neue Mutter aber brach in Thränen aus, worüber sie von ihrem edeln „Beschützer“ gescholten ward, es sei eine Sentimentalität, die sich im Allgemeinen nur auf „niedere Kreise“ beschränke.
Dies war die erste Störung ihrer Flitterwochen, der erste Sturm der Enttäuschung, der so viele unschuldige, edle, weibliche Gemüther vernichtet und den Blumengarten ihrer Hoffnungen bald langsamer, bald rascher in Einöden verwandelt, aus denen oft kein späterer Frühling, kein segnender Sonnenstrahl einen grünenden Keim wieder zu erwecken vermag, besonders wenn ärgere Verwüstungen so rasch auf einander folgen, wie hier.
Die nächste Enttäuschung errathen wir aus einer häuslichen Scene. Es ist ein Glück für den Erzähler, daß er sie blos zu errathen lassen und nicht zu schildern braucht.
Eines Morgens kömmt der Beherrscher der unterirdischen Welt in englischen Häusern, d. h. der Koch, in das Frühstückszimmer, wo Lord und Lady Moretown ihren Thee nehmen und frägt nach dem heutigen Küchenzettel.
„Ist Alles gleich,“ sagte der Lord. „wir essen in Familie, meine Frau, Athalie und ich.“
„Mademoiselle Athalie, die Erzieherin?“ frug Ellen zitternd.
„„Natürlich, wer sonst?““
„In diesem Falle werde ich in meinem eigenen Zimmer essen!“ sagte Ellen zu dem Küchenmeister, der sich verbeugte und ging.
„„Wie Ihnen gefällig ist, Madame!““ versetzte Lord Moretown, scheinbar nachlässig.
„Und ich werde jedesmal auf meinem Zimmer essen, so oft „der Herr“ mit Mademoiselle Athalie speist,“ rief Ellen dem Küchenmeister nach.
„„Und was soll diese – diese Gemeinheit, Madame, in Gegenwart von Dienstboten? Fort mit Dir, Schlingel! Können Sie sich gar nicht in die Sitten der guten Gesellschaft schicken, Madame?““
„Meine Sitten hängen sehr mit Sitte zusammen, mein Lord! Diese zwingt mich, dafür zu sorgen, daß mir wenigstens die Achtung vor mir selbst bleibe, nachdem Sie aufgehört haben, Ihren Ruf in dem meinigen zu schonen. Sie haben mich in allen Dingen und in jeder Beziehung unterwürfig und nachgiebig [106] gefunden, aber nie werde ich mich so weit erniedrigen, mit dieser – dieser Person an einem Tische zu sitzen.“
„„Person? Mit Mademoiselle Athalie?““
„Mit – mit – Ihrer“ – das Wort erstarb ihr in Scham und höchster Entrüstung.
„„Oho! Ich kann mir denken, was Sie wieder für ein Pröbchen von guter Erziehung geben wollen! Gemeiner Verdacht ist die Frucht einer gemeinen Seele. Doch jetzt hören Sie! Es beliebt mir nicht, von einem Chore dienstbarer Geister und Waschfrauen, angeführt von einer Frau, zur Zielscheibe ihrer Klatschereien gemacht zu werden. Athalie, die stets mehr war für mein Kind, als eine Stiefmutter, wird mit mir essen und Sie mit uns. Ohne Ausnahme.“
„Sie mag mit Ihnen essen, nie mit mir. Daß Sie die Vergiftung Ihres einzigen Kindes durch Ihre – durch diese Person nicht einsehen wollen und mir deshalb die Stiefmutter vorwerfen, kann nur eine Folge des getroffenen Gewissens, das nun den Verstand verwirrt, sein, sonst giebt es keine Erklärung für diese Behandlung eines weiblichen Wesens, auch wenn es Ihre Frau nicht wäre.“
„„Sie werden unbedingt mit uns essen!““ schrie jetzt der Lord außer sich vor Wuth und faßte grimmig ihren Arm.
Ellen wurde todtenblaß und wehrte sich nicht. Beide schwiegen eine Zeit lang. Endlich sagte Ellen schwach und wie sterbend: „Wenn mir auch nicht einmal mehr die Sicherheit vor körperlicher Verletzung von meinem edeln Beschützer bleibt, mögen Sie mich morden, wo nicht, so muß ich meiner Ehre wegen zu dem letzten schmachvollen Rettungsmittel einer Scheidung meine Zuflucht nehmen.“
Das traf. Er hatte ja das Vermögen noch nicht. Der äußerliche Anstand hatte erfordert, das Haus des alten Arden nicht so schnell zu überfallen, obgleich die Gläubiger des großen Lords bereits sehr ungeduldig wurden. Ellen begriff die Umwandlung, die in ihrem Herrn Gemahl vorging, in ihrer Unschuld nicht und so klang es ihr wie eine Art von Trost, als er ganz herzlich und reuevoll sprach: „Liebe Ellen verzeiht mir! Der Zorn kann einen Mann wohl auf einen Augenblick hinreißen, aber als Gentlemen weiß er sogleich darüber hinwegzukommen. Ich werde Deinen Verdacht, der, so grundlos er auch ist, Dich so quält und ungerecht macht, zu beseitigen wissen, bis dahin erfordert es allerdings Deine Ehre, Dich entfernt zu halten. Verzeihe mir! Erhole Dich! Wenn wir Beide ruhiger sind, wollen wir weiter darüber sprechen.“
Das Modell-Haus für vorsündfluthliche Thiere
Die Leser dieser Blätter sind schon mehrmals in die „vorsündfluthliche Zeit“ der Erde geführt worden, wo unter ungeheuern Wäldern, Pflanzen und Sümpfen seltsame Ungeheuer mit einander Krieg führten, und der Mensch und das Pulver noch nicht erfunden waren. Der Mensch ist – wissenschaftlich erwiesen – das letzte Geschöpf in der ewig schaffenden Erde. Die Geologie spricht von einer sechzig Millionen Jahre umfassenden Geschichte derselben, die sie durchmachen mußte, ehe sie fähig wurde, Menschen hervorzubringen. Ohne uns weiter auf geologische Beweise einzulassen, welche eine reiche, genaue Naturwissenschaft überhaupt voraussetzen, bemerken wir nur, daß Ueberbleibsel von ausgestorbenen und noch lebenden Thiergattungen (von Affen, Elephanten u. s. w.) in allen geologischen Erdschichten gefunden wurden, nie aber menschliche Gebeine. Diese findet man blos in der letzten, neuesten, noch lebenden, (d. h. noch nicht geologisch und historisch gewordenen) Schicht. Weder in dem Thonlager, das sechshundert Geviertmeilen sich um die Rheinthäler ausdehnt, noch in dem Felsengestein von Norfolk in England, noch in der über dreihundert Fuß tiefen Thonschicht Londons, noch bis hinunter in die Kalkschichten – die zu den ältesten Häuten der Erde gehören, hat man je Spuren des Menschen gefunden. Und der berühmte Geologe Babbage weist scharfsinnig nach, daß selbst die Bildung der obersten geologischen Erdhäute Millionen von Jahren gebraucht habe. In Bezug auf das Alter der Erde ist das Menschengeschlecht noch nicht so alt wie ein [107] Sechswochenkind. Im Allgemeinen sind wir also noch sehr jung, so daß wir hoffen können, mit dem Alter auch an Weisheit zuzunehmen, die bei Kindern von sechs Wochen noch nicht sehr entwickelt sein kann. In der That ist die Gattung „Mensch“ noch nicht einmal „aus dem dummen Vierteljahre“ heraus.
Doch Scherz bei Seite. Wir treten wieder, wie schon im vorigen Jahre einmal, in das geologische Modellhaus des neuen Krystall-Palastes bei London, wo die vorsündfluthlichen Ungeheuer in Thon und Stein lebensgroß ausgeführt worden sind und werden. Das Gefühl, welches uns darin durchschauert, ist nicht zu beschreiben. Diese häusergroßen Scheusale sind also unsere Vorfahren. Da stehen sie vor uns und schwellen vor uns und öffnen ihre ungeheuern Rachen und dehnen sich aus in unabsehbarer Länge – lebenswahr und lebensgroß – wie sie einst vor Millionen von Jahren sich auf einer Erdoberfläche, über die sich Felsen und Flüsse, Meere und Gebirge in verschiedenen Häuten lagerten, des Lebens freuten. Man sieht es gleich ohne Wissenschaft, daß der Mensch in solcher Gesellschaft nicht möglich war. Und jetzt ist derselbe Mensch durch Millionen von Jahren zurück eingedrungen in die Geheimnisse der Erdgeschichte, und mit dem Lichte des wissenschaftlichen Gedankens hat er Leben erkannt und entzündet durch Zeiträume hindurch, für welche ihm nur das von den fernsten Nebelsternen herabschießende Licht einen Maßstab giebt, und hat er gesucht und zusammengefunden, was Tausende von Meilen, Millionen Jahre und die tiefsten Tiefen der Erde getrennt hielten. Solche Gefühle und Gedanken durchschauern uns mit beinahe erdrückender, aber bei längerem Anschauen erhebender Gewalt in dem vorsündfluthlichen Modellhause. Das Ganze ist erhaben. Wir fühlen uns so frei und groß und über alle Schranken von Zeit und Raum erhaben, daß wir uns als Theil dieser Gattung Mensch, dem so Unglaubliches gelang, sofort unsterblich, unendlich fühlen.
Sehen wir uns nun die Hauptgestalten an. Gleich wenn wir von links hereintreten, droht uns der vorsündfluthliche Riesenfrosch, den sie Labyrinthodon nennen, in seinem weiten, offenen Rachen zu verstecken, oder auf dem Wege zum Verschlingen zu verlieren, da selbst der fetteste Engländer ihm noch ein sehr schmaler Bissen sein würde. Er ist fünfzehn Fuß lang und beinahe eben so hoch und breit. Unter dem vorsündfluthlichen Geschlechte der Saurier bildet er die sechste Familie. Seine Gestalt und Größe hat man aus abgedrückten Spuren seiner Füße (s. Gartenl. Nr. 3) und Knochen aus Erdschichten der sogenannten triarischen Periode zusammengefunden.
