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Die Gartenlaube (1853)/Heft 44

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[475]

No. 44. 1853.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Gott verloren – Alles verloren.

Ein Seelengemälde nach Familienpapieren mitgetheilt von Ferdinand Stolle.
(Schluß.)


Eines Morgens, als ich ermattet aufwachte, wandelte mich plötzlich die Sehnsucht an, nach der Kirche zu gehen. Es war Sonntag. Schwarz gekleidet, gesenkten Hauptes schritt ich nach dem Gotteshause. Viele Leute, die mir begegneten, grüßten mich achtungsvoll als Clemence’s Freundin. Ich hörte, wie man meine aufopfernde Freundschaft für Madame Falk rühmte. Ich hätte mögen vor Scham in die Erde sinken. Diese Beweise von Achtung beugten mich tiefer, als es offene Verachtung gethan haben würde. Gleichwohl hätte ich um keinen Preis der Welt ein offenes Geständniß meiner Schuld abzulegen vermocht. Ich trat in die Kirche. Voll und erhaben schlug der Orgelton an mein Ohr. Das herzdurchdringende Confiteor! einer mächtigen Baritonstimme schüttelte mich wie Fieberfrost und machte mich erbeben wie Espenlaub. Confiteor! tönte es nochmals mahnend und warnend. Ich faltete inbrünstig die Hände und betete zum ersten Male aus voller Seele. Ich demüthigte mich büßend vor Gott. Aber sollte ich auch der Welt meine Sünde bekennen? Nein, das vermochte ich nicht. Sowohl mein Stolz, wie meine Liebe zu Constantin sträubten sich wild dagegen. Mir war der Verlust seiner Liebe und Achtung schrecklicher als der Tod. Hätte es sich blos um mein Leben gehandelt, wäre mir die Wahl nicht schwer geworden.

Etwas beruhigt und getröstet verließ ich die Kirche. Unterwegs kam mir von Neuem der Gedanke: Wie kann ich ein Leben voll heilbringender Thätigkeit beginnen? Kirche gehen, beten, ein Kloster bereichern? Das konnte Goethe unmöglich gemeint haben. Andere Vorsätze kamen in meinen Sinn. Ich reiste zurück nach meinem Gute Waldenheim und begann damit, hierselbst und in der Umgegend gemeinnützige Anstalten in das Leben zu rufen. Das mir von Neuhaus hinterlassene Kapital verwandte ich auf Erbauung eines Waisenhauses. Durch Errichtung einer Fabrik bemühte ich mich, Arbeitlosen Arbeit und Brot zu verschaffen. In Verbindung mit benachbarten Edelleuten bewerkstelligte ich Verbesserungen im Dorfschulwesen. Bei [476] dieser Wirksamkeit ward mir geraume Zeit keine Muse, während der geschäfts- und geräuschvollen Tageszeit über meine dunkle Vergangenheit nachzudenken und mich mit Gewissensvorwürfen zu quälen; aber des Nachts, wenn Alles still ringsum, wenn die Seele in sich selbst zurückkehrte, stand auch der gräßliche Schatten da. Düster und unwiderruflich stand er da und die Stimme des innern Gerichts rief: „Glaube nicht, mit dem, was Du bis jetzt Gutes gethan, Dich zu entsühnen.“ Und wenn sich mein ruheloses Herz innig nach Constantin sehnte, da war es immer, als stelle sich ein schauerliches Etwas dazwischen.

So waren wohl anderthalb Jahre seit Clemence’s Tode vergangen. Ein Frühling, so schön, so reich, wie er nur immer über diese paradiesische Gegend herabsinken kann, umlächelte mich und überschüttete mein gebeugtes Haupt mit Blüthen, aber mein Herz frohlockte nicht mehr wie einst dem Frühlinge entgegen.

Es war am ersten Pfingstfeiertage, als ich langsam dem Walde zuwandelte, um die eine halbe Stunde entfernte Kirche zu besuchen. Es war ein Morgen so still, so klar, so lieblich. Feierliches Rauschen umfing mich im Walde. Aus den Zweigen tönte der Himmelsgesang der Vögel. Das Lied hieß: Lobsinget dem Herrn! Von der einen Seite, wo sich der Wald lichtete, tönte Glockengeläute. Hoch und bläulich, von leisem Duft umzogen, ruhten die fernen Berge und der im Thale dahinziehende Fluß strahlte wie flüssiges Silber. Grüner Sammet überzog die Wiesenflur. Weiße, blaue, rothe Steinchen guckten freundlich zum blauen Himmel. Ich entsann mich, wie ich an einem eben so schönen Pfingstmorgen einst mit Constantin in den Wald gegangen war, um Blumen und Erdbeeren zu suchen. Damals ging ich – sorglos unschuldig – an der Hand des Jünglings, eine helle rosige Gegenwart und Zukunft vor mir. Schon damals liebte ich ihn, wie ein Kind einen milden und doch starken Männergeist lieben kann. Sonst und jetzt! welch ein Unterschied. Auch heute liebte ich ihn noch, aber mit einer andern Liebe, mit glühenden, trostlosen, nagenden Gefühlen. Eine weiche Stimmung kam über mich. Ich weinte und fühlte mich fast erdrückt von der Last der Erinnerung. „Constantin! ach, Constantin!“ rief ich laut durch den einsamen Wald, als ob meine klagende Stimme ihn hätte herbeizaubern können. Aber Alles blieb still. Nur Blätterrauschen, Vogelstimmen und eintöniges Murmeln des Waldbaches zwischen traurig-dunkeln Föhren. Ich setzte mich unter eine alte graue Eiche in’s weiche Moos und schrieb unter einzelnen herabtropfenden Thränen folgendes Gedicht, mein erstes und mein letztes:

Hör’, wie der Frühling ruft mit tausend Stimmen,
Sieh, wie in sanfter, luft’ger Silberpracht
Die leichten Wolken still dort oben schwimmen.
Wie mich umgrünt die duft’ge Waldesnacht.

Ach freudenlos steh’ ich in all’ dem Glanze,
Umsonst lacht mir das Morgensonnenlicht.
Umsonst schmückt sich die Au’ mit buntem Kranze,
Kein Lenz erhellt mein trauernd Angesicht.

Ein Wunsch, ein einz’ger bebt durch meine Seele,
Ein Schmerzensruf nach Ruhe hier im Thal,
Vergessen möcht’ ich alle Schuld und Fehle,
Das Laster und der Lieb’ Erinn’rungsqual!

Wann sinkt mein Abendstern? O daß ich schliefe
Im stillen Moose hier, in grüner Nacht,
In jener Grabesruh’, in jener stillen Tiefe,
Aus der man nicht mehr auferwacht.

Ich barg das beschriebene Blatt in meinem Busen. Mir war, als habe ich dem Walde gebeichtet. Plötzlich tönten entfernte Schritte. Ich blickte auf und mußte meine Arme um einen Baum schlagen, um nicht umzusinken. Wenige Schritte vor mir stand – Constantin. „Leonore! Constantin!“ riefen wir Beide zugleich. Er eilte mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, als wolle er mich an’s Herz drücken. Ich aber schlang gleichsam Hülfe suchend meinen Arm fester um den Baum und rief: „Wen suchest Du?“ „Leonore,“ fragte er in weichem Tone, „Du fragst, wen ich suche? Dich nur allein! Dich! Man sagte mir im Schlosse, Du seiest in den Wald gegangen. Siehe, ich komme heute im Namen der mächtigen Liebe – im Namen unserer verklärten Clemence, deren Wunsch es war, uns Beide vereint zu wissen, und frage Dich: Willst Du mein Weib sein?“

Himmel und Erde entschwanden meinen umnebelten Blicken; ich wankte und fühlte mich von seinen Armen umschlossen, an seine Brust gedrückt. Er sprach kein Wort und küßte nur immer und immer meine Stirn und meine geschlossenen Augen. Ich genoß in berauschendem Entzücken einige Sekunden das selige Gefühl seiner Gegenwart und seiner Liebe. Aber was schreckte mich plötzlich aus meinem Himmel? Eine unsichtbare eiskalte Hand legte sich zwischen uns und zog mich von ihm. Eine Grabesstimme raunte das Wort: Mörderin!

