Die Echte
Am linken Ufer der Niederelbe, zwischen den schiffbaren Küstenflüssen Este und Schwinge, liegt ein ungewöhnlich fruchtbares Stück Erde, das „alte Land“. Wohlerhaltene, festgebaute Deiche schützen es gegen die häufig wiederkehrenden Sturmfluten der Nordsee, wie gegen Ueberschwemmungen der kleineren, das Land in zahllosen Krümmungen durchschneidenden Flüsse, an denen entlang die Bewohner der großen, volkreichen Dörfer sich angesiedelt haben, die sich in Sprache, Sitte, Gewohnheit, Hauseinrichtung und Beschäftigung von ihren nächsten Nachbarn vielfach unterscheiden.
Schon der Name dieses merkwürdigen, von der Natur reich gesegneten Landstriches zeugt für sein hohes Alter. Aus noch vorhandenen Ueberbleibseln alter Urkunden und aus Bruchstücken längst vergessener Chroniken läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nachweisen, daß diese fruchtbare Marschgegend des linken Elbbufers schon vor Christi Geburt eingedeicht und bebaut war, während ringsum alles übrige Land noch wüst lag und ein undurchdringliches Chaos von Sumpf, Schilf und Moor bildete.
Stolz auf das hohe Alter ihrer Heimath nennen sich noch heutigen Tages dessen Bewohner „Altenländer“ oder in der überall an der Niederelbe gebräuchlichen plattdeutschen Mundart „Ohllander“, während sie die ihnen zugehörende Erde „dat ohle Land“ heißen.
In den angrenzenden Districten, sowie in ganz Nordwestdeutschland ist der Name „Obst- oder Kirschenland“ für dasselbe noch mehr im Gebrauch, und damit wird zugleich die Erwerbsthätigkeit der Ohllander prägnant bezeichnet. Die langen Dörfer des „alten Landes“ liegen nämlich in einem dichten, unübersehbaren Walde von Obstbäumen, unter denen wieder der Kirschbaum die Hauptrolle spielt. Mit Ausnahme eines nur kleinen Bruchtheiles seiner Bevölkerung lebt jedermann vom Obstbau, indem er nicht nur die größte Sorgfalt auf Pflege und Zucht seiner Pflanzungen verwendet, sondern auch deren reichen Ertrag nah’ und fern, auf dem Festlande wie zur See in eigener Person verhandelt.
Etwa in der Mitte dieses interessanten Ländchens, nahe den Ufern der Lühe, wohnte vor längerer Zeit der Baumhofsbesitzer Osten, ein anerkannt reicher Mann, der nicht allein Eigenthümer eines der größten und ältesten Baumhöfe war, wie man die umfangreichen Obstgärten nennt, sondern auch noch drei schön getheerte, schnell segelnde Ewer besaß, die auf der Lühe an der Grenze seines Hofes vor Anker lagen. In diesen Fahrzeugen pflegte er alljährlich die von ihm erzeugten Früchte, die er nach Hunderten von Centnern zählte, mit Verwandten und Angehörigen zu verschiffen.
Osten selbst segelte gewöhnlich nach Hamburg, wo er alte Verbindungen besaß und stets gute Geschäfte machte. Ein jüngerer Bruder aber, der in früheren Jahren Seemann gewesen war und als solcher mehrere Male beide Indien besucht hatte, unternahm in Begleitung zuverlässiger, mit dem Seewesen ebenfalls vertrauter Landsleute weitere Seereisen nach Holland, England, Dänemark und Rußland. Am liebsten besuchte er, wenn die Obsternte recht gut ausfiel, St. Petersburg, weil er in der großen Residenz des russischen Kaiserreichs stets die einträglichsten Geschäfte machte.
Die Gebrüder Osten, von denen der ältere, Heinz, verheirathet, der frühere Seemann, Jobst, aber noch Hagestolz war und es auch zu bleiben gedachte, lebten in glücklicher Eintracht und bewohnten ein und dasselbe Haus mit einander. Dieses Haus lag hinter dem Deich in fruchtbarster Marsch und bot, von dem Verbindungswege aus gesehen, der auf der Deichhöhe fortlief, zwischen dem Segen der vielen Obstbäume in dem musivischen Ziegelschmuck seiner Wände, die bald verschobene Vierecke, bald andere Figuren, wie der Ohllander sie nun einmal von Alters her liebt und noch jetzt beibehält, einen gar stattlichen Anblick dar, besonders seit er beide Giebelenden mit glänzend gefirnißten neuen Schwanenhälsen hatte versehen lassen, wie sie jedes Haus im alten Lande statt der gekreuzten Pferdeköpfe trägt, die man erst auf der Geest wieder findet.
Heinz Osten hatte sich ungewöhnlich spät verheirathet, d. h. erst in seinem dreißigsten Jahre. Seine Ehe war aber eine glückliche und galt im ganzen Orte für eine musterhafte. Ihr waren innerhalb zehn Jahren zwei Söhne und eine Tochter entsprungen, von denen die Tochter, Dortchen, an ihrem sechszehnten Geburtstage für eins der schönsten Mädchen im ganzen alten Lande gelten konnte.
Man wollte indeß wissen, daß Heinz Osten nicht immer ein so musterhaftes Leben geführt habe, als nach seiner Verheirathung mit der wohlhabenden, jungen und unbescholtenen Tochter eines Seefahrers, der gleich ihm Besitzer eines großen Baumhofes war und sich, als er des Umherschweifens auf dem Meere müde geworden, auf seinem schönen Erbe zur Ruhe gesetzt hatte. Das Sprüchwort „Jugend hat nicht Tugend“ mochte wohl mit einigem Recht auf den älteren Osten angewendet werden können. Heinz persönlich kümmerte sich aber wenig um das Gerede der Leute. Er war nicht allein ein reicher, er war auch, gewisse Kleinigkeiten, [562] die im Herkommen wurzelten, abgerechnet, ein vorurtheilsfreier Mann. Außerdem that er redlich seine Pflicht, ließ sich als Mensch und Staatsbürger nichts zu Schulden kommen, und brauchte daher Niemand zu fürchten.
Um Pfingsten, nach Dortchens Confirmation, als eben die Obstbäume des ganzen alten Landes in voller Blüthe standen und süßes Aroma durch die Baumhöfe fluthete, schritt eines Abends eine ärmlich gekleidete Frau den Deichweg entlang. Um den Kopf trug sie ein buntes Tuch gewunden, das beide Augen beinahe bedeckte. Ein junger, strammer Bursche von etwa achtzehn Jahren führte die Frau und zählte die quer über den Deich laufenden Gitterthüren, die oft den Weg sperrten, sich aber leicht öffnen ließen und auch von Jedermann ohne Umstände geöffnet wurden. Jede solche Gitterthür bezeichnet nämlich die Grenze oder den Anfang eines neuen Besitzthumes, denn alle in der Marsch belegenen Häuser mit ihren Baumhöfen erstrecken sich über den Deich hinaus an den Fluß, wo die Fahrzeuge der verschiedenen Eigenthümer, von Obstbaumästen überschattet, vor Anker liegen.
Schon aus dem unsichern Gange der Frau ließ sich errathen, daß sie blind sein müsse.
„Dreißig!“ sprach jetzt der junge Mensch und streckte die Hand nach der nächsten Thür aus, um diese zu öffnen.
Die Frau blieb stehen und wandte sich der Flußseite zu. Das Abendroth umhüllte die Tausende blühender Bäume mit Purpur und hauchte auch auf die erschlafften und gealterten Züge der Blinden die Rosen der Jugend.
„Hast Du auch recht gezählt, Heiny?“ fragte sie dann und seufzte leise auf.
„Ganz genau, Mutter!“
„Wie sieht das Gitter aus?“
„Sehr sauber … auf dem Thorwege verziert es eine vergoldete Kugel.“
„Und das Haus in der Tiefe?“
Heiny beschrieb es so genau, daß die Blinde von einem leichten Zittern befallen ward.
„Es ist das gesuchte,“ sprach sie, ihren Mund dicht an das Ohr des Sohnes haltend. „Führe mich nun die Stiege hinunter zum Fluß. Dort muß es schattig sein, und Niemand sieht uns. Schiffe kommen jetzt nicht von der Elbe herauf, denn wir haben Tiefebbe, und die Besitzer der Baumhöfe gehen um diese Zeit mit ihren Leuten zu Tisch. Das ist die beste Zeit, Dich zu unterweisen. Merk’ aber genau auf meine Worte, denn unser Glück hängt davon ab!“
Der Sohn that, wie die Mutter ihm sagte. Unbemerkt gelangten Beide durch ein Labyrinth auch noch an der Deichböschung wachsender und jetzt mit Millionen Blüthen übersäeter Obstbäume bis zum kleinen Hafen des Flusses, auf dessen seichtem Wasser ein Ewer, halb in Schlamm gebettet, lag. An dem breiten, mit farbigen Schnörkeln ausgeputzten Spiegel des Fahrzeuges stand in großen goldenen Buchstaben das Wort „Fiducia“ geschrieben. Es war ein dem Baumhofsbesitzer Osten zugehörendes Schiff.
Unter einem gespaltenen, breitästigen alten Apfelbaume, der an verschiedenen Stellen mit grobem Segeltuch umwunden war, damit er noch einige Jahre Früchte tragen möge, setzte die blinde Frau sich an die Erde. Heiny lehnte neben ihr an dem kranken Stamme. Die Blinde sprach lange und mit tiefer Bewegung, doch so leise, daß der Sohn sich anstrengen mußte, damit ihm keins ihrer Worte verloren gehe. Ein paar Mal stockte die Frau, und Thränen entrannen den lichtlosen Augen. Heiny’s gebräuntes Gesicht aber röthete sich vor Zorn oder Grimm, und seine lebhaften braunen Augen schossen nach der Höhe des Deiches trotzige Blicke.
„Hast Du mich auch vollkommen verstanden?“ fragte die Blinde am Schlusse ihrer Auseinandersetzung.
„Du darfst Dich ganz auf mich verlassen,“ erwiderte der Sohn entschlossen. „Was willst Du, daß ich thun soll?“
„Das Elend Deiner Mutter rächen!“
Heiny reichte der Blinden seine Hand.
„So sage Mutter, was ich beginnen soll.“
Die Mutter zog den Sohn näher an sich und raunte ihm ganz leise Worte in’s Ohr.
„Erst, wenn es finster ist und Alles schläft!“ fügte sie etwas lauter ihrer Weisung hinzu. „Ich warte auf Deine Zurückkunft am dritten Gitterthore von hier flußabwärts. Dort auf der Flußseite steht eine uralte Linde. Sie ist hohl und dient mir als Schlupfwinkel. Wenn ich mich in der Höhlung niederkauere, bemerkt mich Niemand. Führe mich dahin, sobald die Häuser und Gärten in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen sind. Also nochmals: gieb Acht! Auf der Hausdiele links ist ein Fenster. Dies riegelst Du vorsichtig auf, langst hinein und nimmst den Schlüssel. Der Deckel der großen Truhe im Hinterzimmer, das gerade vor Dir liegt, läßt sich leicht heben. Das Kästchen steht auf der rechten Seite vorn in der Ecke. Nimm es vorsichtig auf, damit Du kein Geräusch machst! Ueberbringst Du mir dasselbe wohlbehalten und mit seinem ganzen Inhalte, so sind wir geborgen, und den schlechten Mann ereilt, ehe er es ahnt, die gerechte Strafe für seine Sünden und Verbrechen!“
Eine Stunde später hörte man in der Ferne eine Uhr schlagen. Heiny zählte neun Glockenschläge.
„Ich glaube, es ist jetzt so dunkel, daß wir nicht mehr gesehen werden können, Mutter, wenn wir behutsam hinter den Bäumen nach dem Ort Deines Verstecks fortschlüpfen,“ sprach er. „Bist Du bereit?“
„Führe mich.“
Der Sohn ergriff die Hand der Blinden und geleitete sie zu dem hohlen Lindenstamme.
„Laß die Gitterthüren auf dem Deiche nicht laut zufallen!“ rief sie dem Fortgehenden mit halber Stimme nach. „Man könnte leicht aufmerksam werden und Verdacht schöpfen. Ich vertraue Dir ganz, Heiny, Du bist ja ein kluger gewitzigter Bursche.“
Der Sohn entfernte sich ohne Antwort, überschritt den Deich, öffnete und schloß lautlos jede Pforte, die er passiren mußte, und stieg dann in die Marsch hinab, wo er auf schmalem Stege dem größten der sauber gehaltenen Häuser sich näherte, die hier neben einander, nur durch Hecken und Bäume geschieden, im Frieden der warmen Frühlingsnacht ein schönes Bild ländlichen Glückes und Wohlstandes darstellten.
Nach einer kleinen Weile schon tauchte die geschmeidige Gestalt des flinken Burschen wieder am Fuße des Deiches auf, dessen Böschung er jetzt in hastiger Eile erstieg. Auf dem Rückwege zum Versteck der Mutter vergaß er in der Aufregung deren Warnung, und ziemlich geräuschvoll schlug eine der Gitterthüren hinter ihm zu. Unten in der Marsch bellte verdrießlich ein Hund, schwieg aber sogleich wieder still.
Die Blinde lag mit dem Kopf auf die Erde gebeugt, als Heiny zu ihr trat.
„Gefunden!“ raunte er ihr triumphirend zu und schüttelte das Kästchen vor ihrem Ohr.
„Gut, sehr gut!“ sagte die Mutter, und ein boshaftes Lächeln glitt über ihre fahlen, unschönen Züge. „Nun ist er nur noch ein halber Mensch; denn wo Jemand seinen Schatz hat, da hat er auch sein Herz! Komm, Heiny! Bald wird die Fluth eintreten. Der Schiffer wartet nicht auf uns, wenn wir nicht pünktlich sind, und morgen früh bei Sonnenaufgang müssen wir in Hamburg sein.“
Das Kästchen in ihrer dürftigen Kleidung verbergend, schritt die Blinde an der Hand des Sohnes den Deich entlang, der Elbe zu, deren Ufer sie nach einstündiger Wanderung unangefochten erreichten.
Ein Jahr später, im Herbst, brachte Osten zwei volle Schiffsladungen des ausgesuchtesten Obstes nach Hamburg. Die Obsternte war so ungewöhnlich ergiebig ausgefallen, daß der Ertrag selbst sogenannte gute Obstjahre fast um das Doppelte überstieg. Trotzdem aber verstanden die schlauen Ohlländer aus diesem großen Segen Vortheil für sich zu ziehen, indem es ihnen durch allerhand geschickte Manöver glückte, die Preise ziemlich lange hoch zu halten.
