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Die Gartenlaube (1853)/Heft 46

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 46. 1853.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Der Möwenberg bei Schleswig.

Von Ernst Willkomm.
(Schluß.)

So vergingen einige Wochen. Erich blieb verschwunden und Abel, dem schon längst nach der königlichen Würde gelüstet hatte, traf Anstalten, den erledigten Thron von Dänemark in Besitz zu nehmen. Er war der nächste Thronerbe, da Erich ohne Hinterlassung männlicher Nachkommen aus der Welt gegangen war. Indeß vermochte der Herzog sein Ziel doch nicht so schnell zu erreichen, als er es wünschte. Die Rächer Erich’s, die Möwen, hinderten ihn daran. Es schien, als hätte ihr unaufhörliches Klagen es vermocht, die Fesseln des Erschlagenen und in der Schlei Versenkten zu lösen; denn zwei Monate nach der Blutthat zeigten sich auf der Oberfläche des Wassers bei Mösund blaue Flämmchen des Nachts und empor aus der Tiefe stieg der Leichnam des Königs, die rechte Hand zum Himmel ausstreckend und langsam den Strom hinabtreibend. Schreiend folgte ihm die dichte Wolke der Möwen. Fischer erkannten den Todten, huben ihn aus der Fluth und brachten ihn nach Schleswig.

Es war unmöglich, dem Volke noch länger zu verheimlichen, daß König Erich eines gewaltsamen Todes gestorben sei. Herzog Abel läugnete freilich die That und ließ den wiedergefundenen Todten unter großem Gepränge feierlich im Dome zu Schleswig beisetzen. Dort ruht er noch jetzt. Ein geschmackvolles Denkmal vor dem Altare deckt seine Gruft.

Wie sehr aber auch Herzog Abel sich vermaß, keine Schuld zu haben an dem Tode seines Bruders, es half ihm doch nichts. Denn hatten bis zum Aufsteigen des Leichnams aus dem Wasser die Möwen den Ort bewacht, der ihn barg, so begleiteten sie jetzt die Leiche bis zum Dome, und erst als der Erschlagene in geweihte Erde gebettet worden war, verließen sie ihn, nicht aber, um für immer zu verschwinden, sondern um ihr Rächeramt fortzusetzen und den Urheber des Mordes rastlos zu verfolgen und zu peinigen.

Herzog Abel sollte darthun, daß er nicht der Mörder Erich’s sei. Wenn er dies vermöge, wollte ihn Dänemark als König anerkennen.

[498] Nun saß der Mörder seines Bruders auf der einsamen Insel im Schleistrome und sann nach, wie er es anzufangen habe, dem Verlangen der Dänen zu entsprechen. Sein Geist war nicht arm an Hülfsmitteln, auch gab es der Gefälligen genug, die um Sündenlohn sich erkaufen ließen zu falschem Zeugniß und Schwur. Aber die Mahner, die Gott dem Mörder gesendet, verließen den Herzog nicht. Seit der Beisetzung Erich’s im Dome waren die Möwen hinübergezogen nach der Schleiinsel und bedeckten, wie früher bei Mösund die Wasserfläche, so jetzt die Giebel und Zinnen der Jurisburg. Am Tage umkreisten sie das Schloß, in dessen Gemächern Herzog Abel ruhelos umherirrte, in wildem Fluge. Neigte sich die Sonne zum Untergange, so stiegen sie empor in die Luft und schwebten gleich einer leuchtenden Wolke über der Burg, so laut und vernehmlich klagend, daß die Bürger in Schleswig und der fernwohnende Bauer am Danevirke ihr Geschrei vernahmen und sich bekreuzten, denn ihr Rufen klang immer wie „Erich! Erich!“

Breitete nun die Nacht ihre dunkeln Schleier über Land und Meer, dann ließ sich der Möwenschwarm nieder und besetzte alle Fenster der Jurisburg. Da breiteten sie ihre Fittige aus, schlugen damit gegen die Scheiben, pochten mit den Schnäbeln daran und riefen dem entsetzten Mörder ohn’ Unterlaß den Namen seines Bruders zu. Gleich beschwingten Geistern saßen die furchtbaren Vögel allüberall und beobachteten mit ihren klugen Augen jeden Schritt des Herzogs. Wollte Abel die Barg verlassen, so hüpften die geisterartigen Vögel vor ihm her oder schlugen ihn mit ihren Flügeln in die Augen, daß er nicht aufzusehen vermochte und er noch lieber ihr Geschrei im Innern der Burg hören als von ihnen umschwärmt sein wollte. Die Möwen wurden Abel's Erynnien.[WS 1]

Entsetzen ergriff den Brudermörder. Er verließ die Jurisburg, um fortan fern von dem Schauplatze zu bleiben, der ihn in den Besitz der Macht gebracht hatte. Anfangs fürchtete Abel, es könne das Schicksal des Bischofs Hanno von Mainz ihm bevorstehen, weshalb er angstvoll auf das Geschrei jedes vorüberschwebenden Vogels achtete. Aber die Möwen begleiteten ihn nicht auf seinem Zuge nach Norden. Sie blieben an dem Gemäuer sitzen, in dessen Innerm der Entschluß zur Blutthat gereift war. Dies beruhigte den Herzog. Er glaubte sich sicher für immer, sein Muth wuchs und ohne weiteres Bedenken genügte er dem Verlangen des Volkes, indem er sich durch einen feierlichen Meineid von der entsetzlichen Mordthat reinigte. Mit diesem neuen Verbrechen schwang sich Abel auf den Thron von Dänemark und nahm am ersten November 1250 auf dem Reichstage zu Roeskilde die Huldigung seines Volkes an.

Jetzt glaubte sich der neue König sicher und zu jeder That berechtigt. Schon Erich hatte fortwährende Kämpfe wegen seines Pfluggeldes zu bestehen. Um sich das Volk zu gewinnen, hätte Abel darauf denken sollen, die vielen Lasten, die es drückten, zu erleichtern. Allein das fiel ihm nicht ein. Seine erste wirkliche Regierungshandlung gab sich in der Ausschreibung einer allgemeinen Landsteuer kund, welche nicht nur von dem eigentlichen Dänemark, sondern auch von Süderjütland, dem heutigen Herzogthum Schleswig erhoben werden sollte. Die Dänen fügten sich, nicht so die Nordfriesen. Diese weigerten sich, die neue Steuer zu bezahlen, indem sie nachwiesen, daß der König kein Recht habe, ihnen außer der gewöhnlichen Steuer noch eine andere Schatzung aufzulegen.

Abel beschloß, die widerspenstigen Nordfriesen, die an der Westküste des Landes zwischen Hewer und Eider wohnten, zu züchtigen. Er sammelte zu diesem Behufe[WS 2] ein Heer und fiel im Herbst 1254 in Nordfriesland ein. Die Friesen aber hatten sich ebenfalls gerüstet und jeden streitbaren Mann aufgeboten, um dem Heere des Königs die Spitze bieten zu können. In der Landschaft Eiderstedt kam es zwischen beiden Heeren zur Schlacht, die mit der gänzlichen Niederlage der königlichen Truppen endigte. Abel mußte fliehen, nur um sein Leben zu retten. Diese schimpfliche Niederlage, die ihm ein von ihm verachtetes Volk von Bauern und Schiffern beigebracht hatte, ergrimmte den König dermaßen, daß er Tag und Nacht auf Mittel sann, sich zu rächen.

Abel ging jetzt mit nichts Geringerem um, als mit dem Gedanken, den ganzen nordfriesischen Stamm, dessen Unabhängigkeitssinn ihm unerträglich war, auszurotten und wo möglich von der Erde zu vertilgen. Er warb deshalb ganz in der Stille während des Winters ein Heer und überfiel mit diesem im nächsten Jahre Nordfriesland aufs Neue. Diesmal aber begnügte sich König Abel nicht, das reiche Land von einer Seite anzugreifen, er gedachte es zugleich von Ost und West zu beunruhigen, auf solche Weise die Bauern zu verwirren, ihre Streitkräfte zu zersplittern und dadurch sie leichter erdrücken zu können. Während ein Landheer über die Geest nach dem Eiderstedtischen zog, liefen Abel’s stark bemannte Kriegsschiffe von der Nordsee in die Mündung der Eider ein und nahmen auch von dieser Seite eine feste Stellung am Lande. In der Gegend von Oldesworth landete die Macht des Königs und verschanzte sich sogleich, während Abel selbst mit seinem Landheere sich an der Mildeburg aufstellte.

Die Friesen, welche einsahen, daß nur festes Zusammenhalten und einmüthiges Handeln sie retten könne, beschlossen, sich bis auf’s Aeußerste zu vertheidigen. Das Land der Westküste war damals noch nicht von den Fluthen der Nordsee in so viele Inseln zerrissen, wie heutigen Tages, und stark bevölkert. Es zerfiel in sieben einzelne Horden, die, weil sie aus Marschland und Inseln bestanden, sich die sieben Schiffshorden nannten. Diese vereinigten sich mit ihren sieben Bannern – denn jede Horde für sich führte ein eigenes Banner – auf der gemeinsamen Dingstelle,[WS 3] welche Burmanswai (Bauermannsweg) genannt wurde. Hier entwarfen die Friesen ihren Schlachtplan, der in einem nächtlichen Ueberfalle auf das Lager des Königs bestand.

