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Die Eroberung des Brotes/Das kollektivistische Lohnsystem

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Textdaten
Autor: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
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Titel: Das kollektivistische Lohnsystem
Untertitel:
aus: Die Eroberung des Brotes, S. 125–137
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Der Syndikalist
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: Bernhard Kampffmeyer
Originaltitel: La conquête du pain. Paris 1892
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Cornell-USA* = Commons
Kurzbeschreibung:
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[125]

DAS KOLLEKTIVISTISCHE LOHNSYSTEM.

I.

In ihren Plänen über die Regeneration der Gesellschaft begehen die Kollektivisten[UE 1] unserer Ansicht nach einen doppelten Irrtum. Sie sprechen davon, das kapitalistische Regime abschaffen zu wollen, und nichtsdestoweniger wollen sie zwei Institutionen, welche die Grundlage dieses Regimes bilden, aufrechterhalten: die Repräsentativregierung und das Lohnsystem.

Was die Regierung, welche sich selbst Repräsentativregierung nennt, anlangt, so haben wir uns schon häufig über sie ausgesprochen. Es ist uns absolut unverständlich, wie intelligente Männer – und die kollektivistische Partei ermangelt dieser keineswegs – Anhänger von nationalen oder munizipalen Parlamenten bleiben können, und dies nach allen den Lehren, welche die Geschichte uns in Frankreich sowohl wie in England, in Deutschland, in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten bezüglich dieses Gegenstandes gegeben hat.

Während wir sehen, daß das parlamentarische Regime überall zu Grunde geht und während überall schon eine Kritik der Prinzipien dieses Systems, nicht bloß mehr seiner Anwendung, erwacht – wie kommt es da, daß revolutionäre Sozialisten dieses Regime, das offenbar zum Tode verdammt ist, noch verteidigen.

Erdacht von der Bourgeoisie, um die königliche Gewalt zu kontrollieren und zu gleicher Zeit ihre Herrschaft über die Arbeiterklasse zu sanktionieren, ist das parlamentarische Regime die Herrschaftsform der Bourgeoisie par excellence. Die Hauptbegründer und -Verteidiger dieses Systems haben auch niemals ernsthaft behauptet, daß ein Parlament oder ein Munizipalrat wirklich die Vertretung einer Nation oder einer Stadt bilden könne, die Intelligenzen unter ihnen wissen sehr wohl, daß derartiges unmöglich ist. Durch das parlamentarische Regime hat die Bourgeoisie einfach dem Königtum einen Damm entgegensetzen wollen, ohne dem Volke die Freiheit zu geben. Doch in dem Maße, wie sich das Volk seiner selbst bewußt wird und die Mannigfaltigkeit der Interessen wächst, wird ein Funktionieren dieses Systems mehr und mehr unmöglich.

[126] Die Demokraten aller Länder sinnen daher auch vergeblich auf die verschiedensten Palliativmittelchen. Man versucht es mit dem Referendum und findet, daß es nichts taugt. Man spricht von der Proportionalvertretung, der Vertretung der Minoritäten – und andern parlamentarischen Utopien. – Man müht sich, mit einem Wort, mit der Suche nach etwas Unfindbarem ab. Man ist gezwungen, anzuerkennen, daß man sich auf falschem Wege befindet, und das Vertrauen zu einer Repräsentativregierung schwindet.

Ebenso steht es mit dem Lohnsystem: denn, nachdem man die Abschaffung des Privateigentums und das Gemeindeeigentum an den Produktionsmitteln erklärt hat, wie kann man da noch die Aufrechterhaltung des Lohnsystems in der einen oder anderen Form fordern? Und dennoch tun es die Kollektivisten, indem sie die Arbeitsbons predigen.

Man begreift, daß die englischen Sozialisten am Anfange dieses Jahrhunderts zu der Erfindung der Arbeitsbons kommen konnten: Sie suchten eben eine Harmonie zwischen Kapital und Arbeit herzustellen. Sie verabscheuten jeden Gedanken, gewaltsam an dem Eigentum zu rütteln.

Wenn später Proudhon diese Erfindung aufnahm, so ist uns auch dies noch begreiflich. In seinem mutualistischen System suchte er das Kapital weniger offensiv zu machen. Er behielt das individuelle Eigentum, das er im Grunde seines Herzens verabscheute, bei, aber nur, weil er es als Schutz des Individuums gegen den Staat für notwendig hielt.

Daß die mehr oder weniger bürgerlichen Oekonomisten gleichfalls die Arbeitsbons akzeptieren, setzt uns keineswegs in Erstaunen. Es ist ihnen gleichgültig, ob der Arbeiter in Arbeitsbons oder in klingender Münze mit den Bildnissen der Republik oder des Kaisertums bezahlt wird. Ihnen ist nur daran gelegen, daß in dem kommenden Zusammensturz das individuelle Eigentum an den Wohnhäusern und dem industriellen Kapital auf jeden Fall gerettet wird. Und um dieses Eigentum zu retten, werden ihnen die Arbeitsbons sehr gute Dienste leisten.

Vorausgesetzt, daß der Arbeitsbon gegen Edelsteine und Equipagen ausgetauscht werden kann, wird ihn der Hauseigentümer gern bei der Mietszahlung entgegennehmen. Und solange das Wohnhaus, das Feld und die Fabrik isolierten Eigentümern gehören, wird auch ein Zwang bestehen, letztere in irgend einer Weise dafür zu bezahlen, daß man auf ihren Feldern oder in ihren Fabriken arbeiten oder ihre Häuser bewohnen kann. Der Zwang wird der gleiche sein, ob die Zahlung in Gold, Papier, Geld oder Arbeitsbons, gegen die man jede Ware eintauschen kann, erfolgt.