Wenn der Obstbauer aus dem alten Lande gute Geschäfte macht, ist er, obwohl von Haus aus jedem Luxus und thörichter Verschwendung entschieden abhold, doch gelegentlich nicht abgeneigt, sich und den Seinen einen besonderen Genuß zu gönnen.
Heinz Osten war mit Frau und Kindern nach der großen Welthandelsstadt gekommen und hatte gut verdient. Die weiten Taschen seiner manchesternen Beinkleider staken voller blanker Thaler. Er trat in mehr als einen der glänzenden, lockend ausgeputzten Läden, um Kleiderstoffe zu kaufen, wie Frauen und Mädchen im alten Lande dem Herkommen gemäß sie tragen, und so genau er sonst im Handel war, heute zahlte er, ohne lange zu feilschen, ja die Ausgaben selbst schienen ihm Vergnügen zu machen.
[563] Nach beendigten Einkäufen erklärte Osten den Seinigen, daß sie nunmehr „nobel“ leben und den übermüthigen Hamburgern zeigen wollten, wie es einem rechten Ohllander auf eine Hand voll Geld nicht ankomme. Es dunkelte bereits, und Heinz Osten schlenderte mit Frau und Kindern so lange am Jungfernstiege umher, bis er die Firma entdeckte, von der ein lebenslustiger Freund und Landsmann viel Interessantes erzählt hatte. Es war ein berühmter Delicatessenkeller, in dem man vortrefflich, nur etwas theuer speiste.
Der reiche Ohllander suchte sich das bequemste Sopha in dem brillant erleuchteten Speisesalon aus, dessen Wände zur Hälfte fast mit den kostbarsten Spiegeln bekleidet waren, und ließ auftragen, was sein Herz wünschte. Rotwein feinster Sorte, der theuerste Rheinwein, der auf der Karte notirt war, und der beste Champagner fehlten dem splendiden Mahle nicht, und es währte nicht gar lange, so kam das lebhafteste Gespräch in Gang, da bald auch Landsleute, die ein gleicher Instinct in den Keller führte, sich zu der Familie Osten gesellten.
Es war ein Baumhofbesitzer[WS 1] aus dem benachbarten Mittelkirchen mit seinem erwachsenen Sohne, der als Capitain auf einem Hamburger Schooner fuhr. Vor weinigen Tagen erst war der kräftige, schlanke Mann, in dessen schmalem Gesicht ein paar kluge und feurige Augen glänzten, aus Bombay zurückgekehrt. Sein heiteres Wesen und seine anmuthigen Erzählungen gefielen allgemein. Am aufmerksamsten aber hörte doch Dortchen zu, die mit thautropfenklaren blauen Himmelsaugen zu dem jungen Capitain aufblickte und dabei zwei Reihen der tadellosesten Zähne zwischen den rosigen Lippen sehen ließ.
„Einen lustigen Spaß muß ich noch erzählen,“ hob Moritz Krahn nach einem kleinen Intermezzo, das durch Anstoßen und Trinken entstanden war, von Neuem an, Vater Osten, der heute kein Maß zu kennen schien, sein leeres Kelchglas hinhaltend. „Auf der letzten Reise bin ich den Engländern hinter einen Pfiff gekommen, den wir ihnen ablernen müssen. Ich habe mir auch schon vorgenommen, mit meinem Rheder zu sprechen. Schon aus Dankbarkeit muß er mich und dadurch mittelbar alle Ohllander unterstützen!“
„Was?“ fiel Osten ein. „Dein Rheder soll uns im alten Lande unterstützen? Das ist nicht nöthig, und das werde ich nicht dulden!“
Er schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, daß es laut durch den Keller dröhnte.
„Hört mich nur an, Vater Osten, und Ihr werdet Euern Sinn bald ändern,“ fuhr Capitain Krahn fort. „Seit zwei, drei Jahren haben wir uns Alle den Kopf zerbrochen, was den Englischman wohl bewegen kann, uns Centnerweise die unreifen Kirschen abzukaufen. Unsere Abnehmer in anderen Ländern und zumal die Hamburger machten uns das erste Mal Molesten, als wir trotz des großen Kirschensegens ihre Bestellungen doch nicht ausführen konnten. Jetzt weiß ich, wo die unreifen Kirschen bleiben.“
„Nun, wo denn?“ fragte der Vater des Capitain, der bei einer so wichtigen Geschäftsangelegenheit nicht weniger interessirt war, als Osten. Letzterer sah Moritz Krahn nur ungläubig an und leerte gemächlich sein Glas.
„Nach Indien schafft sie der speculative Englischman,“ fuhr der Capitain fort, „zuvor aber thut er sie in schön geformte Büchsen, zuckert sie tüchtig und verkauft sie den vornehmen Indern als etwas ganz Apartes für enorme Preise. Sobald wir das Geheimniß der Zubereitung erfahren, brauchen wir Englands Vermittelung nicht, um uns für unreife Kirschen von den indischen Nabobs Hände voll Gold bezahlen zu lassen. Dazu gerade soll mein Rheder, der mit allen Engländern zusammenhält, mir behülflich sein. Eine gute Provision können wir Jedem gern im Voraus zusichern.“
„Du bist ein Goldjunge, Moritz,“ sprach Osten und stieß mit dem gereisten jungen Manne, der eine so wichtige Neuigkeit aus dem fernen Indien mit nach Hause brachte, lebhaft an. „Wir müssen uns näher kennen lernen! Wann löschst Du Deine Ladung und wann musterst Du ab?“
„Innerhalb der nächsten acht Tage.“
„Dann kannst Du gleich in meinem Ewer „Fiducia“ die Lühe hinauffahren und auf ein paar Tage Wohnung bei mir nehmen. Ich denke, Dein Vater sagt nicht Nein.“
Osten’s Augen glitten dabei mit schlauem Blick von seiner schönen Tochter auf den Capitain und von diesem zu dem alten Krahn, an dessen grauen Wimpern sie fragend hängen blieben. Dieser bewegte beistimmend das grau gesprenkelte Haupt und blickte Osten wo möglich noch schlauer an. Beide Männer verstanden einander, rückten sich näher und vertieften sich in ein leise geführtes Gespräch, während die Kinder Osten’s sich lebhaft mit dem Capitain unterhielten, der indeß nur Augen für das schöne, rosige Dortchen zu haben schien.
Als die Gesellschaft ziemlich spät das interessante Kellerlocal verließ, war zwischen Osten und dem alten Krahn in Bezug auf eine Verbindung ihrer Kinder bereits Alles in’s Reine gebracht. Es fehlte nichts weiter, als daß der Capitain in landesüblicher Weise um das junge Mädchen warb, daß dieses seine Zusage vor Zeugen gab und das herkömmliche Verlobungsgeschenk aus der Hand des Bräutigams entgegennahm.
„Zehnttausend harte Thaler gebe ich dem Kinde baar mit,“ flüsterte Heinz Osten dem Vater des Capitain auf dem Heimwege in’s Ohr. „Ich habe Glück gehabt, seit ich früheren Torheiten entsagte und dem Willen meines verstorbenen Vaters mich fügte. Es fiel mir anfangs freilich schwer, und ich machte mir auch manchmal Gedanken darüber. Später, als ich mich frei wußte, verlor sich das, und mit dem Glücke zog auch ein heiterer Sinn in mir ein. So soll’s bleiben, will’s Gott, und damit ich mir selbst keine Vorwürfe zu machen habe, denke ich bei Zeiten auch an die Zukunft meiner Kinder. Schade, daß Du keine Töchter hast! Meine Jungen sind nicht die Schlechtesten, und was arbeiten heißt, verstehen sie.“
Krahn brummte schmunzelnd, drückte dem Vater Dortchens nochmals zustimmend die Hand und verließ ihn endlich unfern des Binnenhafens, wo ihre Wege sich theilten, mit großer Zufriedenheit. Beide Ohllander betrachteten ihre getroffene Abrede wie ein glücklich abgeschlossenes Geschäft, das allen dabei Betheiligten reiche Früchte tragen müsse.
Moritz Krahn beeilte sich nach Kräften, um der erhaltenen Einladung Osten’s bald folgen zu können. Er hatte Dorchen so tief in die wunderbar sanften blauen Augen gesehen, daß er die schöne Landsmännin Tag und Nacht nicht mehr vergessen konnte, und daß er sich in der großen Stadt, wo es ihm auch an zahlreichen Bekannten nicht fehlte, trotz der vielen Geschäfte doch langweilte. Kaum war das Nöthigste besorgt und er selbst mit dem Rheder bezüglich der Abrechnung und der Uebernahme eines anderen Fahrzeuges im Reinen, als er das gesegnete Land zwischen Este und Schwinge aufsuchte.
Im Baumhofe Osten’s hatte man den Capitain schon erwartet und daher Vorkehrungen zu freundlichem Empfange des gern gesehenen Gastes getroffen, den man als Freund begrüßen und als einen engen Verwandten des Hauses nur wieder gehen lassen wollte.
Mit Dortchen hatte die Mutter unter vier Augen ein längeres Gespräch gepflogen, um das Herz der Tochter zu erforschen. Was ihr dabei von Seiten des jungen Mädchens mitgetheilt ward, beruhigte sie vollkommen und trug nur zur Erhöhung der Freude bei, an welcher alsbald alle Mitbewohner des Baumhofes aufrichtigen Antheil nahmen. Die accurate Hausfrau begann sofort die vornehmen Zimmer sauber aufzuräumen, die purpurroten, steiflehnigen Stühle mit den reich vergoldeten Zierrathen und den brokatenen, an allen vier Ecken mit Goldtroddeln versehenen Kissen abzustäuben, und Alles zum Empfange eines Ehrengastes herzurichten. Später kramte sie in den riesengroßen, auf Rollen stehenden, bunt bemalten Holztruhen, in denen die reichen Linnenschätze aufgespeichert lagen, um eine Menge der feinsten Gewebe aus denselben auszuwählen. Osten aber saß rechnend und Geld zählend ein paar Tage lang in seinem Dielenzimmer und ließ sich in diesem hochwichtigen Geschäfte nur stören, wenn seine persönliche Gegenwart zum Abschlusse eines Handels mit fremden Obstaufkäufern nicht entbehrt werden konnte.
Das sich rasch verbreitende Gerücht, Heinz Osten werde demnächst die Verlobung seiner Tochter mit einem der tüchtigsten Seeleute des Obstlandes feiern, sprach wahr. Osten aber hatte nicht so große Eile mit der Verheirathung seines Kindes, daß er über diese das rein Geschäftliche vergessen oder seinen eigenen Vortheil hintangesetzt hätte. Denn der Ohllander ist bei all seinen guten Eigenschaften, die er besitzt, doch ein großer Egoist, und als solcher schlau und berechnend in allen seinen Unternehmungen. Sein volles Vertrauen gewinnt nur der, welcher ihm verständig zu schmeicheln [564] weiß, seine eigenen Verdienste, wie die Vorzüge seiner Heimath willig anerkennt und auch selbst mit gegründetem Tadel klug zurückhält.
Ueber des Capitains Gesinnungen konnte Heinz Osten nicht lange im Unklaren bleiben. Jeder Blick des feurigen Seemannes sagte ihm, daß Moritz Krahn seine Tochter aufrichtig liebe und daß er bei Dortchen um Gegenliebe zu betteln nicht Ursache habe. Die Partie war nach Osten’s praktischer Auffassungsweise eine passende und für beide contrahirende Theile durchaus erwünschte. Der reiche Baumhofsbesitzer hatte längst schon gewünscht, mit weit entlegenen Gegenden in Verbindung treten zu können. Er war aber kein Freund der Agenten und Commissionaire, die ihn, namentlich in gesegneten Obstjahren, förmlich belagerten und durch ihr ewiges Feilschen und Bieten häufig genug recht verstimmten. Ihm wäre es weit lieber gewesen, er hätte wie ein recht behäbiger Holländer vor der Thür seines schönen Hauses sitzen bleiben und ohne viel Hin- und Widerreden den Ertrag seiner ungezählten Obstbäume immer direct an ihm bekannte Abnehmer verkaufen können.
Durch Krahn’s Mittheilungen war ihm nun der Grund klar geworden, der jedes Jahr verschiedene steife Englishmen nach seinem Gute führte. Sie kamen um ihm seine unreifen Früchte abzukaufen, die dann in schmackhafter Zubereitung nach Indien wanderten. Das Geschäft konnte und wollte Osten selbst machen.
Damit nichts versehen werde, sprach also Heinz Osten diese ihm so wichtige Angelegenheit mit seinem zukünftigen Schwiegersohne und dessen Vater in aller Ruhe durch, bis volle Uebereinstimmung unter ihnen herrschte. Darauf erst wurden Anstalten zur Verlobung Dortchens mit dem Capitain getroffen, wozu die Freundschaft beider Familien Einladungen erhielt.
Uralter Sitte gemäß giebt noch heutigen Tages der Bräutigam im „alten Lande“ seiner Braut am Verlobungstage ein Geschenk, gleichsam ein Handgeld oder einen Gottespfennig, durch dessen Ueberreichung der geschlossene Bund erst Gültigkeit und für beide Theile bindende Kraft erhält. Dies Geschenk besteht aber nicht in dem anderwärts überall üblichen goldenen Ringe, sondern in mehreren alten Silbermünzen von seltenem Gepräge. Schöne Wildemannsgulden, alte Speciesthaler und andere nicht mehr als Tauschmittel von Hand zu Hand gehende schwere Silbermünzen sind als solche Brautgaben am gewöhnlichsten. Jede altländische Familie besitzt dergleichen eine größere oder geringere Anzahl und veräußert sie nie. Vielmehr sieht es die Mutter gern, wenn der heirathsfähige Sohn ihr eigenes Brautangebinde bei der Wahl einer jungen Lebensgefährtin dieser wieder als solches überreicht. Die seltenen Werthstücke bleiben dadurch längere Zeit in ein und derselben Familie und gewinnen um so mehr an Werth, je älter sie sind und je seltener ähnliche Münzen von gleichem Gepräge vorkommen.
Diese Verlobungsgabe des Bräutigams an die Braut, das von dieser nicht erwidert wird, führt den sonderbaren Namen „die Echte“, vielleicht, weil durch dieselbe das Verlöbniß erst geheiligt wird und als ein zu Recht bestehendes, mithin als echt zu betrachten ist.
