Dessau und sein Herzog Franz
Von dem „alten Dessauer“ hat wohl Jeder einmal gehört, und weltberühmt seit anderthalb Jahrhunderten ist auch der aus den Kriegszügen dieses Soldatenfürsten herrührende „Dessauer Marsch“. Von Dessau selber aber wissen die meisten Leser wohl kaum etwas mehr, als daß es eine der kleineren deutschen Fürstenresidenzen ist, die am linken Ufer der Mulde, unweit ihres Einflusses in die Elbe, gelegene Hauptstadt des seit 1863 wiederum vereinigten Herzogthums Anhalt. Uebertreibung würde es sein, wenn man den Ort als einen verschollenen bezeichnen wollte. Aber von einer liebreichen Verwaltungsweisheit, welche hier in den vormärzlichen Tagen unbeschränktester Territorialherrlichkeit ihr Regiment entfaltete, wäre ihm beinahe dieses Geschick bereitet worden. Viele Jahre hindurch hat diese eigenthümliche Regierungskunst mit ängstlicher Fürsorglichkeit über der politischen und industriellen Unschuld des Ländchens und seiner Hauptstadt gewacht, ihr patriarchalisches Stillleben namentlich gegen das Eindringen eines unruhigen Fremdenverkehrs so emsig zu schützen gesucht, daß die Folgen dieser langen Absperrung noch heute nicht überwunden sind. Dessau wird noch immer wenig von Touristen besucht und auch jenseits der anhaltischen Grenzen nur selten in der Oeffentlichkeit genannt.
Das hindert es jedoch nicht, eine der schmucksten und ansehnlichsten deutschen Städte zu sein und den neu hereinkommenden Fremden meilenweit in ihrem Umkreise durch eine Landschaftsscenerie zu überraschen, die sofort seinen Blick fesselt und sein Herz gewinnt. Eine solche Fülle heiterster Anmuth, lieblichster und frischester, namentlich zu einem reichen Ganzen harmonisch vereinigter Naturbilder hatte er sicher in einer der ebenen Gegenden unseres Vaterlandes nicht erwartet, und anziehend wie die Betrachtung dieser grünen Wald-, Garten- und Auenherrlichkeit werden dem Gebildeten auch die Mittheilungen über ihre Entstehungsgeschichte sein. Erinnert sie doch lebhaft und in sprechenden Zeichen an jene merkwürdige Epoche des vorigen Jahrhunderts, wo auch deutsche Fürsten mächtig von dem durch alle Lande wehenden Humanitätsgeiste der Zeit ergriffen wurden, sodaß sie es sich zur Lebensaufgabe machten, die Verschönerer ihrer Länder, die Retter und Wohlthäter ihrer zurückgebliebenen Völker durch Förderung von Bildung und Aufklärung, von gutem Geschmack und edler und humaner Sitte zu werden.
Wer einmal durch den berühmten Weimarischen Park gewandert ist, der wird an einem schattig-lauschigen Punkte dieser classischen Stätte ein hohes, durch die Jahre schon verwittertes Steingefüge bemerkt haben mit der Inschrift: „Francisco Dessaviae Principi“ (vergl. die Abbildung Jahrg. 1878 S. 453 der „Gartenlaube“). Dieses eigenthümlich gestaltete Denkmal ist hier vom großsinnigen Karl August einem älteren Zeit- und Gesinnungsgenossen, der ihm Freund und in vieler Hinsicht Vorbild war, dem Herzog Franz von Dessau, errichtet worden. Da keine derartige Huldigung anderer Persönlichkeiten im Parke sich findet, ist jene einzige unbedingt ein Beweis höchster Verehrung seitens des Weimarischen Musenhofes, mag dieselbe nun der Genialität des großen Baumeisters, Parkschöpfers und Landschaftsgärtners, dem Schüler und Freunde Winckelmann’s, oder dem erleuchteten Regenten, dem Anhänger Rousseau’s und Pestalozzi’s, dem eifrigen Förderer einer verbesserten Jugend- und Volkserziehung von großen Gesichtspunkten aus, gegolten haben. Nach allen diesen Seiten hin hatte der Fürst Franz mit den eingreifendsten Erfolgen gewirkt, und nur äußere Umstände tragen die Schuld, daß man das weit über den engen Localrahmen hinausreichende Bild seiner Persönlichkeit noch nicht in würdiger Biographie gezeichnet, ihm in der Culturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht den verdienten Platz angewiesen hat. Das heutige Dessau ist zum großen Theil sein Werk, und wir werden eingehender von ihm sprechen müssen, indem wir Veranlassung nehmen, etwas über die Stadt und ihre Geschichte mitzutheilen.
