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Der letzte Krieg um den Rhein

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Textdaten
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Autor: Friedrich Hofmann / E. Htg.
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Titel: Der letzte Krieg um den Rhein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32–33; 37, S. 510–511; 522–525; 592–594
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[510]
Der letzte Krieg um den Rhein.
Nr. 1. Aus der Stadt des achtzehnten October.

Es war Nachts zehn Uhr. Und so spät noch Licht in der Sacristei der Thomaskirche? Die äußere Thür nur angelehnt – es wird keine Sünde sein, leise näher zu treten. Die Stimme des Geistlichen ist vernehmbar, tief bewegt, und das Schluchzen bittersten Weinens begleitet sie oft. Hier ist kein Geheimniß, es ist eine kirchliche Handlung, die keine Zeugen scheut. Ja, es war eine Trauung! Die Braut im Schmuck des Kranzes, der Bräutigam feldmäßig marschbereit im Landwehrwaffenschmuck. Und auf der nächsten Kirchenbank wimmerte, den Kopf in die Hände gepreßt, ein altes Mütterchen. Da schlossen Zwei den Bund für die Ewigkeit im Augenblick, wo der Ruf des Vaterlandes sie vielleicht für immer auseinanderreißt. Die feierliche Handlung war vorüber, selbst bis in’s tiefste Herz erregt, schied der Geistliche mit seinen Segenswünschen von dem Paare, und zwischen Mutter und Gattin schritt der Wehrmann in das laute Wogen der Straßen hinein, dem Bahnhof und dem letzten Trennungsschmerze zu.

Und solcher Trauungen hat Leipzig in wenigen Tagen über fünfzig in seinen beiden protestantischen Hauptkirchen und in der katholischen Kirche erlebt. Wer hätte in solchen kleinen Gruppen, wie sie aus den Gotteshäusern herauskamen mit den verweinten Augen und im Schmerz des Scheidens im innigseligsten Augenblick des Lebens aneinandergeschmiegt, Brautpaare wiedererkannt! Wahrlich, wer eine solche Hochzeit gehalten, hat’s wohl verdient, daß öffentliche Theilnahme nie von ihm weiche! –

Wie noch nie in unserem lieben Heimathlande hat diesmal die Eintracht auch den weltlichen und geistlichen Behörden die Hände frei gemacht von den Fesseln hemmenden Gesetzes und Herkommens. Noch ehe die Ministerien die öffentliche Erlaubniß zu Trauungen ohne Aufgebot für die in’s Feld ziehenden Wehrleute und Soldaten ertheilt, hatten die Geistlichen die Nothwendigkeit der Maßregel erkannt und vorher in Ausübung gebracht. Denn das Herz und die Noth trieben die Verlobten mit gleicher Gewalt zum Altar, und das Kriegsgebot duldete nicht erst das gesetzliche Aufgebot; an dessen Stelle trat ein „Ledigkeitseid“. Selbst der Glaube ließ sich keinen Unterschied aufdringen. Katholische Bräute und Bräutigame eilten der ersten besten protestantischen Kirche zu, als ob sich’s von selbst verstände, daß in dieser Zeit vor Gott Alles gleich sei! O krönte auch diesen reinen Volksglauben der Sieg im Vaterlande! – Nichts bedurfte das Brautpaar, als der Mann die Marschordre, die Braut die Einwilligung der Eltern, und in nicht seltenen Fällen mußte diese telegraphisch beschafft werden. Der Mangel an Taufscheinen konnte kein Trauungshinderniß mehr sein. Auch an keine Stunde band sich der heilige Act. Der Geistliche stand jede Stunde dazu bereit und, wie wir gesehen haben, bis in die späte Nacht segnete er noch die herbeieilenden Paare.

Das Jahr 1813 ist in Deutschland wiedergekehrt, das Wunder der Einigung des ganzen Deutschlands ist, nach einem halben Jahrhundert vergeblichen, oft blutigen Ringens, in wenigen Tagen geschehen – und entschlossen zum Kampf bis zum vollendetsten Sieg steht die gesammte Nation vor ihrem letzten Krieg um den deutschen Rhein!

Vergönnen wir heute, nach fast vier Wochen, uns einen Rückblick auf den Anfang der großen Bewegung, wie er uns in Leipzig, der alten Schlachtenstadt, vor Augen trat. Ist’s auch nur das Bild der Begeisterung in einer Stadt, so wird es, weil überall in gleicher Weise hervorgetreten, doch ein Gesammtbild unserer Nationalerhebung im Kleinen bieten, und, was vielleicht betont werden darf, eben in Leipzig.

Am vierzehnten Juli fiel der erste unheimlich rothe Schein auf den idyllischen Frieden unserer Schlachtenebene. Aus französischem Ministermunde erfuhr die erstaunte Welt, daß die spanische Krone Preußen und Deutschland, ja vielleicht Europa den so theuer bewaffneten Frieden kosten werde. Schon der folgende Tag bestätigte das Unglaubliche; der Krieg ist erklärt, beginnen soll der Kampf der zwei gewaltigsten Kriegsmächte Europas und der blühende Garten unseres Vaterlandes zum Schlachtfelde werden. Und wie steht die Nation vor dieser furchtbaren Zukunft?