[577] Moritz Krahn war Dortchen von ganzem Herzen zugethan. Er hätte kein echter Ohllander sein müssen, wäre es ihm völlig gleichgültig gewesen, ob seine Braut vermögend oder arm sei. Bei dem jungen Manne aber, der die Welt kannte und mit den Sitten und Gebräuchen anderer Länder und Nationen wohl vertraut war, überwog der materielle Besitz bei der Wahl einer Lebensgefährtin nicht so ganz alles Andere, daß er auf die Vermögenslage allein Werth gelegt hätte. Ihn freute es, daß Dortchen ein reiches Heirathsgut zu erwarten hatte, er würde sie aber schwerlich weniger geliebt haben, wäre sie arm gewesen.
Selbst begütert und von Natur zur Freigebigkeit geneigt, wollte der Capitain die Erwählte seines Herzens durch eine reiche „Echte“ überraschen und, wie er glaubte, auch beglücken. Er befand sich im Besitz verschiedener Silberstücke indischen Gepräges, von denen er wußte, daß Doubletten davon sich im alten Lande nicht vorfinden könnten. Diese entnahm er seiner Reiseschatulle, in der er sie seit Jahren schon aufbewahrte. Ehe er sie aber Dortchen überreichte, zeigte er sie den eigenen Eltern, um deren Ansicht zu hören. Denn bei der großen Vorliebe der eigen gearteten Ohllander für alles Hergebrachte hätte er mit einem Verlobungsgeschenk, das dem Morgenlande entstammte, und das seine Entstehung heidnischen oder doch dem Christenthum abgeneigten Künstlern verdankte, leicht Anstoß erregen können.
Hans Krahn indeß war in Bezug auf Geld und Geldeswerth nicht heikel. Ihm gefielen die großen schweren Silberstücke ausnehmend gut, und er billigte die Absicht des Sohnes, seine Braut am Verlobungstage damit zu beschenken. Nur fand er es nicht schicklich, daß der Capitain die fremden Münzen allein als „Echte“ überreiche, weil dies doch von den Verwandten der Braut übel vermerkt werden könne. Deshalb mußte die eigene Mutter die vor dreißig Jahren als Braut erhaltene „Echte“, zwei dünne, helltönende silberne Medaillen, die eine ein sich schnäbelndes Taubenpaar, die andere zwei flammende Herzen darstellend, dem Sohne überliefern.
Der Vater, höchst glücklich über des verständigen Sohnes kluge Wahl, wollte aus seiner Privathabe auch noch einige seltene Stücke hinzufügen und ging, diese zu holen. Für ihn war es aber nicht leicht, eine Wahl zu treffen, die zugleich auch dem Geschmack des jungen Paares entspreche. Er liebte altes Silbergeld, am meisten recht alte Thaler und Gulden, die im gewöhnlichen Verkehr entweder gar nicht, oder doch nur ausnahmsweise vorkamen. Bei größerer Bildung würde der reiche Baumhofsbesitzer wahrscheinlich eine Münzsammlung angelegt und bedeutende Summen auf deren Ergänzung verwendet haben. So begnügte er sich mit gelegentlichem Eintausch seltener Stücke, wobei er seinen Vortheil nie aus den Augen verlor. Was ihm von alten Münzen vorkam, brachte er an sich, legte es in den dafür bestimmten Kasten, zu welchem er den Schlüssel immer bei sich trug, und ergötzte sich in einsamen Stunden, wenn Niemand ihn beobachtete, an Betrachtung des blinkenden Schatzes, der von Jahr zu Jahr größer ward.
Nach langem Prüfen und Wählen entnahm der Baumhofsbesitzer zwei viereckige Münzen feinsten Silbers und ein größeres rundes thalerähnliches Stück, welches die Mitgift des Erzvaters Jakob, nämlich die buntgesprenkelten Schafe aus Laban’s Heerden, darstellte. Diese gab er dem Sohne, damit dieser sie zu den übrigen Werthstücken lege und sie am nächsten Tage Dortchen einhändige.
Im Hause Osten’s, das von der Diele bis unter den Dachfirsten blank gescheuert war, herrschte Frohsinn und munteres Leben. Die Thüren der festlich geschmückten Besuchszimmer standen weit offen, die musivisch mit bunten Kacheln ausgelegten Wände, die eben so viele verschiedene Figuren, auch Schiffe, Landschaften, Thierkämpfe etc. zeigten, wie die bunten Ziegelfächer der Hauswände, glänzten, als wären sie mit frischem Lack überstrichen, und um die bereits gedeckten Tafeln drängten sich in fröhlichem Durcheinander die zahlreichen jungen Freundinnen der Braut in der schönen, farbig funkelnden altländischen Nationaltracht.
Dortchen war noch nicht sichtbar. Erst an der Hand des Verlobten, von Vater und Mutter begleitet, trat sie nach Ueberreichung der „Echte“ in den Kreis der Verwandten. Sie harrte mit sehnsüchtig klopfendem Herzen des Bräutigams im vornehmen Zimmer, feiertägig, wie alle Gäste, nicht aber ungewöhnlich glänzend gekleidet. Das funkelnde Prunkgewand der altländischen Hausfrau wird erst am Tage der Vermählung nach beendigter Tafel angelegt.
Endlich traf Moritz Krahn mit seinen Eltern im Baumhofe ein. Heinz Osten begrüßte ihn mit herzlicher Freundlichkeit an der Thür seines Hauses und führte ihn dann über die Diele nach dem vornehmen Zimmer. Hier ergriff Dortchens Mutter die Hand des Capitains und geleitete ihn zur Tochter, die leicht erröthend das versiegelte Packet, welches die „Echte“ enthielt, in Empfang nahm, den Geber durch einen Kuß belohnte und das erhaltene Angebinde, ohne es zu öffnen und den Inhalt zu mustern, auf einen mit [578] Blumen bestreuten, im Zimmer bereit stehenden Teller legte. Erst nach dem Verlobungsmahle, wenn der Bräutigam und die gesammte Freundschaft das Haus wieder verlassen hat, pflegt von der Braut, deren Eltern und Geschwistern die „Echte“ besichtigt, ihrem Werthe nach abgeschätzt und zu dem Heirathsgute der Frau, doch in besonderem Verschluß, gelegt zu werden.
Es war später Abend, als nach Entfernung aller Verlobungsgäste die Familie Osten im vornehmen Zimmer sich wieder zusammen fand. Mit zaghaftem Finger löste die erwartungsvolle Braut die kreuzweise das Packet umschlingenden blauen Seidenbänder, entfaltete es und ließ beim Erblicken der großen Silberstücke ein frohes Ah! hören.
Aus der Hand der Tochter empfing zunächst die Mutter des freigebigen Capitains reiche Verlobungsgabe. Die Mutter reichte sie dem Vater, der mit Kennermiene Gewicht und Klang der einzelnen Münzen prüfte.
Das größte Stück betrachtete Dortchen zuletzt. Es schien ihr besonders gut zu gefallen, denn ihr Auge ruhte mit freudigem Lächeln darauf.
Als die Mutter es empfing, begann sie zu zittern, und klirrend fiel die große, glänzende Münze auf die Erde.
„Wie ungeschickt!“ sprach Osten und bückte sich, sie aufzuheben. Kaum aber hatte er sie flüchtig angeblickt, als er sich entfärbte, das werthvolle Silberstück fallen ließ, als sei es von seiner bloßen Berührung glühend geworden, und mit dem Angstrufe sich Luft machte:
„Was ist das? … Will Krahn mich verhöhnen?“
Die Mutter deckte seufzend beide Hände über die Augen und ließ tief betrübt ihr noch immer anmuthiges Haupt auf die Brust sinken. Dortchen stand wie versteinert und sah mit ihren unschuldigen klaren Augen fragend den Vater an, der in größter Aufregung die Zimmerthür aufstieß und sogleich das Haus verließ.
Dortchens jüngster Bruder hatte inzwischen das verdächtige Silberstück wieder aufgehoben und es dem älteren Bruder gezeigt. Beide betrachteten es mit ungetheiltem Interesse, konnten aber begreiflicherweise nichts Auffälliges daran bemerken.
„Dem Vater muß das Gepräge nicht gefallen, obwohl ich es ganz allerliebst finde,“ meinten beide Gebrüder, legten das Stück zu den übrigen und folgten dem Vater, um von diesem wo möglich zu erfahren, was ihn so aufgebracht haben könne.
Heinz Osten durchschritt seinen umfangreichen Baumhof in tiefen Gedanken. Seine Brust hob sich unter schwerem Stöhnen, als ringe er mühsam nach Athem. Manchmal nur murmelte er leise vor sich hin: „Es ist unmöglich! … Es kann nicht sein! …“
Die Stimmen der laut sprechenden Söhne verscheuchten ihn aus dem Baumhofe. Osten verließ ihn und ging die Hecke entlang nach dem Deiche. Diesen erstieg er, überschritt ihn und klomm auf der andern Seite zum Flußufer hinab, wo seine Schiffe ankerten. Hier blieb er stehen und ließ seine Blicke flußabwärts gleiten bis zu der Biegung, welche von dicht stehenden Bäumen überschattet war.
„Dort war es, wo wir den Streich ausführten,“ sprach er leise. „Und dort erreichte mich ihr Ruf nach Rache, den ich nie vergessen werde! Sollte sie – es ist undenkbar! Sie muß todt sein lange, lange Jahre!“
Osten verweilte so lange am kühlen Flußufer, bis er sich erleichtert fühlte. Dann ging er auf demselben Wege, den er gekommen war, wieder in’s Haus zurück, gebot den ihm entgegeneilenden Kindern mit ernstem Blick und barschem Wort Ruhe, und winkte seiner treuen Frau, indem er sagte:
„Mit Dir muß ich allein sprechen!“
Heinz führte seine Frau in das Schlafgemach. Es brannte kein Licht darin, halb nur dämmerte von leichtem Gewölk gedämpfter Mondschein durch die Fenster. Neben einem derselben nahmen die Eheleute Platz.
„Kennst Du die Münze, die Deiner Hand entglitt?“ fragte Osten die Gattin, ohne sie anzublicken.
„Ich kenne sie und eben deshalb erschrak ich.“
„Sie gehört zu Deiner Echte! An dem schräg abgeschliffenen untern Rande würde ich das Stück aus tausend ähnlichen oder gleichen leicht herausfinden. Es giebt aber keine zweite Münze im alten Lande, die dieser gleicht. Mein Urahn brachte sie mit aus der Fremde! Du hast sie schlecht verwahrt!“
„Sie lag seit Jahren unangetastet bei den andern Münzen, die Du mir am Verlobungstage schenkest!“
„Wo?“
„In dem Ebenholzkästchen mit der Perlmutterkrone. Die große Bernsteinkette, der Lieblingsschmuck meiner verstorbenen Mutter, bedeckte sie ganz.“
„Und wo verwahrst Du das Kästchen?“
„In der rothen Blumenkiste.“
„Ist sie verschlossen?“
„Immer.“
„Seit wann hast Du sie nicht mehr geöffnet?“
„Seit dem Confirmationstage Dortchens.“
„Zünde Licht an! Wir wollen die Kiste und das Ebenholzkästchen untersuchen.“
Dortchens Mutter gehorchte ohne Widerrede. Osten ging in’s vordere Dielenzimmer und nahm den Schlüssel von dem gekrümmten Messinghaken, der hinter dem schmalen Fenster in die mit Kacheln ausgelegte Wand eingefügt war. Dieser Schlüssel öffnete das hintere Dielenzimmer.
„Leuchte vor!“ befahl er, als die Frau mit einem hell brennenden Lichte zurückkam.
Das genannte Dielenzimmer ward in der Regel nur von der Hausfrau betreten, weil es ausschließlich die Schätze des Baumhofsbesitzers, in Leinen, werthvollen Kleidern, Gold, Silber und alten Juwelen enthielt, wie sie bei allen wohlhabenden Bewohnern des alten Landes im Gebrauch sind.
Die rothe Blumenkiste, so genannt, weil sie auf purpurrothem Grunde eine Menge Phantasieblumen des inventiösen Malers zeigte, war stets verschlossen. Der Schlüssel, welcher sie öffnete, lag in einer kleinen unter dem Charnier befindlichen Oeffnung des schweren Deckels, über welcher ein Metallplättchen lag, das sich mit Leichtigkeit zurückschieben ließ. Aus diesem verborgenen Behälter nahm jetzt die Hausfrau den kleinen Schlüssel, worauf Osten mit eigener Hand öffnete und den Deckel der Kiste zurückschlug. Das Ebenholzkästchen war aus derselben verschwunden!
„Gestohlen!“ stöhnte Osten. „Alle Deine Ketten, die alten Silberketten von meiner Großmutter und die ganze Echte gestohlen! Wer hat mir das gethan?“
Die erschrockene Hausfrau rang schluchzend die Hände. Nicht sowohl der Verlust schmerzte sie, als der Kummer ihres Mannes über denselben; denn sie wußte, daß ihr Heinz an den jetzt verschwundenen Kleinodien mit Leidenschaft hing.
„Aber wie kommt Krahn in den Besitz unseres Jakobsthalers?“ stieß er heraus, nachdem er die ganze Kiste nochmals gründlich durchsucht hatte. „Er war doch immer ein ehrlicher Mann.“
„Kannst Du zweifeln?“ entgegnete die Frau, die Heftigkeit ihres Mannes fürchtend, auf dessen Mienen sich Aerger und Zorn malten.