Die Geschichte kleiner monarchischer Staaten und besonders ihrer Residenzstädte war und ist auch heute noch viel mehr mit der Geschichte ihrer Fürstenhäuser verwachsen, und ihr Charakter, ihr Aufschwung oder Rückgang bleibt in viel stärkerem Maße von dem Charakter, der Bildung und Befähigung der jeweiligen Regenten abhängig, als dies in umfangreicheren Ländern der Fall ist. Aus dieser Lage der Dinge ergeben sich im Laufe der Zeit sehr viele Förderungen und Vorzüge, aber auch mancherlei Nachtheile, wohin der Mangel eines unabhängigen öffentlichen Geistes und eine gewisse Unselbstständigkeit des bürgerlichen Lebens zu rechnen ist. Alle diese kleinen Residenzen zeigen daher die wohlthuende Eigenschaft einer von oben her geordneten traditionellen Zierlichkeit und Nettigkeit, einer gebildeten Gesellschaft und gewissen Eleganz der Einrichtungen und Sitten. Zu einer wirklichen
[52][54] Bedeutung jedoch, die nur durch eine energische Regung des Volksgeistes erreicht werden kann, hat es bis jetzt noch keine einzige derselben gebracht.
Dessau ist weit jünger als seine Schwesterstädte Köthen, Bernburg und Zerbst. Es soll erst kurz vor 1212, in den letzten Regierungsjahren des Grafen Bernhard von Anhalt und auf Betrieb dieses Fürsten, im Anschluß an einen slavischen Ort entstanden sein. Bei seiner guten Lage an der Mulde und in der Nähe der schiffbaren Elbe gewann Dessau bald an Bevölkerung und Ausdehnung, und war bereits zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts eine wohleingerichtete Stadt. Mitten im besten Aufblühen aber hatte sie am 19. August 1467 das Schicksal, bis auf die Kirche zu St. Marien abzubrennen, ein Unglück, von dem es sich in den nächsten beiden Jahrhunderten nur langsam, wesentlich aber durch die Verdienste der Fürsten Joachim Ernst (1570 bis 1586) und Johann Georg des Zweiten (1660 bis 1693), erholte.
Fürst Leopold, des Letztgenannten einziger Sohn und Nachfolger – „der alte Dessauer“ – vergrößerte Dessau bedeutend. Der Anfang des achtzehnten Jahrhunderts sah eine völlige Umgestaltung der Stadt durch ihn. Mauern und Thore fielen; neue Straßen und ganze Stadttheile entstanden, und den regsamen Bürgern schenkte er Bauplätze und Baumaterialien. Aber – er schrieb ihnen auch streng vor, wie sie ihre Häuser bauen sollten: nach der Schablone, casernenartig, meist zwei Stockwerke mit einem Erker darauf, wie sich solche noch heute vielfach in Dessau finden. Seine Häuser erinnern in ihrer Gleichförmigkeit an seine Grenadiere auf den preußischen Drill- und Paradeplätzen. Eines aber verstand Fürst Leopold nicht, oder wollte es bei seiner Eigenart nicht verstehen: auf dem von seinem Vater gelegten Grunde fortzubauen, geschäftliches Leben und Treiben in seiner Residenz zu fördern, die Industrie zu heben, Handel und Ackerbau mehr und mehr von hemmenden Fesseln zu befreien, durch Humanität und Wohlwollen sich die Herzen seiner Unterthanen zu gewinnen. Während er selbst seinen eigenen Wohlstand bedeutend vermehrte, die Einkünfte des kleinen Landes – das heißt also seine Einkünfte – von etwa 26,000 auf 240,000 preußische Thaler brachte, kamen seine Unterthanen in fast allen Schichten immer mehr und mehr zurück, ja verarmten zum Theil. Durch sein Princip, allen großen Grundbesitz, besonders den der adeligen Familien im Lande, an Gütern, Mühlen und Gefällen an sich zu kaufen, Privilegien, Monopole und Lehen, nicht selten durch Gewalt, in seine Hand und an sein Haus zu bringen, schädigte und verstopfte er vielfach die Hauptnahrungsquellen seiner Unterthanen. Die traurigen Folgen dieses Verfahrens im ehemaligen Fürstenthum Anhalt-Dessau, ein gewisses Siechthum auf dem volkswirthschaftlichen Gebiete, ganz zu beseitigen, ist selbst der regen Jetztzeit noch nicht gelungen.