Der Hirsch im Hintergrunde repräsentirt das vorsündfluthliche Geschlecht der Elennthiere, deren Geweihe einen Raum von 41/2 Geviertellen jedes einnahmen. Ueberbleibsel von ihm fand man in Irland, der Insel Man und mehreren andern Theilen Europa’s und Südamerika’s. Die an das Schwein und das Pferd erinnernde Gestalt hinter dem Labyrinthodon ist ein Paläotherium, und die Gruppe von vier Figuren, hinter dem Manne mit einer Klingel zum Essen rufend, besteht aus Anoplotherien, Vorfahren des Rhinoceros, Pferdes, Schweines und Kameels. Die Anoplotherien sind die ersten Versuche der Natur, diese Thiergestalten in einer hervorzubringen. Als sie mit der Zeit sehen mochte, daß sich daraus besondere Thiergattungen machen ließen, schuf sie statt der Anoplotherien Rhinoceros, Pferd, Schwein und Kameel besonders. Die Anoplotherien hatten vierundvierzig Zähne in ununterbrochenen Reihen, wie man sie jetzt blos noch bei den Affen und Menschen findet.
Die zweite Darstellung macht uns mit dem Megalosaurus bekannt, einem ungeheuern Reptil, das an den Ufern von Flüssen lebte, wie seine Enkel, die Krokodile und Alligatoren. Die Familie, zu welcher es gehörte, zeichnete sich außer durch fabelhafte Größe, durch eine Vereinigung von Knochenbau aus, wie wir sie bei keinem jetzt lebenden Thiergeschlechte wieder finden. Der Megalosaurus erinnert in Form und Größe der Knochen an die Mammalien, deren Knochen Mark-Höhlen haben. Die Füße waren kurz, wie bei den Pachydermen. Das Heiligenbein bestand aus fünf Wirbelknochen, wie bei den Mammalien, während es bei allen andern Reptilien, sowohl ausgestorbenen als noch lebenden, nur aus ein oder zwei Knochen besteht. Die langen Knochen des Schwanzes und anderer Extremitäten bildeten hohle Mark-Cylinder. Die Körpermasse eines Megalosaurus würde hingereicht haben, fünfundvierzig bis fünfzig Pferde daraus zu machen. Es hatte einen Ritterpanzer, der für jede Waffe und Gewalt, selbst für die schwersten Kanonenkugeln undurchdringlich gewesen wäre. Jedes Panzerstück ist eine Festung und wuchs aus einer Haut, die einer dicken Mauer glich. Die Megalosaurier wurden in einer der niedrigsten Erdschichten, der oolitischen, gefunden, die aus eierartigem Kies besteht und wie Fischroggen aussieht. Mikroskopische und chemische Untersuchungen haben ergeben, daß der Kern dieser Körner aus einer Masse besteht, wie man sie in Korallen und Muscheln wiederfindet. Die Lebenszeit dieser Erdschicht wird von den Geologen in eine Periode versetzt, für die die gewöhnlichen Bezeichnungen nach Jahrtausenden gar nicht mehr hinreichen. Jede Erdschicht der Geologie besteht aus Gruppen, die sich deutlich von einander unterscheiden, aber wieder etwas Gemeinsames im Bau, Zusammensetzung und Spuren des ehemaligen Lebens in ihnen haben, wodurch sie sich wieder deutlich von ältern und jüngern Schichten unterscheiden. Doch das würde in die Wissenschaft selbst führen, in deren Geheimnisse und Heiligthümer nur der gründlich naturwissenschaftlich Vorbereitete einzudringen vermag. Wir begnügen uns einstweilen mit der oberflächlichen Kenntniß dieser Einzelnheiten und der Vorstellung, daß die Erde im Laufe von Millionen von Jahren unter Hunderten von „Sündfluthen“ Geschlechter von Pflanzen und Thieren begrub, um jedesmal darauf ein besseres Kleid und einen neuen Adam anzuziehen. –
Schließlich noch ein Wort über die Gärten und Terrassen vor dem Krystallpalaste, in welchem diese vorsündfluthlichen Thiere – [108] in entsprechender geologischer Umgebung – aufgestellt werden sollen. Wir haben schon früher berichtet, daß der Krystall-Palast auf dem höchsten Rücken des Penge-Hügels, der den südlichen Horizont Londons begrenzt, sich erhebt und in seinem ätherischen Glanze von den meisten Dächern Londons gesehen werden kann. Vor ihm senkt sich der Hügel allmälig herab in einer dreißig Acker umfassenden Abdachung, welche in lauter Gärten, Terrassen, Flüsse, Springbrunnen, Baumgruppen u. s. w. verwandelt wird. Die erste Terrasse von 1700 Fuß Länge und 50 Fuß Breite, unmittelbar vor dem Gebäude, ist schon fertig. Um die Abdachung zu brechen, werden die Hauptterrassen durch Wälle und Ballustraden, zierliche Einschnitte und Ballustraden abgegrenzt. Drei ungeheuere granitne Treppen, den Transepten des Palastes gegenüber, führen zu ihm hinauf. Ein Spaziergang unter Bäumen und Fontainen läuft 100 Fuß breit und 3000 Fuß lang zu einem Bassin von 400 Fuß Durchmesser. Ein Park umgiebt das Ganze mit großen Bäumen, Durch- und Fernsichten, Rasenflächen und Grotten. Die Terrassen-Gärten theilen sich in verschiedene Blumen-, Rasen- und Pflanzengruppen, zwischen welchen Statuen leuchten und Fontainen bis 200 Fuß hoch aus Marmor-Bassins springen. Eine Reihe von Treppen führt aus der dritten Abdachung in das eigentliche Thal, das in Krystall-Tempeln die seltensten Pflanzen birgt, durch die vereinigten Effecte von Wasser und Marmor und Grün zu einem wahrhaften Wunder werden muß. Tempel, Grotten, ewig blühende Hügel, Cascaden, kleine Seen, murmelnde Bäche mit kleinen Booten, dann wieder in rascher Veränderung wilde, fremde Natur, aus der uns das Labyrinthodon, der Megalosaurus u.s.w. entgegenspringen, wilder Sumpf, aus denen Plesiosaurier mit ihren langen Hälsen uns zurückschrecken, Urwald, durch welche Anoplotherien neugierig auf diese merkwürdige Nachwelt stieren, oder wohl gar der Riese der Urwelt, das Iguanodon, in dessen Rumpfe unlängst 24 (nicht 21) Künstler ein frohes Mittagsmahl verzehrten, der Ichthiosaurus mit seiner natürlichen Dampfschiffschraube im Schweife, vorweltliche Schildkröten, vorweltliche Elephanten, Mammuths und wie die fabelhaften Riesengebilde der Erde, als sie noch in den Kinderjahren war, sonst noch heißen mögen, und welche der weit aufgerissene Blick des gegenwärtigen Geschlechts, aus der unter dem Krystallpalaste alle fünf Minuten haltenden Eisenbahn aussteigend, zum ersten Male sehen wird. – Das Iguanodon ist nun, nachdem das Modell vollendet ist, etwas über hundert Fuß lang. – Die Wassermassen, welche zu den verschiedenen Fontainen und Wasserfällen gebraucht werden, und alle künstlich heraufgezwungen werden müssen, würden, wie Joseph Paxton der Königin bei ihrem letzten Besuche versicherte, jede Minute 12,000 Gallonen füllen. Das ganze eiserne Adersystem, durch welche das Lebensblut dieser ungeheuern Schöpfung als Hitze, Dampf, Wasser u. s. w. getrieben wird, mißt, in eine Reihe gelegt, nicht weniger als dreiundzwanzig englische Meilen.
Populäre Chemie für das praktische Leben.
Wir halten es für eine Hauptaufgabe dieser viel gelesenen Zeitschrift nach allen Seiten hin gründliche Belehrung zu verbreiten. Deshalb fühlen wir uns veranlaßt, in Folge eines Aufsatzes in Nr. 14: „Ein Töpfchen Bier,“ einige beruhigende Worte an die Freunde dieses erquickenden Getränkes zu richten über die Verfälschungen, die, nach der allgemein verbreiteten Meinung, damit vorgenommen werden sollen. Von vornherein wollen wir dem Biertrinker die Versicherung geben, daß solche mehr in der leichtgläubigen Einbildung als in der Wirklichkeit vorhanden sind. Bloße Versicherungen aber haben heut zu Tage keine Geltung; es liegt mir daher ob, meine Behauptung zu beweisen.
Wer mit der theoretischen, wie chemischen Grundlage der Bierbrauerei hinreichend vertraut ist, wird bei ruhiger Ueberlegung sehr leicht einsehen, daß sich die theueren zur Erzeugung guter Biere erforderlichen Stoffe keineswegs so allgemein, wie es das irregeleitete Publikum annimmt, durch wohlfeilere Hülfsmittel ersetzen lassen. Wollte der Brauer einem Biere, das in Folge einer Malzentziehung nur sehr arm an Weingeist ausgefallen ist, künstlich durch andere berauschende Mittel eine falsche Stärke geben, so würde dieser Betrug nur zu seinem eigenen Nachtheil ausschlagen, denn solche Biere würden sich nicht lange halten, sondern bald sauer werden. Eben so wenig läßt sich der Hopfen durch andere Bitterstoffe ersetzen, denn einmal unterscheidet sich, wie wir weiter unten sehen werden, der Hopfen bestimmt von anderen, und dann handelt es sich um diesen hier nicht allein, sondern der Hopfen verleiht durch den Wohlgeruch seines Oels dem Biere eine eigenthümliche Annehmlichkeit, die nicht leicht durch andere Stoffe hervorgerufen werden kann. Die ganze Eigenthümlichkeit des Bieres hängt von den Bestandtheilen des Hopfens ebenso unbedingt ab, als der Geschmack und das Aroma des Weines von der Traube.