„Ich werde irre an den eigenen Kindern,“ sprach Osten. „Nur ein Eingeweihter, der alle Winkel und Ecken des Hauses kennt, und unsere Gewohnheiten dazu, kann den Raub begangen haben! Wenn einer unserer Jungen …“
„Heinz! …“
„Ich könnte eine so nichtsnutzige Creatur kaltblütig erwürgen!“
„Beide sind sparsam! Sie gerathen nach Dir! Und an fleißigem Schaffen lassen sie es früh und spät nicht fehlen.“
„Es ist die Wahrheit! Wer sonst aber findet den verborgenen Schlüssel?“
„Ich habe keine Ahnung!“
„Und ich muß es erfahren, und sollte ich das ganze alte Land durchsuchen lassen!“
„Keine Uebereilung, Heinz!“ bat die Frau. „Wir schänden uns selbst, wenn wir unsere Nachbarn für unehrlich halten! Schweigen wir über das Geschehene. Der Verlust läßt sich verschmerzen. Und ich putze mich nicht mehr!“
„Der Inhalt des Kästchens hat einen Werth von mehr als zweitausend Thalern!“
„Wenn auch, Heinz! Er drückt uns doch nicht!“
„Trotz alledem muß und will ich den frechen Dieb ermittelt wissen, der seine Hand nach meinem liebsten Eigenthume ausstreckte! Ehe dies nicht geschehen ist, bleibt Dortchen unverheirathet! Die [579] Verlobung gilt ohnehin nichts. Eine gestohlene Echte bringt Unglück und ewigen Fluch in’s Haus!“
„Mein armes, armes Kind!“
Die betrübte Frau begann zu weinen. Heinz Osten aber kümmerte sich nicht um sie. Seine Gedanken waren nur bei dem entwendeten Schatze, für dessen Wiedergewinnung er gern das Doppelte seines Werthes ausgegeben haben würde. Nach längerem Schweigen und Sinnen legte er seine Hand sanft auf das Haupt der noch immer weinenden Frau, die gebückt vor der offen stehenden Kiste saß.
„Laß jetzt das Greinen sein, Mutter!“ sprach er. „Mir ist, hoff’ ich, ein guter Gedanke gekommen. Unser Kind wollen wir nicht verschimpfiren, die falsche Echte aber muß der Capitain wieder zurücknehmen! Morgen schon gehe ich zu Krahn. Er muß wissen, wie der Jakobsthaler in sein Haus gekommen ist. Ich denke mir, er hat ihn erhandelt! Es ist seine Art, auf alte Münzen ein scharfes Auge zu haben, und wer mit solchen Dingen handelt, den kennt auch der Krahn. Kennen wir aber erst den Verkäufer, so sind wir auf der rechten Spur, auch den Dieb zu entdecken, der mir diesen Streich gespielt hat. Ich vermuthe, es ist ein verkappter Freund oder ein unversöhnlicher Feind früherer Jahre, der mir den Tod geschworen.“
Dortchen ward sehr betrübt, als der Vater ihr am nächsten Morgen die von Moritz Krahn erhaltene Echte wieder abforderte. Osten ging dabei sehr offen zu Werke, da Sentimentalität durchaus nicht in seinem Wesen lag. Die Tochter ward von dem Diebstahle, der wahrscheinlich schon vor längerer Zeit verübt worden war, unterrichtet und ihr dabei bedeutet, daß nicht von einer Rückgabe, sondern nur von einem Tausch des Verlobungsgeschenkes die Rede sei. Vorher aber habe allerdings entweder der Capitain oder dessen Vater den Nachweis zu liefern, auf welche Weise sie in den Besitz des merkwürdigen Jakobsthalers gekommen seien.
Ohne viel auf die Niedergeschlagenheit der Tochter und die Bekümmerniß der Mutter zu achten, verließ Heinz Osten frühzeitig den Baumhof, die Echte, die ihm ein Gräuel war, in der Tasche. Krahn wollte eben an Bord seines Ewers „Die Glorie“ gehen, als er den Vater seiner zukünftigen Schwiegertochter den Deichsteg herabsteigen sah. Dieser unerwartete Besuch fiel ihm auf und hielt ihn zurück.
„Ist der Capitain daheim?“ rief ihm Osten zu.
„Noch ist er’s, aber er hat Eile. Die Rheder in Hamburg erwarten ihn. Ich will ihn begleiten und Einkäufe zur Hochzeit machen, ’s giebt noch vielerlei herzurichten.“
„Jetzt nicht, vielleicht später! Aus der Fahrt nach Hamburg kann nichts werden!“
„Oho!“
„Ist die Wahrheit. Mußt mir Rede stehen!“
„Worüber?“
„Drinnen im Hause, gegenüber dem Capitain!“
Krahn schlang die gelöste Kette wieder um den Uferpfahl und rief den beiden Knechten zu, sie möchten an ihre ländliche Arbeit gehen. Dann erst gab er Osten die Hand und führte ihn in’s Haus.
Ohne Antwort auf dessen rasche Fragen zu geben, verlangte der Vater Dortchens nur ein Gespräch unter sechs Augen, und legte, als Krahn ihm willfahrte, die mitgebrachte Echte, ganz wieder so verpackt, wie der Capitain sie dem jungen Mädchen überreicht hatte, vor diesen hin, indem er, einen eisig kalten Blick auf ihn richtend, sagte:
„Das da gilt nichts, weil es Dir nicht rechtmäßig zugehört!“
Vater und Sohn fuhren gleichzeitig beleidigt empor und nahmen eine drohende Haltung an. Der kaltblütige und entschlossene Osten ließ sich dadurch nicht irre machen.
„Nur still!“ fuhr er fort. „Ich will Euch nicht zu nahe treten und am wenigsten Euch Unrecht thun. Aber Ihr müßt mir Rede stehen, oder ich nehme mein Wort zurück! Da liegt die Echte! Oeffne das Packet, Moritz, und sieh’ zu, ob Du Alles darin findest, was Du hineinlegtest!“
Der Capitain that es murrend und finster. Er besah und zählte die einzelnen Silbermünzen und bejahte die Frage.
„Wer gab Dir dieses Stück?“ sprach Heinz Osten, den Jakobsthaler aufhebend und ihn klingend wieder hinwerfend. „Ist’s etwa ein Erbstück?“
Moritz Krahn sah seinen Vater fragend an und reichte ihm die seltene Münze.
„Es ist Dein Geschenk für meine Braut,“ sagte er mit erzwungenem Lächeln.
Der alte Krahn verfärbte sich, den Jakobsthaler um und um wendend.
„Ein Erbstück ist’s nicht,“ sprach er nach einer Weile, „aber es gehört mir, und weil ich es für besonders werthvoll hielt, bestimmte ich es meiner Schwiegertochter zum Geschenk.“
„Besitzest Du es schon lange?“ fragte Osten.
„Seit vorigem Herbst.“
„Du hast’s gekauft?“
„Nein!“
„Oder in Zahlung genommen?“
„Auch nicht.“
„Wie bist Du denn dazu gekommen?“
„Mußt Du’s wissen?“
„Wenn Dortchen die Frau Deines Sohnes werden soll!“
Krahn zauderte ein paar Secunden. Dann sagte er ärgerlich:
„Nun denn – ich hab’s gewonnen!“
Die Blicke beider Männer begegneten sich, und Einer suchte die Gedanken des Andern zu errathen.
„Gewonnen!“ wiederholte Osten. „Im Spiel gewonnen! Wer war’s, der solches Stück auf eine Karte setzte?“
„Du hast kein Recht danach zu fragen,“ erwiderte Krahn trotzig. „Im Spiel nimmt man’s nicht immer genau, weder mit den Geldsorten, noch mit den Partnern. Die besten sind immer die, welche das meiste Geld haben und nicht damit geizen. Du bist selbst kein Kostverächter!“
„Seit zwölf Jahren habe ich keine Karte und keinen Würfel mehr in die Hand genommen,“ entgegnete Osten. „Doch darauf kommt es hier nicht an. Spiele, wer Gefallen daran findet, nur hüte sich Jeder, daß er weder mit falschem, noch mit gestohlenem Gelde sich bezahlen läßt! Dieser Jakobsthaler gehört mir und ist mir vor längerer Zeit mit vielen anderen Werthsachen durch einen schlauen Dieb entwendet worden!“
Diese Mittheilung versetzte beide Krahn in große Unruhe. Der Capitain namentlich war in hohem Grade unglücklich; denn er erblickte in dem unseligen Zufall, daß er seiner Braut ein gestohlenes Geldstück als Echte gegeben hatte, ein böses Omen.
„Es ist sehr unrecht von Dir, Heinz,“ sprach der alte Krahn, „daß Du keine Anzeige von dem in Deinem Hause verübten Diebstahle gemacht hast. Es sieht’s Niemand einer Münze an, wem sie von Rechtswegen zugehört.“
Osten erzählte nun, daß er erst bei dem Erblicken des ihm wohlbekannten Jakobsthalers stutzig geworden sei und sich veranlaßt gefunden habe, die Kiste nachzusehen, in welcher seine Frau ihren Schmuck aufbewahre. „Du begreifst also,“ schloß er, „daß ich den Namen des Spielers wissen muß, von dem Du das Stück gewannst!“
„Ich kenne ihn selber nicht,“ versetzte Krahn, „und wahrscheinlich weiß er eben so wenig, an wen er den alten Thaler verlor, den er nur einsetzte, weil er kein anderes Geld mehr bei sich hatte. Uebrigens bin ich fest überzeugt, daß Du von ihm, auch wenn ich Dir ihn nennen könnte, den Dieb eben so wenig erfahren würdest, wie ich Dir ihn namhaft machen kann“
„Du weißt aber doch den Ort, wo Du den Mann trafst?“
„Gewiß! In Hamburg.“
„Die Stadt ist groß.“
„Dicht am Hafen giebt es Verkehrsorte, die viel von unseren Landsleuten besucht werden, da sie bequem für uns liegen und verhältnißmäßig billiges Logis in ihnen zu finden ist. Ueber einem dieser Häuser hängt ein Schild, das ein Schiff im Sturme darstellt. An der Gaffel flattert die Helgolander Flagge. In diesem Hause gewann ich den verhängnißvollen Thaler. Es verging kein Abend, an dem nicht hoch daselbst gespielt wurde, und immer war der mir unbekannte Mann der Erste und Eifrigste unter den Spielern.“
„Würdest Du ihn wieder erkennen ?“
„Sicherlich!“
„Wir müssen nach Hamburg,“ sprach Osten, rasch aufstehend. „Spieler sind pünktliche Leute, wenn sie ihrer Leidenschaft fröhnen. [580] Wir kehren in dem von Dir bezeichneten Hause ein und bleiben so lange, bis Du sagst: Der ist’s! Von ihm habe ich den gestohlenen Jakobsthaler gewonnen!“
„Und was dann?“ fragte Krahn. „Meinst Du damit den Dieb ermittelt zu haben?“
„Was ich später thun werde, hängt ganz von den Umständen ab,“ erwiderte Osten. „Es ist möglich, daß ich mich in eine recht böse Geschichte verwickele, daß ich einen kostspieligen Proceß führen muß, vielleicht gar dem Criminalgerichte in die Hände falle. Gleichviel, ich gehe nach Hamburg! Wer meinen Thaler von dem Diebe oder dessen Helfershelfern kaufte, hat jedenfalls noch andere mir zugehörige Werthsachen mit an sich gebracht.“
„Ich begleite Euch,“ fiel der Capitain ein. „Wenn wir mit der Abendfluth aufsegeln, liegen wir noch vor Mitternacht am Baume.“
„Du bleibst hier,“ sagte Heinz Osten gebieterisch. „Dortchen hatte schon rothgeweinte Augen, als ich von ihr ging. Es ist Deine Pflicht, ihr das Herzeleid tragen zu helfen, das die unreine Echte ihr zugefügt! Bilde Dir nicht ein, daß sie Deine Frau wird, wenn ich den Dieb nicht finde und zur Verantwortung ziehen kann, der diesen Tort mir angethan! Es ist eine niederträchtige Vorausberechnung dabei im Spiele, oder ich will nicht ehrlich sein! Wer aber die Schlechtigkeit angezettelt hat und was man eigentlich damit beabsichtigen wollte, darüber kann ich trotz alles Nachdenkens nicht in’s Klare kommen.“
Der Capitain durfte sich Osten nicht widersetzen, wenn er den ohnehin schon sehr gereizten Mann nicht gegen sich aufbringen wollte. Mit Aufträgen an Dortchen und deren Mutter verließ er bald nach Mittag den Baumhof seines Vaters, während dieser mit Osten den Ewer klar machte. Bei Sonnenuntergang tanzte das schlanke Fahrzeug mit seinen rothbraunen Segeln schon mitten auf der Elbe und trieb mit der Fluth schnell stromaufwärts der geräuschvollen Weltstadt zu, welche die beiden Ohllander diesmal nicht in der hoffnungsvollsten Stimmung betraten. Auf dem hohen Thurme der St. Michaeliskirche schlug die Uhr elf, als der Ewer am alten Blockhause, dessen Laterne trübrothe Kreise im weißlichen Stromnebel bildete, geräuschlos anlegte. Am nächsten Morgen erst, nach Oeffnung des Baumes, konnte das Fahrzeug in den Binnenhafen gelangen.
Osten war von Natur zwar leidenschaftlich, durchaus aber nicht unvorsichtig. Bei Allem, was er that, behielt er den eigenen Vortheil im Auge. Diesem konnte er sogar Opfer bringen, unter denen sein besseres Selbst litt. Der Egoismus, die eigentliche Triebfeder seines Handelns, überwand die edleren Regungen in ihm und trug stets den Sieg davon.
Während der nächtlichen Fahrt auf der Elbe hatten die beiden Ohllander hinlängliche Zeit, die für sie wichtige Angelegenheit nach allen Seiten zu erwägen und sich über einen gemeinsamen Operationsplan zu einigen. Die Nachtluft kühlte den leidenschaftlich erregten Osten vollkommen ab, so daß er seinen Gleichmuth und seine Kaltblütigkeit vollkommen wiedergefunden hatte, als sie unter einer Menge anderer Fahrzeuge am Blockhause anlegten.
Am andern Morgen nahmen beide einander befreundete Männer Logis in dem von Krahn bezeichneten Hause. Osten hatte noch niemals daselbst gewohnt, es gefiel ihm aber sehr wohl; denn der Wirth war ein freundlicher, alter, sehr schlau blickender Mann, der sich mit seinen Gästen gern unterhielt, und in Bezug auf Sauberkeit konnte es das Logishaus mit der Wohnung des eigensinnigsten Holländers aufnehmen.
Krahn, als Bekannter des Wirthes, erkundigte sich unter der Hand, ob des Abends noch dieselbe Gesellschaft in seinem Hause verkehre, die er im vergangenen Herbst habe kennen lernen. Der Wirth bejahte und warf dabei einen vielsagenden Blick auf den still beobachtenden Osten, indem er heimlich die Geste des Geldzählens machte. Krahn, welcher diese Bewegung richtig deutete, nickte bejahend mit dem Kopfe. Darauf spielte der Wirth mit seinen Fingern, bis er Gelegenheit fand, acht gegen Krahn aufzuheben. Nun wußte der Ohllander, daß sich um die achte Abendstunde die erwartete Gesellschaft, die in einem Hinterzimmer dreimal die Woche sehr hoch spielte, einfinden werde.