„Laß mich los, Constantin!“ stöhnte ich, mich seinen Armen entwindend. „Mein Gott, was ist Dir, Leonore?“ rief er erschrocken und vorwurfsvoll. „Liebst Du mich nicht mehr, Leonore?“

„Ach, nur allzusehr,“ rief ich in überströmendem Schmerze. „Könnte ich an Deinem Herzen sterben, wie wohl wäre mir. Aber die Deine, Constantin, kann ich nicht werden. Ich darf nicht an Deiner Seite leben und mit Dir in die Welt zurückkehren. Nein, ich darf nicht. Ich darf nicht.“

Er erblaßte und verschwendete die leidenschaftlichsten Bitten, die liebevollsten Vorstellungen. Er beschwor mich bei seinem und meinem Glücke, bei Clemence’s Schatten – vergebens, ich blieb starr und fest. Gott hatte mir in dem Augenblicke, als ich in Constantin’s Armen ruhte, den Weg zur Buße gezeigt und mir den dunkeln dornigen Pfad erhellt, den ich hinfort wandeln sollte. Ich sank am Fuße der Eiche in die Knie. „Constantin!“ rief ich mit flehender Innigkeit, „Constantin! einzig Geliebter! foltere mein Herz nicht länger. Etwas, das ich Dir nicht nennen kann, trennt uns. Ich habe dem Himmel darum gelobt, keines Mannes Weib zu werden. Nimmer darf ich im Schatten Deiner Liebe ausruhen. Meine Ruhe hienieden ist verwirkt. Das schwöre ich Dir bei Gott dem Allmächtigen.“

Bei meinen leidenschaftlichen Worten war der Papierstreif [477] aus meinem Busen gefallen. Constantin hob ihn hastig auf und las langsam und mit Thränen in den Augen die geschriebenen Worte. Dann sagte er mit gebrochener Stimme: „Armes, liebes Herz! unglückliche Schwärmerin! Was ist mit Dir vorgegangen, daß Du Dich nach dem Tode sehnst wie der verschmachtende Wandrer nach der frischen Quelle? O Leonore, auch Dich hat die religiöse Schwärmerei angesteckt, der falsche Wahn, durch Entäußerung alles Erdenglückes Gott wohlgefällig zu erscheinen. Dich drückt keine Schuld, als die, welche alle Menschen mit Dir theilen – komm mit mir, sei meine Leonore!“ Er wollte mich zu sich emporziehen. „Weiche von mir,“ rief ich wild abwehrend. „Du erscheinst mir zwar in reizender Gestalt, Deine Stimme gleicht der Stimme eines rettenden Engels; aber Du lockst mich in die Verdammniß, in den ewigen Tod – Versucher! entfliehe! –“ Und er entfloh – todtenbleich, mit dem Ausdrucke tiefsten Seelenschmerzes, getäuschter Hoffnung und Liebe. Seine letzten Worte waren: „Ich liebe Dich, ich verzeihe Dir.“ Ach, er glaubte mich von religiöser Schwärmerei befangen, eine krankhafte Richtung damaliger Zeit, die manches junge Gemüth hinter Klostermauern führte. An die Möglichkeit, daß seine geliebte Leonore eine Mörderin – daran dachte er nicht mit entferntester Ahnung. Nach dieser letzten Trennung schrieb er mir noch einmal, in dem Wahne, mich von meiner frommen Schwärmerei zu heilen; aber in der Entsagung des Theuersten auf Erden erkannte ich meine Buße.

Ein Jahr nach dem andern zog über meinem schuldbelasteten Haupte dahin. Ich fristete mein trauriges Dasein durch die mir einst von Goethe empfohlene nützliche Thätigkeit und wurde darum von Allen, die mich kannten, geachtet und geehrt. Doch was hilft die Achtung Anderer, wenn man sich nicht selbst achten, sondern vor sich zurückschaudern muß. Eine solche Achtung belastet das Herz und quält die Seele.

Meine Schönheit begann zu welken. Die strahlenden Augen verloren ihren Glanz und sanken tiefer in ihre Höhlen; die Wangen fielen ein; die Anmuth der Gestalt entwich. Immer einförmiger wurden meine Tage – die Nächte aber, o die Nächte blieben dieselben. Noch immer streckte der Schatten des Ermordeten seine Hand gegen mich und wehrte meine Seele, an Constantin zu denken. Kein Traum von ihm erquickte jemals meine Nächte. Aber fort und fort tönte es wie feierlicher Choral an mein inneres Ohr: „Confiteor!“

Da erhielt ich an einem trüben Winternachmittage die Nachricht von Constantin’s Tode und sein letztes Lebewohl – Worte der Liebe, der Verzeihung und Hoffnung. Welcher Hoffnung! Er hoffte mich jenseits wieder zu finden. Ach, ich bezweifelte jetzt wohl auch nicht mehr, daß mich ein Jenseits erwarte. Aber durfte ich dort, ohne meine Blutschuld gesühnt zu haben, mit ihm, dem Reinen, zusammen treffen?

Meine Thränen flossen heiß, aber gewährten keine Linderung meinem Weh. Durch meine Schuld starb er einsam, von keinem treuen Herzen bewacht und gepflegt.

Ungefähr acht Tage nach Constantin’s Tode hatte ich einen seltsamen Traum. Ich schritt beim Schimmer des Mondes durch die abendlichen Straßen, als ich plötzlich Constantin erblickte, der vor mir herging. An seiner Seite, dicht angedrängt, schlich eine schwarz gekleidete, schlanke Frauengestalt. Bebend vor Freude suchte ich dem Geliebten nachzueilen; meine Füße aber waren wie gelähmt, so daß ich stets einige Schritte hinter den Beiden zurückblieb. Der Himmel wurde dunkler, finstere Wolken legten sich über den Mond. Da zog Constantin etwas aus seinem Busen und hielt es mit erhobener Hand in die Höhe. Es glänzte wie Silber. Immer heller wurde das Licht, das seiner Hand entstrahlte; immer schneller eilten die Beiden voran, immer athemloser folgte ich. Plötzlich gestaltete sich das Licht in Constantin’s Hand zu einem Sterne, in dessen Mitte das Wort: Confiteor! leuchtete. Jetzt bog Constantin in eine dunkle Halle; die himmlische Leuchte seiner Hand erlosch. Wir stiegen eine steinerne Treppe hinauf, die zu einer eisernen verschlossenen Thür führte. Die Thür sprang auf und wir standen in einem düstern, von einer Oellampe matt erleuchteten Kerker. Nichts befand sich darin als eine eiserne Bettstelle, ein hölzerner Stuhl und ein Tisch mit der aufgeschlagenen Bibel. Das weibliche Wesen, das mit Constantin gegangen war, wandte sich jetzt langsam um nach mir. Ich schaute ein todtenblasses ernstes Antlitz – o Entsetzen! – es war mein eigen Antlitz. Ich war es selbst, die ihr Bild anstarrte! – Der Stern begann von Neuem zu flimmern, das leuchtende Confiteor! ward wieder sichtbar und verklärte den grausigen Kerker – mein eigen Gesicht starrte mich in Einem fort an – ich stieß einen hellen, wilden Schrei aus und – erwachte.