Inzwischen hatten Abel’s Mannen, die bereits sechs Tage lang müßig lagen, das Land umher geplündert und eine Menge Gold und Silber zusammengeschleppt, das in ihren Zelten aufgehäuft lag. Als nun das Heer der vereinigten Friesen im Dunkel der Nacht sie [499] angriff – es war der 3. Juli 1252 – da entsetzte sich der König. Es war unmöglich, dem furchtbaren Andrange der wilden, erbitterten Friesen Stand zu halten. Abel und sein ganzes Heer dachten nur, wie sie sich retten möchten und zogen sich mehr fliehend als kämpfend nach der Eider, um hier ihre Schiffe zu besteigen und auf diesen das rettende Meer zu gewinnen. Allein während der Nacht war Ebbe eingetreten, die Schiffe lagen fest im zähen Schlick und konnten um keinen Preis flott gemacht werden. Gedrängt von den Friesen, die bereits mehrere Hunderte der seinigen erschlagen hatten, mußte er sich einen Weg mitten durch das feindiche Land zu bahnen suchen. Er wandte sich nordwärts, und als er eine Stelle erreicht hatte, wo ihm auf der einen Seite das Meer gegen eine Umgehung schützte, beschloß er, es noch einmal mit den wüthenden Friesen aufzunehmen. Es entspann sich ein grauenhaft blutiger Kampf, worin auf beiden Seiten sehr Viele erschlagen wurden. Endlich aber siegte die Tapferkeit und das innige Zusammenhalten der Friesen. Die Dänen mußten weichen und abermals fliehen. Zum Angedenken an dies Gemetzel nannte man den Ort Königskamp und noch heut weiß jeder Nordfriese den Platz jener denkwürdigen Schlacht zu finden. Aber die Leiden dieses Tages solltest mit diesem ersten Zusammentreffen noch nicht zu Ende sein. Bei Koldenbüttel kam es abermals zum Gefecht. König Abel verlor wiederum Viele der Seinigen und mußte endlich nördlich gegen die Geest flüchten. Allein auch dies rettete weder ihn noch sein Heer. Am sogenannten Milderdamme, der einzige Weg, der ihm offen stand, erreichten ihn die nachsetzenden Friesen zum dritten Male und drangen mit solcher Wuth auf ihn ein, daß nach den Berichten der Chronisten auch nicht Einer der Feinde entkam.

Bei den blutigen Kämpfen dieses Tages zeichneten sich vor Allen die Friesen der Nordwestküste aus, die man wahrscheinlich ihres seegewohnten Lebens wegen Seehunde nannte (im Friesischen Sellager). Von ihnen blieben Viele im Kampfe, weil sie mit unbändiger Wildheit sich in die dichtesten Heerhaufen der Feinde wagten.

Glücklicher als seine Begleiter war König Abel. Es gelang ihm auf seinem schnellfüßigen Streitrosse die Schaaren der in immer dichteren Haufen anstürmenden Friesen zu durchbrechen und nordwärts zu entkommen. Schon hatte er seinen Verfolgern einen bedeutenden Vorsprung abgewonnen, schon sah er über den Saatfeldern den Silberspiegel des Meeres aufblitzen und hörte dumpf rauschend die ferne Brandung; da ereilte ihn unvermuthet das Geschick. Wie sein Bruder Erich in jenen Augenblicken, wo Gudmansoe seinen Leuten befahl, den Gefesselten auf der Schlei zu tödten, vorausgesagt hatte, so endigte der Brudermörder Abel. Als nämlich der eiligst Fliehende über den Milderdamm der Küste zusprengte, hob sich aus einem Gebüsch am Wege die riesige Gestalt eines Friesen von Pelworm. Die Chronisten bezeichnen den Mann als Rademacher.[WS 4] Mit hochgeschwungener Axt fiel er den fliehenden König an, schlug ihm das Schwert aus der Hand und zerschmetterte ihm mit gewaltigem Schlage den Schädel. Dies geschah unfern der Stelle, wo sich heute die alterthümliche Stadt Husum am Ausflusse der Hewer[WS 5] in die Nordsee erhebt. Abel stürzte in den Schlamm und blieb längere Zeit unbeachtet und unbeerdigt unter freiem Himmel liegen; denn die Friesen, welche ihn und sein Heer erschlagen hatten, betrachteten ihn als einen von Gott gezeichneten Missethäter.

Erst nach einiger Zeit erbarmten sich die Schleswiger des Erschlagenen. Sie hoben den im Schlick bereits halb versunkenen Leichnam Abel’s auf, schafften ihn nach der Schleistadt und begruben ihn im St. Petersdome neben seinem Bruder Erich. Allein der Unselige hatte keine Ruhe in seiner Gruft. Nahe dem Orte, wo er den Beschluß gefaßt hatte, sich des verhaßten Bruders durch Meuchelmord zu entledigen, wo er durch einen feierlichen Meineid von der Blutschuld zu reinigen sich erfrechte, fanden sich die Zeugen des an König Erich verübten Frevels wieder ein. Zahllose Möwen zogen von den öden Hallen der Jurisburg herüber zum Dome und umflatterten ihn unter nie endendem Klaggeschrei. Diese schrillenden Rufe der Möwen schienen selbst die Wände der Gruft zu sprengen, denn die Domherren vernahmen, wie das Grab Abel’s sich öffnete und sein Geist, von dem Jammerruf der Seevögel gepeinigt ruhelos in den Gewölben des Domes umherirrte. Gebete und Seelenmessen, wodurch man den Spuk zu[WS 6] bannen hoffte, blieben erfolglos. Der Lärm ward in[WS 7] jeder Nacht ärger, so daß den Domherren ein Grausen ankam und die Ueberzeugung sich in ihnen festsetzte, der Unselige werde niemals Ruhe finden können in geweihter Erde. So beschloß man denn, Abel's Leichnam wieder aus seinem Grabe hervorzuholen. Ganz in der Stille, ohne alles Gepränge schaffte man den Sarg aus der Kirche fort, trug ihn westlich von der Stadt in das hinter dem Schlosse Gottorp sich fortziehende Gehölz, den Pölerwald, und versenkte ihn hier in einen Sumpf. Mitten durch den Sarg, also auch durch den Leichnam Abel’s, trieb man einen spitzen, langen Pfahl, um die Leiche an die Erde zu binden und, so glaubte man, den Todten dadurch an gespenstischem Umgehen zu hindern.

Seitdem ward die Ruhe des Domes nicht mehr gestört, den gehofften Frieden des Grabes jedoch sollte Abel auch im Pölerholze nicht finden. An gewissen Tagen oder Nächten im Jahre verließ der Unselige sein einsames, von allen Menschen gemiedenes Grab, schwang sich, in schwarze Stahlrüstung gehüllt, auf sein gespenstisches Roß und besuchte, durch die Luft in wildestem Galopp fortsausend, gefolgt und umgeben von feuerschnaufenden Hunden, seinen ehemaligen Sitz auf der Schleiinsel. Dreimal umkreiste er die Zinnen der verfallenden Jurisburg, auf deren geschnörkelten Thurmspitzen, Gesimsen und Vorsprüngen zahllose Möwen saßen und den nächtlichen Besuch mit Geschrei und Flügelschlag begrüßten. Kehrte Abel wieder zurück in sein Grab, dann verfolgte die düstere Gestalt eine Anzahl Möwen, während die zurückbleibenden das alte Gemäuer und die Insel mit ihren Fittigen gleichsam bedeckten.

Jahrhunderte sind seitdem vergangen, die Jurisburg [500] ist bis auf ein paar unscheinbare Mauerreste, die man nur mühsam entdecken kann, zerfallen, aber die rächenden Möwen hat bis auf den heutigen Tag von der unfruchtbaren kleinen Insel im Schleistrome noch keine menschliche Macht zu verscheuchen vermocht. Zu Tausenden nisten die graziösen Seevögel auf dem stillen Eilande, in dessen hohem Binsengestrüpp der Wind pfeift. Bei hellem Sonnenlicht glänzt ihr Gefieder wie polirtes Silber und einer merkwürdig leuchtenden Wolke gleich kreisen sie über dem fahlgrünen Erdflecke. Des Nachts flattern sie unruhig umher, schaukeln sich auf den Wogen der Schlei oder verbergen sich im schirmenden Binsengras.