Diese einfache Betrachtung genügt, die Verfälschung des Bieres sehr unwahrscheinlich zu machen; sie werden es noch mehr, wenn wir alle Umstände gehörig in Betracht ziehen, und dazu haben wir uns einen bestimmten Fall ausersehen. Er zeigt uns deutlich auf wie unverantwortliche Weise dergleichen Beschuldigungen in die Welt geschleudert werden und wie leicht es ist, die Unmöglichkeit derselben allein durch vorurtheilsfreie Erwägung zu beweisen. Payen, ein in weiten Kreisen bekannter französischer Chemiker, hatte, auf keinen weiteren Grund hin, als daß einmal von England aus vor ungefähr zehn Jahren bei dem Fabrikanten Pelletier in Paris eine ungewöhnlich große Quantität Strychnin bestellt worden sei, in einem seiner öffentlichen Vorträge ausgesprochen, daß diese giftige Substanz in jenem Lande allgemein angewendet werde zur Verfälschung der bitteren Biere. Ein englisches Journal verbreitete 1852 diese Nachricht, die im Lande eine große Aufregung verursachte. Obgleich die Beschuldigung nur ganz allgemein gehalten und kein bestimmter Fall angegeben worden, so sahen sich die Brauer doch durch die Macht der öffentlichen Meinung genöthigt, die Unwahrheit des Verdachtes darzuthun. Eine der größten Alebrauereien – von Allsopp in Burton-on-Treet – beauftragte die Londoner Professoren Graham und Hofmann[WS 1] – in der Wissenschaft sehr verehrte Namen – mit der genauen Untersuchung ihres Fabrikates. Aber auch ohne eine solche mußte die Beschuldigung in sich selbst zusammenfallen.
Nach den angestellten Versuchen genügt ein Gran Strychnin, um einer Gallone (fast vier preußische Quart) Bier die Bitterkeit der Pale-Ale zu ertheilen, eine Quantität, die zur Hälfte hinreicht, die heftigsten Vergiftungsfälle hervor zu bringen. Diese außerordentliche Wirkung kann man ferner nicht dadurch verhindern, daß man geringere Mengen anwendet. Wird das Strychnin in den kleinsten Gaben dem Organismus wiederholt beigebracht, wie es doch beim Biertrinker geschieht, so summiren sich die Wirkungen der einzelnen Gaben und die heftigsten Vergiftungserscheinungen treten ohnfehlbar nach kurzer Zeit auf. Dann unterscheidet sich die Bitterkeit des Strychnins in auffallender Weise von der des Hopfens durch den Geschmack. Letztere tritt augenblicklich auf, ist von einem eigenthümlichen, aromatischen Beigeschmack begleitet, der der ersteren durchaus abgeht, und verliert sich ebenso schnell wie sie bemerkt worden ist. Ganz anders ist es beim Strychnin. Man bemerkt den bittern Geschmack nicht augenblicklich, aber hat sich die Wirkung einmal geltend gemacht, so dauert sie auch einige Zeit an. Ein dritter Umstand ist der, daß in der ganzen Welt nicht so viel Strychnin dargestellt wird als erforderlich sein würde für das Fabrikat der einzigen Brauerei Allsopps. Jährlich werden hier 157,690 Oxhoft Bier gebraut, zu deren Verfälschung man nicht weniger als 16,448 Unzen Strychnin gebrauchen würde, während es sehr zweifelhaft ist, ob die gesammte Fabrikation dieses Stoffes sich auf höher als 1000 Unzen beläuft. Bedenkt man noch den wahrhaft kolossalen Maßstab, in welchem die Operationen in einer so ausgedehnten Fabrikanlage ausgeführt [109] werden, so muß man ohne Weiteres überzeugt sein, daß jedes Verfahren, welches Geheimhaltung fordert, hier durchaus unmöglich ist. Diesen Voraussetzungen entsprach das Resultat der Untersuchung durchaus. Aus einer beträchtlichen Anzahl von Lagerkellern, die das Londoner Publikum mit Allsopp’s Pale-Ale versorgen, wurden ohne Auswahl sechsundzwanzig Proben genommen. Durch Documente war bewiesen, daß die Fässer, aus denen die Proben stammten, mit Ausnahme von fünf, bereits vor dem Tage, an welchem die Zeitschrift die beunruhigende Nachricht verbreitet hatte, in London angekommen waren. In allen aber war mit der größten Sorgfalt nicht die geringste Spur des angedeuteten Giftes zu finden.
Wenn nun auch ein Bier, selbst nach einem sehr mäßigen Genuß Unbehagen und Uebelbefinden verursacht, so haben wir dies durchaus nicht auf Rechnung absichtlicher Verfälschungen zu setzen, sondern es steht fest, daß ein Bier, zu dessen Erzeugung keine anderen als die üblichen und erlaubten Materialien – also Malz und Hopfen – verwendet worden sind, gleichfalls sehr oft diese übeln Eigenschaften besitzen kann. Die Beschaffenheit der zur Bereitung des Bieres gesetzlich zu verwendenden Materialien und ihre Verarbeitung beim Malzen, Meischen und Brauen, so wie ferner der Verlauf der Gährung der daraus bereiteten Flüssigkeit und endlich die Aufbewahrungsart des letztlich erhaltenen Produktes üben darauf einen so mannigfaltigen und entschiedenen Einfluß aus, daß selbst bei ursprünglich gleicher Beschaffenheit und Menge der Materialien dennoch die an Farbe, Geruch, Geschmack und eben so auch in ihrer Wirkung verschiedenartigsten Biere entstehen können. Haben nicht unreifes oder faules Obst, schlecht ausgebackenes, schimmeligtes oder sonst verdorbenes Brot ein ganz anderes Aussehen, einen ganz andern Geruch und Geschmack und nach ihrem Genusse eine sehr verschiedene Wirkung auf den Organismus, als reifes Obst und untadelhaftes Brot? Ebenso können auch Biere, aus denselben Materialien erzeugt, eine ähnliche Verschiedenheit an sich und in der Wirkung zeigen. Dergleichen Fälle kommen nur zu häufig vor, da die Nichtbeachtung von dem Anschein nach unwesentlichen Umständen nicht verfehlt ihre nachtheilige Wirkung zu äußern, die nun, da das Publikum sich darüber keinen genügenden Aufschluß zu geben vermag, böswilligen Verfälschungen zugeschrieben wird. Um nur einen bestimmten Fall hier anzuführen, kann der zu große Gehalt an Kleber – Folge einer unvollkommenen Gährung – dem Biere sehr unangenehme Eigenschaften verleihen, die auf den Biertrinker eine sehr empfindliche Wirkung ausüben, so daß dieser sehr leicht auf den Gedanken einer absichtlichen Vergiftung kommen kann.
Wir wollen nun aber keineswegs sagen, daß der Brauer nie dem Biere fremdartige Substanzen zusetzt. Doch sind diese meist unschädlich und sie haben größtentheils den Zweck, dem Getränk ein erhöhtes Aroma zu geben. Fragen wir aber den Brauer nach der Ursache seines Thuns, so schiebt er den größten Theil der Schuld auf das Publikum. Man fordert hier Eigenschaften von dem Bier, die Hopfen und Malz allein nicht ertheilen können. Also auch hier eine Bestätigung des alten Spruches: „wer betrogen wird, will betrogen sein.“
Bei dieser Gelegenheit wollen wir noch einem andern, ebenso verbreiteten Vorurtheile entgegentreten, dem nämlich, daß der Chemiker nicht im Stande sei, dergleichen Verfälschungen – namentlich sobald diese in Pflanzenstoffen bestehen, zu erkennen und daher Untersuchungen dieser Art gern aus dem Wege gehe. Wie ungereimt diese Behauptung ist, das zeigt uns Baiern, das Bierland in der vollsten Bedeutung des Wortes, in dem chemische Untersuchungen der Biere an der Tagesordnung sind. Graham und Hoffmann überzeugten sich durch Versuche, daß ein halber Gran Strychnin in einer halben Gallone Bier mit unzweifelhafter Gewißheit nachzuweisen sei.
In den meisten Fällen reicht schon die Prüfung eines Bieres auf den Gehalt an Weingeist und Extract – die Summe aller bei der Kochhitze des Wassers nicht flüchtigen Bestandtheile des Malzes und Hopfens, als Malzgummi, unzersetzter Malzzucker, Hopfenbitter, Kleber, Salze u. s. w. – hin, um darüber Aufschluß zu geben, ob eine Verfälschung vorhanden oder nicht. Der Gehalt beider Bestandtheile des Bieres ist nämlich entweder durch Gesetz oder Herkommen bestimmt und darf bei einem normalen Biere nur innerhalb sehr enger Grenzen schwanken. Metalle lassen sich mit der größten Leichtigkeit, selbst in den kleinsten Mengen nachweisen. Versetzt man eingekochtes Bier mit Kochsalz, so tritt der eigenthümliche Geruch des Hopfens so bestimmt hervor, daß man nicht nur die Gegenwart anderer Bitterstoffe aus seiner Beeinträchtigung erkennen kann, sondern auch die gute oder schlechte Beschaffenheit des in Arbeit genommenen Hopfens.
Müssen wir nun auch zugeben, daß nicht in allen Fällen die Pflanzentheile, welche zur Verfälschung des Bieres dienen sollen, bei der Untersuchung in Substanz ausgeschieden und so sichtbar vor Augen gelegt werden können, so stellt sich doch mit unzweifelhafter Gewißheit heraus, wenn eine Verfälschung vorliegt, ob die Zusätze einen nachtheiligen Einfluß auf den menschlichen Körper ausüben. Ist die Menge des Giftes auch so klein, daß ihre Gegenwart durch chemische Mittel nickt nachgewiesen werden kann, so läßt sich dasselbe doch isoliren und concentriren. Man bringt nun bei kleinen Thieren – Fröschen, Kaninchen – einige Tropfen oder mehr auf solche Stellen des Körpers – in’s Auge, auf die Schleimhaut der Lungen, des Mastdarms, auf die bloßgelegte Nervenmasse des Rückenmarkes –, von denen aus die Pflanzengifte am Raschesten und Intensivsten, selbst bei den kleinsten Mengen wirken. Sind sie zugegen, so äußern sich sogleich in die Augen fallende Vergiftungserscheinungen.