Ernst und entschlossen stand ich auf und fiel vor meinem Lager auf die Knie, Gott um Kraft zu dem Entschlusse anzuflehen, den ich jetzt gefaßt hatte. Ich fühlte die tiefe, mahnende Bedeutung des Traumes. Ich wollte die heuchlerische Rolle, die ich so lange in der Welt gespielt und womit ich die Menschen getäuscht, abwerfen. Ich wollte den Schleier von meinem Verbrechen abreißen und mich öffentlich zeigen, was ich war – eine Mörderin!

O, es kostete großen, schweren Kampf, die Maske, die ich Jahrzehnte lang getragen, abzulegen – die allgemeine Achtung, die ich genoß, mit dem Abscheu zu vertauschen, den man vor meinem Verbrechen haben mußte; aber ich that es muthig und zeigte den an meinen Gatten begangenen Mord den Gerichten an.

Laßt mich schweigen von dem Entsetzen, welches Alle befiel, die mich geliebt und geachtet; laßt mich schweigen von der Stunde, wo ich vor meinen Richter trat, wo mein Mund das Verbrechen bekannte und alle Einzelheiten desselben näher bezeichnen mußte. Es waren schreckliche, entsetzliche Stunden – aber zugleich fühlte ich eine wunderbare Erleichterung. Es war, als wenn eine Felsenlast, die Jahrzehnte auf meiner Seele gelegen, endlich herabgewälzt wäre. Eine wohlthätige Ruhe, eine Art Erlösung kam über mich und zum ersten Male in meinem Leben zuckte wie ein himmlischer, [478] verklärender Strahl der Gedanke durch meine Seele, daß Gott ein barmherziger Richter sei.

Mein Urtheil lautete auf Tod, aber mein Vertheidiger wußte Milderungsgründe geltend zu machen, deutete selbst auf gestörten Seelen- und Gemüthszustand hin. So ward die Todesstrafe in lebenslängliches Gefängniß verwandelt.

In der Abgeschlossenheit und Einsamkeit meiner Zelle – abgeschieden von allem Reiz und Comfort des Lebens – bei Wasser und Brot, dankte ich Gott gleichwohl für die Erhaltung meines Lebens, weil mir jetzt Zeit ward, meine wahre Buße zu beginnen So ist mein schwarzes Haar weiß, meine Lippen sind welk geworden und mein Körper ist zusammengebrochen und hoffend blicke ich der letzten Stunde entgegen. Ein Frieden ist herabgekommen, wie ich ihn in der einstigen Freiheit, in dem Rausche der Vergnügungen nie gekannt, nie geahnt. Ja, Gott ist ein barmherziger Gott. Er ward mein Vermittler bei dem zürnenden Schatten, der mir jetzt nicht mehr zürnt, meine Nächte nicht mehr stört. Und was meinen Kerker in den stillen Stunden oft zu einer Frühlingslaube umschafft – es ist die selige Gewißheit, daß meiner erwarten im bessern Lande mit Freude und Liebe – Clemence und Constantin!




Aus der Gewerbswelt

Mitgetheilt von Friedrich Georg Wieck
Die Nähmaschine

Sehr viel hört man jetzt von der „amerikanischen Nähmaschine“ reden. Während der eben geschlossenen Leipziger Messe sahen wir Abbildungen von ihr auf den Aushängeschildern eines Berliner Kleiderhändlers und einer Bude auf dem Roßplatze, in der allerlei Automate und sonstige Merkwürdigkeiten zur Schau gestellt waren. Dort versicherte man mit gewohnter Ruhmredigkeit, daß die mit der Maschine genähten Kleider viel besser und wohlfeiler seien, als die mit der Hand genähten, und hier lockte man durch lauten Ausruf und durch Schilderungen der Wunderwirkung der Maschine die Künstler und Künstlerinnen von der Nadel an, sich die gefährliche Nebenbuhlerin in der Nähe zu betrachten. In Berlin selbst sucht man, zum Theil wohl nur auf ängstliche Gemüther behufs der Verminderung von Nählöhnen zu wirken, die Nähmaschine recht in den Vordergrund zu stellen. Es befindet sich dort unter Anderem ein glänzend gaserleuchteter Laden mit großem Schaufenster, in dem ein sauber gekleideter Schneidergeselle vor den Augen der Vorübergehenden mit bewunderungswürdiger Gewandtheit und Geschwindigkeit Hosenbeine und Rockärmel von der Maschine zusammennähen läßt. Ein Beweis unserer ruhigen und vernünftigen Zeit ist es, daß alle diese offenen Kundgebungen von Leistungen einer Maschine, welche droht, die Nähnadel aus der arbeitenden Hand zu nehmen, mit so viel guter Laune betrachtet wird. Es ist dies ein Zeugniß von gesundem Sinn, der zu begreifen scheint, daß ein verbessertes Werkzeug, und nichts weiter ist die Nähmaschine, endlich doch der arbeitenden Hand – und ohne diese ist die Nähmaschine nichts – zu Gute kommen muß.

Aber man wird fragen: was denn eigentlich an der Sache sei? Ob sie nicht vielleicht lediglich ihren Ursprung in amerikanischem Puff, in Wind und Schwindel habe? Wir fühlen uns verpflichtet, unserer Auffassung der Sache nach, die letzte Frage zu verneinen und die Nähmaschine als eine sinnreiche mechanische Zusammenstellung und ein in vielen Fällen nützliches Werkzeug zum Nähen zu erklären. In der verbesserten Gestalt, namentlich wie sie unser geschickter und denkender Mechaniker Herr Christian Hoffmann in Leipzig jetzt ausgeführt hat, macht sie bei guter Behandlung und unter günstigen Umständen bis 500 Stiche einer schönen festen Steppnaht in allerlei Zeuge, und, je nachdem die Einrichtung getroffen wird, in feinem und starkem Stoff, enge und weite Stiche mit Seide, leinenem und baumwollenem Zwirn. Man kann gerade und in Bogen nähen. Bei guter Führung ist das Aussehen der Naht auf beiden Seiten gleich. Dahingegen kann man nicht überwendlich nähen, demnach auch nicht säumen. Gewiß wird nun aus diesen wenigen Andeutungen über die Fähigkeit der Maschine jeder denkende Kleidermacher, jede aufmerksame Näherin, selbst einen Schluß ziehen können, in wie weit die Maschine die einfache Nähnadel zu ersetzen vermag. Wir wollen hier nicht vorgreifen, sondern zu einer Beschreibung der Maschine übergehen, so weit sie sich ohne Bezugsnahme auf genaue Werkzeichnungen eben geben läßt.