Die gegenwärtige Generation weiß wenig mehr von den Geschicken, die sich an den unscheinbaren Inselbrocken in der Schlei heften; sie hat großentheils den Namen der Burg vergessen, die sich dereinst mit ihren stolzen Thürmen und Hallen auf derselben erhob; aber von dem Grabe König Abel’s im Pölerholze, von der Ermordung Erich’s auf der Schlei bei Missunde und von den nächtlichen Wanderungen des Brudermörders nach der Insel und hinab bis an den Ort, wo er den Bruder tödten ließ, spricht noch jetzt alle Welt im Lande Schleswig. Das Volk glaubt an Abel’s nächtliche Umgänge. Viele wollen die schwarze Gestalt des unseligen Königs in der Nacht vom neunten zum zehnten August[WS 8] um die Insel haben schweifen und dann wieder zurückkehren gesehen haben nach der verrufenen Waldung. Bisweilen steigt auch nach dem Volksglauben, gleich einer wunderbar glänzenden Fata Morgana in tiefer Nacht die Jurisburg selbst über die Insel empor, von zahllosen Lichtern erhellt. Dann glätten sich die Wasser der Schlei und wer dieses nächtlichen Wundergebildes ansichtig wird und gerade auf dasselbe zuschreitet, den tragen die Wogen des Meerstromes ungefährdet hinüber auf die Insel; er kann die ehemalige Burg Abel’s betreten und sich einen Theil der daselbst angehäuften Schätze zueignen.

Gegenwärtig ist der Ort, wo sich die glänzende Residenz Herzog Abel’s erhob, ein wüster Erdfleck, der nur einmal im Jahre von Menschen betreten wird. Beherrscher dieses unfruchtbaren Eilandes sind die Möwen, weshalb dasselbe schon seit unvordenklicher Zeit den Namen „Möwenberg“ führt. Im Monat Juli, wenn die junge Brut flügge zu werden beginnt, wird an einem dazu bestimmten Tage Jagd auf die harmlosen Vögel gemacht, und dieser Tag ist für alle Bewohner Schleswigs ein Festtag. Die Insel in der Schlei wird auf ein gegebenes Zeichen, das aus drei Schüssen besteht, förmlich erstürmt, worauf die Möwenjagd, „das Möwenschießen oder der Möwenpreis“ genannt, beginnt. Diese Schlacht endigt mit Vernichtnug der jungen Brut die älteren Möwen, sofern sie den Geschossen ihrer erbarmungslosen Verfolger entgehen, verlassen auf kurze Zeit die Schleiinsel fliehen klagend meerwärts, gehen aber nur selten weiter östlich, als bis Missunde. Hier streichen sie fort und fort über dem Wasserspiegel auf und ab, als müßten sie noch immer den Leichnam des rechtlos Erschlagenen auf dem Grunde der Fluth bewachen. Erst nach Wochen steigt der Möwenschwarm wieder aufwärts, es zeigen sich einzelne über der Stadt Schleswig, andere flatternauf- und niedersteigend um den zertretenen Grabhügel ihrer Kinder, und noch ehe der Herbst eintritt, ist der Möwenberg, dieser Ort, wo sonst die Jurisburg thronte, von den weherufenden Vögeln, welche die Ermordung Erich’s mit ansahen, wieder bevölkert.




Türkische Spiegelbilder.

Spaziergänge. – Der Balkan mit seinen Engpässen. – Der Türke im Kampfe mit dem christlichen Frack. – Türkisches Junggesellenthum und Familienleben. – Der Türke mit Sprungriemen. – Handel mit Mädchen. – Wie diese erzogen werden. – Der Sonntag der Frauen in Constantinopel.

Wir laden unsere Leser ein, uns auf einigen Spaziergängen in das Innere der türkischen Sitten und Gebräuche zu begleiten, also in die Kreise, von denen die „orientalische Frage“ wesentlich abhängt. Wir wollen nicht politisiren, aber dafür haben wir auch das Recht, uns die Völker etwas genauer anzusehen, als es Diplomaten und Politiker thun. Die sehen immer den Wald vor Bäumen nicht und horchen und schreiben und electrotelegraphiren über Menschen und Thatsachen, die alle Augenblicke Schicksale ganzer Völker entscheiden zu können scheinen, und welche doch weiter nichts sind, als einzelne, unbedeutende Blüthen und Früchte der sittlichen und socialen Zustände eines Volks.

Ehe wir aber diese Spaziergänge antreten, kehren wir mit unsern der Zeitgeschichte entnommenen Illustrationen nochmals auf das Gebiet an der Donau zurück, wo der Waffen blutiges Spiel bereits begonnen hat. Der Balkan, ein über 50 Meilen langes Gebirge, in dessen Thälern vielleicht nächstens schon blutige Schlachten geschlagen werden, läuft parallel mit der Donau, ungefähr 10–15 Meilen von dieser entfernt. Obwohl es sich nicht gerade zu beträchtlicher Höhe erhebt, so ist es doch rauh, steinig, mit dichten großen Wäldern bedeckt, und schwer zugänglich. Das Gebirge zerfällt in den großen Balkan (zwischen Sofia und Kasanlik) und den kleinen Balkan, der von letzterm Orte bis zum schwarzen Meere läuft. Ueber das ganze Gebirge führen nur fünf gangbare Passagen, von denen die von Tirnowa die schwierigste ist, und die von Aidos die besuchteste. Die Porta Trajana, zwischen Sofia und Philippopel ist eine schon zur Zeit der Römer bekannte Passage. Die Passage von Schumla aus über den Balkan nach Karnabat war diejenige, [501] auf welcher Diebitsch im russisch-türkischen Kriege von 1829 das Gebirge überstieg. Zu den natürlichen Hindernissen, die der Balkan überhaupt dem Uebergange einer feindlichen Armee entgegenstellt, sind jetzt zahlreiche Befestigungswerke gekommen, welche zumeist der dermalige Oberbefehlshaber der türkischen Truppen, Omer Pascha, anlegen ließ. Wenn es dort zum Schlagen kommt, wird jede Spanne Erde, jeder Berg und Fels Ströme von Blut kosten.

Der Engpaß Porta Trajana im Balkan-Gebirge.

Verlassen wir indeß jetzt den Kriegsschauplatz und treten unsere stillen Spaziergänge in das Innere des türkischen Reiches an.

Viele denken sich unter einem Türken immer noch ein beturbantes, weithosiges, ehrwürdiges Wesen mit 30 Ellen Shawl um den Leib und umgaukelt von Schaaren unterwürfiger Schönheiten, die kein höheres Glück kennen, als mit einem Wurfe des herrschaftlichen „Taschentuches“ auserwählt zu werden. Und doch ist das verspottete und in der Türkei besonders verächtliche Junggesellenthum im Oriente viel häufiger, als in den Gegenden, wo der Abendwind Liebe säuselt und erröthend Fragen lispelt, wie viel Riekchen „mitkriege“. Die Türkinnen kriegen nichts mit, als Ansprüche, und eine einzige kleine Frau zu „ernähren“ kostet dort mehr, als bei uns eine Frau mit einer ganzen Orgelpfeifenreihe von Kindern. Der Harem ist dort ein Luxus der Reichen, wie bei unsern Großen Pferde und Hunde und Mohren. Der anständige Mittelmann hat eine Frau, wie jeder abendländische Philister, die ärmere Mittelklasse und die „junge Türkei“ gar keine, d. h. er kauft sie sich gelegentlich – ohne Ansehen des Geschlechts.

[502] Viele Türken zeigen sich allerdings auch als gute Väter und Gatten, sogar nicht selten in dem Grade als Pantoffelhelden, daß sie sich nicht nur am Beiramsfeste, wenn sie die bei diesen Feierlichkeiten unentbehrliche Hammelkeule nicht schaffen, sondern auch an vielen Wochentagen geduldig prügeln lassen. Aber die Frau ist deshalb um nichts gebessert. Wird der Pantoffelheld eifersüchtig (eine besonders mächtige türkische Männerkrankheit), steckt er sie doch in den Sack und wirft sie in’s Wasser, ohne daß sie Jemand heraus- oder ein Gericht ihn zur Rechenschaft zieht.

In seinem alten Costüm war der Türke eine gar stattliche Erscheinung, eine malerische Augenweide und stand in poetischer Verbindung mit „Tausend und Eine Nacht“ und glänzenden Theaterstücken. Die Cultur, die alle Welt beleckt, hat ihm die wallenden Gewänder in einen magern Leibrock zusammengeschnitten und den künstlich gewundenen Turban in einen Hut ohne Krämpe verwandelt, den rothen Fez. Kleider machen Leute. Das Pariser Mode-Journal hat den Eroberern vorgearbeitet und die Türkei bereits unterworfen, so daß eigentlich den Schneidern der beste Theil dieses Morgenlandes gehörte. Das alttürkische Costüm verhüllte den Körper und dessen Mängel und gab selbst der Ignoranz und Barbarei den glänzenden Schein des Nationalen. Der Leibrock und die enganschließenden Beinkleider haben den Türken enthüllt und zeigen uns das säbelbeinige, zweifüssige Geschöpf. Die europäische Tracht hat in sich selbst etwas Komisches – Jahrtausende werden vergehen, ehe etwas Lächerlicheres erfunden wird, als der Leibrock mit weißem Halstuche – und den Türken hat sie von der erhabensten Höhe melodramatischer Erscheinung zu den Harlekins der niedrigsten Komik herabgestürzt. Erstens wissen sie noch gar nicht, wie man einen Frack trägt – man muß Jahre lang in die Tanzstunde und in feine Cirkel gehen, man muß das Leibrocktragen studiren, wie die Kunst, Gegenstände auf der Nase zu balanciren oder auf dem Seile zu tanzen, um ihn mit Anstand und Sicherheit zu tragen oder mit demselben geboren werden. – Manchmal ziehen sie blos einen Aermel an und lassen den andern mit den Flügeln hinten gemeinschaftlich Uebungen im Fliegen machen. Manchmal knüpfen sie ihn aber unter dem Adamsapfel zu, ohne nur einen Aermel anzuziehen, so daß sich die dürftigen Tuchstückchen jämmerlich abstrapaziren, als Mantel zu erscheinen. Und wie jener brave Bauer seinem Sohne auf der Universität seinen alten Rock mit den Worten schickte. „Hier, Wilhelm, schicke ich Dir meinen alten Rock, laß Dir einen neuen d’raus machen, Wilhelm!“ so lassen sich die ökonomischen Türken, um mit dem Zeitgeiste fortzuschreiten, aus ihrem noch nicht abgetragenen Weltbühnen-National-Costüm gelbe Leibröcke, grüne Hosen, blaue Westen und semmelblonde Vorhemdchen machen. Dabei kommt der ihnen eigenthümliche krumme Rücken und ihre nationale Säbelbeinigkeit mit Schrecken an’s Tageslicht. Sie sitzen zu Hause immer noch wie der Schneider in der „Hölle“ und haben einen schleppenden, latschigen Gang.