Im Allgemeinen haben die Untersuchungsmethoden in der organischen Chemie noch nicht die Ausbildung und Sicherheit erlangt, wie wir sie im vorigen Briefe bei unorganischen Körpern kennen gelernt haben, aber auch hier vermag die Wissenschaft aus der tiefsten Verborgenheit der menschlichen Organe den Beweis für das Verbrechen heraufzuholen, wenn auch der gebildete und verschmitzte Verbrecher wähnt, seine Schandthat vor der Entdeckung sichern zu können, indem er sehr heftig wirkende Gifte anwendet, die nicht allgemein bekannt sind und von denen er glaubt, daß sie nicht nachzuweisen seien. Diese Beruhigung gewährt uns der berüchtigte Proceß Bocarmé! Dem bewährten Chemiker Staè in Brüssel, der mit der Untersuchung beauftragt war, gelang es nicht allein das Nicotin aus den Organen – Zunge, Magen, Leber und Lunge – des unglücklichen Opfers darzustellen, sondern auch aus dem Fußboden des Speisesaales, in welchem die Vergiftung stattgefunden hatte, obgleich jener sorgfältig mit warmem Wasser und Seife gewaschen worden war, um die Spuren des Verbrechens zu tilgen.
Wohl war die im Verläumden geschäftige Welt sorgsam bemüht, das Verdienst dieser Untersuchung zu verringern. Obgleich Niemand den Gang der Arbeiten kannte, den der belgische Gelehrte eingeschlagen, so glaubte sich doch Jedermann zu einer Kritik darüber berechtigt. Man sprengte die Nachricht aus, der Chemiker sei erst durch die Mittheilung des Untersuchungsrichters: der Angeklagte habe viel mit Tabak experimentirt, auf den richtigen Weg geleitet worden. Aber die Wahrheit ist, daß Staè schon lange vorher durch seine eigenen Arbeiten zu der Ansicht gekommen war, daß das Gift nicht Schwefelsäure sei, wie man zuerst vermuthete, sondern entweder Coniin – aus dem Schierling – oder Nicotin sein müsse.
Der Weg, den der belgische Gelehrte bei dieser Arbeit eingeschlagen hat, verdient um so mehr Anerkennung, wenn wir bedenken, wie leicht sich die organischen Substanzen durch geringfügige Umstände verändern. Er ist der Art, daß er bei allen gerichtlichen Untersuchungen, wenn es sich um Pflanzengifte handelt, als Muster aufgestellt werden kann. Die letzten Tage haben die Wahrheit dieser Behauptung wiederum bestätigt.
Dem Leser ist bekannt, daß Tabackkauen eine Lieblingsbeschäftigung der Seefahrer ist. Bei der Bereitung desselben liegen die Tabaksblätter acht Tage hindurch in einer an und für sich unschädlichen Sauce, die der Hauptsache nach aus einer Lösung von Pflaumenmus in Wasser mit sehr geringen Mengen von Salpeter, Salmiak, Alaun und Eisenvitriol besteht. Dann wird der Tabak stark gepreßt und die hier abtropfende, tiefbraune und widerlich riechende Flüssigkeit ist wegen ihres Gehaltes an Nicotin ein starkes Gift. In Folge einer kindischen Wette trank ein in einer solchen Fabrik beschäftigter fünfzehnjähriger Knabe davon ein gutes Schnapsglas voll – und nach Verlauf einer Stunde fiel er als ein Opfer seines Uebermuthes. Die Unwissenheit des Publikums schrieb diesen Tod der ganz unschädlichen Sauce zu. Man verbreitete die nachtheiligsten Gerüchte über die Fabrik, so daß sich die Obrigkeit veranlaßt sah, den Magen und das Herz des Verstorbenen dem Apotheker Lehmann in Rendsburg zur Untersuchung [110] zu übergeben. Bei dem Kundigen walteten durchaus keine Zweifel ob, wonach hier zu suchen sei. Die von Staè angegebene Methode wurde befolgt, die Gegenwart des Nicotins unzweifelhaft bewiesen und dadurch die Ursache des plötzlichen Todes genügend erklärt. Aus 21/2 Loth der Flüssigkeit selbst wurde 1/3 Quentchen reines Nicotin dargestellt und dies ist noch nicht der ganze Gehalt, denn bei der Darstellung geht stets etwas verloren.
Pariser Bilder und Geschichten.
Eine wunderbare Gewalt, heilsam und gefährlich, nothwendig und mißbraucht; eine Schlange die lauert und ein Löwe der ausfällt, ein Drachen der verschlingt, ein Riese der erdrückt; tausendarmig, tausendäugig wie die Ungeheuer Briaräus und Argus, wie sie die griechische Phantasie erfunden und dargestellt. Das und noch mehr ist die pariser Polizei.
Ihre Einrichtungen haben sich durch Jahrhunderte nach Bedürfniß und Erfahrung ausgebildet und erweitert, ihre Verzweigungen und Abtheilungen sind endlos, wie die Laster, Uebelstände, Auskunftsmittel und Auswege von Paris, das sie fortwährend in Athem erhält, ihr vollauf zu thun giebt. Sie ist furchtbar die pariser Polizei; sie muß überall hin eingreifen; denn der Franzose erträgt nicht nur die Einmischung der Polizei in seine Lebensverhältnisse, sondern er verlangt sie; sein unstätes regelloses Wesen, die Haltlosigkeit seines Charakters, die wilde zügellose Hingebung an den ausschweifenden Drang des Augenblicks, die kein Gebot des Anstandes, kein Gesetz der Würde berücksichtigt, erheischen eine polizeiliche Beaufsichtigung. Ich zweifle, daß man sich in St. Petersburg so ausgedehnte Funktionen der Polizei gefallen ließe, wie in Paris. Auf jedem öffentlichen Balle hier, sieht man Polizeidiener in ihrer Uniform, auf die Anordnung der Reihen, was bei uns dem Tanzmeister überlassen bleibt, kraft ihres[WS 2] Amtes einwirken. Nicht davon zu reden, daß sie mit Strenge über die gebührende Züchtigkeit der Damen und Herren beim Tanze wachen und die Uebertretung dieser Regel mit einer handgreiflichen brutalen Entfernung des sich Vergehenden, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Stand bestrafen, was nicht etwa zu den seltenen Vorkommnissen gehört. Die Franzosen sind polizeilich so gut geschult, daß selbst Soldaten in Uniform, wie ich es mit meinen eigenen Augen gesehen, sich diese Behandlung öffentlich gefallen lassen.
Die Gegenstände, welche die pariser Polizei zu überwachen theils verpflichtet ist, theils sich herausnimmt, sind kaum zu zählen. Sie regelt die Bewegung auf den Straßen, sie führt über öffentliche Reinlichkeit und Moralität die Aufsicht. sie prüft die zum Verkauf dargebotenen Nahrungsmittel, um für die Gesundheit der Käufer zu sorgen, welche die pariser Gewinnsucht nicht besonders zu berücksichtigen sich sonst geneigt fühlte. In Theatern und auf öffentlichen Plätzen, überall wo Schaulust oder irgend eine Unterhaltung eine Anzahl von Menschen versammelt, waltet die Polizei. Sie macht sogar die Eintracht im Innern der Familie zum Gegenstand ihrer Ueberwachung und schreitet ein, wo sich die Natur und das Gefühl der Pflicht ohnmächtig erweisen. Sie richtet zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, sie regelt Alles. Was sie jedoch am meisten beschäftigt und ermüdet, ist die Politik.
Zunächst sorgt sie für die Sicherheit der Person des jeweiligen Staatsoberhauptes. Pietri oder wer sonst den Posten des Polizeipräfekten einnimmt, muß Richtung und Ziel jeder Fahrt, jedes Ganges des Kaisers wissen, um für dessen Wohlergehen, insofern es von äußern abzuwehrenden Unfällen bedroht sein könnte, zu bürgen. Es ist eine Thatsache, daß der seither bei Seite geschobene Polizeiminister Maupas dem jetzigen Kaiser Napoleon, der es sich aus Vergeßlichkeit oder Muthwillen beikommen ließ, bei Gelegenheit einer Spazierfahrt von der vorherbestimmten Richtung abzuweichen, dieserwegen die lebhaftesten Vorstellungen machte, indem er sich auf seine Verantwortlichkeit berief, der durch solche Unvorsicht Werth und Grundlage genommen würden.
Es giebt kein Haus in Paris, wo die Polizei, wenn nicht ihre Hand, gewiß ihr Ohr hat. Hier ist es ein Diener, dort ein Stubenmädchen, bald ein vornehmer Herr, bald eine schöne Frau und sicherlich fast überall der Thürsteher, der im Dienste und im Solde der Polizei steht. Wie unter Louis Philipp der Vertraute und Leibdiener der Herzogin von Berry, der ehrenfeste Deutz, für eine Million Franken von der Polizei des Herrn Thiers gekauft war, so hat die pariser Polizei bei jeder irgendwie einflußreichen Persönlichkeit, bei allen Körperschaften ihre Organe, vermittelst deren sie häufig in das Geheimniß des vertrautesten Verkehrs eindringt, und oft von den verborgensten Familienangelegenheiten Kenntniß erlangt.
Man möchte sagen, daß der Polizeipräfect Alles weiß, was In Paris geschieht, was man in Parts denkt, fühlt und beabsichtigt. Herr Pietri, oder wer immer seine Stelle bekleidet, könnte noch andere Geheimnisse von Paris, als Eugen Sue, schreiben. Wenn sie auch vielleicht nicht so gut dargestellt wären, so wären sie jedenfalls um Vieles wahrer.