Das Nachdenken der Erfinder hat sich schon seit längerer Zeit angestrengt, ein Verfahren zu ersinnen, die einfache Arbeit des Zusammennähens von Zeuglagen durch Maschinen rascher als mit der Hand verrichten zu lassen. Zum Vorschein kamen die Ergebnisse dieses Strebens zumeist auf der Londoner Ausstellung. Dort zeigte ein gewisser Mathee, wie man mittelst einiger Räder und einer Nadel die zwei Enden von Zeugen sehr schnell zusammenriegeln könne. Der Franzose Senechal nähte dort grobe Leinwand zu Säcken, indem er die in der Mitte geöhrte Nadel mit Hülfe von Zangen hin und her durch das dichte Zeug führte. Er mochte dadurch wohl das Nähen erleichtern, nicht [479] aber sehr beschleunigen. Durch eine Art Kettenstich mit der Häkelnadel nähte Magnin von Villefranche auf mechanische Weise, während Judkins von Manchester, Blodget von Neuyork und Morey von Boston in Nordamerika Nähmaschinen ausgestellt hatten, deren Prinzip ganz dem ähnlich ist, wie es jetzt in unserer amerikanischen Nähmaschine unter dem Namen der Singer’schen zu Tage liegt. Diese Maschine ist zuerst von Herrn G. A. Müller, Direktor der deutschen Bekleidungsakademie in Dresden, aus Amerika in Deutschland eingeführt und Jedem frei und offen gezeigt, auch in allen ihren Einzelnheiten in der deutschen Gewerbezeitung 1853, Heft 4 veröffentlicht worden, so daß Jeder sie frei nachbauen und benutzen kann, wenn er es sonst in seinem Interesse findet. Diese Nähmaschine ist nicht groß. Sie hat vollkommen Platz auf einem Nähtischchen, und kann dieses so eingerichtet werden, daß die Maschine mit dem Fuße wie ein Spinnrad in

Die Nähmaschine

Bewegung zu setzen ist, während das zu nähende Zeug mit den Händen unter die Nadel geführt wird. Diese arbeitet senkrecht, sticht aber nicht ganz durch, sondern nur so weit hinunter, daß ihr, durch ein Oehr etwas unterhalb der Spitze gezogener Faden unterhalb des Zeugs eine Schleife bildet. Durch diese Schleife drängt [480] sich dann ein kleiner Schützen, in welchem sich eine Spule mit Nähfaden befindet. Wird nun die Nadel wieder zurückgezogen, so zieht zu gleicher Zeit der Nadelfaden den Schützenfaden mit in’s Zeug hinein, so daß jeder Stich gleich zwei in einander gehängten Fadenschleifen ist. Nach jedem Stich wird das Zeug durch eine Klinkvorrichtung um eine Stichweite vorgeschoben, während es zwischen einem feilenartig aufgehauenen Rad und einem Stahlfinger gehalten wird. Aus dieser Beschreibung des Spiels der Nadel ergiebt sich von selbst: daß die Nadel aus demselben Stichloche, durch welche sie in das Zeug gegangen, auch wieder herauskommt und nicht wie gewöhnlich einen Stich weiter. Der Schützen geht, während die Nadel in die Höhe steigt, wieder an seinen alten Platz zurück, um, wenn die Nadel auf’s Neue durchsticht, sofort wieder durch die Schlinge zu fahren. Dieses Spiel wiederholt sich fortwährend. Es ist eine Art „Nahtweben“. Welche Mechanismen nun aber in Thätigkeit sind, um sowohl Nadel als Schützen sammt Fäden, jene auf und nieder, diesen hin und her, zu bewegen, darüber geben wir gern in unseren technischen Schriften und daheim in unserer schriftstellerischen Werkstatt Auskunft. Die Gartenlaube aber – wäre wohl dazu geeignet, wenn wir neben einer holden Fragerin säßen und ihr die Finger mit der Nadel führten, um zu zeigen, wie so wunderbar sich die Maschinenglieder bewegen, und um groß zu thun mit unserer Kenntniß von den Stichen, als z. B. Steppstich oder Hinterstich, Vorstich und Saumstich, Knopflochstich und Hexenstich, Kettenstich und Kreuzstich, Plattstich und Spitzenstich, Gobelinstich und Hohlstich, überwendlicher und geheimer Stich u. s. w. u. s. w.

Wenn wir nun aber in’s Gedächtniß zurückrufen, daß unsere deutsch-amerikanische Nähmaschine – denn wir haben den guten Glauben, daß sie ursprünglich eine deutsche, später ausgewanderte Erfindung ist – nur einen Stich, nämlich den Steppstich, und diesen nicht einmal ganz kunst- oder nadelgerecht zu machen versteht, so wird man uns gewiß beistimmen, daß den fleißigen Fingern noch eine Menge Nadelstiche übrig bleiben, und nur ein einziger nicht möglich sei, wie das spanische Sprüchwort, jedenfalls mit Unrecht, behauptet:

Zwischen des Weibes Ja und Nein
Geht kein Nadelstich hinein! – 




Skizzen aus meinem Leben.

Von Ludwig Storch


Niemand hat wohl mehr und bessere Gelegenheit, seine Zeit und sein Volk, wie es eben von den Mitlebenden repräsentirt wird, kennen zu lernen und im Schriftwerk darzustellen, als der deutsche Schriftsteller, der nicht allein in der Schreibstube, sondern auch auf dem Lebensmarkt gealtert ist. Ich meine natürlich nicht jenen sogenannten Schöngeist, der blos Novellen und bunte Geschichten nach dem alten Schneidermaße angefertigt hat, um sie an ein beliebiges Journal oder an einen Verleger für ein kleines Honorar zu verkaufen, jenen fleißigen Commißbrotbäcker für den widerwärtigen geistigen Heißhunger einer abgespannten traurigen Klasse der Gesellschaft, die zur Fristung ihres armseligen Geisteslebens der unausgesetzten Lectüre schlechter Romane bedarf, und der durch Befriedigung jenes unnatürlichen Hungers die Mittel zur Stillung seines eigenen natürlichen beschafft. Ihn kann ich nicht meinen; er ist ein unseliger Mann, der nicht mitzählt, wenn vom deutschen Schriftstellerthum die Rede ist. Ich meine auch nicht die Herren, die es durch die Kunst ihrer Feder zu einträglichen Staatsämtern und schönklingenden Titeln gebracht haben.

Wenn ich vom deutschen Schriftsteller rede, der berufen ist, ein treues Bild seiner Zeit zu liefern, so kann ich nur den Mann meinen, der an Kopf und Herz gleich gut begabt, die Dinge ohne Furcht und Galle abschildert, wie er sie sieht, der festen Schrittes seinen, wenn auch rauhen Weg verfolgt, und weder nach rechts noch nach links liebäugelt und nach Gunst und Gold strebt. Gottlob! es giebt in Deutschland gerade nicht wenig solcher Männer, und wenn ich mich ohne Ziererei und falsche Bescheidenheit zu ihnen zähle, so darf ich wohl von mir behaupten, daß ich nie Furcht gekannt und nie Liebedienerei getrieben und das Kind immer beim rechten Namen genannt habe. Ich bin auch nie in Ungewißheit darüber gewesen, welche Früchte mir meine offen dargelegte Gesinnung einbringen würde, und ich habe mich, als sie mir zuwuchsen, weder über die Bitterkeit derselben beklagt noch Andere beneidet, welche durch ihre Klugheit reichere und schmackhaftere Ernten einsammelten. Die Menschen und Verhältnisse, von welchen mein Lebensweg berührt und durchkreuzt wurde, habe ich mit gesundem Auge angesehen und mit wahrhaftiger Feder geschildert. Es ist das ein hübsches und interessantes Buch geworden, das ich freilich jetzt noch nicht drucken lassen kann, das aber gewiß gedruckt und der Welt übergeben werden wird. Man wird da manche bekannte Persönlichkeit unserer Tage darin finden, vielleicht etwas anders abkonterfeit als gewöhnlich. Auf den Wunsch des Verlegers dieser Blätter will ich dann und wann einige Skizzen daraus abdrucken lassen. Ich beginne mit den kleinen Schicksalen, welche sich auf eins meiner Bücher bezogen haben.