Ein Türke im Leibrock mit Vatermördern und Backenbart ist ein Mittel gegen Hypochondrie und Hartleibigkeit. Wer diesen Anblick recht genießen will, muß sich in eine der engen, schmutzigen Straßen Constantinopels hineinwühlen. Dort sieht er die regenerirten Türken herumschleichen als zweibeinige Schiebekarren, sohlenlose Latschen, festgehalten von Sprungriemen, einen gelben oder grünen Leibrock von Seide oder Kattun um die Schultern geworfen, berabhängenden Kopfes und mit allen Zeichen tiefster Beschämung. Sie fühlen sich im neuen Universal-Costüm wie der Vogel ohne Schwingen und der Fuchs ohne Schwanz. Mancher Türke eilt Abends nach Hause, blos um so bald als möglich den ungläubigen Leibrock abzuwerfen und die Gewandung ihrer Väter sechs bis zehn Mal mit dem weichen, seidenen Shawl zu umwinden. Nur dann fühlen sie sich wieder Mann, wie Simson mit dem Kopfhaar.

Nicht vergessen darf man dabei, daß der Leibrock, der einmal etwas Irreligiöses, Atheistisches in sich hat, die türkische Religion, die sehr viel Schönes und Edeles in sich birgt und in Gastfreundschaft, Großmuth und Worthaltigkeit herrlich offenbart, fast unmöglich macht. Der religiöse Türke muß täglich sich mehrmals niederwerfen – mit den Sprungriemen geht das nicht; muß sich täglich mehrmals waschen und baden – wegen des reformirten Aus- und Ankleidens unterläßt er diese auch des Klimas und Temperaments wegen sehr heilsame, religiöse Pflicht. Der Leibrock ist die Wurzel alles Uebels. Ein Türke in Pumphosen hält Wort, ein Mensch im Leibrock ist so scharfsinnig, daß er zehn Gründe findet, um sein Wort zu brechen, und traut deshalb auch seinem beleibrockten Bruder oft kaum, wenn er’s „schriftlich“ hat, mit Amtssiegel und einem Eide. Dieser Eid ist Mein Eid, denkt er, und nicht der deinige.

Der männliche Leibrock und die weibliche Leibeigenschaft tödtete die Türken an Leib und Seele. Das Weib ist nichts als der Mann in schönerer, weicherer, daher viel empfindlicherer Form. Daher ist das weibliche Geschlecht auch viel wichtiger in der Weltgeschichte, als sich Professoren der Geschichte träumen lassen, und ein viel deutlicherer Ausdruck der sittlichen, socialen und politischen Zustände eines Volks, als der Mann. Die georgischen Schönheiten, welche die Hauptschätze der Türken ausmachen und in Poesie und Malerei als Göttinnen von Rosengärten und Serails eine große Rolle spielen, sehen, nach der Natur gemalt, so aus:

Diese unglücklichen Geschöpfe, welche als regelmäßige Handelsartikel in Trebisond in Dampfschiffe gepackt und nach Constantinopel gebracht werden, kommen durchweg in einem Zustande an, der alle poetischen Gebilde gründlich vertreibt. Wer sich die Capitaine und Matrosen auf den Schiffen mit solcher Ladung denkt, ohne sie gesehen zu haben, wird diese vielleicht beneiden; die Sache ist aber, daß sich die schmutzigsten Matrosen sorgfältiger vor ihnen hüten, als vor einer Ladung Blutegel für den Markt von Marseille. Sie sind voller springender und kriechender Blutegel (wo ist jetzt die Rosengartenpoesie von Schiras?) ächter, russischer, nationaler Heerschaaren, außerdem krätzig. Sie wurden in Georgien von armen oder [503] habsüchtigen Eltern mit derselben Miene verkauft, wie man in Deutschland arme Kinder als Knechte und Mägde vermiethet. An Kleidung haben sie kaum so viel, um die Legionen ihrer kleinen „Leibeigenen“ darin zu beherhergen. Ihr russisches National-Costüm ist eine Lumpe, die in bessern Tagen sich den Titel „Hemd“ anmaßte, und eine andere Lumpe, welche als Umschlagetuch, Rock, Unterrock, Bettdecke, Morgenrock, Ballkleid, Mantel und Handtuch zugleich dient, obgleich es zu dem geringsten dieser Aemter allein unfähig erscheint. Der Eigenthümer füttert sie unterwegs mit jener Stupidität, die allen Händlern mit lebendem Fleisch eigen ist, mit Wasser und Hirsenbrei. Sie sitzen auf dem Schiffe, eingepfercht wie Schafe, stumpf und stier in einander hockend, flüsternd zuweilen, manchmal unheimlich leise singend in jenen Moll-Liedern, die wie die klagende Psyche durch die russischen Steppen so oft gehört wird. Und warum sollte in diesen Gestalten, unter deren Schmuze in der Regel sich große Schönheit verbirgt, nicht eine Psyche mit farbigen Flügeln schlummern und im Traume der Verwahrlosung zuweilen leise Klagen singen?

„In Constantinopel angelangt, werden sie nur selten, in äußerster Geldverlegenheit, als Rohmaterial auf den Markt getrieben, sie kommen erst in eine große Culturwäsche, in eine „höhere Töchterschule“, um ihnen die Künste, sich bei dem künftigen Eigenthümer beliebt zu machen und seinem Geschmacke zu fröhnen, beizubringen. Große Massen von alten Weibern machen ein Gewerbe daraus, solche „höhere Töchterschulen“ zu leiten. Hier werden sie gescheuert, gekämmt, behackt, gehobelt, polirt und dann in theatralischer Gewandung auf den Markt gebracht. Hier stehen sie viel höher im Course, als eingeborne Techter, und manche wird mit 10–12,000 Thalern losgeschlagen. Das werden hernach die Mütter von Ministern und selbst von Sultans.“

Sehen wir sie uns in einem spätern Stadium, als Frauen, an, wozu freilich keine Familiencirkel für Fremde vorhanden sind. Wir müssen sie Freitags, ihrem Sonntage, belauschen, wo sie in der Regel Ausflüge nach den Ufern des Bosporus machen. Die reicheren Damen fahren dann in ihren „Equipagen“ d. h. Holzkarren ohne Federn, von Ochsen gezogen, 6–10 in einem einzigen Karren gepackt, der von irgend einem unterworfenen Ehemanne geleitet wird, bis die reizenden Ufer erreicht sind und er fortgeschickt wird. Hier singen und musiciren sie und trinken Rum dazu, Rum oder auch gemeinen Fusel. Dann hört man sie lachen und sich auf dem Grase herumkollern und alle mögliche Tollheiten ausüben, wie sie aus dem Gottes-Haupte des Alkohol zu springen pflegen. Ihre Montenegrinischen Dienstmädchen sind dann oft bald genöthigt, die Eine oder die Andere, wie einen schwerfälligen Sack auf den Karren zu laden und nach Hause zu fahren. Die, welche bei Sinnen bleiben, machen zunächst wilde Spaziergänge unter einer schönen Ulmen-Allee, die blos von weiblichen Wesen besucht werden darf, oder setzen sich zu Tausenden an einem grünen Abhange entlang, um den (verbotenen) Pantomimen einer jüdischen Bande zuzusehen. Männer und Fremde können von einem höhern Hügel her durch ein gutes Glas Alles sehen und die Beifallsstürme hören, mit welcher die jüdische Darstellungskunst begleitet wird. Die Emancipation der Türkinnen geht noch weiter und ist öfter polizeilich verboten worden, aber ohne den geringsten Erfolg. Nach dem „Theater im Freien“ machen sie zuweilen noch Ausflüge in die „christlichen“ Stadtteile von Galata und Pera, wo schon öfter Frauen verschwunden und nicht wieder zum Vorschein gekommen sind. Zuweilen hat ein eifersüchtiger Ehemann diese und jene in dem Zimmer hinter einem christlichen Laden gefunden und sie hängen oder ersäufen lassen, aber das hindert dergleichen Ausflüge in die christlichen Stadttheile nicht.