Bei des Fürsten Leopold Tode (1747) zählte Dessau etwa sechstausend Einwohner. Erst dessen Enkel, der obengenannte Fürst Leopold Friedrich Franz (1758, seit 1807 Herzog, bis 1817), verstand es, aus dem Felsen Wasser zu schlagen; er prägte dem kleinen Ort und seinen verwilderten, wüst und öde daliegenden Umgebungen den Stempel seiner Bildung und seines hohen künstlerisch gebildeten Schönheitssinns, seines Geistes und Geschmacks auf.
Fürst Franz, von tüchtigen Lehrern unterwiesen, „in der Schule der Humanität gebildet, die den Fürsten die Unsterblichkeit sichert“, hatte sich ernstlich die Aufgabe gestellt: Land und Leute zu beglücken Und – was noch viel mehr sagen will – er hat diese Aufgabe, soweit es möglich war, gelöst, und zwar in einer Zeit, wo es in den großen wie kleinen Ländern des gesammten europäischen Continents irgend einen Willen des Volkes noch nicht gab und der Wille des souverainen Monarchen allein entschied und gebot.
Kaum achtzehn Jahre alt, trat Franz in einer schweren Zeit, mitten im Toben des dritten schlesischen Krieges, die Regierung an. Wegen seiner geographischen Lage, von Sachsen und Preußen umschlossen, hatte Anhalt-Dessau viel unter jenen kriegerischen Vorgängen zu leiden. Die Kriegscontributionen während der sieben bösen Jahre bezifferten sich auf eine Million Thaler. Von den Unterthanen war nichts zu verlangen, eine traurige Folge der Besitzentziehung und der schwer vernachlässigten Landes- und Menschencultur – Fürst Franz zahlte die Contributionen aus seinen eigenen Mitteln. Acht Jahre später traf eine ähnliche Calamität das Ländchen. Die Wasser der Mulde und Elbe stiegen im Vorsommer des Jahres 1771 zu einer niegekannten Höhe, zerrissen die wenigen Schutzdämme und ergossen sich zerstörend über die Aecker der Bürger und Landleute. Hunger und bösartige Krankheiten wütheten. Da trat der junge Fürst zum zweiten Male als der Retter der Seinen auf. Er verschaffte ihnen aus Hamburg billiges Brodkorn und Saatfrucht und gab ihnen Arbeit und Verdienst. So ward die große Noth in dem kleinen Lande bald überwunden. Aber der menschenfreundliche Regent sah tiefer und weiter.
Zur Ausgleichung der Schäden sollte das Selbstvertrauen des Einzelnen geweckt, sollte Jeder auf seine ihm innewohnenden geistigen und intellectuellen Kräfte hingewiesen werden. Die bisher sehr im Argen liegenden Schulen waren einzig das Mittel hierzu. Hier eröffnete sich dem schöpferischen Drange und dem Organisationstalent des Fürsten Franz ein großes Thätigkeitsfeld. „Können meine Unterthanen auch nicht durch Handel und Fabriken reich werden,“ hat er selbst einmal ausgesprochen, „so will ich sie doch wenigstens durch Bildung gut und glücklich machen.“
Im Jahre 1774 gründete er unter Basedow’s Leitung das seiner Zeit berühmte „Philanthropin“ in Dessau, berief die bedeutendsten Pädagogen Deutschlands an dasselbe, richtete ein Seminar, eine Pflegestätte für junge Volkslehrer, wohl die erste in Deutschland, ein, und schuf unter vielen anderen Lehr- und Bildungsanstalten in Stadt und Land eine höhere Bürger- und Gelehrtenschule in Dessau, das jetzige Gymnasium. Inzwischen hatte Fürst Franz, als ein großer Verehrer Winckelmann’s, mit dem er in Rom innige Freundschaft geschlossen, im Herzensverein mit einem jungen sächsischen Edelmann, dem für alles Edle empfänglichen und begeisterten Herrn von Erdmannsdorff, dem Studium der schönen Künste sich zugewandt – sowohl aus eigener Neigung, wie um seiner früh gefaßten volkspädagogischen Pläne willen. In schönen Kunst- und Naturgebilden sah er ein Hauptmittel, auf die Gemüther zu wirken, Sinn, Verständniß und Geschmack für das Höhere und Erhabene in seinem Volke zu erwecken.