„Wir wollen uns den Leuten nicht aufdrängen.“ raunte Krahn dem Freunde zu, „sondern es an uns kommen lassen, damit wir ihre Manier und ihre Finten kennen lernen. Ist unser Mann dabei, so wird er nicht lange Ruhe geben; denn daß er mit Leidenschaft und in der Regel auch glücklich spielt, habe ich schon im Herbst vorigen Jahres bemerkt. Er hätte es gar zu gerne gesehen, wenn ich mich noch einmal von ihm und seinen Genossen zur Theilnahme hätte bereden lassen. Ich fürchtete aber übervortheilt zu werden und dabei mit allem Gelde auch den Jakobsthaler zu verlieren, an dem mir das Meiste gelegen war. Darum zog ich mich zurück, obwohl sie das sehr übel vermerkten. Fordern sie mich heute zum Mitspielen auf, so darf ich mich nicht weigern, ohne von ihnen des Geizes bezichtigt zu werden und vielleicht gar Streit zu bekommen.“
Osten versprach sich ganz ruhig zu verhalten, bis sich für ihn Gelegenheit finde zur Anknüpfung eines Gespräches. Um die Zeit hinzubringen, schlenderte er den Hafen entlang, machte einige kleine Einkäufe und trat, als es dunkelte, wieder in den „Verkehr zur glücklichen Fahrt“, wie sich das Haus nannte.
Noch vor Acht fanden sich einige Herren ein, die ihrem ganzen Auftreten nach dem wohlhabenden Mittelstande angehören mußten. Der Wirth empfing diese Abendgäste mit zuvorkommender Freundlichkeit und öffnete ihnen das am Tage verschlossene ziemlich große Hinterzimmer. Auch die beiden Ohllander nöthigte er, daselbst einzutreten, indem er bemerkte, die Herren seien da ganz unter sich, würden von Niemand gestört und könnten thun und treiben, was sie wollten.
Erst etwa nach Verlauf einer Stunde ward ein Kartenspiel vorgeschlagen und von den sich Kennenden einstimmig angenommen. Nach einigen Winken lud man die Ohllander ebenfalls dazu ein.
„Ich kenne die Karten nicht und würde nur stören,“ meinte Osten, die Einladung freundlich ablehnend. „Wenn es aber erlaubt ist, so sehe ich zu. Wer weiß, ob ich von den Herren nicht etwas lernen kann?“
Krahn kam der an ihn ergangenen Aufforderung nach und gab sogleich Proben großer Gewandtheit im Spiele. Jeder der Mitspielenden stellte einen großen Stapel blanker Silberstücke, sogenannte Drittel, die zur Zeit unserer Erzählung noch allgemein üblich an der Niederelbe waren, vor sich hin. Hinter seinem Freunde, und so, daß er diesem in die Karten sehen konnte, saß Osten. [593] Nach einer kleinen Weile traten zwei neue Ankömmlinge in das Hinterzimmer ein. Einer derselben war ein schon bejahrter Mann mit grauem Haar und merkwürdig breiter, stark vorspringender Stirn. Eine Brille mit grünen Gläsern machte die Farbe seiner Augen und deren Blick unkenntlich. Sein Begleiter war von untersetzter Statur, schwarzhaarig und von blasser Gesichtsfarbe. Er trug sich gebückt, hatte ein scharfes, ruheloses Auge, das auf Alles achtete, und machte entschieden einen unangenehmen Eindruck. Osten fühlte auf der Stelle, daß dieser Fremde eine Persönlichkeit sei, vor der er sich zu hüten habe, wenn er nicht mit ihr in Streit verwickelt werden wolle.
„Er ist’s!“ flüsterte Krahn dem Landsmanne zu, indem er die Karten zu einem neuen Spiele mischte.
„Welcher?“
„Der mit der Brille!“
Osten fiel ein Stein vom Herzen.
„Und der Andere?“ fragte er.
„Kenne ich nicht!“
Er gab aus, und das Spiel begann von Neuem. Die eben Angekommenen sahen zu, ohne mit den Uebrigen ein Wort zu wechseln. Krahn gewann. Als er die feinen Silberdrittel einstrich, fixirte ihn der Fremde mit der Brille und sagte:
„Irre ich nicht, so haben wir auch einmal mit einander gespielt. Sie sind ein sehr vorsichtiger Mann und leidenschaftslos. Wer mit Ihnen Schritt halten will, muß auf seiner Hut sein. Wollen wir es heute mit einander versuchen?“
„Von Herzen gern, wenn der Einsatz mäßig ist.“
„Sie haben als Fremder zu befehlen. Sind wohl erst angekommen?“
„In letzter Nacht!“
Der Mann mit der Brille setzte sich Krahn gegenüber.
„Spielt der andere Herr nicht?“ fragte er, halb Krahn, halb Osten anblickend. Letzterer verneinte so kurz und scharf, daß Alle aufblickten. Es trat eine kurze Stille ein, dann ward das Spiel fortgesetzt. Krahn gewann abermals.
„Ich sag’s ja, man muß bei Ihnen gewaltig aufpassen,“ sprach der in der Brille mit gutem Humor. „Spielen Ihre Landsleute alle so ausgezeichnet?“
„Wer von uns spielt, giebt sich wenigstens Mühe,“ versetzte Krahn. „Haben Sie nicht wieder alte Münzen? Ich bin ein großer Liebhaber davon. Die ich im Herbst von Ihnen gewann, war ein seltenes Stück. Leider aber hätte es mir beinahe Unglück gebracht.“
„Wie so?“ fiel scharf aufhorchend der Schwarzhaarige ein.
„Unglück?“ wiederholte der Herr mit der Brille. „Wie kann ein altes Stück Geld Unglück bringen? Je reicher man an dergleichen Münzen ist, desto besser befindet man sich. Es ist das reinste Silber, das man im Handel bekommen kann.“
[594] „Um Vergebung, Sie sind wahrscheinlich Goldarbeiter?“
„Zu dienen! Es soll mich freuen, wenn Sie mich besuchen wollen. Ich habe manches seltene Stück, von denen das eine oder andere Ihnen vielleicht vorzugsweise gefiele.“
„Darf ich um Ihre Adresse bitten?“
„Hier ist sie.“
Der Goldarbeiter reichte dem Ohllander seine Geschäftskarte. Auf dieser stand in schön litographirter Schrift der Name L. B. Ulfsen.
Unheimlich forschend ruhte das Auge des Schwarzhaarigen auf dem Fremden aus dem alten Lande. Ulfsen, der eine heitere, harmlose Natur zu sein schien, jederzeit aber gerne Geschäfte machte, nahm das Gespräch wieder auf und sagte zu Krahn.
„Unglück also haben Sie mit dem von mir gewonnenen Gelde gehabt? Wie ging das zu, menn ich fragen darf?“
„Es ergab sich später,“ entgegnete Krahn, jedes Wort betonend und jetzt seinerseits den Begleiter des Goldschmiedes fixirend, „daß es gestohlen war!“
„Da haben Sie’s!“ sprach Ulfsen zu dem Schwarzhaarigen und ließ die Karten fallen. „Sie werden sich erinnern, daß ich gleich Bedenken äußerte und die Person kennen zu lernen wünschte, die Ihnen so werthvolle Dinge als Pfand überlassen hatte. Kennen Sie den Eigenthümer?“ setzte er fragend an Krahn hinzu.
„Es ist mein Freund hier, der Baumhofsbesitzer Osten. In seinen Händen befindet sich jetzt das seltene Stück.“
Ulfsen reichte dem Ohllander vertrauensvoll die Hand. „Ich bedauere aufrichtig,“ sprach er, „daß ich ohne Verschulden zu Etwas gekommen bin, das ursprünglich Ihnen gehörte und von Rechtswegen auch noch gehören sollte. Wir Silber- und Goldarbeiter, die wir edle Metalle besitzen müssen, kommen bei Ankäufen alten Silbers und Goldes oft in Verlegenheit, weshalb wir stets mit großer Vorsicht verfahren. Ich wenigstens habe mir es schon seit Jahren zur Regel gemacht, dergleichen Werthgegenstände nie unter der Hand und von mir ganz unbekannten Personen zu kaufen. Von dieser Maxime bin ich auch bei Erwerbung jener alten Münze nicht abgewichen. Ich erstand sie in öffentlicher Auction, und zwar von diesem ehrenwerthen Herrn, der Ihnen über die Persönlichkeit, von der er sie selbst erhielt, wahrscheinlich näheren Aufschluß geben kann.“
„Kann ich nicht! Werd’ ich nicht und will ich nicht!“ fiel aufgebracht und mit großer Heftigkeit der Schwarzhaarige ein.
„Man wird aber eine solche Auskunft verlangen können, Herr Greifson,“ sagte der Goldarbeiter, „und Ihrer selbst, wie auch Ihres Geschäfts wegen, sind Sie verpflichtet, dieselbe so genau wie möglich zu geben. Ich würde sonst genöthigt sein, jede Verbindung mit Ihnen abzubrechen. Und Sie wissen, ich war stets ein williger und zahlungsfähiger Abnehmer.“
„Wie kann ich alle Menschen kennen und sie fragen nach ihrem Renommée, die mir Gold und Silber und Pretiosen anbieten, gute und schlechte, neue und alte, um dafür von mir zu erhalten eine Zeitlang currentes Geld?“ entgegnete Greifson, der sich jetzt ganz offen als Pfandleiher zu erkennen gab. „Wollte ich die Leute fragen nach Namen, Stand und Gewerbe, so würde ich ihnen erweisen keine Gefälligkeit und sie fortscheuchen aus meinem Hause! Pfand ist Pfand, und Geld ist Geld, und wem es rechtmäßig zugehört, kann man nicht sehen, und setzte man sich auch auf tausend Brillen. Sie tragen ja eine Brille, Herr Ulfsen! Warum haben Sie’s denn nicht angesehen dem dummen Stück Silber, daß es berührt gewesen ist von einem langfingerigen Menschen?“
„Damit wären Sie es nicht los geworden, Herr Greifson! Uebrigens äußerte ich ja einige Bedenken …“
„Nicht über die Münzen, blos über den Bernstein! Und die schönen Bernsteinstücke haben Sie auch nicht gekauft, oder nicht erstanden, als sie kamen zum Ausruf!“
Heinz Osten hatte bisher nur die Rolle eines aufmerksamen Zuhörers gespielt. Er war zur Genüge mit den Vorkommnissen in einer großen Stadt vertraut, um auch die etwas anrüchige Geschäftsbranche zu kennen, die Greifson ihrer Einträglichkeit wegen vielleicht mit besonderer Vorliebe cultivirte. Einen Vorwurf konnte er ihm deshalb nicht machen. Was der Gebrauch und die Lebensgewohnheiten der Menge sanctionirt, ist erlaubt, zumal dann, wenn es[WS 2] noch dazu den Schutz der Gesetze genießt. Den Verlust hatte Osten auch schon verschmerzt, da er ja ein reicher Mann war. Ihm lag nur daran, den oder die Diebe kennen zu lernen, die auf so unerhört schlaue Weise und ohne Zweifel schon vor langer Zeit in sein sicheres Haus eingedrungen waren und ihm gleichsam vor seinen Augen gerade das Liebste, was er besaß, in heimtückischer Berechnung entwendet hatten. Die abweisenden Einwürfe des Pfandleihers, der damit anzeigte, daß er Niemand Rede stehen wollte, verdrossen jedoch Osten, und da er Hamburg nicht ganz unverrichteter Sache wieder verlassen mochte, so meinte er, es sei jetzt die Zeit gekommen, wo er ein Recht zu sprechen und ebenfalls eine Meinung zu äußern habe.
„Es liegt nicht in meiner Absicht, Sie zu schädigen,“ wandte er sich an den Pfandleiher, „Sie werden aber mein Verlangen, den Dieben auf die Spur zu kommen und, wenn möglich, sie zur Rechenschaft zu ziehen, begreiflich finden. Aus diesem Grunde bitte ich, mir die Person zu beschreiben, die das mir gestohlne Gut bei Ihnen versetzte.“
„Ich achte grundsätzlich nicht auf das Aussehen der Menschen, die gegen Pfänder Geld von mir leihen.“
„Das ist ein verwerflicher Grundsatz, Herr Greifson, der Ihnen gelegentlich einmal theuer zu stehen kommen kann!“
„Wie so theuer? Hab’ ich statt des Geldes nicht geldeswerthe Gegenstände?“
„Sind diese gestohlen, so gehören sie Ihnen nicht!“
„Sie gehören mir, sobald ich darauf geliehen habe Geld!“
„Nur in Ihren Augen, Herr Greifson, das Gericht würde anders urtheilen.“
„Ich habe nichts zu schaffen mit dem Gericht!“ schrie Greifson so laut, daß es ganz ruhig im Vorderzimmer ward und der Wirth des Hauses mit leisem Finger an die Thür klopfte.
„Sie werden zur Unzeit heftig, Herr Greifson,“ warf der Goldarbeiter ein, „und machen sich durch diese Heftigkeit verdächtig!“
„Bin ich ein Dieb?“ schrie der Pfandleiher und schlug mit geballter Faust auf den Tisch, daß die vor den Spielern aufgehäuften Geldstapel klirrend umfielen.
„Das behauptet Niemand,“ fuhr Osten fort, „wenn Sie aber hartnäckig behaupten, Sie achteten auf das Aeußere derer nicht, die behufs einer Anleihe gegen Einreichung von Pfändern zu Ihnen kommen, so muß ich annehmen, Sie wollen gewissen Personen nicht hinderlich sein in ihrem dunkeln Treiben.“
„Das will ich auch nicht!“ rief unbesonnen der erhitzte Pfandleiher und hob drohend die Hand gegen den Baumhofsbesitzer. „Wie können Sie sich unterstehen, mir Vorschriften machen zu wollen! mich zur Rede zu setzen! Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne Sie gar nicht! Beweisen Sie erst, daß Sie ein Recht haben, mitzusprechen! Beweisen Sie, daß die fragliche Münze Ihnen gehört! daß Sie rechtmäßig in ihren Besitz gekommen sind! Ja, beweisen Sie das, oder man macht kurzen Proceß mit Ihnen, Sie – Sie – Butenmensch!“[1]
Das war ein unbedachtes Wort, das sich auf der Stelle an dem, der es gesprochen hatte, rächen sollte. Der längst schon ergrimmte Ohllander fuhr heftig auf und schleuderte ein nicht minder beleidigendes Wort dem Pfandleiher zu. Dieser blieb die Antwort nicht schuldig, ein hartes Wort folgte dem andern, und ehe es den übrigen Anwesenden gelang, den Streit zu schlichten, kam es zwischen Greifson und Osten zu Thätlichkeiten. Krahn stand sogleich dem Freunde und Landsmanne bei. Ulfsen, der Wirth und einige Andere wollten vermitteln. Der Lärm ward aber nur größer, und da Greifson den Ohllander einen bäurischen Lümmel, dieser dagegen den Pfandleiher einen jüdischen Hehler und Diebsgenossen schimpfte, so war an einen friedlichen Ausgleich gar nicht mehr zu denken. Während des Ringens und Balgens rollte das Geld vom Tische. Das Stampfen und Schreien drang hinaus bis auf die bereits still gewordene Straße und erregte die Aufmerksamkeit der Hafenrunde, die eben um die nächste Straßenecke bog.