Diese Skizzen sind dem Buche eines Engländers: „Die Türken in Europa von Bayle St. John,“ Verfasser des „Dorflebens in Egypten“ entnommen, der als Reiseschriftsteller und Sittenschilderer verschiedener Völker sehr berühmt ist. Wir könnten natürlich noch manches Spiegelbild und manchen Charakterzug daraus übersetzen, aber die mitgetheilten Skizzen reichen schon hin, um uns zu überzeugen, daß die Türken, im Innern, in ihrer Nationalität, Sitte und Religion bereits aufgelös’t, auch äußerlich vollends auseinanderfallen müssen. Ob dieses Auseinanderfallen durch die Russen befördert werden kann und darf, ist eine Frage, die wir hier nicht zu erörtern haben. Europa wird sie verneinen.




„Rübezahl.“

Keine Dichtung aus dem Leben eines deutschen Dichters.
Von Ludwig Storch.
(Schluß.)


Die Frau Professorin warf einen halb bittenden, halb auffordernden Blick auf ihren Gatten, um die beanspruchten mörderischen Entschlüsse in ihm zur Reife zu bringen, und ihre Augensprache enthielt etwas von dem mangelnden neuen Hut und dem entbehrten Envelöppchen. Aber der wackere Musäus, obgleich von beiden Seiten bestürmt, schüttelte lächelnd den frisirten und gepuderten Kopf, daß ihm der Haarbeutel wackelte und sagte: Nein, mein Herr! Zu einem solchen Fabrikat kann ich mich nimmer verstehen. Das ginge mir [504] wider die Natur, und mir würde zu Muth sein wie einer Katze, der man das Fell aufwärts streicht. In dem ganzen literarischen Bettel dieser Nachahmungen ist ja nicht für einen Pfennig Wahrheit. Mögen die Herren Romanschreiber ihr in Thränen geweichtes und am Sehnsuchtsfeuer wieder getrocknetes Makulatur noch so theuer verkaufen, mich gelüstet's nicht nach ihrem larmoyanten Verdienst. Ich werde wohl noch Mittel und Wege ausfindig zu machen wissen, wie ich Herrn Ettinger auf eine für mich ehrenvollere Weise entschädigen kann. Sagen Sie ihm, daß ich seinen Schaden durchaus nicht zugebe; eh’ ich ihm aber eine Wertheriade oder Siegwartiade schreibe, will ich mir die Entschädigung lieber von meiner knappen Besoldung absparen. Meinst Du nicht auch, liebe Frau, und sollten all’ Deine Hoffnungen auf Hüte und Enveloppen verduften? Geld verloren: nichts verloren; Ehre verloren: Alles verloren! Und der wirft seine Ehre von sich, der etwas gegen seine bessere Ueberzeugung thut. Sprechen wir von andern Dingen!“ Das sonst so heitere lachende Gesicht des Dichters war sehr ernst geworden und sah recht würdig und stolz aus.

Die Augen des Buchhändlers leuchteten von heller lichter Freude. „Ja wohl!“ rief er mit der heitersten Laune, welche mit dem besprochenen Gegenstande und Musäus’ Redetone im schneidendsten Contrast stand. „Von andern Dingen also! Kommen Sie doch Beide mit mir in dieses Zimmer da, welches die Frau Professorin vorhin auf kurze Zeit mir abzutreten die Güte gehabt hat; denn ich kann in der That die Unterhaltung, über die andern Dinge, die ich mit Ihnen besprechen möchte, nur im Putzzimmer der Frau Professorin führen.“

Das Ehepaar sah sich über diese räthselhafte Rede verwundert an; ihre Verwunderung stieg aber zum höchsten Erstaunen, als sie mit dem ungenannten Gaste in das Nebenzimmer traten. Da stand nämlich der große Gesellschaftstisch in der Mitte der Stube und war über und über mit großen französischen Laubthalern bedeckt, so daß auch kein Räumchen mehr übrig war, auf das man einen weimarischen Sechser hätte legen können, und diese Münze war doch bekanntlich sehr klein. Daneben aber auf dem Federkanapee lag ein prächtiger Stoff zu einem modernen Sommerdamenkleide und ein anderer zu einer Enveloppe und endlich ein neuer Damenhut nach der neuesten Mode. Kurzum, es sah aus, als ob Rübezahl bescheert hätte.

„Mein lieber Herr Professor und hochgeschätzte Frau Professorin,“ nahm der Fremde das Wort, „ich gebe mir die Ehre, mich Ihnen als den Buchhändler Ettinger von Gotha selbst vorzustellen und Sie zum Erfolg Ihrer Volksmärchen zu beglückwünschen. Lassen Sie sich umarmen, trefflichster Mann, der mich eher von seiner knappen Besoldung für meinen vermeintlichen Verlust entschädigen, als dem miserabeln Modegeschmack huldigen und ein Buch gegen seine Ueberzeugung schreiben wollte! Das ist wahre Ehrenhaftigkeit, und dies hat ein gütiges Geschick an Ihnen auf eine glänzende Weise belohnt, wie es nicht immer zu thun pflegt. Ja, wackerer Ehrenmann, die gesunde Kost, die Sie dem deutschen Volke vorgesetzt, sagt ihm auf das Werther- und Siegwartsfieber und die in Thränensauce aufgetischten Zuckerbäckereien, an welchen es sich zeither den Magen verdorben hat, ganz vortrefflich zu. Ich hatte selbst kein Vertrauen zu Ihren Volksmärchen und ließ nur eine kleine Auflage drucken. Kaum war aber diese versandt, als von allen Seiten neue Bestellungen einliefen, erst kleine, bald größere, immer größere, immer bedeutendere. Ich ließ eine zweite Auflage machen, aber vor Weihnacht war auch diese schon vergriffen und ich mußte schnell eine sehr große dritte drucken lassen. Ich kann die Bestellungen kaum befriedigen; der Absatz ist fabelhaft. Sie haben zur rechten Zeit den rechten Ton angeschlagen; die Welt ist die Selbstmördergeschichten und die thränenfeuchten Mondscheinsphantasien müde und labt sich an Ihren einfachen und natürlichen Märchen. Der Umschwung ist großartig und der Gewinn an Ihrem Buche ein bedeutender. Als ein redlicher Mann theile ich denselben mit Ihnen, wie es recht und billig ist und wie es mir mein Gewissen vorschreibt. Hier liegt die Hälfte des Gewinnes. Zählen Sie den Schatz und streichen Sie ihn ein.“

„Herr Ettinger!“ rief der Autor, dem zu Muthe war, als sei er gerades Wegs aus den Wolken auf die Erde herabgefallen, „Herr Ettinger, wie ist das möglich! So außerordentlich ist der Absatz meines bescheidenen Büchleins gewesen! Wer hätte so etwas denken sollen? Ich kann es noch gar nicht fassen!“

„Fassen Sie nur zu und zwar den klingenden Beweis!“

„Das ist ja ein ganzes Blumenbeet voll köstlicher Lilien!“

„Die nicht über Nacht verblühen und verwelken.“

„Aber wie kann ich denn diesen Lilienthaler annehmen? Sie haben mir ja das geforderte Honorar für die Märchen richtig bezahlt. Sie sind mir ja nichts schuldig.“

„Andere Verleger mögen wohl so denken, nicht ich, Herr Professor. Wie? ich wäre Ihnen vor Gott und meinem Gewissen nichts schuldig von dem Gewinne, den ich ganz allein Ihrem Geiste zu verdanken habe? Ich würde mich der größten Sünde fürchten, wenn ich dieses Geld behielte; es würde mir die Ruhe meines Lebens rauben. Nehmen Sie es in Gottes Namen, denn Sie dürfen es nehmen; es ist Ihr redlich erworbenes Eigenthum. Sie wollten mich ja für meinen vermeintlichen Verlust entschädigen, redlicher Mann; also gehört Ihnen auch die Hälfte des gemachten Gewinnes. Glauben Sie, ich werde mich von Ihnen beschämen und an Redlichkeit und Treue übertreffen lassen? Nein; glücklicher Weise lag das Geld schon hier aufgezählt, als sich Ihr redliches Herz mir in seiner ganzen Schönheit offenbarte!“

„Geben Sie mir Ihre Hand, Herr Ettinger. Sie sind ein ächter deutscher Ehrenmann!“

„Ich bin stolz auf diese Anerkennung eines ächten deutschen Ehrenmannes.“

Und Dichter und Verleger der Volksmärchen umarmten und küßten sich; die Frau Professorin, welche zeither ein Mal über das andere Mal die Hände vor Verwunderung zusammengeschlagen und Freudenthränen [505] vergossen hätte, überflog mit den Augen nicht nur die Blumen, die auf dem Tische blüheten, auch die auf dem Kanapee musterte sie mit freudestrahlenden Kennerblicken, bis sich der redliche Buchhändler jetzt an sie mit den Worten wandte: „Werthgeschätzte Frau Professorin, Sie können unmöglich verlangen, daß ich Ihr Putzzimmer umsonst annehme. Sie müssen mir schon erlauben, ein Weniges zu Ihrem Putze beizutragen.“

„Rübezahl! Rübezahl!“ rief Musäus schelmisch lachend und schabte seiner Frau schadenfroh ein Rübchen. „Hab’ ich dies nicht diesen Morgen gesagt: er kann auch zu uns kommen. Siehe hier steht er leibhaftig!“

„Ach, was für ein Schelm sind Sie!“ rief die Frau entzückt. „Wie haben Sie mich angeführt! Ja, wahrlich, wie der neckische Geist Rübezahl in den Volksmärchen sind Sie in unser Haus gekommen und haben uns mit Schätzen überschüttet. Mein Mann hat eine Ahnung gehabt.“

„Die Dichter sind Seher!“ lachte Musäus, und erzählte die Geschichte dieses Morgens.