Gleichzeitig und aus denselben Gründen begann er mit vollster Hingabe der Gartenkunst und Landschaftsgärtnerei sich zu widmen, die er in England kennen und lieben gelernt. Als Frucht dieser Arbeiten entstand der etwa drei Stunden von Dessau entfernte berühmte Wörlitzer Garten mit seinem von majestätischen Linden umschatteten, in edlem Baustile aufgeführten Schlosse. Noch heute, mehr als hundert Jahre nach seiner Erbauung, gilt diese ebenso imposante, wie poesievolle Schöpfung, wenn man einige dem Zeitgeschmacke angehörige Anhängsel abrechnet, als ein Kleinod der Landschaftsgärtnerei.
Ueber der Sorge um dieses Werk vernachlässigte der Fürst jedoch die Hauptstadt selber nicht. Fast gleichzeitig schuf er in der Umgebung derselben den durch hohen, idyllischen Reiz sich auszeichnenden Park „Luisium“ und erbaute daselbst auch auf einem Hügel, an einem träumerisch daliegenden, schilfumwachsenen Weiher, ein freundliches Schloß. Ein Seitenstück zu dieser Schöpfung ist das von Franzens kunstsinnigem Bruder Johann Georg 1780 erbaute Schloß „Georgium“, nur daß der dasselbe umgebende Park, der sogenannte „Georgen-Garten“, einen viel imposanteren Umfang hat, sich durch die herrlichsten Baumgruppen, schattigsten Laubgänge und mancherlei Häuser, Hallen, Tempel, Bogen und Statuen auszeichnet und überhaupt einen durch die nächste Nähe der Stadt bedingten belebteren Charakter trägt.
Ferner legte Franz in den ersten achtziger Jahren, auf einer natürlichen Uferhöhe an der Elbe, ein und eine halbe Stunde östlich von Dessau, den „Sieglitzer Berg“ an. Ein Verehrer des Fürsten, der kunstgebildete Fürst Ligne, nannte ihn „die reizendste Einsiedelei der Welt“. Der Sieglitzer Berg, wohin der Weg über duftige, mit majestätischen Eichen gesäumte und geschmückte Wiesenflächen führt, die in der Morgen- oder Abenddämmerung von Rudeln Hoch- und Damwild belebt sind, bildet noch heute einen der beliebtesten Ausflüge der Dessauer. Von kleineren Anlagen dieser Art sei der Hügel erwähnt, den er beim Dorfe Pötnitz unweit Dessau am See aufführte und welcher den Tempel der Winde zu Athen vorstellt.
Sein Werk ist auch der schöne, große, bei Dessau liegende Begräbnißplatz, bei Franzens Toleranz und reformatorischen Bestrebungen für „alle christlichen Confessionen“ gestiftet. Die vielen Akazien lassen ihn zur Zeit ihrer Blüthe von fern eher
[55] als einen Lustgarten erscheinen. Hier ruht, außer vielen anderen verdienten und bekannten Männern, auch der Sänger der Griechenlieder, Wilhelm Müller, ein geborener Dessauer. Die Grabstätte Friedrich Schneider's, des berühmten Componisten des „Weltgerichts“, der von 1821 bis zu seinem Tode, 1853, Hofcapellmeister in Dessau war, befindet sich auf dem angrenzenden, 1820 vom Herzog Leopold Friedrich angelegten neuen Friedhofe.
Ueberblickt man die gesammten landschaftsgärtnerischen Schöpfungen des Fürsten, ein planmäßig zusammenhängendes Werk großen Stils, so erkennt man das erfolgreiche Bemühen, nicht nur die nächsten Umgebungen Dessaus, sondern die ganze Muld- und Elbaue, ein Terrain, das sich durch seine Fruchtbarkeit und Frische allerdings leicht dem schöpferischen Walten fügte, zu einem einzigen großen Park umzuwandeln und diesem Boden in wohlthuendster Gestaltung Alles entsprießen zu lassen, was das Auge erfreuen, die Seele erheben kann.