Wie kann man aber diese neue Form des Lohnsystems – den Arbeitsbon – verteidigen, wenn man annimmt, daß das Haus, das Feld, die Fabrik nicht mehr Privateigentum sind, daß sie der Kommune oder der Nation gehören?

II.

Betrachten wir einmal dieses Entschädigungssystem, wie es von den französischen, deutschen, englischen und italienischen Kollektivisten gepredigt wird, ein wenig näher.

[127] Dasselbe läuft auf folgendes hinaus: Jedermann arbeitet auf den Feldern, in den Fabriken, den Schulen, den Hospitälern usw. Der Arbeitstag wird durch den Staat, dem die Erde, die Fabriken, die Verkehrsmittel usw. gehören, geregelt. Jeder Arbeitstag kann gegen einen „Arbeitsbon“ ausgetauscht werden, der, sagen wir, die Worte: „8 Stunden Arbeit“ trägt. Mit diesem Bon kann sich der Arbeiter in den Magazinen des Staates oder bei den verschiedenen Korporationen alle Warengattungen verschaffen. Der „Bon“ ist teilbar, derart, daß man für eine Stunde Arbeit Fleisch, für zehn Minuten Streichhölzer oder auch für eine halbe Stunde Tabak kaufen kann. Anstatt zu sagen: für 5 Pfennig Seife, wird man nach der kollektivistischen Revolution sagen: „für 5 Minuten Seife.“

Die meisten Kollektivisten, getreu dem Unterschied, der von den bürgerlichen Oekonomisten (und von Marx) zwischen „qualifizierter“ und „einfacher“ Arbeit gemacht wurde, lehren uns, daß die „qualifizierte“ oder professionelle Arbeit höher bezahlt werden müßte als die „einfache“ Arbeit. So müßte eine Arbeitsstunde des Arztes als gleichwertig mit 2 oder 3 Arbeitsstunden des Krankenwärters oder auch drei Stunden des Erdarbeiters betrachtet werden. „Die professionelle oder qualifizierte Arbeit wird ein Vielfaches der einfachen Arbeit sein“, sagt uns der Kollektivist Groenlund, weil diese Arbeit eine mehr und minder lange Lehrzeit erfordert.

Andere Kollektivisten, z. B. die französischen Marxisten, machen diese Unterscheidung nicht. Sie proklamieren „die Gleichheit der Löhne“. Der Doktor, der Schullehrer, der Professor werden bezahlt werden (in Arbeitsbons) nach der gleichen Taxe wie der Erdarbeiter. Acht Stunden Hospitaldienst werden denselben Wert wie 8 Stunden Erd-, Fabrik- oder Bergwerksarbeit repräsentieren.

Einige machen noch weitere Konzessionen; sie nehmen an, daß die ungesunde oder unangenehme Arbeit, z. B. diejenige des Kloakenreinigens, nach einer höheren Taxe als die angenehme Arbeit bezahlt werden könnte. Eine Stunde Kloakenreinigungsdienst wird, sagen sie, für 2 Arbeitsstunden eines Sprachlehrers rechnen.

Manche Kollektivisten nehmen auch die Entschädigung en bloc durch die Korporation an. Eine Korporation sagt z. B.: „Hier sind 100 Tonnen Stahl, die Produktion derselben ist durch 100 Arbeiter geschehen und wir haben darauf 10 Tage verwandt; da unser Arbeitstag 8 Stunden gewährt hat, so macht dies 8000 Arbeitsstunden für 100 Tonnen Stahl und 80 Stunden für eine Tonne.“ Für diese Arbeitsleistung soll ihnen dann der Staat 8000 Arbeitsbons à eine Stunde geben und diese 8000 Bons werden dann unter die Mitglieder der Fabrik nach deren Gutdünken verteilt.

Einen anderen Fall gesetzt: 100 Bergleute haben 20 Tage zur Förderung von 8000 Tonnen Kohle gebraucht; die Tonne Kohlen würde also einem Werte von 2 Arbeitsstunden gleichkommen. Diese 16 000 Bons à 1 Stunde werden der Korporation der Bergleute vom Staate ausgehändigt und diese verteilt sie dann nach Gutdünken unter ihren Mitglieder.

Wenn die Bergleute nun protestierten und sagten: die Tonne Stahl darf nur 6 Arbeitsstunden und nicht 8 kosten; wenn der Lehrer sich [128] seine Tagesarbeit doppelt so hoch entschädigen lassen will als der Krankenwärter – dann tritt der Staat in Funktion und regelt die Differenzen. Das ist in wenigen Worten die Organisation, welche die Kollektivisten aus der sozialen Revolution hervorgehen lassen wollen. Wie man sieht, sind ihre Prinzipien folgende: Kollektiveigentum an den Arbeitsinstrumenten, und Entschädigung des Einzelnen je nach der bei der Produktion aufgewendeten Zeit, unter Berücksichtigung der Produktivität seiner Arbeit. Bezüglich des politischen Regimes würde es der Parlamentarismus sein, gemildert durch das Zwangsmandat und durch das „Referendum“, d. h. das Plebiszit mittels „ja“ oder „nein“.

Bemerken wir erstlich, daß dieses System uns absolut undurchführbar erscheint.