„Ich muß freilich um Verzeihung bitten, daß ich aus meiner Rolle als Verleger gefallen und in die des Dichters gepfuscht habe,“ sagte Ettinger und küßte der Frau Professorin artig die Hand.

„Wahrlich dieser Dichter und dieser Verleger gehören zusammen!“ rief Musäus und weinte die süßesten Freudenthränen wie ein vom Glück berauschtes Kind.

„Frau, schaffe Wein herbei! Ich muß mit diesem Schweizer eine Lanze brechen.“

„Nur die Becher, wenn ich bitten darf; drei Stück.“ sagte Ettinger; „der Wein ist schon da.“ Und er zog zwei Flaschen Rheingauer aus dem Carton hervor. „Rübezahl! Rübezahl! Wohlthätiger Geist! Du hast an Alles gedacht, um ein armes Dichterherz und das seines Alterego zu erfreuen. Sei gesegnet, treue Seele, für diese schöne Stunde!“ und der Wein perlte in den Gläsern und floß als Oel in die aufschlagende Flamme der glücklichen Geister. Die drei fröhlichen Menschen umarmten sich, tranken und küßten sich, und Musäus brach plötzlich in den alten lieben Gesang aus:

„Gaudeamus igitur,
Juvenes dum sumus.“

Als Ettinger nach ein paar fröhlich durchlebten Stunden, die er in dieses Haus gebracht, wieder aus demselben schied, hatte er das Manuscript des zweiten Bandes der Volksmärchen unter dem Arme.

Das war die schönste Himmelfahrt, welche jemals die Frau eines deutschen Dichters erlebt hat. Nie beschattete ein neuer Hut seliger strahlende Augen, und nie umhüllte ein modernes Envelöppchen ein glücklicheres Frauenherz, als Professor Musäus sein Weibchen innig küßte und mit ihr nach Tieffurth fuhr.

O, hätte der ehrliche Ettinger viele würdige Nachfolger gehabt, die edelsten Herzen hätten es dem Vaterlande durch die schönsten Thaten gedankt, durch große und bedeutende Schöpfungen!




Aus der Menschenheimath.

Briefe
Des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Sechszehnter Brief.
Ungeahnte Schönheit bei verachteten Thieren.


Es ist schon manchmal gegen Diejenigen, welche ihr ganzes Bestreben, ihre ganze Kraft der Naturforschung widmen und in ihr hundertfältigen Ersatz für andere Entbehrungen finden, die Frage aufgeworfen worden: „wenn ihr Naturforscher nun einmal fertig sein werdet mit Forschen; wenn nichts mehr unbekannt, nichts Unerforschtes mehr übrig sein wird – was dann?“

Eben so gut könnte man fragen: wenn das Weltmeer vertrocknet sein wird, was sollen dann die Schiffer machen?

Das Eine ist so undenkbar wie das Andere.

Eine andere Redensart, welche wenigstens die Urheberschaft eines berühmten Mannes für sich hat, hält den Naturforschern mit einem halben Hohn und einer halben Selbsttröstung und Rechtfertigung, daß man selbst nichts nach natürlichen Dingen frage, ein: „in’s Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist.“

Diese Redensart steht kaum höher, als jene Frage. Sie ist nicht mehr werth, als jenes Eifern der Menge über das machtlose Ankämpfen des Einzelnen gegen Dummheit und Schlechtigkeit! „Du änderst’s doch nicht.“

Wo fängt denn erstens das Innere der Natur an, und wo hört das Aeußere auf, damit die Naturforscher hübsch wissen, wo sie aufhören müssen zu forschen, um entweder den Zorn jener weisen Redensart nicht auf sich zu laden, oder wenigstens Zeit und Kräfte nicht an Undurchdringliches zu vergeuden? Und dann zweitens: wer hat denn bisher nur über einen Schein von einem Beweise zu verfügen, daß in das sogenannte Innere der Natur nicht einzudringen sei? Dieser Beweis würde erst dann geführt sein, wenn man in allen Zweigen der Naturforschung nach ihrer Art gleicherweise und überall bereits an einer Schranke angekommen wäre, über welche mit allen Mitteln der Wissenschaft durchaus kein Haar breit hinweg zu kommen wäre. Man ist nicht nur weit entfernt davon, an dieser Schranke zu stehen; im Gegentheile weichen Schranken, die lange für solche gegolten haben, vor [506] den scharfsinnig ausgedachten und scharfsichtig ausgeführten Untersuchungen der Naturforschung unserer Tage oft plötzlich zurück und gestatten dem vorwärtsdringenden Geiste mit einem Male das Eindringen in ein neues weites Feld, was dieser ohne Aufenthalt durcheilt, bis er wieder an einer Schranke steht, die sich vielleicht morgen schon ebenfalls als eine besiegbare zeigen wird.

Nein, nein! es ist das schöne Recht und die ernste Pflicht der Naturforschung, zu forschen Tag und Nacht. Nur dadurch hören wir auf, Fremdlinge auf der Erde und bewußtlose Spielbälle der Naturgesetze zu sein.

Was ich da für einen gewaltigen Anlauf genommen habe, um zur Erläuterung meines heutigen Bildchens zu kommen! Doch wenn ich auch kürzer dazu kommen konnte, so ist dies doch auch der richtige Weg. Denn ob ich mit dem Mikroskop das hier Abgebildete zum ersten Male sehe, oder den elektrischen Strom in den Nerven, den uns Dubois-Reymond zuerst gezeigt hat – Beides ist ein neuer Schritt auf der Bahn zu dem noch Unerforschten, wenn auch beide von sehr verschiedenem Werthe.

Ich komme heute schon wieder mit dem Mikroskop, welches jetzt alle Tage den Gesichtskreis des Naturforschers bereichert und erweitert; und in der That, seitdem man, was für die Lehre vom Leben von unglaublicher Wichtigkeit ist, die feinsten Gewebe des pflanzlichen und thierischen Körpers, einschließlich unseres eigenen, immer schärfer beobachtet, findet man eine Menge ungeahnter Schönheit; so daß neben dem Nutzen für das Wissen auch etwas für das Auge abfällt.

Du kannst unmöglich errathen, was heute meine Figuren darstellen.

Figur 1 ist in 200maliger Vergrößerung das Stückchen, was an Fig. 1b fehlt; und diese Fig. 1b ist eine 5malige Vergrößerung von Fig. 1a, welche die natürliche Größe zeigt. Dasselbe ist’s mit den Figuren von 2. Hier schneiden bei b die beiden Linien das Fig. 2 auch 200 Mal vergrößerte Stück heraus.

Was Du siehst, ist eine sehr feine, aber eine sehr derbe und haltbare Haut, auf welcher in regelmäßigster Anordnung, zunächst bei 1, kleine Zahnschüppchen oder Schuppenzähnchen, – wie Du willst – sitzen, welche aus Kieselerde oder einem ähnlichen feuerfesten Stoffe bestehen. Auf dem ganzen Blättchen, was eben Fig. 1a in natürlicher Größe darstellt, habe ich durch Multiplikation der Zähnchen einer Querreihe mit denen einer Längsreihe nicht weniger als 11,400 gefunden. Es ist daher das Größenverhältniß der die Zähnchen auf Fig. 1b darstellenden Pünktchen nicht richtig, sondern zu groß. Richtig gezeichnet wäre es aber weder zu schneiden noch zu drucken gewesen. Die Zähnchen jeder Querreihe werden nach dem Rande hin, wie Dir Fig. 1 zeigt, niedriger und anders gestaltet. Die größeren nach der Mitte zustehenden (links) zeigen 2 Spitzchen, ein größeres und ein rechts daneben stehendes kleineres. Beide sind hohl und es läßt sich damit schaben und kratzen, wie mit einen Kartoffelhacke.

Aber noch viel zierlicher wirst Du Fig. 2 finden. Hier stehen auf dem ganzen Dinge, Du sollst gleich hören was es ist, 7 Reihen ebenfalls steinerner Schuppen oder vielmehr Plättchen, welche an ihrer Spitze jedes anders mit 3, 4 oder sehr zahlreichen Zähnchen enden. Diese sind bei der mittelsten und den jederseits 2 nächstfolgenden Reihen ebenfalls hohle Schabinstrumente.

Du siehst, wie überaus regelmäßig diese zierlichen Plättchen, deren hier blos 1078 (in jeder der 7 Längsreihen 154) sind, sich unten in einander fügen; aber nicht fest; sie sitzen vielmehr locker in der Haut, wie die Federn in der Haut des Vogels, und können wie Messerklingen gegen einander bewegt werden.