[481] 1. Der deutsche Professor und der Romanschreiber.

Den Stoff zu meinem historischen Romane „der Freiknecht“ hatte ich schon früh in einem alten Buche voll historischer Merkwürdigkeiten gefunden. Bekanntlich spielt die Handlung des Buchs großentheils in Nürnberg. Während meines Aufenthaltes in Stuttgart in den Jahren 1828 und 1829 besuchte ich zuweilen die öffentliche königliche Bibliothek, wo mir der greise Dichter Friedrich Haug, Hofrath und Bibliothekar, Wohlwollen schenkte. Ich erhielt dort einige treffliche Nürnberger Chroniken, und Haug rieth mir, mich an den Professor Siebenkees in Nürnherg zu wenden, der wie Keiner weiter in der Geschichte seiner Vaterstadt Nürnberg bewandert sei. Bald darauf starb der alte liebenswürdige Epigrammatiker, der der Jugendfreund und Mitschüler Schiller’s gewesen war. Ich hatte mir aber seinen Rath gemerkt. Ich schrieb den ersten Theil des „Freiknecht“, der meist Nürnberger Verhältnisse schildert; je weiter ich aber in meiner Arbeit vorschritt, desto lebendiger wurde der Wunsch in mir, sowohl die Localitäten in Nürnberg kennen zu lernen, als auch mich über einige historische Partien, die mein Roman berührt, genauer zu unterrichten. Im Herbst 1829 verließ ich Stuttgart, um nach Leipzig überzusiedeln. Mein Weg führte mich über Nürnberg und ich brannte vor Begierde, die Schätze altdeutscher Kunst und historischen Merkwürdigkeiten dieser einst so hochberühmten und wichtigen deutschen Reichsstadt mit Augen zu schauen. Vergebens würde ich versuchen, die fromme Rührung zu schildern, die mich in Albrecht Dürer’s und Hans Sachs’ Wohnstätten ergriff und beim Anblick des großen Meisterwerks Peter Vischer’s, des Grabmals des heiligen Sebaldus. Ich war in einem geistigen Rausche, wie man ihn nur in der Jugend erleben kann, wenn man, für die große Vorzeit des Vaterlandes begeistert, noch nicht von seiner Jetztzeit gemißhandelt worden ist. In dieser gehobenen Stimmung suchte ich den Professor Siebenkees auf, der mir auch in Nürnberg als der größte Kenner der Geschichte und Alterthümer dieser mir so theuer gewordenen Stadt genannt wurde. Mit einer Pietät, die an Schwärmerei grenzte, betrat ich die Wohnung dieses Gelehrten. Ich war so voll von den empfangenen Eindrücken, ich wollte mit meiner frischen Begeisterung ein Stück der deutschen Vorzeit und beziehentlich Nürnbergs poetisch verherrlichen, und dazu wollte ich mich von dem gelehrten Kenner dieser Vergangenheit unterrichten lassen und recht viel mit dem alten geehrten Herrn plaudern. Ich traf ihn nicht in seiner bescheidenen Wohnung, aber eine alte kleine Haushälterin sagte mir: er werde bald heimkehren; ich möchte ein wenig verziehen. Ich wartete. Familie hatte der alte Nürnberger Gelehrte nicht; ich glaube, er ist nie verheirathet gewesen.

Endlich trat er herein, eine kräftige Figur mit einem starken, fleischigen Kopfe, etwas hängenden Backen, scharf markirten Zügen, buschigen wulstigen Augenbrauen und tiefliegendem finsterblickenden Augen. Sein graues Haar fiel in Locken in den starken Nacken. Er trug einen hechtgrauen Ueberrock mit Perlenmutterknöpfen; weißes Halstuch. Das spanische Rohr mit dem goldenen Knopf behielt er in der Hand und die Schiffsmütze auf dem Kopfe, als er meinen sehr höflichen Gruß kurz erwiederte. Das mußte wahr sein, Umstände machte er nicht mit mir. Ich sah freilich sehr jung aus und war auch in der That erst sechsundzwanzig Jahre alt. Eine freundliche Gestalt war dieser alte deutsche Professor eben auch nicht, aber doch eine ehrfurchtgebietende, und ich brachte ihm alle Ehrfurcht entgegen, deren mein junges begeistertes Herz fähig war.

Professor Siebenkees war damals siebzig Jahre alt, wie ich später erkundet habe. In Nürnberg geboren, hatte er als Informator in Venedig gelebt und dort das Leben der berüchtigten Tochter Venedigs, Bianka Capello, geschrieben, für die ich mich ebenfalls sehr interessirte. Dann war er viele Jahre Professor der Geschichte und alten Literatur an der Universität zu Altdorf gewesen und nach Aufhebung derselben in seine Vaterstadt zurückgekehrt, wo er sich ausschließlich mit der Geschichte derselben beschäftigte.

Ich trug ihm meine Bitte auf die höflichste und artigste Weise vor, daß er mir doch mit dem reichen Schatz seiner gelehrten Kenntnisse etwas behülflich sein möchte, mich möglichst genau über die Nürnberger Geschichte zur Zeit der Luxemburger Kaiser und namentlich Karl’s IV. und Wenzel’s zu unterrichten. Der verstorbene Hofrath Haug in Stuttgart habe mir gerathen, mich an ihn, als den gelehrtesten Kenner dieser Geschichte, zu wenden. Er hörte mir schweigend zu und maß mich einige Male mit mürrischen Blicken, in die, wie es mir schien, sich etwas Spott mischte.

„Also mit der Geschichte Nürnbergs wollen Sie sich beschäftigen?“ fragte er endlich mit einer trockenen harten Stimme. „Das ist ja seltsam! Wer sind Sie denn?“

Ich nannte ihm, etwas eingeschüchtert, meinen Namen.

„Was haben Sie denn gelernt?“

Ich referirte bescheidentlich, wo und was ich studirt hatte. „Aber wie in aller Welt kommen Sie denn darauf, Nürnberger Geschichte zu studiren? Wozu soll Ihnen denn das nützen? Wollen Sie denn darüber schreiben?“

„Das ist allerdings mein Zweck.“

„Ach, junger Mann, das lassen Sie sich vergehen! Sie bekommen keinen Verleger zu Ihrem Buche und wenn es noch besser wäre. Niemand interessirt sich dafür, selbst hier am Orte nicht. Ich spreche aus Erfahrung. Ich habe einen Haufen Manuscripte, lauter Nürnberger Geschichte, fertig liegen; kein Buchhändler will etwas davon drucken lassen, obgleich ich die billigsten Bedingungen stelle und mich unablässig bemühe. Und ich habe doch einen berühmten Namen und Jedermann kennt meine Verdienste um die Geschichte meiner Vaterstadt. Wie wollen Sie junger namenloser Mensch erst mit einem solchen Werke aufkommen!“

„Um einen Verleger ist mir nicht bange,“ versetzte ich lächelnd. „Die Art und Weise, wie ich den Abschnitt [482] der Nürnberger Geschichte, von welchem ich Ihnen sagte, behandeln werde, sichert mir nicht nur den Verleger, sondern auch die Theilnahme eines großen Publikums.“

Der Herr Professor war während seiner rührenden Mittheilung fast gemüthlich geworden. Die rauhe Strenge aus seinen Zügen war verschwunden; er sah mich mit unverkennbarer Theilnahme an. Diese steigerte sich durch meine ihm mysteriöse Aeußerung noch mehr. Er rückte mir näher und fragte mich fast erstaunt, indem er mir freundlich die Hand reichte: „So, so! Nun auf welche neue Art behandeln Sie denn die Geschichte, daß sie aus Ihrer Feder so großes Interesse erweckt?“

„Ich will einen historischen Roman schreiben, der theilweise in Nürnberg zu der angegebenen Zeit spielt,“ antwortete ich ganz unbefangen.