Die Kollektivisten proklamieren zuerst ein revolutionäres Prinzip – die Abschaffung des Privateigentums – und verneinen es nachher wieder durch die Aufrechterhaltung einer Organisation innerhalb der Produktion und Konsumtion, die ihren Ursprung im Privateigentum hat.

Sie proklamieren ein revolutionäres Prinzip und ignorieren die Konsequenzen, die dieses Prinzip unvermeidlich nach sich ziehen muß. Sie vergessen, daß die bloße Tat der Abschaffung des Privateigentums an den Arbeitsinstrumenten (dem Grund und Boden, den Fabriken, den Verkehrsmitteln, den Kapitalien) die Gesellschaft auf absolut neue Bahnen leiten, die gesamte Produktion von Grund auf umwälzen muß – ebensowohl in ihren Zielen wie in dem Mittel; daß es die Aenderung der gesamten täglichen Beziehungen zwischen den Individuen heißt, sobald der Grund und Boden, die Maschine und alle übrigen Arbeitsinstrumente als Gemeinbesitz betrachtet werden.

„Kein Privateigentum“, sagen sie – und sogleich beeilen sie sich wieder, das Privateigentum in seinen täglichen Manifestationen aufrechtzuerhalten. Ihr werdet, erwidern wir, eine Kommune sein, was die Produktion anbelangt; die Felder, die Werkzeuge, die Maschinen – alles was bis zum heutigen Tage geschaffen worden ist, die Manufakturen, die Eisenbahnen, die Brücken, die Bergwerke usw., alles wird Euch gehören.

Aber morgen werdet Ihr Euch kleinlich den Anteil streitig machen, den Ihr an der Erschaffung neuer Maschinen, an der Erschließung neuer Bergwerke haben werdet. Ihr werdet genau den Teil abzuwägen suchen, welcher Jedem in der neuen Gesellschaft zufällt. Ihr werdet Eure Arbeitsminuten zählen und werdet darüber wachen, daß Euer Nachbar mit seiner Arbeitsminute nicht mehr kaufen kann als Ihr mit der Eurigen.

Und da die Stunde keinen Maßstab angibt, da in der einen Manufaktur ein Arbeiter 6 Webstühle zugleich bedienen kann, während er in der andern Fabrik nur deren zwei überwachen kann, so werdet ihr die Muskelkraft, die Gehirn- und Nervenenergie, die Ihr verbraucht habt, zu bestimmen versuchen. Ihr werdet genau die Lehrjahre usw. in Anschlag bringen, um den Anteil eines Jeden an dem zukünftigen Produkt nur ja genau bestimmen zu können. Und alles dieses, nachdem Ihr erklärt habt, daß Ihr nicht den Anteil in Rechnung stellet, welchen in der Produktion die Vergangenheit genommen hat.

*

[129] Für uns ist es aber augenscheinlich, daß sich eine Gesellschaft nicht auf zwei absolut entgegengesetzten Prinzipien, zwei Prinzipien, die ständig mit einander in Widerstreit geraten müssen, basieren läßt. Und die Nation oder die Kommune, die sich eine derartige Organisation gibt, würde gezwungen sein, entweder zum Privateigentum zurückzukehren oder sich unmittelbar in eine kommunistische Gesellschaft umzugestalten.

III.

Wir haben von gewissen kollektivistischen Schriftstellern gesagt, daß sie eine Unterscheidung zwischen qualifizierter oder professioneller Arbeit und einfacher Arbeit fordern. Sie behaupten, daß die Arbeitsstunde des Ingenieurs, des Architekten oder des Arztes als zwei oder drei Arbeitsstunden des Schneiders, des Maurers oder des Krankenwärters gerechnet werden müßte. Dieselbe Unterscheidung muß, wie sie sagen, gegenüber jeder Arbeit, die im Verhältnis zu den Verrichtungen des Tagelöhners eine mehr oder weniger lange Lehrzeit erfordert, gemacht werden.

Nun, diese Unterscheidung machen, heißt alle Ungleichheiten der gegenwärtigen Gesellschaft aufrecht erhalten. Es heißt im Voraus eine Scheidungslinie ziehen zwischen den Arbeitern und Denen, welche sie zu beherrschen beanspruchen. Es heißt die Gesellschaft in zwei streng von einander geschiedene Klassen teilen, die Aristokratie des Wissens über dem Plebs der schwieligen Hände thronen lassen, die eine der andern dienstbar machen; die eine soll mit ihren Armen schaffen, um die zu ernähren und zu kleiden, welche ihre Muße dazu benutzen, ihre Ernährer beherrschen zu lernen.

Es bedeutet nichts weiter, als einen der charakteristischen Züge der gegenwärtigen Gesellschaft herausgreifen und ihm die Sanktion der sozialen Revolution geben. Es heißt einen Mißbrauch, den man heute schon in der absterbenden alten Gesellschaft verdammt, zum Prinzip zu erheben.

*

Wir wissen, was man uns erwidern wird. Man wird uns von „wissenschaftlichem Sozialismus“ sprechen. Man wird die bürgerlichen Oekonomisten – und auch Marx – anführen, um zu beweisen, daß die Lohnskala ihre Berechtigung hat, da die „Arbeitskraft“ des Ingenieurs der Gesellschaft mehr gekostet hat als die „Arbeitskraft“ des Erdarbeiters. Und haben uns die Oekonomisten nicht auch wirklich zu beweisen gesucht, daß der Ingenieur 20 Mal so hoch honoriert wird als der Erdarbeiter – weil die „gesellschaftlich notwendigen“ Kosten, um einen Ingenieur zu erzeugen, höher sind als die, welche die Heranbildung eines Erdarbeiters erfordert. Und haben die Marxisten nicht behauptet, daß dieselbe Unterscheidung ebenso logisch und notwendig zwischen den verschiedenen Zweigen der Handarbeit sei? Die mußten so schließen, da Marx, von der Werttheorie Ricardos ausgehend, behauptet hatte, daß die Produkte und die Arbeitskraft sich austauschen nach Maßgabe der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit.