Der Umschwung der Geister, der Aufschwung der Herzen von diesem Augenblick an gehört zu den Wundern der Weltgeschichte. Jede Brust athmete auf wie von schwerem Alp befreit, der sie seit Jahren gepreßt: endlich eine Erhebung ohne jeden Hemmschuh der Seele, eine Erhebung des ganzen Menschen, des ganzen Volkes! - Noch vor vier Jahren zerriß uns ein Bürgerkrieg, in welchem von dem halben Deutschland jeder Sieg als eine Niederlage beklagt, jede Niederlage als ein Sieg begrüßt wurde. Und jetzt?

Schon diese eine Stadt allein zeigt uns das ganze in einem Gefühl glückselige deutsche Volk! Wo sind Nationalliberale, wo Fortschrittler und Conservative? Ja, geradezu Unerhörtes: die Studenten, in ihrem Parteitreiben allen Jammer Deutschlands mit Jugendüppigkeit überbietend, sich gegenseitig bekämpfend, ja oft genug beschimpfend und erniedrigend, seit fünfzig Jahren nie zum Frieden gekommen, – die Studenten mit und ohne und aller Farben ein Herz und eine Seele, alle kampfbereit für das plötzlich einige Vaterland gegen den einen bis in den Tod verhaßten Feind.

Selbst der Gletscher unserer Alpen ist ein Bild dieser Bewegung. Wie er alles Unreine aus sich herausstößt und von sich wirft, so verfährt der patriotische Drang dieser Zeit gegen jedes unreine Element in unserem öffentlichen Leben, und so hat er nicht geruht, bis einer zum Ekel vaterlandsverrätherischen Zeitung durch die Verhaftung des Redacteurs ein vorläufiger Stillstand geboten war.

Steigt heute nicht Arndt wieder auf von den Todten, hören wir nicht Körner’s Ruf, donnern an unser Herz nicht Rückert’s geharnischte Sonette wie heute erst geschaffen? Und auch Schiller tritt in die Reihen der führenden Geister seines Volks. Das neue Theater faßte die Menge kaum, die zur Aufführung des „Wilhelm Tell“ strömte. Das war kein Schauspiel mehr, das war die dichterische Feier des mit beispielloser Frechheit herausgeforderten deutschen Nationalgefühls. So wie in diesen Weihestunden hat noch nie Schillers mannesstolzer Geist zu seinem Volke gesprochen. Wie in diesem Augenblick aus den Wogen des Tages herausgegriffen wirkten die Sprüche:

„Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben!“

„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen und Gefahr!“

„Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben
Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt –“

Und zu einer Mahnung an die Millionen Deutscher in aller Welt wurde des sterbenden Attinghausen letztes Wort:

„Seid einig, einig, einig!“

Das volle Herz geht über, es strömt in Reden und Gesängen daheim, es strömt in Adressen in die Ferne aus. Die Bürger richten sie von der „Guten Quelle“, einer zur politischen Börse erhobenen Lieblingswirthschaft der Leipziger, aus an die Könige von Preußen, Sachsen und Baiern, die Studenten an ihre Jugendgenossen in Süddeutschland und in Oesterreich. Viele Studenten folgen ihrer Fahnenpflicht zum Heere. Ihnen und Allen, die im Geiste mit ihnen sind, giebt der Rector der Universität (Friedrich Zarncke) einen Abschiedscommers in der Tonhalle. Wohin ist da wieder die alte Scheidewand gekommen zwischen Burschen, Philistern und Knoten? Alte und junge Bürger saßen zwischen den Studenten und Professoren und Alle fühlten sich als deutsche Männer und Jünglinge, innig vereint im Glück über das Zusammenleben in so großer Zeit.

Die öffentliche Stimmung wurde in wenigen Tagen aus der brausenden Begeisterung in das ernste stille Wirken des Bürgers [511] übergeführt, während auf Plätzen und Märkten, Bahnen und Heerstraßen fortan der Soldat herrschte.

Ganz anders, als ehedem, wo der Bote mit den Einberufungsordres gemüthlich zu Fuß ging, sah man diesmal die Boten unserer Gerichtsämter hoch zu Roß aus allen Thoren Leipzigs davon jagen. Und im selben Tempo, ohne Rast und dennoch ohne Hast, geschahen die Musterungen und Einstellungen.