Es wäre vergeblich, den Ausdruck beschreiben zu wollen, welchen das neugierige, leicht schmunzelnde Gesicht des Professors in dem Augenblicke annahm, als mir das Wort „Roman“ entschlüpft war; er war aus stupidem Staunen, Schrecken, Zweifel und Zorn gemischt. Die weißen Fleischmassen hingen schlaff herab, das Auge schoß einen düstern unheimlichen Blick auf mich; er trat einen Schritt zurück, und fragte, als traue er seinen Ohren nicht, hastig und barsch: „Was wollen Sie schreiben?“

Ich erschrak über den Ton dieser Stimme, über den Ausdruck dieser Züge, über die plötzliche Verwandlung des Mannes, und versetzte fast kleinlaut: „Einen historischen Roman in der Weise Walter Scott’s.“

„Einen Roman aus der Nürnberger Geschichte!“ brauste jetzt der alte ehrwürdige Professor auf, und Stimme, Blick und Bewegung des Mannes wurden wirklich furchtbar und drohend. „Einen Roman aus der Nürnberger Geschichte!“ wiederholte er noch einmal, aber jetzt zitterte die Stimme vor Zorn und Aufregung. „So sind Sie wohl ein Romanschreiber?“ schrie er auf.

Nie wohl hat ein junger Mann mit weniger Eitelkeit bekannt, daß er schon einige Romane geschrieben habe. Kaum aber war dieses Bekenntniß, fast wie das Geständniß eines Verbrechens abgelegt, als Professor Siebenkees alle Schranken seiner Entrüstung fallen ließ.

„Und Er kann sich unterstehen, meine Thürschwelle zu überschreiten und mich anzugehen, was Er in seine Schmiererei aus der Nürnberger Geschichte aufnehmen kann? Ich, ich soll Ihm die Hand zu solchem Skandal bieten? Ich, der Professor der Geschichte? Ich, der geborne Nürnberger? Den Augenblick pack’ Er sich aus meinen vier Wänden, Er unverschämter Mensch, oder ich vergreife mich an Ihm und werf’ Ihn hinaus. Fort! fort! Romanschreiber!“

Ueber diese plötzliche und unerwartete Wendung des erst so harmlosen Zwiegesprächs auf’s Aeußerste bestürzt, fand ich kein Wort weiter, als den bittenden Zuruf: „Herr Professor!“ Ich fühlte wie ich erbleicht war. Aber der gelehrte Greis schäumte vor Wuth. „H'naus - h'naus!“ schrie er wüthend. Die eine Hand streckte er nach mir aus, mit der andern schwang er mir das spanische Rohr so drohend vor der Nase, daß ich ernstlich fürchtete, er möchte mich schlagen. Ich griff rasch nach meiner Kopfbedeckung und eilte was ich vermochte, aus der Thür, begleitet und verfolgt von den Schmähungen des entrüsteten Mannes, der ganz außer sich darüber war, daß ein Romanschreiber es gewagt habe, zu ihm zu kommen und ihn um seine literarische Unterstützung zu bitten. Erst als ich auf der Straße war, bemerkte ich, daß ich in der Bestürzung meinen Stock im Zimmer des grimmigen Alten stehen gelassen hatte. Ich konnte und mochte ihn nicht entbehren und kehrte deshalb zurück. Auf dem Vorsaal stand die alte Haushälterin zitternd und bebend und machte bei meinem Wiedererscheinen eine abwehrende Bewegung des Schreckens gegen mich. „Was wollen Sie denn wieder, Sie gottloser Mensch?“ zeterte sie fast weinend.

„Meinen Stock! Holen Sie ihn mir aus dem Zimmer!“

„So hat den Herrn Professor noch kein Mensch geärgert wie Sie. Er kann sich ja gar nicht wieder fassen und wird sicherlich wieder krank werden. Was haben Sie ihm denn nur gethan, daß er so bös geworden ist?“

„Holen Sie mir den Stock!“

Die Zimmerthür wurde aufgerissen, der schwer beleidigte Professor schleuderte mir meinen Wanderstab vor die Füße. Ich hob ihn auf und trollte mich.

Ich war noch zu jung und zu empfindlich, als daß mir die tragikomische Geschichte nicht Nürnberg hätte verleiden sollen. Sehr verstimmt eilte ich in meinen Gasthof, schnürte mein Bündel und verließ die Stadt in einer sehr unangenehmen Stimmung, für die ich wenig Stunden früher so poetisch geschwärmt hatte. Meine Begeisterung war von einem eiskalten Strome abgekühlt worden. Es ist übrigens dies das einzige Mal, daß mir die Thüre gewiesen worden ist. Ein deutscher Professor that es, weil ich ein deutscher Romanschreiber war, und er hätte mich nicht verächtlicher behandeln können, wenn ich der Freiknecht selber gewesen wäre.




Blätter und Blüthen.

Die amerikanische Offiziersfarm. Wenn Du von einem der Häfen am westlichen Gestade des Michigansee’s westlich nach dem schönen romantischen Winnebagosee wanderst, so triffst Du wenige Meilen vom Landungsplatze an der frequenten Straße ein kleines Farmehaus (Bretterhaus mit innen gegypsten Wänden) mitten im Walde. Obgleich eine Fläche von circa 12 Ackern hinter dem Hause abgeklärt und das Haus selbst schon zwei Jahre aufgebaut, so ist die allernächste [483] Umgebung dennoch sehr wild. Kein grüner Rasen schließt sich freundlich an das Häuschen und es führt über den röthlichen lehmigten Sandboden ein Brett zu der Hausthüre, um bei schlechtem Wetter den glitschigen Boden ungefährdet zu passiren. Ein schlichtes, nur mit den nöthigen Küchengewächsen angepflanztes Gärtchen ist das einzige Zeichen, daß hier die Hand eines Menschen walte, denn alles Uebrige von niedergehauenem Walde trägt nur spärliche Spuren von Anbau. Einige Hühner und eine Kuh bilden das lebendige Inventar dieser Farm von 80 Ackern, und wenn der Eigenthümer vielleicht zufällig an der Fence steht, so machst Du Bekanntschaft mit ihm selbst und er ladet Dich im österreichischen Dialect ein, etwas näher zu treten. Hast Du keine Eile und folgst der treuherzigen Einladung des hübschen Mannes, der trotz seiner zerfetzten Kleidung seines banditenmäßigen Anzugs im rothen Hemde, seinen früheren Stand nicht verläugnet, so führt er Dich in sein Wohnzimmer und bietet Dir einen Platz auf seinem bescheidenen mit Stroh gepolsterten Divan an.

Es ist ein freundliches Zimmer, höchst einfach im deutschen Styl möblirt, und was hier höchst einfach heißt, das ist ein Möblement, das aus einem oben beschriebenen Divan, einem Tische und einigen Stühlen nebst zwei Betten besteht. An der Wand hängen einige Karten und ein paar Gewehre, über denen ein grüner Tyrolerhut paradirt.