Aber wir wissen auch, was wir von dieser Behauptung zu halten haben. Wir wissen, daß, wenn der Ingenieur, der Gelehrte, der Arzt [130] heute 10 oder 100 mal so hoch bezahlt wird, als der Arbeiter, und wenn der Spinner dreimal soviel als ein Landarbeiter und zehnmal soviel als eine Arbeiterin in den Zündholzfabriken empfängt, dies nicht auf Grund ihrer „Produktionskosten“ geschieht. Es ist dies vielmehr die Folge eines Erziehungs- und Industriemonopols. Der Ingenieur, der Gelehrte und der Arzt beuten ebensogut ein Kapital – ihr Patent – aus, wie der Bourgeois eine Fabrik oder der Adlige seine Geburtstitel ausbeutete.

Wenn der Arbeitgeber den Ingenieur zuweilen 20 mal höher als den Arbeiter bezahlt, so tut er es auf Grund folgender sehr einfacher Rechnung: „Der Ingenieur kann mir bei der Produktion im Jahre 100 000 Francs ersparen, also – zahle ich ihm 20 000 Francs.“ Und wenn er einen Zwischenmeister findet, der recht geschickt ist, die Arbeiter in Schweiß zu bringen und der ihm jährlich an der Handarbeit 10 000 Francs ersparen kann, so ist er natürlich schnell bei der Hand, demselben 2 – 3000 Francs jährlich zu geben. Er verausgabt 1000 Francs im voraus mehr, weil er darauf rechnet, sie nachher 5fach wieder zu gewinnen; das ist das Wesen des kapitalistischen Regimes. Ebenso verhält es sich auch mit den Differenzen zwischen[WS 1] den Löhnen der verschiedenen Handarbeiten.

*

Man komme uns nicht und spreche uns von „Produktionskosten“, welche die Arbeitskraft kostet und sage uns, daß ein Student, der seine Jugend lustig auf der Universität verbracht hat, Recht auf einen zehn mal so hohen Lohn hat, als das Kind eines Bergarbeiters, das sich von seinem 11. Lebensjahre in der Grube abquält, oder auch, daß ein Spinner drei oder viermal soviel an Lohn als ein Landarbeiter beanspruchen darf.

Die Kosten, die notwendig[WS 2] sind, um aus Jemand einen Spinner zu machen, sind nicht drei oder vier Mal so hoch, als die Kosten, welche die Erlernung der Landarbeit erfordert. Der Spinner profitiert einfach von den Vorteilen, in welchen sich die Spinnerei seines Landes im Verhältnis zu der anderer europäischer Länder, die in dieser Industrie noch zurückstehen, befindet.

Niemand hat übrigens jemals diese „Produktionskosten“ berechnet. Und wenn auch ein Müßiggänger der Gesellschaft mehr kostet als ein arbeitsamer Mensch, so bleibt immer noch zu wissen, ob nicht, alles gerechnet (die Sterblichkeit der Arbeiterkinder, die Blutarmut, die an ihnen nagt, die frühzeitigen Tode usw.) ein robuster Tagelöhner der Gesellschaft mehr kostet, als ein Handwerker.

Will man uns etwa glauben machen, daß z. B. der Lohn von 30 Sous (M. 1,20), welchen man der Pariser Arbeiterin zahlt, die 6 Sous (M. 0,24) der Bäuerin aus der Auvergne, die über ihrer Klöppelei erblindet, oder die 40 Sous (M. 1,60) Tagelohn des Bauern ihre „Produktionskosten“ darstellen? Wir wissen wohl, daß man häufiger für noch weniger arbeitet, wir wissen aber auch, daß man es ausschließlich tut, weil man dank unserer herrlichen Organisation ohne diese schändlichen Löhne des Hungers sterben müßte.

Für uns ist die Lohnskala ein äußerst kompliziertes Produkt von Steuern, staatlicher Bevormundung, Kapitalskonzentration, in einem [131] Wort des Staats- und Kapitalsmonopols. Auch müssen wir bemerken, daß alle jene Theorien über die Verschiedenheit der Löhne erst später erfunden worden sind, um die Ungerechtigkeiten, die gegenwärtig bestehen, denen wir indes nicht Rechnung tragen dürfen, zu rechtfertigen.

Man wird sicherlich nicht verfehlen, uns entgegenzuhalten, daß die kollektivistische Lohnskala immerhin einen Fortschritt bedeutet. – Es wird immerhin besser sein, wenn einige Arbeiter einen 2- oder 3 mal so hohen Lohn bekommen im Verhältnis zu dem, welcher heute gang und gäbe ist, als daß der Minister für einen Tag ebensoviel als der heutige Arbeiter in einem Jahre bezieht. Das wird immerhin ein Schritt zur Gleichheit sein.