Gewissermaßen gehörte zu diesen Schöpfungen auch jene schöne Brücke über die Elbe, welche Franz mit einem Aufwand von 80,000 Thalern erbaute, welche aber schon zweiundzwanzig Jahre später von den aus der Jenaer Schlacht fliehenden Preußen abgebrannt wurde.
Für die Stadt Dessau hat er unendlich viel gethan. Zunächst schuf er in der unmittelbaren Umgebung des Schlosses den Lustgarten mit seinem Reichthum der herrlichsten Bäume: Roßkastanien, die mit ihren aufrecht stehenden, pyramidalen Trauben uns an den lichtergeschmückten Weihnachtsbaum erinnern, Linden, Ahorn, Eschen, Eichen und die eigenthümlichen, freilich dem heutigen Geschmacke nicht mehr entsprechenden Cedernpyramiden und verschnittenen Taxushecken. An der Westseite des Gartens erbaute er ein großes Orangeriehaus und begrenzte die freundliche Anlage durch andere Hofgebäude, Marställe, Reitbahn etc., die in edlem Stil gehalten und mit vorzüglichen Bildwerken nach antiken Mustern geschmückt sind. Eine weitere Anlage des kunstsinnigen Fürsten ist auch die seinen Namen tragende Franz-Straße, eine Verlängerung der schon früher vorhandenen Karolinen-Straße. Am Ende der letzteren liegt ein gleichfalls von ihm, an der Stelle eines ehemaligen alten Kirchhofes, geschaffener, zu Lustgängen eingerichteter und mit Linden bepflanzter großer Rasenplatz. Hier hat das nachlebende Geschlecht ihm am 20. October 1858, zur Erinnerung an seinen vor hundert Jahren erfolgten Regierungsantritt, ein von Kiß in Berlin modellirtes ehernes Standbild errichtet. Fast am Ende der Franz-Straße liegt das ebenfalls von Franz auf einer ehemals todten Sandscholle hervorgerufene „Rondel“, ein von köstlichen Platanen umschlossener Rasenplatz.
Der Blick über diese 440 Ruthen lange Straßenflucht ist imponirend; es dürfte so leicht keine zweite Stadt von der Größe Dessaus sich eines solchen rühmen. Allerdings macht sich gerade an diesem Punkte die immer noch äußerst geringe Lebendigkeit des Ortes auffällig fühlbar. Es liegt in manchen Tagesstunden tiefe Stille über dieser weiten und herrlichen Straße. Aber hinter den blanken Scheiben und sauberen Gardinen sieht man, wie fast überall in der Stadt, behagliche Wohnungen, liebliche Frauenköpfe und allen Comfort einer eleganten und behaglichen Lebensführung.
Einen imposanten Anblick gewährt der Eintritt in Dessau von der gleichfalls durch Franz erbauten Muldbrücke her. Links die neue, mit burgähnlichen Thürmchen geschmückte große Mühle, rechts ein stattliches Fabrikgebäude, und über den rauschenden Laubkronen das Residenzschloß, Thurm und Kirche zu St. Marien hervorragend, die Mulde von üppig wuchernden Bachweiden eingerahmt, die mit mächtigen Weidenbäumen und kolossalen Silber- und Schwarzpappeln malerisch abwechseln – Alles, nur mit Ausnahme einiger neueren Baulichkeiten, von Franz erdacht und geschaffen.
Ein eigenthümlicher Zug im Leben des Fürsten war die Unablässigkeit seines Lernens und Strebens. Sein Haus war eine Akademie, sein Hof ein Zusammenfluß aller Derer, die in den letzten dreißig Jahren des vorigen Jahrhunderts durch Geist und Bildung hervorragten, von seiner Genialität sich angezogen fühlten, ihn liebten. Auch Goethe ist oft sein Gast gewesen und hat hier gern geweilt.