Laut rufend und Ruhe gebietend drang die Runde, deren Aufgabe und Pflicht es ist, in der Umgebung des Hafens die nächtliche Sicherheit aufrecht zu erhalten, ein und machte die für den Wirth höchst unangenehme Entdeckung, daß verbotenes hohes Spiel getrieben worden war. Das viele auf dem Boden verstreute Geld, die Karten, welche zum Unglück sogar ungestempelt waren, die theils erhitzten, theils verblüfften Gesichter der Ueberraschten, und das höchst verdächtige Wesen des Wirthes, Alles das zusammengenommen berechtigte den Anführer der Runde zur Arretirung [595] aller Anwesenden. Von Einreden und Bitten wollte der pflichtgestrenge Mann nichts hören.
„Findet sich morgen, nachdem ich Bericht abgestattet habe,“ sagte er barsch. „Jetzt gebiete ich Ruhe und vorwärts alle Mann!“
Gegen dies diktatorische Wort gab es keine Einrede. Man mußte sich in das Unabwendbare fügen. Wirth und Gäste wurden in die Mitte genommen, durch verschiedene Straßen nach einem freien Platze geführt, auf dem ein altes, ziemlich großes Wachthaus stand, und hier unsanft in ein paar dunkle Zimmer hineingestoßen, ohne daß der Schließer sich die Mühe nahm, den späten Arrestanten ein Nachtlager oder nur eine Bank zum Ausruhen während der Nacht anzuweisen.
Capitain Moritz Krahn war inzwischen nach dem Wunsche Osten’s zu seiner Braut geeilt. Er fand Dortchen weniger aufgeregt als tief betrübt. Das junge Mädchen hatte ihre Mutter so lange bestürmt, bis diese ihr das Vorgefallene unter vielen Thränen mittheilte. Sie konnte dabei nicht verheimlichen, daß sie für die Tochter fürchte; denn – meinte die brave Frau – eine gestohlene Echte hat noch niemals Segen gebracht!
Die Ankunft des Verlobten erfreute Dortchen zwar, die Angst jedoch, die sich ihrer bemächtigt hatte, vermochte auch der Geliebte nicht von dem Herzen seiner Braut zu nehmen.
„Das Schrecklichste ist,“ wiederholte sie mehrmals, „daß alle Leute mit Fingern auf mich weisen werden! Warum hast Du mir das gethan!“
Moritz Krahn betheuerte unter erneuerten Versicherungen seiner Liebe, daß er vollkommen unschuldig sei und keine Ahnung gehabt habe, auf welche Weise sein Vater in den Besitz des alten Silberstückes gekommen sei. Dortchen glaubte auch diesen Betheuerungen, Trost jedoch für sich selbst konnte sie nicht daraus schöpfen.
„Wir werden uns trennen müssen und ewig geschieden bleiben!“ lautete der Refrain, der sich immer von Neuem auf die Lippen der untröstlichen Braut drängte.
Der Capitain suchte die Brüder Dortchens auf, um sich mit diesen über die Maßregeln zu besprechen, die zur Geheimhaltung des unseligen Vorfalles ergriffen werden müßten. Leider aber fand er beide noch sehr junge Männer wenig zugänglich. Das Mißtrauen, wozu die Mehrzahl der Ohllander eine angeborene Anlage besitzt, hatte sich ihrer bemächtigt und erlaubte ihnen nicht, dem Manne williges Gehör zu schenken, der ihre einzige Schwester höchst wahrscheinlich in’s Unglück stürzen werde. Ob Leichtsinn, eigene oder fremde Schuld oder ein bloßer Zufall, den Niemand ahnen oder voraussehen konnte, die Sache veranlaßt habe, kümmerte Dortchens Brüder wenig.
„Haben Sie auf Niemand Verdacht?“ fragte Moritz Krahn, sich verstimmt wieder an die Mutter wendend. „Es muß ein Feind des Hauses sein, und zwar ein unversöhnlicher, der Euch dies angethan hat! Lebt Osten mit Jemand in Streit?“
„So lange wir zusammen wohnen, haben wir keinen Menschen beleidigt,“ gab die bekümmerte Frau des Baumhofbesitzers zur Antwort. „Heinz ist ein rechtlicher, verträglicher Mann. Er tritt Niemand zu nahe; er behandelt seine Leute wie Kinder; er ist weder geizig noch verschwenderisch; er ist eben ein Mann, vor dem Frau und Kinder, Freunde und Nachbarn Respect haben müssen.“
Die Frau sprach in diesem Lobe, das sie dem eigenen Manne zollte, nur das aus, was alle Bewohner des Ortes über Osten urtheilten. Er hatte wirklich keinen Feind und gab zu Streit und Mißhelligkeiten keinerlei Anlaß. Moritz Krahn aber konnte sich dabei nicht beruhigen. Er besichtigte jetzt das Wohnhaus Osten’s, das sich von anderen Häusern des alten Landes wesentlich freilich von nichts unterschied. Darauf ließ er sich von Dortchens Mutter die Kiste zeigen, in welcher der Schmuck aufbewahrt worden war. Dies führte zu einer Nachfrage über den Aufbewahrungsort auch des Zimmerschlüssels, den Moritz Krahn sehr genau in Augenschein nahm. Das Fenster, hinter welchem dieser Schlüssel hing, öffnend und schließend, sprach er: „Es ist ein Vertrauter Osten’s gewesen, eine Person, die jeden Winkel kennen muß, welche den Diebstahl verübte!“
„Wer kann das beweisen?“
„Die Umstände sprechen dafür! Der Dieb mußte sich erst in den Besitz des Zimmerschlüssels setzen, ehe er zu der Blumenkiste gelangen konnte! Ich wette, es ist ein Mensch, der früher bei Osten diente und Wohlthaten von ihm erhielt!“
„Wir wechselten nur zweimal unsere Dienstboten, und Alle waren ehrliche Leute, die jetzt sämmtlich im Lande angesessen sind.“
„Dann ist der Dieb ein verkappter Feind, ein Schleicher, den Ihr vielleicht heute noch füttert!“
In diesem Augenblicke ließen sich dicht vor der nur angelehnten Hausthüre unsicher schlürfende Schritte hören, und eine matte, klanglose Frauenstimme fragte ängstlich, als fürchte sie, etwas Unpassendes zu thun:
„Sind wir auch recht? Ist das Heinz Osten’s Hof?“
„Es ist der Baumhof, den Ihr sucht,“ entgegnete der Gefragte. „Soll ich Euch nun allein lassen und draußen an der Deichstiege warten, wie Ihr vorhin sagtet?“
„Geht noch nicht von mir, ich will mich erst vergewissern. Wenn ich recht bin, brauche ich durch Hof und Haus, in Küche und Keller keinen Führer!“
Diese Worte hörten sowohl der Capitain wie Dortchens Mutter ganz deutlich. Die Stimme der Sprecherin war Beiden unbekannt. Moritz Krahn öffnete neugierig die Hausthüre und blickte hinaus. Vom Baumhofe herein über den mit grobem Kiessand bestreuten Platz schritt, auf einen langen Stab gestützt, eine Frau in Ohlländer Tracht, um den Kopf den dunkelfarbigen Bund mit flatterndem schwarzem Band, wie ältere Frauen und Wittwen ihn tragen. An der Einhegung des Vorplatzes lehnte ein fremder Mann in Schiffertracht.
Nur drei Schritte von der Thür des Hauses wendete die Frau sich um und sagte in zuversichtlichem Tone zu dem fremden Manne: „Ich bin am rechten Orte. Ihr könnt gehen. Der Besitzer des Hofes selbst wird mich an den Deichstieg zurückgeleiten.“
„Wer ist das Weib?“ raunte der Capitain der Hausfrau zu, die scheu tiefer auf die Diele zurückgetreten war.
„Ich kenne die Frau nicht!“
„Sie scheint blind zu sein.“
„Wahrscheinlich eine Bettlerin.“
Der Stab der Fremden berührte jetzt tastend die Thür. Sie hemmte ihre Schritte und rief laut:
„Holla!“
Moritz Krahn gab der Hausfrau durch einen Wink zu verstehen, daß sie sich ruhig verhalten möge. Dann öffnete er geräuschlos die Thür des gewöhnlichen Wohnzimmers, als trete er eben aus diesem, räusperte sich und sprach: „Was ist Dein Begehr, Mütterchen?“
Ueber das gealterte Antlitz der Blinden glitt ein bitteres Lächeln, indem sie antwortete: „Du bist ein Fremder und kannst mich nicht kennen. Ich suche den Herrn dieses Hauses, Heinz Osten.“
„Osten ist nicht hier.“
„Wo find’ ich ihn?“
„Irgendwo auf dem Elbstrome, denk’ ich.“
„Segelte er nach Hamburg?“
„Kann wohl sein.“
Die Stimme des Capitains mochte der Blinden etwas spöttisch klingen, was sie aufbrachte.
„Du weißt es und willst es mir nicht sagen,“ fuhr sie fort. „Das muß ich tadeln, denn es ist gemein!“
„Hast Du hier zu befehlen?“
„Mehr als Du! Du bist ein Fremdling!“
„Aber ein Ohllander! Begehrst Du eine Gabe, so soll sie Dir gereicht werden.“
„Dir würf’ ich sie vor die Füße!“ grollte die Blinde. „Ich bin keine Bettlerin! Wann treffe ich Heinz Osten?“
„Du? Ich fürchte, für Dich wird Osten niemals zu Hause sein.“
Die Blinde erhob ihren Stab und drohte damit dem Capitain, der ein paar Schritte zurückweichen mußte, um nicht von ihr getroffen zu werden. Dadurch ward der Zugang zur Thür des vorderen Dielenzimmers frei, auf welche die Unbekannte jetzt zuschritt.
„So ist’s recht!“ sprach sie. „Du machst mir, die ich hier zu gebieten mehr berufen bin, als Andere, gebührend Platz. Darum verzeihe ich Dir. Drinnen am Fenster werde ich Osten’s Rückkehr erwarten.“
Der Capitain hinderte die Blinde eben so wenig als Dortchens Mutter, welche diese Unterhaltung schweigend und staunend [596] zugleich angehört hatte. Auch jetzt brach sie dies Schweigen nicht, da Moritz Krahn mit bedeutungsvollem Blick ihre Hand faßte und sie tiefer in’s Haus führte.
„Sprich nicht mit dem Weibe, Mutter, aber achte auf Alles, was sie thut!“ flüsterte er der völlig Unschlüssigen zu. „Die unerwartete Ankunft dieser Fremden hat etwas zu bedeuten! Daß ihr das Augenlicht fehlt, erleichtert uns die Beobachtung. Ich gehe, um den Schiffer aufzusuchen, der draußen am Deich auf sie warten soll.“
Der Capitain verließ Haus und Baumhof, umging den weitläufigen Zaun und näherte sich der Deichstiege, auf deren Höhe er sogleich des Mannes ansichtig ward, der die Fremde begleitet hatte. Es war ein brummiger Gesell, offenbar ein Knecht, der phlegmatisch sein Priemchen kaute.
„Guten Tag, Freund!“ redete Moritz Krahn ihn an, sich ebenfalls auf das Geländer der Stiege lehnend. „Woher kommt die Frau, die Osten sprechen will?“
„Ich hab’ sie von der Lühemündung in meiner Jolle heraufgerudert.“
„Kennst Du sie?“
„Geht mich nichts an.“
„Aber Heinz Osten kennst Du?“
Der Schifferknecht nickte.
„Du bist kein Ohllander?“
„Aus Hadeln, Herr.“
„Und dienst wem?“
„Dem Hirschkrüger. Seine Smak liegt unten in der Elbe. Wartet auf Rückfracht.“
„Hast also Zeit?“
„Ueberflüssig.“
Der Capitain nahm einen Drittel-Species aus seiner Börse und drückte das Geldstück dem Knechte in die Hand.
„Geh’ und trinke auf meine Gesundheit,“ sprach er. „Da unten, wo die Windmühlen den Hauptschmuck der Hauswände bilden, giebt es vortreffliches Getränk. Vor Abend kommt die Blinde nicht wieder.“
Der Schiffer steckte, den Mund zu einem breiten Lächeln verziehend, das erhaltene Geldstück ein, kehrte sich auf dem Absatze seiner plumpen Schuhe um, hakte das Gitterthor auf und schlug die Richtung nach dem Hause ein, das ihm der Capitain so deutlich bezeichnet hatte.
Inzwischen war den Kindern Osten’s die Ankunft der sonderbaren Fremden von der Mutter selbst mitgetheilt und dadurch die Entfernung derselben aus dem Hause ohne Bewilligung der sie beobachtenden Bewohner unmöglich geworden. Sie hatte, anscheinend in tiefen Gedanken, stier vor sich hin gesehen, manchmal schwer aufgeseufzt und einige Male, als rede sie nur mit sich selbst, gesprechen: „Der arme Mensch! Um meinetwegen!“
Capitain Krahn zweifelte nicht, daß Osten die Fremde kenne, und wäre ihm nicht mehr daran gelegen gewesen, sie still zu beobachten, so würde er sie zu erforschen gesucht haben. Absichtlich verhielten sich sämmtliche Bewohner des Baumhofes auf Krahn’s Vorschlag und Wunsch so ruhig, daß die Blinde nach einiger Zeit glauben mußte, sie sei ganz allein im Hause. Das gerade hatte der Capitain beabsichtigt, der an der Seite des bekümmerten Dortchen dem kleinen Fenster gegenüber saß, das aus dem vorderen Zimmer einen Blick auf die Hausflur gewährte.