Nun was wirst Du sagen, wenn ich Dir angebe, was das sei! Es sind die Zungen von zwei unserer gemeinen Gehäuseschnecken; – Fig. 1 von der bekannten Weinbergsschnecke, H. pomatia und Fig. 2 von der Kreismundschnecke, Cyclostoma elegans. – a. von beiden die natürliche Größe.

Wenn man solche Zungen mit dem Mikroskop betrachtet, – leider konnte ich Dir hier nur ein kleines Stückchen von jeder in 200maliger Vergrößerung zeichnen (denn ganz gezeichnet würde Fig. 2 zwei Ellen lang geworden sein!) – so findet man ihre Spitze immer abgenutzt, indem sich Plättchen loslösen und vom Thiere unwillkürlich verschluckt werden. Gleichzeitig wächst die Zunge hinten immer nach, wie die Nagezähne der Hasen und anderer Nagethiere. Untersucht man Schneckenkoth mit dem Mikroskop, so findet man fast immer ganze Zahnfelder von der eigenen Zunge, bis zu 100 und mehr Zähnchen darin.

Also die Löwen und andern katzenartigen Raubthiere haben nicht allein eine bewehrte Zunge. Ohne [507] Zweifel ist sie bei den Schnecken am elegantesten gebaut und zwar bei jeder Gattung anders, so daß ich oft über über den Erfindungsgeist der Natur in so kleinen Dingen gestaunt habe.

Du darfst Dir übrigens auf meine heutige Zeichnung was einbilden, denn meines Wissens ist die Zunge der Kreismundschnecke noch niemals abgebildet worden.




Blätter und Blüthen.

Aus der Pariser Welt. Es ist eine auffallende Erscheinung, daß in Paris namentlich das schöne Geschlecht lebhaft Partei für die Sache des Halbmondes ergreift; in einem Salon der Chaussee d’Antin war ich gestern Abends Zeuge, daß das Projekt einer der höchsten Finanz-Aristokratie angehörigen Dame, einen „Türken-Verein“ zu bilden, von dem ganzen schönen Kreise mit Enhusiasmus aufgenommen wurde. Wie sich doch die Zeiten ändern! Vor einigen zwanzig Jahren zupften in Paris und in ganz Europa tausend schöne Hände Charpie für die Griechen, welche gegen die Türken kämpften und in aller Kürze werden wir vielleicht erleben, daß ein gleiches für die Türken geschieht. Ich habe viel darüber nachgedacht, um einen plausiblen Grund für die plötzliche Türken-Sympathie der schönen Pariserinnen zu finden, und glaube denn, daß diese Sympathie besonders dadurch hervorgerufen wurde, daß der Czar jetzt schon bald neun lange Monate die ganze Männerwelt mit der orientalischen Frage beschäftigt hat. Das schöne Geschlecht hat sich über diese Frage vernachlässigt gesehen, darob der Russenhaß und die Türken-Sympathie. In den Cirkeln der verführerischen Camelien-Damen und Marmor-Mädchen herrscht ein großer Schrecken ob der Möglichkeit eines Bruches mit Rußland. Es ist bekannt, daß seit einigen Jahren die russischen Prinzen und die polnischen Grafen beinahe gänzlich die englischen Lords in diesen Kreisen verdrängt und daß russische Rubel dort jetzt besseren Cours haben, als englische Sovereigns. Wie viel Wittwen würde es daher geben, wenn Herr von Kieseleff seine Pässe forderte, und zugleich „seinen Russen“ die ihrigen zustellte. Trotz alledem ist Paris noch voller Lust und Jubel und amüsirt sich besonders an den Vaudevilles, die mit jedem Tage schlüpfriger und sittenloser werden. Es ist dort schon so weit gekommen, daß die Theater förmlich zu Ausstellungen weiblicher Reize benutzt werden. Eine junge Schauspielerin, welche sich weigerte, das ihr bestimmte Costüm anzuziehen und die ihr zugewiesenen zweideutigen Couplets zu singen, wurde von dem Handelsgerichte verurtheilt, ihre Reize dem Parterre nicht vorzuenthalten oder 1000 Franken Entschädigung zu zahlen. Die Schauspielerin war arm, wollte nicht im Schuldthurm sitzen, also ..... Onkel Tom hat auch in Frankreich viele Millionen Thränen entlockt, daß aber in ihrer eigenen Hauptstadt Menschenhandel und Seelenverkauf getrieben wird, daran denkt Niemand.




Verbrecher-Colonie. Der erste Versuch einer Verbrecher-Colonie in Preußen wird jetzt ganz in der Nähe Berlins, nämlich bei dem Dorfe Pichelsdorf, etwa eine Viertelmeile diesseits Spandau, gemacht werden. Man ist bereits beschäftigt, daselbst die Fundamente zu einer weitläufigen Baulichkeit zu legen, welche bestimmt ist, etwa 350 aus den Strafanstalten zu Spandau und bei Moabit entlassene Gefangene aufzunehmen. Die Gebäude werden mit einer hohen Mauer umgeben und der Austritt aus dem so befriedigten Rayon wird den Bewohnern nur unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen gestattet sein. Der Uebertritt der Gefangenen aus den genannten beiden Strafanstalten nach abgelaufener Strafzeit wird kein erzwungener, sondern ein freiwilliger sein; er kann nur dann erfolgen, wenn der Uebertretende sich verpflichtet, fünf Jahre lang in der Kolonie zu verbleiben und den daselbst geltenden Hausgesetzen und Reglements sich zu unterwerfen.

Die Beschäftigung der Colonisten kann, wie sich aus der Lage der Colonie und bei der verlockenden Nähe der Hauptstadt ziemlich von selbst versteht, nicht wohl in freien Arbeiten, namentlich nicht, wie es vielleicht am wünschenswerthesten wäre, vorzugsweise in Feld- und Gartenarbeit bestehen, sondern es wird die Fabrikarbeit darin vorherrschend sein. Wie wir hören, hätte ein Fabrikant Voigt aus Berlin die Beschäftigung der Colonisten mit Dreh- und Schnitzarbeiten und ihre Anlehrung dazu übernommen. Zur Ausführung des Projekts hat der Staat einen Zuschuß von 30,000 Thalern bewilligt.




Ein frommer Roman. In der bekannten Agentur des Rauhen Hauses ist soeben unter dem Titel: Eritis sicut deus. ein dreibändiger Roman erschienen, der zusammen nicht weniger als 68 Bogen zählt. Die Verlagshandlung bläst in ihrer Ankündigung gewaltig in die Trompete und meint, daß seit Langem auf dem Gebiete der Literatur keine gleich bedeutsame Erscheinung an die Oeffentlichkeit getreten sei. Der vorliegende Roman sei keiner von denen, die ihr Geschick an der Stirne trügen, um gelesen und vergessen zu werden, sondern habe Anspruch auf eine bleibende Stelle in der Literatur und gehöre der Zukunft an. Er enthülle vor uns die ganzen Geheimnisse des gegenwärtigen Kampfes, nicht dogmatisch oder doktrinär, sondern in einem großen, tiefeinschlagenden, die geheimsten Falten des Menschenherzens durchdringenden, die ganze Seele bewegenden Drama. Das Buch werde an den Vielen die Mission erfüllen, welche in jenem Geisteskampfe, hüben und drüben, als Führer, Geführte oder Verführte, siegend oder unterliegend, mit betheiligt seien. - Das Wenige, was wir in diesem Buche lesen konnten, ist allerdings von einer grauenvollen Frömmelei.




Flora im Winterkleide. so heißt ein von dem Verfasser der „Briefe aus der Menschenheimath,“ Professor Roßmäßler, soeben erschienenes Buch, auf das wir unsere Leser, die an den schönen „Briefen“ unseres Blattes schon lange ihre Freude hatten, hiermit aufmerksam machen wollen. Für die meisten Freunde der Natur, besonders die Botaniker, fällt mit dem letzten Baumblatte und mit Beginn des Winters eine Scheidewand nieder zwischen sie und der Pflanzenwelt, welche erst von dem Schneeglöckchen wieder hinweg geläutet wird. Roßmäßler reißt diese Wand nieder. Indem er uns an kundiger Hand hinaus in den erstarrten Wald führt, liefert er in seiner liebenswürdigen und stets instruktiven Weise den Beweis, daß es selbst dem Despotismus des Winters niemals gelingen kann, die nimmerruhende Flora ganz zu bändigen. Die Beschreibung der Pflanzen, welche im Winter fortleben, die mikroskopischen Schönheiten derselben, die reizenden Gebilde der Flechten, Moose, Pilze, das stille Leben der Blatt- und Blüthenknospen - das Alles weiß Roßmäßler auf eine so populäre und ansprechende Art vor unsern Blicken zu entfalten, daß man den Winter selbst draußen im Walde fast lieb gewinnen möchte. Das Büchlein ist wie ein Festgeschenk geschmackvoll ausgestattet und mit 150 erklärenden Abbildungen verziert.