Herzog Franz starb den 9. August 1817, siebenundsiebenzig Jahre alt, im Schlosse Luisium und ruht neben seiner Gemahlin Louise, geborenen Prinzessin von Brandenburg-Schwedt, der Freundin Matthisson’s, unter dem von ihm erbauten Thurme der Kirche zu Jonitz, einem idyllisch gelegenen großen Dorfe etwa zwanzig Minuten von Dessau. Sein edler Traum, das Land ohne Zuthun und die berechtigte Mitarbeit des unfreien Volkes für längere Dauer glücklich zu machen, hat freilich, wie er sich dies auch am Ende seines Lebens gestehen mußte, nicht das von ihm ersehnte Maß der Erfüllung gefunden. In der Welt draußen ist Herzog Franz bald vergessen worden, in seinem Ländchen aber lebt die dankbare Erinnerung an ihn fort.
Sein Nachfolger war sein Enkel, der 1871 verstorbene Herzog Leopold Friedrich, und während seiner Regierungszeit erfolgte der Bruch mit dem patriarchalischen Regiment, erfolgten all die Umwälzungen, welche das deutsche Volks- und Staatsleben seit 1848 bis zu seinem Tode erfahren hatte. Ein gleichfalls kunstsinniger Fürst, hat er noch manches Schöne in Franzens Schöpfungen eingefügt, an das theilweise noch Unfertige die vollendende Hand gelegt. Er schmückte das bereits von Franz 1798 erbaute Theater mit einem prächtigen Vorderhause und führte eine Reihe herrlicher Bauten aus. Auch die auf der beigegebenen Zeichnung unten links, neben dem Schlosse zu Kühnau, an einem lieblichen See stehende Kirche in byzantinischem Stil, eine der schönsten Dorfkirchen Anhalts, ist sein Werk, desgleichen das den schönen Park zu Kühnau zierende Schlößchen, „Burg Kühnau“ genannt. Vom Altan desselben genießt man eine meilenweite Aussicht in das rings offen daliegende Land. Auch die majestätische Elbbrücke bei Roßlau, über welche jetzt die Berlin-Anhaltische Eisenbahn führt, erbaute Herzog Leopold Friedrich in den Jahren 1834 bis 1836. Dessau erweiterte er nach Süden und Westen durch Anlegung vieler neuen Straßen. Auf dem sogenannten Kleinen Markt – siehe das Mittelbild der Zeichnung – erhebt sich neben noch drei anderen anhaltischen Fürsten das eherne, sprechend ähnliche Bild des Herzogs aus einer achteckigen Brunnenschale mit einem viereckigen Unterbau. Dieses vom Lande errichtete „Jubel-Denkmal“, am Tage seines fünfzigjährigen Regierungsjubiläums enthüllt, ist vom Hofbildhauer Schubert, einem geborenen Dessauer, der gegenwärtig ein Atelier in Dresden hat, entworfen und ausgeführt worden.
Mercantiles Leben aber ist in Dessau auch unter dieser Regierung nicht zur Blüthe gediehen. Der günstige Zeitpunkt, die Stadt dadurch zu heben, war eben früher versäumt worden. Die von den Preußen 1806 abgebrannte Elbbrücke hätte gleich nach dem Kriege wieder hergestellt werden sollen. Es unterblieb, und dadurch ging dem Lande die große Post- und Handelsstraße nach Berlin, Magdeburg und Leipzig verloren. Selbst die im Jahre 1840 über Dessau geführte Berlin-Anhaltische Eisenbahn erfüllte nicht das, was man sich von ihr versprochen. Handel und Wandel lagen darnieder, und zur weiteren Schädigung der finanziellen Lage der Stadt kamen dann später die Fallissements einiger großer Dessauer Geldinstitute. Unwissenheit und Gewissenlosigkeit hatten hier am Ruder gesessen.
Erst in neuerer Zeit, durch den Umschwung in den politischen, staatlichen und gewerblichen Verhältnissen Deutschlands überhaupt, insbesondere aber durch die im Jahre 1869 erfolgte Auseinandersetzung zwischen dem herzoglichen Hause und dem Lande bezüglich des Domaniums, scheint der Bann gebrochen worden zu sein, der Jahrhunderte lang auf dem geschäftlichen und volkswirthschaftlichen Leben Dessaus gelegen. Die Leiter des Staats und der Stadt haben mehr freie Hand gewonnen, sind selbstständiger geworden, und in allen Zweigen ist dadurch ein erfreuliches Sichrühren und Regen unverkennbar geworden. So kam es, daß Dessau, das ehemals „feine Städtchen“, unter der Regierung des jetzigen Herzogs Friedrich ein ganz anderes Aussehen gewonnen hat und nach verschiedenen Seiten hin, besonders in der Gegend des neuen Bahnhofes, im Laufe weniger Jahre ganz neue Stadttheile mit herrlichen Straßen und Gebäuden entstanden sind.