In unseren Augen wäre es ein zweifelhafter Fortschritt. In eine neue Gesellschaft die Unterscheidung zwischen „einfacher“ und „qualifizierter“[WS 3] Arbeit einführen, liefe darauf hinaus – wie wir schon einmal sagten –, durch die Revolution eine Brutalität, die wir wohl heute hinnehmen, aber nichtsdestoweniger ungerecht finden, zu sanktionieren und zum Prinzip zu erheben. Es hieße, jene Herren vom 4. August 1789 nachahmen, welche die Abschaffung der feudalen Vorrechte mit effektvollen Phrasen proklamierten, aber diese zu gleicher Zeit sanktionierten, indem sie die Bauern zur Ablösung dieser Vorrechte zwangen und die Feudalherren dadurch unter den Schutz der Revolution stellten. Es hieße auch die russische Regierung nachahmen, die bei der Aufhebung der Leibeigenschaft erklärte, daß der Grund und Boden künftighin den Adligen gehöre, obgleich früher es nur ein unerhörter Mißbrauch war, wenn der Herr über das den Leibeigenen gehörige Land verfügte.

Oder um noch ein bekanntes Beispiel zu wählen: Als die Kommune von 1871 beschloß, den Mitgliedern des Kommunalrates fünfzehn Francs täglich zu zahlen, während die auf den Befestigungen kämpfenden Föderierten nur 30 Sous (M. 1,20) beziehen sollten, wurde dieser Beschluß schon als ein Akt hoher egalitärer Demokratie mit allgemeinem Beifall begrüßt. In Wirklichkeit bestätigte die Kommune damit nur die alte Ungleichheit zwischen dem Beamten und dem Soldaten, zwischen der Regierung und dem Regierten. Von Seiten einer opportunistischen Kammer hätte ein derartiger Beschluß wunderbar erscheinen können; die Kommune versündigte sich damit an ihrem revolutionären Prinzip, verdammte es geradezu dadurch.

Wenn wir in der gegenwärtigen Gesellschaft einen Minister ein Jahresgehalt von 100 000 Francs empfangen sehen, während der Arbeiter sich mit tausend oder noch weniger begnügen muß; wenn wir die Zwischenmeister zweimal so hoch als den Arbeiter bezahlt sehen und bemerken, daß auch zwischen den Arbeitern die verschiedensten Lohnsätze von zehn Francs täglich bis zu den 6 Sous (M. 0,24) der Bäuerin bestehen, so mißbilligen wir das hohe Gehalt des Ministers, ebenso aber auch die Differenz zwischen den 10 Francs des Arbeiters und den 6 Sous des armen Weibes. Und wir sagen: „Nieder mit den Privilegien der Erziehung wie mit denjenigen der Geburt!“ Wir sind Anarchisten, gerade weil wir diese Privilegien hassen.

Sie sind uns schon in der heutigen autoritären Gesellschaft häßlich [132] – und wir sollten sie in einer Gesellschaft dulden, deren erstes Werk die Proklamation der Gleichheit sein sollte?

Das ist auch der Grund, weshalb manche Kollektivisten die Unmöglichkeit einer Aufrechterhaltung der Lohnskala innerhalb einer vom Hauch der Revolution begeisterten Gesellschaft begreifen und sich zu proklamieren beeilen, daß die Löhne in der Zukunftsgesellschaft gleichgestellt werden. Doch sie stoßen auf neue Schwierigkeiten und ihre Gleichheit der Löhne wird sich als ebenso wenig verwirklicht erweisen als die Lohnskala der anderen Kollektivisten.

Eine Gesellschaft, die sich der gesamten sozialen Reichtümer bemächtigt und welche laut das Recht Aller auf diese Reichtümer erklärt hat – welchen Anteil sie auch früher an der Schaffung derselben gehabt haben – wird gezwungen sein, die ganze Idee des Entlohnens der Arbeit, sei es in Geld, in Arbeitsbons oder in irgend einer anderen Form, aufzugeben.

IV.

„Jedem nach seinen Werken“, sagen die Kollektivisten, oder in anderen Worten: Jeder nach den Diensten, die er der Gesellschaft erwiesen. Und man empfiehlt dieses Prinzip, obgleich es jetzt in Geltung steht, bevor die Revolution die Arbeitsinstrumente und alles, was zur Produktion notwendig ist, in Gemeineigentum verwandelt hat!

Nun, wenn die soziale Revolution so unglücklich sein sollte, dieses Prinzip zu reklamieren, so hieße das die Entwickelung der Menschheit hemmen, es würde bedeuten, das ungeheure soziale Problem, das uns von den vergangenen Jahrhunderten überkommen, ungelöst lassen.

In der Tat, in einer Gesellschaft wie der unsrigen, wo wir sehen, daß der Mensch, je mehr er arbeitet, um so weniger Lohn erhält, konnte dieses Prinzip auf den ersten Blick als ein Schritt zur Gerechtigkeit erscheinen. Im Grunde bedeutet es aber nur die Weihung der früheren Ungerechtigkeiten. Gerade mit diesem Prinzip ist das Lohnsystem auf die Welt gekommen, um schließlich in den schreiendsten Ungerechtigkeiten, allen den Ungeheuerlichkeiten zu endigen; denn gerade mit dem Tage, wo man die geleisteten Dienste in Geld oder jeder anderen Lohnform zu werten begann – mit dem Tage, wo man sagte, daß jeder nur das erhielte, was ihm gelänge, sich für seine Mühen zahlen zu lassen, war die gesamte Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft mit der Hülfe des Staates im voraus geschrieben. Sie war in diesem Prinzip im Keime enthalten.

Sollen wir also auf den Ausgangspunkt zurückkehren und die gleiche Entwicklung von neuem durchmachen. Unsere Theoretiker wollen es: doch glücklicher Weise ist es unmöglich. Die Revolution, wiederholen wir, wird eine kommunistische sein; wenn nicht, so wird sie ein neues Blutbad in ihrem Gefolge haben.

