Die „Nachsichtige“
Die „Nachsichtige“.
Dort kommt er schon, er wird mich grüßen –
Bleib’ ich nun hier am Fenster steh’n?
Tret’ ich zurück? Er könnte glauben,
Daß ich sein Nah’n nicht gern geseh’n.
Nicht gern! Kaum ahnt er, wie so wonnig
Sein Bild mir schon im Herzen ruht
Und all mein Denken, all mein Träumen
Mir Ein’s nur sagt: Du bist ihm gut.
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Und doch, verwegen muß ich’s nennen,
Wie er mich gestern angeblickt
Und mir – nicht barg ich das Erröthen –
Ein-, zweimal lächelnd zugenickt.
Das fand ich keck, und nur mit Mühe
Bezwang ich den gerechten Groll,
Hätt’ ich mich nicht noch recht erinnert,
Daß man stets Nachsicht üben soll.
Nun, diesem weisen Satz zufolge –
Ich lernt’ ihn hier erst recht versteh’n –
Bog ich mich leise aus dem Fenster
Und hab’ ihm lange nachgeseh’n.
Voll Glück und Stolz! Ich that nichts Böses,
Mein Herz belobte mich sogar,
Daß ich so fleißig Nachsicht übte
Und alten Lehren folgsam war.
Hermann Oelschläger.