Dessau zählt gegenwärtig in etwa 1650 Häusern fast 22,000 Einwohner. Luft, Licht und Raum die Fülle! Außerdem schließen sich an die weit überwiegende Mehrzahl der Häuser freundliche Gärten, die wesentlich zu dem guten Gesundheitszustand der Stadt beitragen. Als Sitz der deutschen Continentalgasgesellschaft wird die Stadt schon seit 1856 durch Gas beleuchtet; sie hat auch seit einigen Jahren eine städtische Wasserleitung.
[56] Der Zufluß der Fremden nach Dessau, die sich hier häuslich niedergelassen haben, ist jetzt im Steigen. Wer die Ruhe sucht, dürfte sie in Dessau finden. Auch für geistige und künstlerische Genüsse ist vielfach gesorgt. Capelle und Theater wetteifern mit derartigen Instituten vieler größerer Städte, und die reichen Kunstsammlungen in den herzoglichen Schlössern sind eine wesentliche Zierde der Stadt.
An einer rechten geistigen Regsamkeit und geistig belebten Geselligkeit fehlt es zwar noch in Dessau, aber beides wird aus den erweiterten Verhältnissen, bei den vorhandenen Bildungstraditionen, allmählich sich erzeugen.
Unter den schönen Wegen und Punkten um Dessau herum dürfte das obengenannte „Luisium“ die erste Stelle einnehmen. Die Muldbrücke führt uns in die Muldaue. Hier prangt Alles in lachendem, saftigem Grün. Indem wir die Chaussee links liegen lassen, gehen wir rechts eine schattige Wallpromenade hinaus. Wir freuen uns über die jugendkräftigen Stämme und frischen Wipfel der Scharlacheichen, und über die sich uns rechts erschließende, stundenweit sich erstreckende, wahrhaft herrliche Wiesen- und Waldperspective des sogenannten „Thiergartens“, dessen mächtige uralte Eichenstämme sich im Süden und Südosten scheinbar zu einem Urwald zusammendrängen. Jenseits der bald erreichten Jonitzer Muldbrücke wenden wir uns etwas links und betreten alsbald die nach dem „Luisium“ führende Allee: Linden, Kastanien, Eichen und Buchen in malerischer Abwechslung, rings weiter und breiter Wiesenteppich, rechts das hinter Bäumen versteckte Dorf Jonitz.
Die Wipfel der Bäume verschlingen sich auf diesem Wege zu einem einzigen großen Laubdach und wehren jedem neugierig eindringenden Sonnenstrahl, Frische und Kühlung verbreitend. Es ist uns, als wandelten wir durch die Hallen eines riesigen Domes. Im „Luisium“ selbst empfängt uns Waldeinsamkeit, Waldfrieden. Es lagert wie eine immerwährende Sonntagsruhe über diesem wunderschönen Park, und wer hier mit offenem Auge und empfänglichem Sinne gewandelt, wird niemals ohne die rechte Sonntagsstimmung heimgekommen sein.
So ist auch der Weg von Dessau nach Wörlitz durch den „Vockeroder Busch“ und hinter dem Dorfe Vockerode, den hohen mit blühenden Hecken und gesegneten Fruchtbäumen eingefaßten Elbwall hinauf, ein Edelstein in den Schöpfungen des Herzogs Franz. Auf diesem an lieblichen Durch- und Fernsichten so reichen Walle, links die Elbe, von größeren und kleineren Fahrzeugen mit ihren schwellenden Segeln bedeckt, rechts ein lachendes Landschaftspanorama – hier war es, wo einst Lord Stewart, ein Freund und Verehrer Franzens, vom Anblick all der Schönheiten entzückt, in den Ruf ausbrach: „Goddam! Hier bin ich in England.“
Und Wörlitz selbst? In der That, man braucht es nur gesehen zu haben, um die Wahrheit von Goethe’s Worten zu fühlen, die er von Wörlitz aus an einem Maitage der achtziger Jahre an Frau von Stein schrieb:
„Hier ist’s jetzt unendlich schön. Mich hat’s gestern Abend, wie wir durch die Seen, Canäle und Wäldchen schlichen, sehr gerührt, wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen.“