Plötzlich bewegte sich die Blinde vernehmbar, ihr Stab berührte vorsichtig, aber doch hörbar, den Fußboden, und gleich darauf zeigte sich ihre tastende Hand erst an der schmalen Fensterscheibe, dann an der mit Kacheln belegten Wand.
Sie blieb gerade vor dem Fenster stehen und ließ den Kopf etwas vornüber sinken.
„Fort!“ sprach sie dann leise und riß die blinden Augen weit auf. „Fort! Es ist richtig! Heinz Osten allein kann helfen. Ich muß ihn darum angehen!“
Hinter dem Deiche oder irgendwo in der Nähe des Hauses krachte ein Schuß. Dortchen schrie laut auf und umschlang mit weichen Armen den Geliebten. Die Blinde duckte sich erschrocken und schlich zurück zu ihrem Sitz am Fenster. Hinter dem Hause wurden Männerstimmen laut, die sich schnell dem Baumhofe näherten. Capitain Krahn ging den Ankömmlingen, die sich in so ungewohnter Weise meldeten, Arm in Arm mit Dortchen entgegen.
[609]Es war der Voigt, begleitet von den zwei Ruderknechten des älteren Krahn, welche zugleich mit ihrem Herrn und Heinz Osten den Ewer nach Hamburg gesteuert hatten. In großer Bestürzung waren sie vor Kurzem allein zurückgekehrt, um die Verhaftung ihres Herrn, den sie nicht einmal sprechen durften, daheim zu melden und ihrer Obrigkeit davon Anzeige zu machen.
Der Voigt, ein guter Schütze, pflegte nie ohne Vogelflinte auszugehen. Er knallte oft blos zum Vergnügen unter einen Schwarm Spatzen oder lärmende Staare, die er überhaupt nicht leiden mochte, weil er in den naschhaften Vögeln die gefährlichsten Feinde aller Obstsorten erblickte. Einen solchen „Prellschuß“, wie er sich ausdrückte, hatte er auch jetzt gethan, ohne zu fragen, was Andere davon denken möchten.
Capitain Krahn kannte den Mann, der gern sehr kurz angebunden war und sich in seiner obrigkeitlichen Stellung für völlig unantastbar hielt. Die Meldung der Krahn’schen Knechte hatte ihn erbittert, denn daß Ohllander Eingesessene, Männer von Gewicht und von unbescholtenem Rufe, durch fremde Häscher in’s Gefängniß geworfen werden könnten, dünkte ihn unmöglich. Er hielt eine solche Gewaltthat für ein schweres Verbrechen, für einen frevelhaften Eingriff in die Gerechtsame und Freiheiten seiner geliebten Heimath, und hätte am liebsten gleich das ganze alte Land aufgeboten, um gen Hamburg zu ziehen und die Eingekerkerten, die in seinen Augen natürlich unschuldig sein mußten, nöthigenfalls gewaltsam zu befreien.
Moritz Krahn ward von dieser neuen unangenehmen Mittheilung sehr beunruhigt und wollte noch in der Nacht nach Hamburg aufbrechen.
„Was ist die Ursache ihrer Verhaftung?“ wandte er sich fragend an die ängstlich gewordenen Knechte.
„Es heißt, man habe sie bei verbotenem Spiele betroffen,“ versetzte der eine.
„Beim Spiele!“ wiederholte der Capitain nachdenklich. „Das ist wenigstens glaublich, denn der Vater kann keine Karte liegen sehen, ohne sogleich mit harten Thalern zu klappern.“
Dortchen mit ihrer Mutter kam jetzt ebenfalls herbei, um zu hören, was der aufgebrachte und sehr laut sprechende Voigt anzuordnen für gut finden würde.
„Alles einerlei!“ sagte dieser. „Haben sich unsere Landsleute vergangen, so ist’s jedenfalls unwissentlich geschehen. Wer von uns kann alle hamburgischen Verordnungen kennen! Man steckt aber ehrenwerthe Männer nicht gleich in’s Loch, wenn sie etwas Verbotenes gethan haben. Dergleichen läßt sich mit Erlegung einer Geldbuße abmachen. Aber vermuthlich haben die Freunde Alles verspielt und sitzen nun fest. Darum auf, alle Mann! Steckt Geld ein und geizt nicht! Ihr werdet dann sehen, wie geschwind die gestrengen Hamburger freundlich werden und die Gefangenen freigeben.“
Dieser Vorschlag gefiel dem Capitain, und er würde sofort dem drängenden Voigte gefolgt sein, hätte er sich jetzt nicht der Blinden wieder erinnert, die noch immer allein im Zimmer saß, um die Rückkehr des Hausherrn zu erwarten.
„Die Fremde!“ sagte er, der Hausfrau zuwinkend. „Nun Osten nicht kommt, muß sie fort! Ich werde selbst mit ihr reden!“
„Es bedarf keines Wortes,“ sprach die Blinde dicht hinter ihm. Sie stand an dem mehrmals erwähnten kleinen Fenster und hatte, wie sich sogleich ergab, die ganze Unterredung mit angehört. „Wenn Osten im Gefängnisse sitzt, ist es meine Pflicht, ihn daselbst aufzusuchen. Ein Wort von mir macht ihn eher frei, als Euer Geld! Und ich werde es sprechen, wenn er mich erhört und meinen Willen thut!“
Sie war aus dem Zimmer getreten und ging jetzt, ohne sich des Stabes zu bedienen, mit festem Schritt über die Diele, um sich nach dem hinteren Theile des Hauses zu wenden, von wo sie die Stimme Dortchens gehört hatte. Alle ihre Bewegungen waren sicher, wie die einer mit scharfen Augen begabten Person.
„Diese Stimme muß ich kennen!“ sprach der Voigt, der Unbekannten, die wie eine dunkle Erscheinung aufgetaucht war, mit den Augen folgend. „Wer ist das Weib?“
„Wir Alle haben es nie zuvor gesehen,“ versetzte Capitain Krahn. „Ihr Kommen hat aber jedenfalls eine eigene Bewandtniß, und ich fürchte, keine erfreuliche.“
Inzwischen war die Blinde zu Dortchen vorgedrungen, deren Hand sie jetzt ungeachtet des Sträubens derselben erfaßte und fest in der ihrigen hielt.
„Ich weiß es, Du bist Braut,“ sprach sie mit bewegter Stimme. „Ich werde Dich segnen, wenn Dein Vater zuvor in sich geht und früh begangenes Unrecht wieder gut macht.“
„Das ist Hanna Moll, so wahr ich lebe!“ rief der Voigt und legte, rasch hinzutretend, seine Hand auf die Schulter der Blinden. „Lebst Du noch? Und von wannen kommst Du?“
Die Fremde horchte auf und kehrte ihr bekümmertes Gesicht dem Sprechenden zu.
[610] „Du bist der Voigt,“ versetzte sie. „Ich erkannte Dich beim ersten Worte. Ja, es ist Hanna Moll, die vor Dir steht! Dieselbe Hanna, die Du vertreiben halfst, als Osten mich gewaltsam der Echte beraubte, durch die er sich mir für Zeit und Ewigkeit verlobt hatte!“
Dortchens Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus und verbarg weinend ihr Antlitz, indem sie sich auf die Schulter der jugendlichen Tochter lehnte.
„Dann bist Du es, die Osten beraubte!“ rief, von einer plötzlichen Ahnung durchzuckt, der Capitain, und riß die Blinde mit Heftigkeit an sich. „Nur eine Person, welche mit allen Oertlichkeiten des Hauses genau bekannt ist, konnte ungestört einen so frechen Diebstahl begehen! Voigt, thu’ Deine Pflicht! Im Namen des Königs fordere ich Dich auf: verhafte dies Weib!“
Der Voigt ließ die Blinde von den Knechten in die Mitte nehmen, winkte diesen aber, daß sie glimpflich mit ihr verfahren möchten.
„Lasse mich fesseln, wenn Du willst,“ sprach Hanna vollkommen ruhig; „Du wirst mich freigeben, sobald ich mit Osten gesprochen habe. Ihn schaffe zur Stelle, oder triff Anstalt, daß ich möglichst schnell zu ihm gebracht werde!“
„Das soll geschehen,“ versetzte der Voigt. „Vorwärts, Männer, zum Strande und richtet Alles zur Abfahrt! In einer Stunde müssen wir segeln.“
Es war eine stille, milde Herbstnacht. Ueber dem breiten Strombett der Elbe lag eine weißliche Nebelschicht, über welche die hohen Masten der größeren Seeschiffe in die helle Luft emporragten. In der kleinen Cajüte der Smak saß Hanna Moll mit fest geschlossenen Augen. Sie hatte sich geweigert, dem Voigte weiter Rede zu stehen, indem sie immer wieder darauf zurückkam, daß sie Osten sprechen müsse.
Capitain Krahn, welcher das Steuer des Küstenfahrzeuges führte, erkundigte sich nach Hanna Moll’s Vergangenheit, da die vernommenen Aeußerungen voraussetzen ließen, daß der Voigt wenigstens zum Theil mit den Lebensverhältnissen der Blinden bekannt sein müsse. Dieser schien anfangs zum Sprechen nicht sehr aufgelegt zu sein. Da aber Moritz Krahn immer dringender wurde, brach er doch endlich das Schweigen und theilte ihm Folgendes mit:
„Heinz Osten und ich, wir waren schon als Knaben mit einander befreundet, hielten immer zusammen und theilten Leid und Freud’ als getreue Cameraden. Das blieb auch so, als wir die Schule verlassen hatten und in’s thätige Leben übertraten. Es verging kein Sonntag, den wir nicht zusammen verlebten, oft genug in gar lustiger Weise, die nicht immer die Billigung unserer Eltern fand. Bei diesen sonntäglichen Vergnügungen lernten wir Hanna Moll kennen. Sie war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, leicht und frei in ihren Bewegungen, heiter, aufgeweckt, dabei fleißig und zu jeder Arbeit erbötig. Leider besaß sie aber gar kein Vermögen! Nur was sie durch rastlose Thätigkeit erwarb, war ihr Eigenthum.
Osten, der gleich bei der ersten Begeguung Wohlgefallen an Hanna fand, machte ihr bald darauf Vorschläge, welche das hübsche Mädchen nicht von sich wies. Sie sollte zu ihm ziehen als Dienerin; später, wenn sie sich erst eingerichtet habe, werde sich in seinem Hause bald eine bessere Stellung für sie finden.
Hanna verstand diese Andeutungen und ging ohne Bedenken auf den Vorschlag des jungen Baumhofbesitzers ein, von dessen Eltern nur der Vater noch lebte. Dieser war ein strenger, sogar ein harter Mann, der auf geringere Leute verächtlich herabsah und mit Dienstboten nur sprach, wenn er es mußte. Gegen den Eintritt Hanna’s als Magd in den Hof des Sohnes – denn diesem gehörte bereits das Gewese – hatte er nichts zu erinnern. Die Freundlichkeit Hanna’s, ihr flinkes Wesen, ihr heiterer Sinn und ihre großen hellen Augen gefielen auch ihm, und er hatte das junge Mädchen gern um sich. Bald aber gewahrte er, daß sein Sohn Hanna auszeichnete und zwar in bedenklichster Weise. Da ergrimmte der Alte. Er setzte Heinz zur Rede, verbot ihm jeden Umgang mit der jungen Magd und verlangte, er solle Hanna den Dienst aufkündigen.
Heinz stellte sich willfährig, traf aber keine Aenderung. Hanna Moll blieb, und als der Alte unter Drohungen ein zweites Mal seine Forderung wiederholte, gestand ihm der Sohn, er könne nicht darauf eingehen; Hanna sei seine Geliebte, seine Braut; vor wenigen Tagen erst habe er ihr die Echte gegeben!
Es ging bös her in Osten’s Baumhofe nach Ablegung dieses Bekenntnisses. Heinz selbst verlebte wahre Höllentage, und Hanna sah sich sogar Mißhandlungen ausgesetzt, wenn sie zufällig dem erbitterten Vater ihres Verlobten begegnete. Sie ließ sich jedoch nicht einschüchtern; denn Heinz hatte ihr Schutz zugesichert und feierlich gelobt, daß er nie von ihr lassen werde. Allein es kam dennoch anders! Der stolze Alte wußte es so einzurichten, daß sein Sohn in Hanna’s Treue Zweifel setzen konnte. Er ward eifersüchtig, mißtrauisch, heftig, zuletzt hart, und da es Hanna nicht gelang, sich vollkommen in den Augen des Verlobten zu reinigen, so verlangte dieser in einer Stunde der heftigsten Aufregung die Echte zurück, indem er zugleich mit Hand und Mund dem Vater gelobte, er sei bereit, der reichen Erbin die Hand zu reichen, die ihm dieser vorgeschlagen und als passende Braut empfohlen habe.
Hanna berief sich auf ihr Recht und wich keiner Drohung. Die ihr gemachten Vorwürfe und Anschuldigungen nannte sie elende Verleumdungen, ersonnen von ihren Feinden, um sie zu verderben. Sie erklärte unumwunden, daß sie niemals ihre Rechte auf Heinz Osten aufgeben werde! Im Besitz der Echte durfte und konnte sie dies mit Fug und Recht thun, da ohne förmliche Rückgabe derselben ein neues Verlöbniß nicht stattfinden konnte.
Zu wiederholten Malen versuchten die nächsten Verwandten der Osten’schen Familie das hartnäckige Mädchen andern Sinnes zu machen. Vergebens! Osten selbst erbot sich zur Erlegung einer beträchtlichen Abstandssumme, wenn Hanna nur sofort die Echte herausgebe, allen Ansprüchen auf Heinz entsage und sofort auf Nimmerwiedersehen das Land verlasse.
Auch diese Vorschläge wies das eigensinnige Mädchen von der Hand, und es war vorauszusehen, daß aller Friede von Osten’s Hofe weichen werde, wenn es nicht gelinge, die Starrsinnige mit List oder Gewalt zu entfernen.