Der Hund ist toll! In der vergangenen Woche wurde in London eine Bande jugendlicher Diebe verhaftet, die sich einen ganz neuen, wirklich scharfsinnigen Plan für ihre Operationen ausgesonnen hatte. Drei oder vier von der Gesellschaft wandern zusammen durch die Straßen, nebenher läuft ein großer Hund, dessen Ansehen schon hinreicht, eine furchtsame Seele in Angst zu setzen. Wo eine Hausthür offen steht, springt der Hund auf ein gegebenes Zeichen in das Haus, läuft Trepp’ auf und Trepp’ ab, die Bewohner, namentlich die Frauenzimmer, in Furcht versetzend. Letztere [508] wird noch gesteigert durch das Geschrei der Jungen, die dem Hunde nacheilen und laut ausrufen: „Er ist toll! Nehmt Euch in Acht, er wird beißen!“ Einer der Jungen, der sich den Anschein besonderer Verwegenheit giebt, setzt dem Hunde nach und zerrt ihn glücklich auf die Straße. Während die Bewohner des Hauses meist rasch in ihre Zimmer flüchten, haben die jugendlichen Gauner die schönste Gelegenheit, sich nach werthvollen Gegenständen umzuschauen und sie zu entführen. Bis sich bei den Bewohnern die Aufregung und der Schrecken so weit gelegt haben, daß sie den Verlust entdecken, sind die Diebe bereits in Sicherheit und wiederholen in einem andern Stadttheil dasselbe Manöver. Die Ausbeute in der ersten Woche soll eine ergiebige gewesen sein. Für die Zukunft werden die jungen Spitzbuben freilich etwas Anderes erfinden müssen, denn die Polizei ist ihnen stark auf den Fersen.




Mineral-Reichthum der Türkei. Der Ingenieur der türkischen Eisenbahn, die ausgemessen worden ist, hat in seinen Grabungen auf türkischem Boden so viele Adern von Gold, Silber, Quecksilber, Kupfer, Eisen, Blei, Antimonium und Arsenik gefunden, ferner Spuren von Kohlen, Salz, Salpeter, Schwefel und Aluminium, daß man nach einer Wahrscheinlichkeits- Rechnung den reinen Gewinn aus diesen Minen bereits auf 30 Millionen Thaler abgeschätzt hat. Goldadern entdeckte man bei Adrianopel und Eisen am Flusse Ardo. Die alten klassischen Berge der Griechen, Ossa und Pelion, sollen allein mehr Gold verbergen, als z. E. der jetzige Krieg kosten würde. Der große thränenvolle Streit um den Schatz (nicht um den Schlüssel zur Betlehemskirche, der einmal an Allem Schuld sein sollte) wird nun um so – intereressanter werden.




Einige Lehensrechte. Unter den zahllosen Rechten, welche das Lehnswesen im Gefolge hatte, gab es viele lächerliche und abgeschmackte neben zahlreichen harten und bedrückenden; einige aber waren von Grausamkeit und die unmöglich Glauben finden würden, wären sie nicht historisch unwiderlegbar bewiesen.

Einige Grundbesitzer in Frankreich – wo die Gräuel des Feudalismus überhaupt am ärgsten gewüthet haben – hatten das Recht, wenn sie im Winter jagten, zweien der Leibeigenen, welche als Treiber aufgeboten worden waren, den Bauch aufschlitzen zu lassen, um sich in ihren Eingeweiden die Füße zu wärmen. Dieses gräßliche Recht, welches in der That zuweilen ausgeübt worden ist, wurde später durch gegenseitiges Uebereinkommen zwischen der Gemeinde und ihrem Grundherrn in eine Geldabgabe verwandelt, und diese mußte, ihres scheußlichen Ursprungs ungeachtet, fortbezahlt werden, bis die Revolution sie mit zahlreichen andern Privilegien des Adels aufhob, was jedoch nicht ohne lebhaften Widerspruch der Barone geschah, welche sich über die Verletzung ihrer Gerechtsame bitter beschwerten.

Kaum minder grausam war ein anderes Lehensrecht, viel weiter verbreitet und viel häufiger zur Ausführung gebracht. Dies bestand darin, daß der Lehnsherr oder Grundbesitzer das Recht hatte, dem Leibeigenen, welcher seine Abgaben nicht richtig bezahlte – und in schlimmen Zeiten waren diese Abgaben in ihrer zahllosen Mannichfaltigkeit durchaus unerschwinglich – die rechte Hand abhauen zu lassen. Gleiche Verstümmelung durfte der Grundbesitzer auch an den Leichen der verstorbenen Leibeigenen ausüben lassen, die ihm nichts zu erben hinterließen. Die auf solche Weise abgehauenen Hände wurden dann an den Thoren der Ställe oder Scheunen angenagelt, wie noch in unsern Tagen die geschossenen Raubvögel!!




In England giebt es einzelne Fabrikanten, deren Geschäfts- und Haushalt den eines großen mitteldeutschen Staates übertrifft. Der Alpaca-Wollen-Fabrikant Solt von Soltoire (letzteres ist der Name der von ihm allein gebauten Stadt für seine 5000 Arbeiter), der neulich 5000 Freunde zu Mittag einlud und sie darauf durch Extraeisenbahnzüge zu einem für sie besonders arrangirten Concerte führte, läßt jetzt eine neue Werkstatt bauen, 550 Fuß lang, 50 Fuß breit und 6 Stockwerk hoch. Die Maschine ersetzt 1200 Pferde und etwa 8000 Menschen, doch finden noch 6000 Hände[1] täglich volle Beschäftigung dabei.




Literarisches. In den nächsten vierzehn Tagen haben wir außer dem in der letzten Nummer angekündigten „Dessauer Jahrbuch“ auch noch ein „Hessisches (belletristisches) Jahrbuch“ zu erwarten. „Es gilt,“ wie der Herausgeber sagt, „ein Unternehmen in’s Leben zu rufen, welches bei den traurigen Verhältnissen, die wie ein Alp auf unserm engern Vaterlande lasten, durch das Zusammenwirken unserer bedeutendsten literarischen Kräfte das gesunkene Selbstvertrauen heben und stärken und der Erweckung und Nährung patriotischen Sinnes einen geistigen Mittelpunkt geben soll.“ – Ob dies ein belletristisches Jahrbuch vermag, müssen wir sehr bezweifeln. Die Zustände eines Landes lassen sich nicht durch einige Verse und Novellen ändern, ein gesunkenes Vertrauen nicht durch einige biographische Artikel wieder heben. Die Zustände des Landes sind hier wohl nur Aushängeschild. – Nach und nach scheint sich der amerikanische Humbug auch nach Deutschland überzusiedeln, wenigstens auf dem Felde der Literatur. Eine Hamburger Firma kündigt ein Buch: die Welt der Verbrechen, als „Amerikanische Volksbibliothek“ folgendermaßen an: Kein Humbug! 40,000 Abonnenten in Amerika! Interessant! Wohlfeil! Allgemein faßlich und verständlich! für Jedermann! Nur ein Silbergroschen!“ – Die Welt der Verbrechen als Volksbibliothek!!! – An Neuigkeiten sind diese Woche noch angekommen: Hesekiel, Zwischen Hof und Garten, zwei Bände Novellen. – Sternberg, die Ritter von Marienburg, drei Bände. – Monteton, Sänger und Ritter, zweibändiger Roman aus der Neuzeit.

E. K. 

Ludwig Storch.

In Leipzig erschien soeben:

Am warmen Ofen.
Erzählungen und Novellen
von
Ludwig Storch.
2 Bände. 23/4 Thlr.

Der rühmlichst bekannte Verfasser des „Freiknechts,“ des „deutschen Leinewebers“ und anderer vortrefflicher Romane übergiebt in diesen beiden Bänden dem Publikum eine Reihe anziehender und unterhaltender Novellen und Erzählungen, welche zweifellos großen Anklang finden werden.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Anmerkung WS: Im Original: „Hunde“. Richtig: „Hände“ gem. Berichtigung auf Seite 520.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Erinyen: drei Rachegöttinnen der griechischen Mythologie (die personifizierten Gewissensbisse)
  2. Behuf: Zweck
  3. Dingstelle: Ort germanischer Volks- und Gerichtsversammlungen, vgl. den Artikel Thing in der Wikipedia
  4. Rademacher bezeichnet einen Handwerker, der Räder aus Holz herstellt (vgl. Stellmacher)
  5. Hewer oder Hever war früher ein Nebenfluss der Eider. Heute ist der Heverstrom ein Gezeitenstrom, der nördlich von Eiderstedt durch das nordfriesische Wattenmeer verläuft und den Husumer Hafen durch das Wattenmeer mit der offenen Nordsee verbindet. vgl. Hever, in: Hans Jürgen Borchard: Pellworm - Pilworm - Peelwerrem: Eine Spurensuche in der Literatur über Ortsnamen auf Pellworm und um Pellworm herum. Pellworm Verlag. ISBN 3-936017-02-6
  6. zu in der Vorlage nicht lesbar
  7. in in der Vorlage nicht lesbar
  8. Der 10. August ist der Gedenktag Erichs. Abel ließ ihn am 10. August 1250 ermorden.