Der Herr von Grünberg, so wollen wir ihn nennen, und seine liebenswürdige Gattin, zogen vor fünf Jahren in’s Land. Aus Prag gebürtig, diente er bei den kaiserlichen Uhlanen, stand lange Jahre in der Lombardei und zuletzt als Adjutant bei einem der österreichischen Erzherzoge. Warum er diesen Posten verließ, übergeben wir mit Stillschweigen, nur so viel, daß er als Ehrenmann resignirte. Die Revolution von Wien, an der er sich als Offizier der Nationalgarde betheiligte, zwang auch ihn, in Amerika eine neue Heimathsstätte zu suchen. Nicht ohne Mittel, die er auf Zinsen auslieh, lebte er hier einige Zeit recht behaglich, da aber sein Hauptschuldner fallirte und er nur einen Theil der Summe in „Land“ retten konnte, so sah er sich genöthigt, Farmer zu werden.

Ohne Mittel, diese Farm nun gehörig zu administriren, Dienstboten zu halten, und nicht im Stande, selbst mit eigener Hand tüchtige Beihülfe zu leisten und so dem Lande etwas abzuringen, kam er mehr und mehr zurück und häuften sich allmälig Schulden auf sein Eigenthum, die, wenn auch nicht von Belang, so doch durch den hohen Zinsfuß von 20% ein tief einfressender Krebsschaden wurden.

So sitzt er nun draußen einsam auf seinem Lande, um Morgens einige Stunden, oft durch Sumpf und Gestrüpp, seiner Kuh nachzujagen und sie zum Melken nach Hause zu eskortiren – ein Geschäft, das sich regelmäßig Abends wiederholt. Sein Viehfutter mäht er sich selbst, sein Holz zum Feuern und Kochen spaltet er ebenfalls eigenhändig, während seine Gattin, leidend durch die ungewohnten niedrigen Dienste einer Hausmagd, alle Wochen einige Mal in die Stadt zu Fuß geht, um einen schweren Korb mit Lebensbedürfnissen nach Hause zu schleppen, wenn sie nicht das Glück hat, auf einem mit Ochsen bespannten Bretterwagen gelegentlich aufzusitzen. Die Erinnerung an das „dolce far niente“, das er im schönen Venedig, in Mailand und Verona kennen gelernt, ist wie eine Fata Morgana längst verschwunden. Statt in der italienischen Oper, deren Melodien er noch manchmal halblaut vor sich hinträllert, hört er nur das Geläute des weidenden Viehes, und während der städtische Handwerker, der einst in Deutschland sein Felleisen keuchend an dem hoch zu Roß paradirenden Baron vorübergeschleppt, nun Sonntags in einem eleganten Einspänner an dessen Farm mit seiner Lady vorüber in das benachbarte Städtchen kutschirt, macht unser armer Freund, beliebt übrigens bei allen Nachbarn, mit seiner Gattin einen Spaziergang in den Busch, um süße Beeren zu suchen, oder besucht einen deutschen Bauer der Nachbarschaft, um mit diesem einige Stündchen zu verplaudern.

Aber das sei ihm zur Ehre nachgesagt, mit stoischer Gelassenheit erträgt er sein Schicksal – mit gemüthlicher Freundlichkeit empfängt er seine Gäste aus gebildeten Ständen, die ihn manchmal Abends zu einer Partie Whist besuchen und lächelnd entschuldigt sich seine liebenswürdige Gattin über den frugalen Abendtisch mit den Worten: „wir sind halt arm!“

(A. St.) 




Maria Stuart’s Briefe. In der lateinischen Abtheilung der kaiserlichen Bibliothek zu Paris befindet sich unter der Nr. 8660 ein kleines, in rothem Maroquin eingebundenes Manuscript, auf dessen Titelblatt die Worte stehen: „Lettres latines de Maria Stuart, reine d’Ecosse et dauphine de France.“ – Die dreiundsechzig Briefe, welche dieses Manuscript enthält, sind Uebungsstücke, welche Maria Stuart in ihrem zwölften Lebensjahre, vom Juli 1554 bis Januar 1555, zur Uebung im Lateinischen geschrieben hat. Charakteristisch ist der eine Brief, welchen sie an den Dauphin Franz, den sie 1558 heirathete, schrieb. Er lautet:

„Maria an Franz, den Dauphin. – Als ich die herrlichen Thaten Alexander's las, des größten Kriegshelden, der je gelebt, habe ich es beachtenswerth gefunden, mein Herr, daß er Nichts so sehr geliebt, wie die Literatur. Denn, als man ihm ein kleines Kästchen brachte – so schön, daß man unter den Schätzen des Darius nichts Schöneres finden konnte – und die Frage aufwarf, wozu es gebraucht werden sollte, schlugen die Einen dies, die Andern jenes vor; „es soll zur Aufbewahrung meines Homer dienen“ – sagte Alexander hiermit zu verstehen gebend, daß es keinen größeren Schatz gäbe, als Homer’s Werk. Ein anderes Mal deutete er dies in anderer Weise an, als Jemand außer sich vor Freude gelaufen kam, um ihm ein glückliches Ereigniß zu melden. „Was wirst Du mir Großes melden, mein Freund, wenn Du nicht melden kannst, daß Homer auferstanden ist?“ – sagte er, hiermit andeutend, daß aller Ruhm großer Thaten zu Grunde gehe, wenn nicht ein solcher Jünger da sei, wie Homer gewesen. Lieben Sie also die Literatur, mein Herr, die nicht blos Ihre Tugenden fördern, sondern auch Ihre schönen Thaten unsterblich machen wird.“ – „Saint-Germain 20. Decembre.“




Weibliche Druckerei. In einer kleinen Stadt unweit New-York hat eine Dame eine Buchdruckerei eröffnet, zugleich als Lehranstalt für weibliche Setzer, Drucker und Manuscriptenlieferanten. Daß in Amerika die Emancipation des weiblichen Geschlechts in Gewerbe und Handel keiner Schranke unterliegt, dürfte bekannt sein, und so giebt es bereits weibliche Professoren von allen möglichen Künsten und Wissenschaften, auf der westlichen Seite sogar einen weiblichen Grobschmied.




Literarisches. An interessanten Neuigkeiten kamen in vergangener Woche auf dem literarischen Markte an: Rank: Schön Minnele, eine Dorfnovelle. – J. von Rodenberg: Der Majestäten Felsenbier und Rheinwein lustige Kriegshistorie, ein Gedicht ähnlich wie Roquette’s Waldmeister. – Oettinger: Blutende Lieder, Liebesgedichte. – Gerstäcker: Aus zwei Welttheilen, gesammelte Erzählungen, wovon einige schon gedruckt sind. – Ludwig Storch’s Gedichte, in eleganter Ausstattung. – Giseke: Kleine Welt und große Welt. 3 Theile. – Pecht: Südfrüchte. Skizzenbuch eines Malers, 2 Bände. Als nächstens erscheinend wird noch angekündigt: Wilibald Alexis: Isegrimm oder die Ilitzer und Quilitzer, eine Fortsetzung seines größeren Romans: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. – Außerdem: Prinz Minnewein. Ein Mittesommerabend-Mährchen von Wolfgang Müller. – Die Waldlieder von Gustav Pfarrius, mit Illustrationen von Osterwald. – Um einem längst gefühlten Bedürfniß abzuhelfen, wird jetzt auch eine russische Grammatik angekündigt und zwar der Wiederabdruck einer von dem bekannten A. L. von Schloezer im Jahre 1766 in Petersburg verfaßten Sprachlehre, die auf Kosten der kaiserlichen Akademie gedruckt, beim 11. Bogen aber unterdrückt ward und von der nur ein einziges Exemplar noch existirt. Auch dieses Mal sollen nur so viel gedruckt werden, als Bestellungen darauf eingehen.