Zunächst griff man zur List, wozu ich selbst, im guten Glauben, dem Jugendfreunde einen Dienst zu leisten, die Hand bot. Heinz gab sich den Anschein, als reue ihn sein bisheriges Betragen, und als sei er Willens, sich mit Hanna wieder auszusöhnen. Er lud sie zu einer Ausfahrt nach Stade ein. Das Mädchen vertraute sich arglos dem Verlobten an. Geschmückt mit der von ihm erhaltenen Echte bestieg sie den segelfertigen Ewer, den ich mit zwei zuverlässigen Knechten führte. Wir verlebten einen lustigen Tag in Stade, gingen Abends wieder an Bord und steuerten stromaufwärts. Als es dunkelte, entfernten wir uns absichtlich weit vom Lande, was Hanna in den Armen ihres Verlobten nicht gewahrte. Ein Schiff, das nach England segelte, und mit dessen Capitain wir uns im Voraus schon verständigt hatten, begegnete uns in dem Augenblicke, als der Ewer auf einer sehr seichten Stelle hart am tiefen Fahrwasser auf den Sand lief und nicht wieder flott gemacht werden konnte. Das Schiff ward angerufen, ein Boot von diesem ausgesetzt und zu Hülfe geschickt. In der Verwirrung trat Hanna in das rettende Fahrzeug, strauchelte und fiel, im Fallen aber blieb die Echte in meiner Hand. Hana rief angstvoll nach Heinz, der zu folgen versprach, während unter schnellen Ruderschlägen das Boot schon bei dem Engländer anlegte. Die arme Bethörte rief noch den geliebten Namen, als schon des Schiffes Segel sich blähten, und wir den flott gewordenen Ewer mit Mühe wieder in’s Fahrwasser brachten. Drei Monate später erfuhren wir, daß Hanna sich nach und nach beruhigt habe, sehr still geworden und auf englischem Boden glücklich angekommen sei. Heinz verlobte sich bald darauf mit seiner jetzigen Frau. Anfangs war er sehr düster gestimmt. Er mochte wohl fürchten, die Getäuschte möchte wiederkommen und durch ihr Erscheinen sein häusliches Glück stören. Das geschah aber nicht. Hanna Moll war und blieb verschollen, und wir Alle glaubten, sie möge in England entweder gestorben sein oder daselbst sich durch ihre Vorzüge Freunde erworben und, wie so manches junge Mädchen des Auslandes, ihr Glück gemacht haben …“
Moritz Krahn fand als streng gewissenhafter Mann an dieser Mittheilung des Voigtes wenig Gefallen. Er zürnte Osten des Frevels wegen, den er, wenn auch mehr durch die Aufstachelung Anderer, als durch eigene Schuld, an einem schuldlosen Mädchen begangen hatte, und erblickte in diesem Frevel den Quell des Uebels, [611] das jetzt der Familie Osten anhaftete und sich von dieser auch auf ihn zu übertragen begann.
„Osten muß Hanna um Verzeihung bitten und das Unrecht, das er ihr zugefügt, soweit es möglich ist, dadurch gut zu machen suchen, daß er sich der Unglücklichen annimmt und ihr eine sorgenlose Existenz sichert,“ sprach er, als der Voigt schwieg. „In diesem Sinne werde ich mich für das arme Geschöpf verwenden.“
„Steuerbord! Laßt abfallen!“ rief in demselben Moment der Voigt den Knechten zu und erfaßte mit kräftiger Hand selbst die Steuerpinne; denn gerade vor durch den zerfließenden Nebel strich, die rothbraunen Segel wie die Flügel eines Raubvogels am Schaft seines Mastes ausspannend, ein Ewerschiff und drohte mit der Smak zusammen zu rennen. Der kräftige Handdruck des Voigtes, den Capitain Krahn sogleich unterstützte, als er, sich wendend, die Gefahr erblickte, verhinderte zwar einen vollen Zusammenstoß beider Fahrzeuge, ein Streifen aber war nicht zu vermeiden. Dabei brach die eine Segelstange des Ewers und ward gegen den Mast der Smak geschleudert, in dessen Tauwerk sie sich verwickelte.
Wie immer bei solchen Unfällen entstand sogleich am Bord beider Fahrzeuge ein starker Lärm, und herüber hinüber rief man sich harte Worte zu. Dabei erkannte man sich an den Stimmen.
„Du bist es, Vater?“ sprach der Capitain, das Steuer wieder mit fester Hand regierend. „Seid ihr Alle wieder auf freien Füßen?“
„Alle, Moritz!“ klang es zurück vom Bord des Ewers. „Leg’ um und lass’ uns heimkehren! Es hat sich wunderbar gefügt, daß der im Spiel gewonnene Jakobsthaler zur Ermittelung des Diebes und dieser wieder zur Sühne alten Unrechts führte, über das Alle, die davon wußten im alten Lande, längst schon Gras gewachsen glaubten.“
Capitain Krahn befahl den Knechten, die Segel der Smak zu wenden; dann steuerte er Backbord, um das Fahrzeug genügend von dem Ewerschiffe zu entfernen, und geräuschlos stromabwärts segelten beide Fahrzeuge der Heimath wieder zu, die sie vor der Morgendämmerung glücklich erreichten.
Am Nachmittage desselben Tages war im Baumhofe Osten’s eine zahlreiche Gesellschaft um den Tisch des vornehmen Zimmers versammelt, und es herrschte die ungebundenste Fröhlichkeit. In der Mitte des großen Tisches fiel Dortchen durch den farbigen Glanz ihrer reichen und kostbaren Kleidung und das Glück, das jetzt ihr liebliches Antlitz verklärte, Jedem in die Augen, und zog auch in der That die Blicke Aller auf sich. Neben ihr saß der Capitain Moritz Krahn, der vor wenigen Stunden seiner Braut zum zweiten Male die „Echte“ überreicht hatte. Dieser fehlte nicht der uralte Jakobsthaler, dem der Fluch, er sei entwendetes Gut, nicht mehr anklebte.
Gegenüber dem glücklichen Brautpaare finden wir den Baumhofsbesitzer Heinz Osten zwischen seiner Frau und der blinden Hanna Moll. Letztere trägt die dunkle Kleidung, welche im alten Lande die Wittwen anlegen. Außer den silbernen Knöpfen an den Handgelenken der weiten Aermel gewahrt man keinen blinkenden Schmuck an der gealterten Frau. Dagegen schlingt sich um den Hals der Mutter Dortchens eine Schnur großer, unregelmäßig geformter Bernsteinstücke, und um die Taille eine mehrere Ellen lange silberne Kette, welche der aus Hamburg anwesende Goldarbeiter auf einige hundert Thaler nur an Silberwerth taxirt.
Zur Linken Hanna Moll’s und neben den Brüdern der Braut sitzt, wohl gekleidet, ein junger Mensch von etwa zwanzig Jahren, in dem wir denselben Heiny wieder erkennen, welcher vor Jahr und Tag von der blinden Frau in den Baumhof geschickt wurde, damit er ihr ein genau beschriebenes Kästchen hole, mit dem wir ihn später auch wirklich zurückkehren sahen.
Osten ist still, aber heiter. Sein helles Auge sagt’s Jedem, daß kein Geheimniß mehr seine Seele belastet. Ist es ihm doch gelungen, durch ein sonderbares Zusammentreffen verschiedener Umstände eine unüberlegte Handlung vergangener Tage zu sühnen, insofern es Sterblichen überhaupt gestattet ist, begangenes Unrecht wieder gut zu machen.
Ein Gespräch unter vier Augen mit seiner treuen Hausfrau hat dieser die ganze Vergangenheit Osten’s enthüllt, die ihr bis dahin ein sorgsam bewahrtes Geheimniß gewewen war. Am Schlusse dieser lange dauernden Unterredung ließ Heinz Osten Hanna Moll und deren Sohn Heiny eintreten.
„Denke, es sei eine ältere Schwester, die ferne von uns im Auslande gelebt hat,“ sprach er. „Sie liebte mich aufrichtig und leidenschaftlicher, als ich glaubte. Aus Liebe zu mir ist sie unglücklich gewesen lange Jahre, bis Noth und Liebe die ihres Augenlichtes Beraubte in die Heimath zurück trieb. Sie zog Erkundigungen über mich ein und versuchte sich mir zu nähern. Es gelang aber nicht, weil sie unseren Frieden hätte stören müssen, wenn sie sich mir zu erkennen gab. Da beschloß sie, mir im Geheim einen empfindlichen Schlag beizubringen. Das Gerücht, unser ältester Sohn werde sich bald verheirathen, trieb sie an, die einst ihr überreichte Echte uns heimlich zu entwenden. Nur diese Echte, die sie für ihr rechtmäßiges Eigenthum hielt, suchte sie. Weil aber der übrige Schmuck in dem selben Kästchen mit den alten Silberthalern lag, war sie gezwungen auch diesen uns mit zu entfuhren. Hanna setzte nämlich voraus, ich würde mich in dem Augenblicke, wo ich den an mir begangenen Raub entdeckte, sogleich ihrer erinnern, nach ihrem Schicksale mich erkundigen und sie aufsuchen. Denn daß ich die entwendete Echte wieder zu erhalten mich bestreben und selbst schwere Geldopfer dafür bringen werde, setzte sie voraus. Im Besitz unseres Schatzes begab sich Hanna mit Heiny, den wir von heute an als unsern Sohn betrachten wollen, nach Hamburg, um dort das Kommende in stillster Zurückgezogenheit abzuwarten. Das Gerücht von der baldigen Verlobung unseres ältesten Sohnes bestätigte sich aber nicht, und der Raub blieb unentdeckt. Da warfen Angst und Sorge die Unbemittelte auf’s Krankenlager, und in der höchsten Bedrängniß ward sie genöthigt, um das Leben fristen zu können, einen Theil der Kostbarkeiten des Ebenholzkästchens zu – versetzen!“
Osten schwieg bewegt. Die dadurch entstehende Pause benutzte der Goldarbeiter Ulfsen, der jetzt auch vor Allen die Verpflichtung hatte, zur Erklärung des noch Unklaren einige Worte beizufügen.
„Die Krankheit Hanna’s ließ deren Sohn den Tag versäumen, an welchem das Pfand wieder eingelöst werden sollte,“ sagte er. „In Folge dieser Versäumniß hielt der Pfandleiher sich zu dem Verkauf der verschiedenen Kostbarkeiten berechtigt. Er kam zu mir, bot sie mir an und bemerkte, daß bei ihm Auction abgehalten werde; da ich den Preis, den er dafür verlangte, sehr billig gestellt fand, ward ich bei dieser ihr Eigenthümer. Auf welche Weise einige Zeit nachher der Jakobsthaler, den ich seines schönen Gepräges wegen einzuschmelzen mich nicht entschließen konnte, in die Hände des älteren Krahn überging, ist ebenso bekannt, wie alles Folgende, das sich an diesen neuen Wechsel des Besitzers der seltenen Münze knüpfte. In dem ärgerlichen Streite, welcher vor wenigen Tagen alle dabei Gegenwärtigen in Haft brachte, müssen wir jetzt einen glücklichen Zufall erblicken. Durch ihn kamen wir mit Heiny zusammen, der sich durch den Verkauf der wenigen Silberknöpfe, welche Hanna von allen ihren Werthsachen noch übrig geblieben waren, verdächtig gemacht hatte, und durch das scheue Wesen, das schon bei der ersten an ihn gerichteten Frage ganz von ihm Besitz nahm, diesen Verdacht noch verstärkte. Der Pfandleiher und Heiny erkannten sich gegenseitig. Es kam zu Erklärungen, die uns schnell Licht gaben und dem Besitzer dieses schönen Grundstückes Anlaß gaben, sich großmüthig zu beweisen. Heiny ward durch ihn frei; ich machte mir ein Vergnügen daraus, den noch vorhandenen Inhalt des Ebenholzkästchens dem rechtmäßigen Besitzer wieder zurückzugeben, und so zur Sühne einer alten Schuld nach besten Kräften das Meinige beizutragen.“
Osten war aufgestanden. Er flüsterte zuerst seiner Frau leise einige Worte in’s Ohr, welche diese durch eine herzliche Umarmung erwiderte. Dann ruhte seine Hand lange in der der blinden Hanna, die mit bebender Lippe die Worte: „ich vergebe Alles, nur verstoße mich nicht zum zweiten Male!“ stammelte.
„Du bist meine Schwester, und Heiny ist mein Sohn.“ entgegnete Osten. „An Dortchens Hochzeitstage werde ich ihn allen Gästen als den Aeltesten, der meinen Namen trägt, vorstellen.“
Der wackere Baumhofsbesttzer hielt Wort. Der Trauungstag Dortchens mit dem Capitain Moritz Krahn war auch für Heiny und dessen blinde Mutter ein Tag der Freude und Ehre. Beide wurden an ihm in ihre Rechte eingesetzt.
Als spät am Abend die junge Frau sich zum ersten Male in der prächtigen, farbenreichen Landestracht der jungen Hausfrauen den fröhlichen Hochzeitsgästen zeigte, auf dem zierlich geformten [612] Kopfe die kleine Mütze aus Goldbrokat mit lang herabflatternden Bändern, um den Hals eine sechsfache Schnur silberner Perlen aus feinster Filigranarbeit, auf der Brust unter dem offenstehenden Jäckchen von feinem schwarzem Tuche die blitzende „Rodur“, ein Gewebe aus echtem Goldbrokat, und die Hüften umwunden von der zwölf Ellen langen schweren Silberkette, reichte sie Heiny zuerst die Hand, damit er sie zum Tanze führe.
Im nächsten Frühjahre trat Capitain Krahn mit seiner jungen Frau auf dem ihm selbst zugehöreuden Barkschiffe „die Versöhnung“ eine Reise nach Ostindien an. Die Fracht des schönen Schnellseglers bestand größtentheils aus eingemachten unreifen Früchten des „alten Landes“, jenen beliebten süßen Pickles, die in allen großen Städten jenes unermeßlichen weiten Reiches mit hohen Preisen bezahlt werden.
Heiny Osten befand sich mit auf der Bark. Er wollte sich zum praktischen Seemanne ausbilden. Seit dem Tode seiner blinden Mutter, die schon im Winter ruhig und schmerzlos verstorben war, hatte er keine Ruhe mehr im Kirschenlande. Es trieb ihn hinaus in die Ferne, in das bewegte Leben fremder Völker, wo er nach wenigen Jahren sein Glück machte.
Den Jakobsthaler, welcher so seltsame Schicksale erlebt hatte, legte Dortchen nie wieder ab. Er war ihr ein Amulet von unschätzbarem Werthe, und die Kraft dieses Amuletes brachte seiner schönen Besitzerin von Jahr zu Jahr neues Glück und neuen Segen.
- ↑ Butenmenschen nennt der Plattdeutsche jeden Fremden.