*

Die der Gesellschaft geleisteten Dienste – sei es in der Fabrik oder auf den Feldern, oder auch die moralischen Dienste, sie können nicht in Münzeinheiten gewertet werden. Es kann kein exaktes Wertmaß für das, [133] was man unkorrekter Weise Tauschwert genannt hat, geben und ebensowenig für den Gebrauchswert.

Wenn wir zwei Individuen Jahre hindurch täglich fünf Stunden für das Allgemeinwohl arbeiten sehen, und zwar in verschiedenen Tätigkeitszweigen, die ihnen gleichmäßig zusagen, so können wir vielleicht sagen, daß, im ganzen genommen, ihre Arbeitsprodukte gleichwertig sind. Doch man kann nicht ihre Arbeit in Stücke zerlegen und sagen, daß das Produkt des einen an jedem Tage, in jeder Stunde, in jeder Minute, gleich dem Produkt des andern innerhalb dieser Zeiten ist.

Man kann wohl sagen, daß der Mensch, welcher während seines ganzen Lebens zehn Stunden täglich gearbeitet hat, der Gesellschaft wohl mehr geleistet hat, als jener, welcher nur fünf Stunden oder überhaupt nicht gearbeitet hat. Doch man kann nicht das nehmen, was er in zwei Stunden produziert hat, und davon sagen, daß es zweimal soviel wert ist als das Produkt einer Arbeitsstunde eines anderen Individuums und es dementsprechend entlohnen. Dies hieße den ganzen innigen Zusammenhang, der zwischen der Industrie, der Landwirtschaft, dem gesamten Leben der modernen Gesellschaft besteht, verkennen, es hieße ignorieren, in einem wie weiten Maße jede Arbeit des Individuums das Resultat früherer und gegenwärtiger Arbeiten der gesamten Gesellschaft ist. Es hieße, sich in der Steinzeit glauben, während wir im Zeitalter des Stahls leben.

Tretet in ein Kohlenbergwerk ein und betrachtet Euch jenen Mann, der bei der gewaltigen Maschine postiert ist, die den Fahrstuhl hinauf- und hinabsteigen läßt. Er hält in der Hand den Hebel, welcher den Gang der Maschine hemmt und wechselt, er senkt ihn und der Fahrstuhl steigt pfeilschnell empor, er hebt ihn und er verschwindet in fabelhafter Schnelligkeit in der Tiefe. Ganz Aufmerksamkeit, verfolgt er mit den Augen einen Zeiger, der ihm auf einer Skala die Stelle des Schachtes bezeichnet, an welchem sich der Fahrstuhl in jedem Augenblicke seines Ganges befindet; und wenn der Zeiger eine bestimmte Stelle erreicht hat, so hemmt er plötzlich den Hebel und der Fahrstuhl hält an dem gewollten Punkte, nicht einen Meter höher oder niedriger. Und kaum hat man die mit Kohlen beladenen Wägelchen in ihm entleert, so schnellt er den Hebel zurück, und der Fahrstuhl steigt von neuem an das Tageslicht empor.

Während 8 und 10 Stunden hintereinander hält er seine Aufmerksamkeit derartig gespannt. Wenn sein Gehirn einen Augenblick erschlafft, so stößt der Fahrstuhl auf, zerbricht die Räder, zerreißt das Kabel, erschlägt Menschen und gebietet der gesamten Arbeit in der Mine Stillstand. Verpaßt er zwei oder drei Sekunden bei jedem Hebelschlag, so bedeutet dies in den modernen vervollkommneten Bergwerken eine tägliche Herabsetzung der Förderung um 20–50 Tonnen.

Ist er es, welcher in der Mine den wichtigsten Dienst versieht? Ist es vielleicht der Knabe, welcher ihm durch eine Glocke das Signal zum Hinaufsteigen des Fahrstuhls gibt? Ist es der Bergmann, der jeden Augenblick in der Tiefe des Schachtes sein Leben aufs Spiel setzt und eines Tages durch ein schlagendes Wetter getötet werden wird? Oder [134] der Ingenieur, der auf Grund eines einfachen Additionsfehlers in seinen Berechnungen die Kohlenschicht verliert und auf Stein bohren läßt? Oder endlich der Eigentümer, der sein ganzes Vermögen in das Bergwerk gesteckt hat und vielleicht entgegen allen Berechnungen gesagt hat: „Bohret hier, hier werdet Ihr ausgezeichnete Kohle finden.“

Alle Arbeiter, die in der Mine angestellt sind, tragen zur Kohlenförderung nach Maßgabe ihrer Kräfte, ihrer Energie, ihres Wissens, ihrer Intelligenz und ihrer Geschicklichkeit bei. Und wir können sagen, daß alle das Recht zu leben haben, ihren Bedürfnissen zu genügen, sogar ihren Luxusbedürfnissen, nachdem die Produktion des Notwendigen für Alle gesichert ist. Aber wie können wir ihre Werke abschätzen?

Und dann, – ist die Kohle denn, die sie gefördert haben, ihr Werk? Ist sie nicht auch das Werk jener Menschen, welche die Eisenlinie, die zur Mine führt und die Straßen, welche von allen ihren Stationen ausgehen, erbaut haben? Ist sie nicht auch das Werk derer, die die Felder bestellt und besäet haben, das Eisen gegraben, die Bäume im Wald gefällt, da Maschinen, in denen die Kohlen verbrannt, konstruiert haben und so fort?