Unterirdische und unterseeische Eisenbahn. Die unterirdische Eisenbahn in London, welche unter der Stadt und unter [484] den Straßen hin – etwa 4 englische Meilen lang – zwei Eisenbahnhöfe verbinden soll, ist fertig, wenigstens das Geld dazu da, 300,000 Pfund Sterling das heißt in London so viel als fertig sein. Etwas länger dürfte es mit einer unterseeischen Eisenbahn dauern, die England und Frankreich verbinden soll. Ein Ingenieur hat unter dem Meere, etwa 100 Fuß tief, drei Felsen entdeckt, auf welchen die Eisenbahn ruhen soll. Es werden zwei ungeheure Röhren gegossen und zwischen Frankreich und England in zwei dicht verschlossenen Reifen, auf den drei Felsen ruhend, hingestreckt, vom Lande und von den Felsen aus aber durch Drähte gehalten, welche den dicksten Mannesschenkel an Dicke übertreffen. Die großen Eisenbahnröhren werden noch in Glasröhren eingeschlossen von solcher Stärke, daß kein Anker und kein Stein sie zerbrechen kann. Die Kosten sind geringer, als die einer längst fertigen Eisenbahn, die als die theuerste in der Welt zugleich die gewinnbringendste ist, nämlich die Black-well-Bahn. Unter den vielen Eisenbahnprojekten zur Verbindung von Frankreich und England zeichnet sich noch eine Brücke aus, die durch Luft-Ballons gehalten werden soll. Etwas sehr halsbrecherisch und luftschlösserlich, aber das Projekt liegt ganz vollständig ausgearbeitet vor.




Musikalische Stenographie. Ein Dominikanermönch in Genua, Ludovico Roletti, hat ein Mittel gefunden, jedes Stück, während es gespielt wird, eben so stenographisch niederzuschreiben, wie die Rede eines Kammer-Mitgliedes frisch vom Munde weg. Es war bereits einmal von einem Clavier die Rede, welches jede beliebige Phantasie, die Jemand darauf spielt, sofort auch in Noten auf's Papier bringt. Vielleicht kommt man noch auf Mittel, Gedanken gleich beim Entstehen in entsprechendes Druckpapier zu verwandeln.




Neue Colonie von Robinson’s. Die bekannte amerikanische Expedition nach Japan entdeckte unweit der südlichen Spitze der japanesischen Hauptinsel Nipan eine neue kleine Insel, deren Bewohner sich als Europäer und zwar als Schotten, Engländer und Spanier erwiesen. Sie waren zu verschiedenen Zeiten als Ueberbleibsel untergegangener Wallfischschiffe hier angekommen. Der Herr der Insel, ein Schotte, der sich als einzigen Grundeigenthümer betrachtet, wohnt schon seit 20 Jahren da. Der Commandeur der amerikanischen Expedition, Perry, kaufte 10 Acker Landes für 50 Dollars für eine Kohlen-Niederlage, wie denn die ganze japanesische Expedition zunächst keinen andern Zweck hat, als den, für die amerikanische Dampfschifffahrt dort Kohlendepots zu erwerben. Auf der entdeckten Insel fand man ungeheuere Massen wilder Ziegen und eine Menge und Verschiedenheit von Vegetation und köstlichen Früchten, besonders auch viel Fische, daß man annehmen kann, die Insel werde bald eine kaufmännische Wichtigkeit erhalten. An Damen fehlte es bedeutend. Unter 250 Bewohnern waren blos 11 Frauen.




Der mißverstandene Kuß. Eine Dame vom „reinsten Wasser“ in England (die bekannte Herzogin von Fiesbury) hatte ziemlich eine Stunde lang in einem Musikladen zugebracht und alle möglichen Sorten in Musik gesetzter Liebe gekauft, vergangene, gegenwärtige, zukünftige, erste, letzte, zärtliche, feurige, unglückliche, erhörte und unerhörte. Der für alles Schöne schwärmende Ladendiener hatte eine ganze Ladung Liebe in ihren Wagen hinausgetragen, ohne daß sie genug zu haben schien. Die sanfte verschämte Art, mit welcher sie die Titel der verschiedenen Arten von Liebe aus den Lagen gefordert hatte, z. B. „Willst du mich ewig lieben so wie heut?“ veranlaßte den zartsinnigen Commis öfter, seinen im Keimen begriffenen Backenbart zu zupfen, die Vatermörder zu rücken und an der „Dalle“ zu tupfen, um alle Waffen Amor’s, die offenbar von ihm ausgingen, wie er nicht anders meinen konnte, gehörig zu schärfen. Das Zögern der jungen Herzogin in der Thür, ihr verlegenes Zurückblicken, das endlich in ein resolvirtes Zurückkommen ausartete, veranlaßte den Jüngling, seine Vatermörder noch einmal zu zupfen und den schönen Kopf in der Binde in eine möglichst malerische, verführerische Attitüde zu wiegen. „Ich hätte beinahe vergessen,“ sagt die junge Herzogin, „noch – noch – es ist zwar nicht nöthig, aber es soll so schön sein. Haben Sie die Güte (kleine Pause), mir noch zu geben einen Kuß, bevor wir scheiden!“

„Wa – as? Wär’ es –“

„Einen Kuß, bevor wir scheiden, bitte!“ wiederholte sie jetzt kühn und ihn ohne Verlegenheit mit den schönen blauen Augen ansehend.

Auf den Flügeln der höchsten Liebe sprang der musikalische Diener über den Ladentisch, umfaßte ihre zarte Taille und gab ihr den so zärtlich erbetenen Kuß. Zu seinem größten Erstaunen belohnte sie ihn für diesen Muthsprung der Liebe mit einer ernsthaft gemeinten Ohrfeige, der ein dichter Schlagregen mit dem Stiele des Sonnenschirms folgte, in Begleitung leidenschaftlichen Kreischens. Volk und Polizei liefen herbei und letztere brachte den Mordanfall des Musikalien-Dieners auf die Ehre einer hohen Herzogin pflichtschuldigst vor den Polizeigerichtshof. Beleidiger und Beleidigte mussten beide zugegen sein, obgleich sich die verschämte Herzogin erst lange sträubte. Die Verhandlung war kurz, da die Herzogin mit „Einem Kuß, bevor wir scheiden“ ein neu in Musik gesetztes Lied gemeint, der noch neue Diener aber, ganz unbekannt mit diesem Titel, nicht umhin gekonnt hatte, die Sache so zu nehmen, wie er sie verstanden hatte. Der alte Herzog von W., der seit diesem Ereigniß manche Jahre hindurch mit der Herzogin von Fiesbury gelegentlich in Gesellschaften zusammenkam, unterließ nie, wenn er sie beim Piano fand, um „einen Kuß, bevor wir scheiden“ zu bitten, aber ohne Sonnen- und Polizeischirm.




Zur Nachricht!

Der unerwartet große Aufschwung, den unser illustrirtes Familienblatt in den letzten Wochen genommen, erlaubt uns heute die erfreuliche Mittheilung, daß die Gartenlaube vom nächsten Quartale ab in vergrößertem Formate und mit vermehrten Illustrationen erscheinen wird. Die mit jeder Woche sich mehrenden guten Beiträge erfordern eine solche Ausdehnung, mit der wir zugleich dem Beifall unserer vielen Freunde zu danken hoffen.

 Redaktion und Verlagshandlung
 der Gartenlaube.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.