Der Polizeipräfect hält derart die Fäden des pariser Lebens in Händen, daß er nicht nur anziehen, sondern auch loslassen, nicht nur Ausbrüche unterdrücken, sondern auch hervorbringen kann. Und diese zweite Maßregel ist in der letzten Zeit nicht selten zum Vortheil der Regierung in Anwendung gebracht worden.
Carlier, ein ehemaliger Polizeipräfect unter Louis Napoleon, äußerte: „Wenn ich im Jahre 1848 unter Louis Philipp das wichtige Amt eines Präfecten bekleidet hätte, so würde ich ganz einfach von meinen Leuten als Arbeiter verkleidet einige Läden mit dem Rufe: Es lebe der Communismus! haben plündern lassen und ich hätte sehen mögen, was die pariser Nationalgarde für ein Gesicht geschnitten hätte. Ich wette eine Krone gegen eine Jakobinermütze, daß der Julithron wäre gerettet gewesen.“ Ich weiß nicht, ob Herr Carlier sich nicht zu viel zugemuthet, denn es kommen allerdings Momente, da all die Fäden, noch so fest gehalten in den Händen, dieser furchtbaren Gewalt zerreißen.
Wie weit die Kenntniß des Präfecten der kleinen und großen Vorgänge in der Hauptstadt reicht, ist kaum zu glauben.
Wenn irgend ein ansehnlicher Mann sich in eine Liebschaft einläßt, die noch ängstlich das Licht scheut und flieht, so weiß es Herr Pietri.
Wenn irgend eine reiche Wittwe die Fehltritte ihrer feurigen Jugend nun, da sie vorüber ist, bereuend, ihre Seele der Frömmigkeit und ihr Vermögen in der Person eines frommen Beichtvaters der Kirche anheimstellt, so weiß es Herr Pietri.
Wenn irgend eine reiche Erbin Herz und Eigenthum zum Aerger eines huldigenden Vetters und seiner hoffnungsvollen Aeltern einem Abenteurer von zweifelhafter Abkunft und Stellung schenkt, so weiß es Herr Pietri.
Wenn ein verschwenderischer, ungerathener Sohn an den günstigen Verhältnissen seiner arbeitsamen, sparsamen Aeltern rüttelt, so weiß es Herr Pietri.
Wenn ein Arbeiter seine Frau prügelt und diese bereit ist, sich für die Mißhandlungen zu rächen, so weiß es Herr Pietri etc. etc.
Mit der Kenntniß so vieler Schwächen und Schäden der Gesellschaft, wie sollte die Polizei nicht Alles über sie vermögen, sie nicht lenken und im Zaum halten können!
Aus all diesen Angaben, die nicht an der geringsten Uebertreibung leiden, erklärt sich die unendliche Bedeutung der Stellung eines Präfecten, der Alles für die Regierung, aber auch vorkommenden Falls Alles gegen sie zu thun vermag.
Vor Foucher, seinem Polizeipräfecten, zitterte der Kaiser Napoleon, seines Namens der Erste, und als er von Elba zurückkehrte, wagte er es nicht, den Einflußreichen, vielfach Eingeweihten, abzusetzen, ob ihm gleich dessen Abtrünnigkeit und Liebäugeln mit den Bourbons und ihrem Anhang kein Geheimniß blieb. Der Kaiser behielt sich die Bestrafung des doppelsinigen Präfecten [111] für die Zeit vor, da er von einer siegreichen Schlacht nach Paris zurückkehren würde. Dieser Moment trat nicht ein, und Foucher führte sein Werk im Interesse der legitimen Königsfamilie zu Ende. Foucher war für Napoleon I. ein zweites Waterloo. Seine Verrätherei wurde, wie dies gewöhnlich der Fall, von denjenigen bestraft, zu deren Gunsten er verrathen. Die Bourbons gelangten auf den Thron von Frankreich und Foucher starb in der Verbannung.
Die pariser Polizei hat auch, wunderbar zu sagen, ihre Märtyrer! Es sind dies die geheimen Diener niedern Soldes, welche unter dem Namen „Mouchards“ bekannt sind, sich so zu sagen mit all ihrer Zeit und all ihren Kräften verdungen haben, sich zu Allem dem Gefährlichsten und Mühseligsten gebrauchen lassen, jede Verkleidung annehmen, jede Rolle spielen müssen. Das sind diejenigen, durch die Herr Carlier die Läden hätte erbrechen lassen, ob sie gleich gewiß als Opfer dieses Unternehmens gefallen wären. In dem Hofe der Präfektur werden oft von diesen Leuten tragikomische Scenen abgespielt, von denen ich eine treu und wahrhaft schildern will. Sie spielte zu jener Zeit, da Louis Napoleon sich zum Kaiser hatte ernennen lassen und seinen Einzug in Paris hielt.
Der Polizei fiel die Ausgabe zu, nicht nur die Beleuchtung der Häuser des Abends, Triumphbogen und andere Huldigungszeichen, sondern auch lebhaften Zuruf der Massen zu bewirken. Bei erstern Anordnungen hatte mann mit solchen Individuen zu thun, die kaum anders als der Aufforderung zu willfahren vermochten; was Anderes war es mit den Massen, die keine Gewalt zum Schreien zwingen konnte. Die Polizei griff zu dem hergebrachten Mittel, sie schickte zahllose Mouchards in den verschiedensten Verkleidungen mit der gemessenen Weisung aus, daß sie durch ihr Beispiel wirkten und den lauten Zuruf der Menge gewissermaßen erzeugten. Dieser Kunstgriff ward aus dem Theater auf die Straßen verpflanzt. Man könnte diese Herren sehr gut „politische Claqeurs[WS 3]“ nennen.
Der Erfolg dieses Manövers entsprach nicht den Erwartungen des neuen Hofes und die Bestürzung der Würdenträger fiel zunächst vorwurfsvoll auf den Chef der Polizei, von dem aus der Ausdruck der Unzufriedenheit auf der eingerichteten Stufenleiter bis zu dem dienstthuenden Kommissar hinabstieg, der unmittelbar über die ausgesandten Mouchards gesetzt war.
Verdrießlich und mürrisch wartete der Vorgesetzte in dem weiten Hofe auf die zurückkehrenden Untergebenen, um gegen sie den erhaltenen Tadel los zu lassen. Diese kamen nun, nachdem der Durchzug des Kaisers beendet war, theils einzeln, theils in kleinen Gruppen, theils als Arbeiter in Blousen, theils als Bürger, theils sogar als vornehme Herren mit Orden der Ehrenlegion gekleidet, ermüdet und abgeschlagen, um Rechenschaft von ihrem Wirken abzulegen und zu ihrer natürlichen Gestalt zurückzukehren. Nun ergab sich folgendes Gespräch zwischen dem Commissär und den Mouchards.
Commissär (mit gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen). „Ihr habt Eure Sachen schlecht gemacht. Man ist sehr unzufrieden mit Euch.“
Ein Alter (im schwarzen Frack und mit dem Orden der Ehrenlegion, mit heiserer Stimme). „Herr Commissär, hören Sie mich sprechen und urtheilen Sie, ob ich meine Pflicht gethan. Ich habe mich buchstäblich heiser geschrieen. Ist es meine Schuld, daß mich die verfluchten Kerls von Zuschauern allein schreien ließen und daß kein Ton aus ihnen herauszubekommen war, wie ich es auch anstellte? Die Leute guckten mich spöttisch an und lächelten, indem sie meinen Orden betrachteten. Hätte ich mich nicht vor Schlägen gefürchtet, die mir gewiß nicht entgangen wären, ich hätte den Schlingeln die ärgsten Grobheiten gesagt. Ein junger Mann, der neben mir stand, frug mich sogar in einen scheinbar ehrlichen ernsthaften Tone, welchen Verdienste ich die Auszeichnung an meiner Brust verdankte, worauf die Umstehenden mit einem schallenden Gelächter antworteten. Ich diene dem Staate schon dreißig Jahre; ich habe schon manche schlechten Tage erlebt. Aber so wie heute ist mir’s noch niemals ergangen.“
Commissär. „Sie haben es gerade schlecht getroffen.“
„Ja. schlecht getroffen!“ rief ein baumstarker Kerl mit breiten Schultern in einer Blouse, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte. „Glauben Sie, Herr Commissär, daß ich minder gut meinen Dienst verstehe, als der alte Barel, dem ich gewiß nicht nahe treten will? Ich habe für Zehne geschrieen, und hatte meinen Platz so gewählt, daß ich unter lauter Arbeiter zu stehen kam. was half’s, kein Einziger folgte meinem Beispiel. Vor mir stand ein Gassenjunge, und da ich gar nicht wußte, was anzufangen, forderte ich den Balg barsch auf zu schreien; doch, was geschieht? Der Junge sieht mich an und lacht. Sie schreien ja selbst genug, giebt er mir frech zur Antwort. – Was wollen Sie thun? Ich konnte ihn nicht bei den Ohren nehmen, sonst wäre es mir schlecht ergangen. Wenn Sie das unsere Sache schlecht machen heißen, so ist es besser ich lege mein Amt nieder.“
Commissär. „Wir wissen recht gut, Breloche, daß wir auf Sie zählen können.“ Noch andere wollten sprechen, allein der Commissär winkte ihnen zu schweigen; notirte etwas auf ein Blatt Papier und entfernte sich.
Bisweilen geschieht es, daß sich so ein Mouchard mit einem ansehnlichen Gefangenen einsperren lassen und die Strafe der Haft theilen muß, um sich auf diese Weise in das Vertrauen des Genossen einzuschleichen und über dessen Gesinnung der Regierung Bericht abstatten zu können.
In ihrer wirklich nützlichen, der Gesellschaft heilsamen Anwendung, leistet die pariser Polizei Außerordentliches. Und nur ein pariser Dieb oder Betrüger kann es unternehmen die pariser Polizei hintergehen, ihren ausgespannten Netzen entgehen zu wollen. Die Beamten sind unermüdlich, sie arbeiten, forschen, durchstöbern alle Herbergen des Elends und Verbrechens mit Aufopferung und setzen sich unerschrocken oft den größten Gefahren aus. Ohne ihre außerordentliche Thätigkeit würden tausend von Verbrechen mehr begangen werden. Es ist wunderbar, mit welchem Scharfblick ein Commissar oder selbst der untergeordnete Polizist den Spitzbuben unter jeder Maske erkennt.