Kein Unterschied kann zwischen den Werken der Einzelnen gemacht werden. Sie zu messen nach den Resultaten, führt ins Absurde. Sie zu zerlegen und zu bemessen nach den Arbeitsstunden, führt uns gleichfalls ins Absurde. Es bleibt nur eins: Die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen und zuerst das Recht auf das Leben anzuerkennen, alsdann darauf bedacht zu sein, für den Wohlstand aller derer zu sorgen, welche irgend einen Anteil an der Produktion nehmen.

*

Nehmet jeden anderen Zweig menschlicher Tätigkeit, nehmet die Gesamtheit der Lebensmanifestationen. Wer unter uns darf für seine Werke eine höhere Belohnung verlangen? Etwa der Arzt, der die Krankheit geahnt oder der Krankenwächter, der die Heilung durch seine sorgliche Pflege gesichert hat?

Etwa der Erfinder der ersten Dampfmaschine oder jener Knabe, der, müde, die Schnur zu ziehen, die früher zum Oeffnen des Ventils, welches den Dampf unter den Kolben gelangen ließ, diente, sie eines Tages an der Kolbenstange befestigte und mit seinen Kameraden spielen ging, ohne im Entferntesten zu ahnen, daß er den wesentlichsten Mechanismus der modernen Maschine – das automatische Ventil erfunden hatte?

Ist es der Erfinder der Lokomotive oder jener Arbeiter aus Newcastle, der auf den Gedanken kam, Holzschwellen unter die Schienen zu legen statt der früheren Steine, die aus Mangel an Elastizität Zugentgleisungen hervorriefen? Ist es der Lokomotivführer oder jener Mann, der durch die Signale die Züge zum Stehen bringt, oder der Weichensteller, der ihnen die Wege öffnet?

Wem verdanken wir das transatlantische Kabel? Jenem Ingenieur, der bei seiner Behauptung, daß das Kabel Depeschen befördern würde, beharrte, während die Weisen der Elektrizität dieses als unmöglich erklärten? Dem Gelehrten Maury, der von den starken Kabeln abzusehen und sie durch eine kleine von der Stärke eines Spazierstockes zu ersetzen [135] riet? Oder jenen Freiwilligen, gekommen von wer weiß wo her, die Tag und Nacht auf der Schiffsbrücke zubrachten, um jeden Meter Kabel genau zu untersuchen und aus ihnen die Nägel zu entfernen, die von den Aktionären der Seegesellschaften in das isolierende Lager des Kabels getrieben worden waren, um dadurch dasselbe außer Tätigkeit zu setzen?

Und um von der weitesten Domäne, dem ganzen Bereich des menschlichen Lebens mit seinen Schmerzen, Freuden und Unfällen zu sprechen, – könnte nicht jeder daselbst jemanden namhaft machen, welcher ihm den größten Dienst seines Lebens erwiesen hat, und würde er nicht in Entrüstung geraten, wenn man davon spräche, diesen in Geldform abschätzen zu wollen? Dieser Dienst kann nur in einem Wort, einem zur rechten Zeit zufällig gesprochenen Wort bestehen, oder es können Monate und Jahre voller Aufopferung gewesen sein. – Werdet Ihr auch diese Dienste, „die unberechenbaren“, „in Arbeitsbons“ umrechnen?

„Die Werke eines Jeden!“ – Doch die Gesellschaften würden nicht zwei Generationen überleben, sie würden in 50 Jahren verschwunden sein, wenn nicht jeder unendlich viel mehr gäbe, als ihm Geld entschädigt würde oder in „Arbeitsbons“ und irgend welchen andern bürgerlichen Belohnungen geboten werden könnte. Es hieße die Ausrottung der Menschheit, wenn die Mutter nicht mehr ihr Leben wagte, um das ihrer Kinder zu retten, wenn jeder Mensch nicht manches gäbe, ohne zu rechnen, wenn der Mensch besonders nicht da gäbe, wo er auf keine Entschädigung rechnet.

Und wenn die bürgerliche Gesellschaft im Untergang begriffen ist; wenn wir uns heute in einer Sackgasse befinden, aus der wir nicht entrinnen können, ohne daß wir Säge und Axt an die Institutionen der Vergangenheit legen, so besteht die Schuld gerade darin, daß man zu viel gerechnet hat. Es ist unsere Schuld, daß wir uns zu dem Grundsatze haben hinreißen lassen, nur zu geben, um zu empfangen, d. h. daß wir aus der Gesellschaft eine Handelskompagnie, die auf dem Prinzip des Soll und Habens basiert, machen wollten.

*

Die Kollektivisten wissen dies übrigens gleichfalls. Sie begreifen allmählich, daß eine Gesellschaft, die dieses Prinzip: „Jedem nach seinen Werken“ auf die Spitze treibt, nicht bestehen kann. Sie ahnen, daß die Bedürfnisse des Individuums nicht immer seinen Werken entsprechen können. Daher sagt denn auch De Paepe:

„Dieses Prinzip – eminent individualistischer Natur – wird schließlich gemildert durch die Intervention der Gesellschaft bezüglich der Erziehung (inbegriffen sind dabei Kleidung, Nahrung usw.) der Kinder und jungen Männer und durch die Organisation der Gesellschaft zur Unterstützung der Schwachen, der Kranken und der invalid gewordenen alten Arbeiter usw.“

Sie ahnen, daß der Mann von 40 Jahren, der Vater dreier Kinder, andere Bedürfnisse hat, als der junge Mann von 20 Jahren. Sie ahnen, daß die Frau, welche ihr Kleines säugt und schlaflose Nächte auf ihrem Pfühl verbringt, nicht die gleichen Werke verrichten kann, als der Mann, [136] der ruhig geschlafen hat. Sie scheinen zu begreifen, daß der Mann und die Frau, die ihre Kräfte bei übermäßiger und vielleicht im Interesse der Gesellschaft geleisteter Arbeit verbraucht haben, sich unfähig fühlen könnten, ebenso viel zu leisten, als diejenigen, welche ihre Stunden angenehm verbracht haben und in der bevorzugten Situation eines Staatsstatistikers ihre „Bons“ eingesäckelt haben.