Der Kaiser hat nach dem Beispiel der unmittelbar vorhergehenden Könige, seine Privatpolizei. Dieses wichtige Ant ist einem vornehmen Manne von einschmeichelndem Aeußern anvertraut, der nur persönlich unter vier Augen mit dem Staatsoberhaupte verkehrt und dem die Aufgabe gestellt ist, die höchsten Behörden und Würdenträger, Minister, Staatsräthe und Diplomaten und den Polizeipräfekten selbst zu überwachen. Er lebt auf dem größten Fuß, verschwendet unendlich viel Geld und hat in allen Kreisen, ohne Unterschied der politischen Farbe, Zutritt. – Scheinbar ohne jeden andern Einfluß, als den, den Reichthum verleiht, ist er die wichtigste Person nach dem Kaiser.
Aus dem Kaukasus.
Unter den Gegnern, denen sich Rußland in dem gegenwärtigen Kriege gegenüber befindet, sind die Bewohner des Kaukasus nicht zu den wenigstgefährlichen zu zählen. Seit länger als hundert Jahren[2] im Kampfe mit den Moskowiten, ist dieser mit bald größerer, bald geringern Heftigkeit geführt worden, jenachdem einflußreiche Häuptlinge sich an die Spitze der verschiedenen Völkerschaften stellten, welche im Allgemeinen unter dem Namen Tscherkessen begriffen werden. Ein solcher Häuptling ist Schamyl, dessen Namen wir seit 1834 zu hören gewohnt sind, und der in diesem langen Zeitraum wechselnd mit Glück und Unglück, stets aber mit Erbitterung gegen die Rußen gekämpft hat. Auch jetzt wird Schamyl’s Name wieder unter neuen Gefechten und Schlachten genannt, und seine unversöhnliche Feindschaft wirkt unter den obschwebenden Verhältnissen jedenfalls mächtig auf manche Kriegsoperationen der russischen Heere ein.
Mehr noch als der kriegerische Geist, die Tapferkeit und der Freiheitssinn der Tscherkessen, ist die Beschaffenheit ihres Landes den schnellern Fortschritten der Russen hinderlich. Der Kaukasus mit den riesigen Gipfeln des Elbrus (15,400 Fuß hoch) und des Kasbek 14,000 Fuß hoch) zieht sich, bei einer Breite von 16 bis 40 Meilen, in einer Länge von 65 Meilen vom schwarzen [112] Meere nach dem caspischen Meere hin, so daß er hier die Grenze zwischen Europa und Asien bildet. Nur drei größere Passagen führen über dieses einen ungeheuern Wall bildende Gebirge, aber auch diese Passagen sind reich an Fährlichkeiten aller Art und so ist die Verbindung zwischen den russischen Besitzungen diesseits und jenseits des Kaukasus außerordentlich erschwert. Im Laufe der Zeit haben die Russen längs der Küste des schwarzen Meeres eine Reihe von Forts aufgeführt, welche zum Theil dieser Verbindung nachhelfen, andererseits jedoch dazu bestimmt sind, den Tscherkessen das Meer zu sperren, von welchem her sie Schießbedarf und Waffen beziehen. Beide Zwecke sind nicht ganz gelungen. Bei den unaufhörlichen Angriffen der Tscherkessen ist die Verbindung eine noch wenig gesicherte, und kecke Seeleute wußten von jeher noch immer an den Küsten mit den Tscherkessen zu verkehren. Die Meinung hochgestellter russischer Offiziere, daß die Tscherkessen durch Gewalt nicht zur Unterwerfung zu bringen seien, ist schon längst keine vereinzelte mehr, wenn sie vielleicht auch in Petersburg nicht getheilt wird.
Enge düstere Thäler, undurchdringliche dunkle Wälder, schneebedeckte Gipfel, von zerrissenen Felsklüften umgürtete Hochebenen, Abschlünde, die als Wege dienen, in welche den größten Theil des Jahres kein Lichtstrahl fällt, reißende Bergströme: so ist der Charakter des Landes, das dem gemäß für die Bewohner eine natürliche, uneinnehmbare Festung ist. Ein Theil der Kaukasier hat sich gleichwohl schon seit längerer Zeit der russischen Herrschaft unterworfen, doch dürfte diese Herrschaft so unsicher begründet sein, daß die unterworfenen Stämme recht leicht in eine von den unabhängigen Stämmen unter Schamyl begonnene allgemeine Erhebung gerissen werden könnten. Die russischen Provinzen Georgien und Imeretien wären dann von aller Verbindung mit Rußland abgeschnitten.
Der Krieg im Kaukasus trägt das allen Gebirgskämpfen eigenthümliche Gepräge. Plötzliche Angriffe und nächtliche Ueberfälle spielen die Hauptrollen. Die russischen Besatzungen in den Forts, die Schildwachen auf den Wällen, die auf freien Punkten angelegten Hauptwachen mit Hochschauen. Alle müssen unausgesetzt kampf- und schlagfertig sein. Rascher als die Lawinen vom Gipfel des Elbrus herabdonnern, brechen die tscherkessischen Schaaren aus ihren düstern Berg- und Felsgründen hervor, von Berg zu Thal rast plötzlich der Kampf, und nach kurzer Zeit verschwinden die unermüdlichen Kämpfer wieder in ihren Bergen.
Um sich einigermaßen gegen diese Ueberfälle zu schützen und sowohl ihre Truppen wie die befreundeten Tscherkessen und Kosakenstämme rechtzeitig zu benachrichtigen, haben die Russen besonders in den Ebenen eigenthümliche Wachen aufgebaut, die äußerst praktisch sind und ihre Nützlichkeit vielfach bewährt haben. Von fünf bis sechs schlanken und hohen Baumstämmen wird eine Art Pyramide zusammengestellt, auf deren Spitze eine bedeckte Hütte ruht, die stets von zwei Soldaten besetzt ist, deren Pflicht es ist, in der Ebene nach etwa gefährlichen Bewegungen umherzulugen. Ueber der Hütte selbst ist eine Art Telegraph angebracht, der mit einer Glocke versehen, dem nächsten Telegraphen die Ankunft des Feindes anzeigt und zugleich die nächste Umgebung zusammenruft. Dann wird sofort von dem einen Soldaten die Alarmstange angebrannt, deren Schein bei Nacht und deren Rauch bei Tage den Truppen den Weg zeigt.
[113] Ein Augenzeuge, dem wir die nachfolgenden Mittheilungen verdanken, kann die Gefährlichkeit und die Mühsale dieses Krieges nicht düster genug schildern. Wenn wir nicht hinter den Mauern unserer Forts lagerten,“ erzählt er, „mußten wir stets mit dem einen Fuß im Steigbügel stehen. Es liegt in der Art und Weise der Tscherkessen-Kriegführung, den Feind so viel als möglich zu ermüden, um ihn dann in seiner Ermattung leichter zu vernichten. So treffliche Soldaten unsere Russen auch sind und so gute und wachsame Offiziere im Allgemeinen an ihrer Spitze stehen – im Kaukasus hört jede militärische Berechnung, alles strategische Manöveriren auf. Dort kann allein die persönliche Bravour einen Erfolg herbeiführen. Nur der Artillerie gegenüber wagt der Tscherkesse selten einen Angriff und so oft auch unsere gegossenen Brummer ihre Lieder sangen, flohen die schlanken Söhne der Berge in aller Eile in ihre Schluchten zurück. Freilich hatten bei unsern Streifzügen in die Gebirge diese gefährlichen Sänger nur selten Gelegenheit, sich zu produciren.
„An eine geregelte Kriegführung nach europäischem Sinn wird sich der Tscherkesse niemals gewöhnen. Jeder Disciplin und militärischen Subordination abhold, haben selbst die vielfachen Bemühungen der türkischen, polnischen und englischen Offiziere ein wehrtaktisches Verfahren einzuführen wenig oder gar keinen Erfolg gehabt. Deshalb ist der Tscherkesse auch nur in seinen Gebirgen gefährlich, wo er die einzige ihm verständliche Taktik der Ueberfälle und Hinterhalte in Anwendung bringen kann. Jedes größere Unternehmen in der Ebene, was eine bestimmte Ordnung und ein geregeltes Zusammenwirken der verschiedenen Truppengattungen erfordert, muß den geregelten Bewegungen der Russen gegenüber stets mißlingen. Der Tscherkesse ist sich dieser Schwäche recht wohl bewußt und wagt sich deshalb auch nur äußerst selten und dann nur vorübergehend und mit großer Uebermacht in die Ebenen. In ihren Gebirgen aber sind sie unüberwindlich.
„Ist der Kampf gegen sie schon am Tage ein gefährlicher, so wird er in der Nacht ein wahrhaft grauenvoller. Es gehört eine Armee wie die russische dazu, um vor diesen Schrecknissen nicht zurückzubeben. Man denke sich inmitten dieser undurchdringlichen düstern Wälder, diesen Felsklüften und Abschlünden eine kleine Armeeabtheilung auf einem Streifzug begriffen. Ich selbst habe zwei Mal solchem gefährlichen Streifzuge beigewohnt. Wenn bei Tage das Orientirungstalent der Offiziere uns glücklich die gefährlichen Passagen vermeiden ließ und die Tapferkeit und Wachsamkeit der Truppen jeden Angriff zurückgeschlagen, so änderte die Nacht die Situation ganz und gar. Die Tscherkessen sind, wie ich bereits oben erwähnte, Freunde der Nacht und des Hinterhalts und haben eine unglaubliche Geschicklichkeit, das kleinste Pflanzendickicht, die geringste Unebenheit des Bodens zum Verbergen zu benutzen. Einzelne ihrer Leute verstecken sich Tage lang in dem sumpfigen Schilfdickicht, um einen Vorposten abzulauern. Wenn dann die Nacht hereinbricht, kriechen sie still und leise, wie die Eidechsen auf dem Leibe an ihre Opfer heran, kein Blatt, kein Zweig bewegt sich, und sorglos schaut der Posten hinaus in die dunkle Nacht. Plötzlich ertönt ein kurzer ächzender Aufschrei, den in den meisten Fällen kaum der Nebenposten hört, keine Waffe blinkt, kein Schuß ertönt, aber am Morgen liegt kalt und starr die Schildwache auf ihrem Posten und Gewehr, Patronen und Pferd sind verschwunden. Dieses stille, geräuschlose Hinmorden macht auf die gewöhnlichen Soldaten einen wahrhaft gespenstigen schauerlichen Eindruck. Dann brechen wohl dann und wann auch die versteckten Hinterhalte auf die durch ihre niedergestoßenen Vorposten ungewarnten Truppen, und wenn sie auch nicht immer ihren Zweck erreichen, so sieht doch mancher Tapfere unserer Armee den Morgen nicht wieder, und die Uebrigen werden durch diese nächtlichen Ueberfälle matt und energielos.
„Wer den Kampf am Kaukasus mitgekämpft, wird jeden andern als ein Kinderspiel ansehen.
„Schamyl selbst ist überall und nirgends. Wenige der Unsrigen haben ihn gesehen, aber im Kampfe wird seine Nähe fühlbar. Wo er in eigener Person commandirt, wird die energische Tapferkeit seiner wilden Bergsöhne zur großartigsten Todesverachtung, zum zügellosesten Fanatismus. Nicht ganz mit Unrecht ist er oft mit Abd-el-Kader verglichen worden. Beide gewannen ihre Macht durch eine religiöse Begeisterung, die in ihnen sich entzündete und von da weiter wärmte. Beide wollten die Freiheit ihrer Stämme, die Einheit Deutschlands in kaukasischer und afrikanischer Form. Abd-el-Kader mußte sich auf Hülfe von auswärts verlassen und ging dadurch zu Grunde. Schamyl’s Pläne sind andere. Er trat als zweiter Prophet des Muhamedismus, als Luther des Islam auf und erklärte, daß er vom Himmel gesandt sei, das Werk Muhamed’s zu reinigen und zu vollenden. So strebte er besonders dahin, die beiden religiösen Parteien der Aliten und Omariden durch eine civilisirtere Lehre zu vereinigen. Er leitet, wie die chinesischen Rebellenhäupter (jetzt Patrioten genannt) alle seine Befehle von Eingebungen Gottes ab, wie’s seine Leute haben wollen. So gewann er bald eine große Heldenschaar Gläubiger um sich, die für unbezwinglich gelten und deren Ergebenheit und Fanatismus keine Gefahren kennt. Schamyl ist jetzt sechsundfunfzig Jahre alt, ein Mann von mittlerer Größe und von einem entschiedenen Heldenansehen. Sein Privatleben erinnert an das Abd-el-Kader’s, er ist nüchtern und streng, betet und arbeitet, ohne viel zu schlafen. Seine kriegerische Laufbahn begann 1834.
„Schamyl’s gefährlichster Feind ist der Fürst Woronzow, der Chef der kaukasischen Armee und Generalstatthalter aller Provinzen vom Pruth bis Araxas. Bekannt und beliebt als der populärste Mann von ganz Rußland, ist ihm vom Kaiser eine Macht übertragen worden, wie sie seit Potemkin kein russischer Großer besessen. Woronzow, welcher zugleich seinen frühern Posten als Generalstatthalter Neurußlands beibehielt, gebietet jetzt über Provinzen, die an Flächenraum Deutschland, Frankreich und England zusammen übertreffen. Indeß nicht durch seine Waffenthaten wurde er Schamyl’s gefährlichster Gegner, obwohl er ihm manches siegreiche Treffen lieferte, sondern allein durch seine persönliche Liebenswürdigkeit, durch eine dort nie gekannte Gerechtigkeitsliebe, durch sein unausgesetztes Bestreben, Alles um sich glücklich und zufrieden zu wissen, durch seine Herablassung, mit der er selbst den ärmsten Bauer anhört und hilft, wo Hülfe nöthig ist. Die tscherkessischen Stämme, welche bereits unterworfen sind, fangen an, den Mann zu lieben, der sie in den Kämpfen gegen ihre frühern Brüder auf jede mögliche Weise schont, ihr materielles Wohl fördert, und ihren kindischen Wünschen an blanken Waffen und Geschmeide auf sehr freundliche Weise nachkömmt. Und das ist für Schamyl, bei dem jedes einzelne Wort Haß gegen Rußland athmet, die Achillesferse, an der er verwundbar ist. Es ist schon so weit, daß, als Woronzow in einem der letzten Jahre von einer längern Reise nach Petersburg nach dem Kaukasus zurückkehrte, er von den Tscherkessenstämmen in der Ebene mit unendlichem Jubel empfangen und überall hin begleitet wurde. Und diese Leute verstehen es nicht, Komödie zu spielen, ihre Zuneigung ist aufrichtig und wahr.
„Fürst Woronzow hat den größten Theil seiner Einkünfte geopfert – sie belaufen sich auf 1,200,000 Papierrubel – die Bodencultur des Landes zu heben und den Handel zu fördern. Er ließ viele tausend Reben aus Deutschland, Frankreich und Spanien kommen und vertheilte sie unentgeltlich an die Colonisten, Bauern und Gutsbesitzer. Für die Armee wie für das Land wirkt er unermüdlich. Er hat die körperliche Mißhandlung der Leibeigenen streng verboten, hat den Augiasstall der Korruption und des Betrugs gereinigt und bei der Organisation des Landes eine immense Energie und unerbittliche Strenge gegen alle pflichtvergessenen Beamten oder Militärs gezeigt. Persönlich ist Woronzow ein schöner hochgewachsener Mann mit breiter Brust, nach Kaiser Nikolaus, wie es in ganz Rußland heißt, der schönste und populärste Mann des Kaiserreichs.
„Mit hastiger Ungeduld richtet man im Kaukasus nichts aus, selbst wenn die Armee um das Dreifache vermehrt würde. Das weiß der Kaiser Nikolaus und deshalb hat er einen Mann dorthingesandt, der während seiner Herrschaft auf friedlichem Wege mehr erobert hat, als alle seine Vorgänger. Ob es ihm gelingen wird ganz zu erreichen, was er bezweckt – das ist eine Frage, die ich hier nicht erörtern will und kann. Ich habe nur Thatsächliches berichtet.“
Blätter und Blüthen.
Werther. Der in Deutschland gestorbene, begrabene, und mit seinem zahlreichen Gefolge fast vergessene Werther ist in Frankreich wieder erstanden, hält in Paris, im sinnlich-frivolen Paris seinen Umgang und holt sich tagtäglich seine Opfer. Es ist aber nicht der deutsche Platoniker, der für die Natur schwärmt, die Odyssee liest und sich in Ossian’s Nebelgebilden berauscht, nicht der schmachtende poetisirende und philosophirende, nicht einmal der gebildete Werther, der hier umgeht und die Herzen bestrickt; nur seine alte sinnliche Glut und das Ziel seiner Fahrt hat er bewahrt, sonst aber hat er sich in Zeit und Ort gefügt und ist ein ächtes Pariser Stadtkind geworden, dessen Augen niemals über jene Hügel hinauszustreifen begehrten, die den breiten Seinekessel mit den umzäunten Gärten, Parks, Städten, Dörfern und der immensen Häusermasse umgürten, die man Paris nennt. Zehnstündige eintönige Arbeit trocknet das Herz nicht aus, und der Arbeiter, dessen Gefühle für das Allgemeine gewaltsam erstickt wurden, hat oft nur noch Einen Gedanken, Eine Empfindung, die ihn ganz erfüllt und ihn bald auf die Triumphpforte führt, die Apotheose des französischen Ruhms, bald auf die Julisäule, die Verherrlichung der Freiheit, (deren Genius bedeutsam genug schon bei der Errichtung entfliegend gedacht wurde,) um von dort aus der Liebe wie dem Leben zu entfliehen. Ein ächt französischer Tod mit Eclat, der aber nicht selten auch mit dem langsamen Ende neben der Kohlenpfanne in stillen unbelauschten Stübchen abwechselt. Und es vergeht fast kein Tag, wo die Liebe, seltener die Noth der Zeit, ein und mehrere solche Opfer fordert. Gestern war es ein braves Dienstmädchen, das den Tod der Ertragung seines Kummers vorzog.
Charlotte ist einundzwanzig Jahre alt, hübsch und fleißig, ihrer Herrschaft werth wie Allen, die sie kennen. Sie hat ihren Dienst gekündigt, denn sie ist Braut eines wackeren tüchtigen Arbeiters, der sich so viel erspart hat, um ein eignes Geschäft zu beginnen. Zur Fastnacht soll schon Hochzeit sein und das Mädchen erhält die Erlaubniß, zu ihrem Geliebten zu gehen, um mit demselben noch einiges Hausgeräthe anzuschaffen. Sie geht ein Lied trällernd frohen Sinnes weg, sie kommt nicht so zurück. Sie hatte in der Zwischenzeit ihren Bräutigam gesehen, aber Einkäufe hatte sie nicht mit ihm gemacht. Denn als sie in sein Zimmer trat, lag er vom Schlage gerührt auf dem Bette, von Freunden umgeben, sterbend. Er erkannte sie nicht mehr, in deren Armen er aus dem Leben schied. Schweigend geht Charlotte heim und erhält die Erlaubniß sich zurückziehen zu dürfen. Als sie andern Morgens zur gewohnten Stunde nicht erscheint, wird man besorgt um sie, man dringt in ihr Stübchen und findet sie kalt und starr, die ausgebrannte Kohlenpfanne neben dem Lager, in den Händen einen Brief an ihren Geliebten in der Ewigkeit, den sie am Abend geschrieben. Auf dem Tische lag ein Zettelchen, worauf stand, man möchte ihr den Brief mit in den Sarg legen. – Das ist eine Liebe, welcher die feine Welt nicht mehr erliegt, die die Forderungen des Herkommens durch Vernunftheirathen zu befriedigen und die innere Leere durch kostspielige femmes entretenues auszufüllen sucht.