Und sie beeilen sich, ihr Prinzip zu mildern: „Gewiß“, sagen sie, „wird die Gesellschaft ihre Kinder ernähren und erziehen. Gewiß wird sie den Greisen und Schwachen zur Seite stehen. Gewiß werden die Bedürfnisse den Grad der Leistungen bestimmen, die sich die Gesellschaft auferlegen wird, um das Prinzip „Jeder nach seinen Werken!“ zu mildern.“

Das Mitleid also! Das Mitleid, immer das christliche Mitleid, diesmal durch den Staat organisiert, ist der Beweggrund.

Das Haus für die Findelkinder verbessern, eine Versicherung für das Greisenalter und für Krankheitsfälle ins Leben rufen, – und das Prinzip wird gemildert sein! – „Zu verwunden, um nachher zu heilen“, – davon können sie nicht loskommen!

*

Nachdem man also den Kommunismus negiert hat, nachdem man nach Herzenslust über die Forderung „Jeder nach seinen Bedürfnissen“ gespottet hat, da bemerken sie schließlich – unsere großen Oekonomisten – daß sie etwas vergessen haben – die Bedürfnisse des Produzenten. Und sie beeilen sich, dieselben anzuerkennen. Nur überlassen sie es dem Staat, sie zu begutachten, dem Staat die Bestimmung darüber, ob die Bedürfnisse auch im rechten Verhältnis zu den geleisteten Diensten stehen.

Der Staat wird die Almosenpflege übernehmen. Von hier bis zum Armengesetz und dem englischen Workhouse ist es nur ein Schritt.

Und nicht einmal mehr ein Schritt, da schon die heutige versumpfte Gesellschaft, gegen welche man revoltiert, sich gezwungen sieht, ihr Prinzip des Individualismus zu „mildern“; auch sie hat schon dem Kommunismus Konzessionen gemacht, und unter der gleichen Form des Mitleids.

Auch sie läßt für einen Sou Mahlzeiten verabreichen, um der Plünderung der Läden vorzubeugen. Auch sie hat Hospitäler – häufig sehr schlechte, bisweilen ausgezeichnete – erbaut, um der Verbreitung von Seuchen in ihrer Mitte vorzubeugen. Auch sie hat, nachdem sie die Arbeit nur stundenweise bezahlt hat, die Kinder derjenigen, die bis an die äußerste Grenze des Elends gekommen sind, in Verwahrung und Pflege genommen. Auch sie trägt den Bedürfnissen Rechnung – aus Mitleid.

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Das Elend, wir haben es schon an anderer Stelle gesagt – war die erste Ursache der Reichtümer. Das Elend war es, das den ersten Kapitalisten schuf. Denn bevor man den bösen „Mehrwert“, dem man die Schuld an allem beizulegen liebt, aufhäufen konnte, mußte man erst die [137] genügende Anzahl armer Teufel haben, die dazu gezwungen wurden, eher ihre Arbeitskraft zu verkaufen als Hungers zu sterben. Das Elend ist es, das den Reichtum geschaffen hat. Und wenn die Zunahme des Elends im Mittelalter eine so rapide war, so rührt dies daher, weil die feindlichen Ueberfälle und die Kriege, welche den Staatenbildungen und der räuberischen Bereicherung im Orient folgten, die Bande, die ehemals die Agrargemeinden und städtischen Kommunen zusammengehalten hatten, brachen und sie dazu führten, an Stelle der Solidarität, die sie ehemals hochgehalten, das Prinzip der Entlohnung – so teuer den Ausbeutern – zu setzen.

Ist es dieses Prinzip, das aus der Revolution siegreich hervorgehen und dem man wagen sollte, den Namen „soziale Revolution“ beizulegen? – Diesen Namen, der den Hungrigen, den Leidenden, den Unterdrückten so teuer ist?

Es wird dem nicht so sein. Denn an dem Tage, wo die alten Institutionen zusammenbrechen werden, wird man Stimmen hören, die da rufen: „Das Brot, die Wohnung, den Wohlstand für Alle!“

Und diese Stimmen werden gehört werden, und das Volk wird sich sagen: Laßt uns zuerst unsern Hunger nach Leben, Lebensfreudigkeit und Freiheit stillen; es war uns nie bisher erlaubt. Und wenn Alle dieses Glück gekostet haben, so werden wir uns an das Werk machen: an die Vertilgung der letzten Spuren des bürgerlichen Regimes und seiner aus den Rechnungsbüchern geschöpften Moral, seiner Philosophie des „Soll und Habens“, seiner Institutionen des „Mein und Dein“. „Indem wir zerstören, werden wir aufbauen“, wie Proudhon sagt, werden wir bauen im Namen des Kommunismus und der Anarchie.

Anmerkungen des Übersetzers

  1. Unsere Sozialdemokraten aller drei Richtungen, die Regierungssozialisten, die Unabhängigen und die Parteikommunisten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: zwichen
  2. Vorlage: notwendg
  3. Vorlage: qualifizerter