Ein anderer rührender Fall kam jüngst vor. Einem Arbeiter stirbt sein liebes Weib, mit dem er seit einem Jahre verehlicht war. Er läßt ihr ein Denkmal auf dem Montmartre setzen, und bringt jeden Sonntag frische Kränze hin. Seine freien Stunden an den Arbeitstagen bringt er damit zu, das Denkmal der Geliebten im Kleinen nachzumachen und es mit allen ihm gebliebenen Erinnerungen der Hingeschiedenen zu verzieren. Als dasselbe fertig ist, ladet er seine Freunde zu einem festlichen Mahle ein, dem er in der heitersten Stimmung beiwohnte. Es war sein Abschiedsmahl, am nächsten Morgen fand man ihn vom Kohlendampf erstickt. Ist das nicht rührend?
Doch nicht blos der Schmerz über den Tod oder die Untreue der Liebe fordert Opfer, auch der Ehrgeiz, die Eitelkeit, was im französischen Nationalcharakter erst recht begründet ist. Da wohnte ein ehrsamer Schneider in der rue Moudar, der von einem seiner Hauptkunden einen bedeutenden Auftrag erhielt, unter der Bedingung, daß die Kleider bis zu einer bestimmten Stunde fertig sein sollten. Der Schneider sagte zu, konnte aber die Zeit nicht einhalten. Der Kunde wurde ihm nun untreu; das ging aber dem Kleiderkünstler so zu Herzen, daß er sich das Leben nahm. Er verließ das Diesseits mit der Bitte, daß man ihm im Sarge einen Paletot anziehen solle, den er für sein Meisterwerk gehalten. Der Erfüllung dieses Wunsches stand eine Verordnung entgegen und der Meister kann nun nicht vor St. Petrus in seinem Musterpaletot paradiren. Er wurde begraben wie ein Anderer.
Ein Besuch bei Omer Pascha. Ein vom „London Journal“ in’s türkische Lager gesandter Correspondent schreibt in seinem ersten Briefe: „Schumla den 16. Decbr. 1853. – Ich schickte meine Empfehlungsbriefe sofort zu Omer Pascha und bekam schnell die Antwort, daß er bereit sei, meinen Besuch anzunehmen. Demgemäß begab ich mich ohne Verzug in sein Bereich, eines der besten Häuser des Ortes, obgleich es in Europa ärmlich genug aussehen würde. Durch einen Thorweg kam ich in einen Hof, von welchem eine Treppe außen in das erste Stockwerk führt. Ich stieg hinauf und fand mich zunächst unter einer bunten Mischung von Offizieren und allerhand fremdartigen Gestalten. Ich ließ mich melden und wurde sofort in sein Zinmer geführt, eine große Räumlichkeit, deren drei Seiten mit Divans bedeckt waren. In der Mitte stand ein Mongol, ein großes Kohlenbecken, am obern Ende ein großer Kamin, dessen Architectur an eine Moschee erinnert. Stühle und Tische gab es nicht. Omer Pascha saß auf dem Divan, nahe am Feuer, mit einem großen Chibuck (türkischen Pfeife) zur Seite, inmitten von Papieren und Karten. Etwas fern von ihm saßen drei Paschas ebenfalls mit Pfeifen, aber nicht rauchend. Nach türkischer Etikette müssen sie dazu erst aufgefordert werden. Er fing mit mir ohne Förmlichkeit ein langes Gespräch in französischer Sprache an, die er flüssig spricht. Doch ist Italienisch seine eigentliche Muttersprache, obgleich er auch gut Deutsch, Türkisch, Ungarisch und Armenisch verstehen soll. Was mir zuerst an ihm auffiel, war, daß er nicht die geringste Aehnlichkeit mit den vielen Portraits hatte, die in England und Frankreich von ihm erschienen. Er sah überhaupt nicht so barsch aus, als er mir in der Phantasie erschienen war. Man denke sich den großen Schnurrbart, der seinen Mund bedeckt, und den grauen Bart darunter hinweg, und er muß wie ein ganz feiner Engländer aussehen, der natürlich dann einen röthlichen Backenbart und hinten gescheiteltes Haar haben muß. In seinen Augen leuchtet etwas Sanftes, Gutmüthiges, Aufrichtiges, das sofort alle Befangenheit verscheucht. Er vereinigt Bonhommie mit Manneswürde. Nach und nach entdeckt man in dem Gesichte die Züge herkulischer Willenskraft und Kühnheit. Die Falten im Gesicht sind massiv, wie in Stein gehauen. Man sieht, daß er viel in sich gekämpft und gearbeitet haben muß. Sein Geist thront auf der Stirn. Mitten im Gespräche zuckte zuweilen das Auge unter den gewaltigen Brauen, und ich dachte jedesmal an den in Zorn gebrachten Löwen. In seinem äußern Benehmen ist er vollkommener Weltmann, höflich und unerschöpflich geduldig. Seine Bemerkungen, selbst über Dinge, die kein näheres Interesse für ihn haben konnten, verrathen Scharfsinn und vielseitige Bildung. Seine genaue Kenntniß der englischen politischen Verhältnisse überraschte mich, doch war er zu höflich dem Engländer gegenüber indirect zu urtheilen. Er urtheilte gewöhnlich in fragender Form! In Bezug auf andere Staaten war er offener und sprach ganz unverholen seine Ueberzeugung aus, daß auch England, falls es auch vorläufig wieder einen Frieden erkünstle, über Kurz oder Lang den entscheidenden Kampf mit Rußland durchmachen müsse, denn beider Staatsprincipien (oder vielmehr Volksrichtungen) seien sich so entgegengesetzt, daß beide Staaten nicht große Staaten in Europa bleiben könnten. Es kann keine Indiscretion in Mittheilung dieser Aeußerungen liegen, da er sich ganz in derselben Weise stets ganz unverholen gegen alle Engländer und sonstige Fremde, die ihn besuchten, aussprach.“
Ein interessanter Provocationsprozeß schwebt jetzt beim Berliner Stadtgericht. Ein wohlhabender Brasilianer, welcher sich hier seit einiger Zeit als Fremder aufhält, führt einen Sklaven bei sich. Dieser Sklave beansprucht gegenwärtig seine Freiheit, weil es in Preußen keine Sklaven giebt. Derselbe will sich anderweitig vermiethen und hat deshalb eine Provocationsklage gegen seinen Herrn eingeleitet, damit dieser seine angeblichen Rechte beweise. Das Stadtgericht hat die Klage auch angenommen und den Justizrath Straß dem Sklaven als Kurator bestellt. Ein Prozeß dieser Art ist bisher hier noch nicht verhandelt worden. Nach dem alten Landrecht bleiben den Fremden ihre Rechte an den Sklaven, welche sie bei sich führen, vorbehalten, nur dürfen sie solche nicht gefährlich mißhandeln. Es fragt sich nun, ob diese Bestimmung durch neue Gesetze aufgehoben ist. Wenn dieses auch nicht der Fall ist, so fragt sich weiter, wie will der Herr sein Recht an dem Sklaven hier beweisen, da die Zeugen für den Kauf hier gar nicht zu beschaffen sind. Man ist auf den Ausgang des Prozesses sehr gespannt.
Der Strafarbeiter seiner selbst. In Zürich ist in diesen Tagen ein gewiß eigenthümlicher Fall vorgekommen. Ein Baumeister H. hatte in der dasigen Strafanstalt zweiundzwanzig Mann zu ein Frank per Tag bestellt, um in einer der ihm zugehörigen Steingruben zu arbeiten. Er hatte für eine Woche Arbeit. Nun traf es sich, daß derselbe Baumeister unlängst eines Injurienhandels wegen vom Polizeirichter zu ebenso langer Zeit Gefängniß verurtheilt, gerade zur selben Zeit seine Strafe absitzen mußte. Der Verwalter fragte den verurtheilten, womit er sich während seiner sechs Tage zu beschäftigen gedenke, ob etwa mit Copiaturen, Buchführung u. dgl. Dieser gab lachend zur Antwort: „He! laßt mich nur in Baumeisters H. Steingrube arbeiten!“ Wie gesagt, so geschehen. Man sah also den Herrn Baumeister an sechs unmittelbar auf einanderfolgenden Tagen in seiner eigenen Steingrube von Morgens früh bis spät Abends beschäftigt, und die einundzwanzig andern Sträflinge erkiesten noch dazu den vornehmen Herrn Collegen zu ihrem „Hauptmann.“ Das praktische Publikum der Schweiz hat sich mit diesem Hergange ganz einverstanden erklärt und der Held der Geschichte selbstverständlich auch.
Gudin bei Hofe. Der berühmte französische Maler Gudin wurde einmal zu einem glänzenden Mahle des Herzogs von Cambridge in London (dem Onkel der Königin) geladen und unter andern großen Herren von Rang und Stand dem Herzog vorgestellt: „Gudin, der berühmte französische Maler.“ Verbeugung, weitere Vorstellungen Anderer. Nach einiger Zeit frug der Herzog: „Wer war das? Was ist er? Maler ist er? Groß, wie groß? Großer Maler? Stellen Sir mir ihn noch einmal vor. Ihre Majestät liebt Gemälde. Er muß bei Hofe vorgestellt werden.“ Ein Cermonienmeister flüsterte ihm dabei in’s Ohr, daß er als Maler nicht hoffähig sei, aber als ein ehemals französischer Offizier sei er zulässig. Der Herzog machte Gudin demgemäß den Vorschlag, er möge sich in der Uniform einen Offziers einfinden, wenn es ihm daran gelegen sei, bei Hofe Zutritt zu finden. Gudin erhob sich in seiner vollen Größe und antwortete: „Der König von Frankreich machte mich zum Lieutenant. Gott zum Maler. Ich werde als Maler zur Königin gehen oder gar nicht.“