Am Mittwoch (zwanzigsten Juli) machte der Roßplatz seinem Namen Ehre. Für Reiterei, Artillerie und Train hatten sich die nöthigen Pferde zur Musterung gestellt. Auch hier der neue Fortschritt: Gleichheit vor dem Gesetz wie Gleichheit vor der Gefahr. Früher war kriegsdienstfrei, wer’s bezahlen konnte, jetzt muß selbst das vornehmste, geliebteste Pferd sich neben den Ackergaul in Reih’ und Glied stellen, der betreßte Reitknecht und der blaukittelige Fuhrmann sitzen auf ihren Rossen nebeneinander. Und als ein solcher mit seinem dürren Gaul daherkam und von der Heiterkeit der bunten Volksmenge begrüßt wurde, genügte seine einzige Bemerkung: „Respect, meine Herren, der da ist ein Franzosenfresser!“ – um seinem Rößlein das beste Zeugniß auszustellen.

Am Donnerstag und Freitag trat endlich, nach all’ der freudigen Erregtheit, die dunkle Seite des Kriegs aus den stillen Winkeln des Hauses, wo sie bisher gejammert, heraus auf die Straße, hervor an die Sammelplätze. Wer an den Thoren der Stadt oder den Aussteigehallen unserer Bahnhöfe harrte, der konnte Bilder malen vom stillen, sich verkriechenden Weh bis zum laut austobenden Schmerz der Trennung. Saht Ihr das arme Weib mit ihren fünf kleinen Kindern? Sie wollte das geliebte Haupt des Mannes und Vaters nicht aus der Umschlingung lassen. „O Gott im Himmel, heute gehst Du fort und morgen haben wir keinen Bissen Brod mehr!“ Da ward geholfen, und nicht nur ihr allein. Denn nicht blos, daß der armen Frau manche schöne Gabe in die Hand floß, das Bessere kam aus einem Mannesmund, der allen anwesenden Landwehrmännern und verheiratheten Soldaten es zusicherte, daß ihre Lieben die sorgsamste Pflege aus freier bürgerlicher Dankespflicht finden würden. Bedenkt, wie wohl Das den Vaterherzen unterm Waffenrock thun mußte, und haltet Wort!

Wenn auch mit dem höchsten Entzücken, dennoch nicht ohne Zähneknirschen überschaut man die Schaaren, die Blüthe unserer Nation, die der Möglichkeit der Vernichtung entgegengeführt wird. Jeder Beruf ist hier vertreten, ob wir zum Schützenregiment auf dem Roßplatz oder zu den Jägerbataillonen am alten Theater, ob zu den Artillerieregimentern auf dem Fleischerplatz oder zu den Reiterregimentern auf dem Königsplatz eilen; überall die frischeste Mannes- und Jugendkraft, hier bei den Handwerker- und Proviantcolonnen, wie dort bei den Pionnier- und den Trainbataillonen. Und überall, wo die Cameraden bei einander stehen, zeugt Auge, Hand und Mund von der Heldenhaftigkeit, die nur in einem braven Herzen wurzelt. Da ist redliche Zuversicht in die eigene Kraft und feste Siegeshoffnung, da ist bei aller Kampflust Mannesernst und bewundernswürdiger Opfermuth!

Die schönsten Beispiele stehen uns vor Augen. Wer jubelt ihnen nicht zu? Auf dem Wege vom Königsplatz zum Petersthor sehe ich einen jungen Mann in voller Reiseausrüstung dahereilen. Ein Bekannter streckt ihm die Arme entgegen. „Was, Du, Du auch hier? Woher kommst denn Du?“

„Direct von England. Wo steht mein Bataillon?“

„Dort am Roßplatz.“

„Gottlob, ich komme noch zurecht!“

Und fort rennt er, direct von England, zu seinen Kampfgenossen. –

Und dort wieder ein Anderer, von seinen Freunden begrüßt, ein Leipziger Buchhändlerssohn. Aus der angenehmsten, glänzendsten Geschäftsstelle in Turin riß er sich los, ohne eine etwaige Einberufungsordre abzuwarten. – Ein Landmann im nahen Dorfe Lindenau, selbst einst sächsischer Soldat, hat vier Söhne zu den Fahnen geführt, und wahrlich, kein Spartaner, kein Römer konnte stolzer auf diese Ehre sein, wie dieser deutsche Mann!

Ein Leipziger Blatt (die „Deutsche Allgemeine Zeitung“) ruft „unseren ausrückenden Kriegern“ einen Gruß zu. Sie sagt unter Anderm: „Leider war es dem sächsischen Soldaten - seit jener Schlacht von Jena, wo er tapfer, aber unglücklich an der Seite preußischer Bundesgenossen für ein deutsches Interesse kämpfte - nicht mehr vergönnt, in einen großen vaterländischen Kampf zu ziehen, in welchem sein ganzes Herz mit der Sache hätte sein können, für die er focht. – Jetzt zum ersten Male steht er unter einer Fahne, der nicht blos sein soldatisches, sondern auch sein patriotisches Herz voll und ganz entgegenschlagen kann. Die erbetene Ehre, mit in erster Linie der großen einigen deutschen Armee zu fechten, ist ihm gewährt worden, und er wird diese Ehre zu verdienen wissen.“

Ja, nicht mehr „Norddeutsche Bundesarmee“, sondern „das deutsche Heer“ heißt officiell von nun an die Streitkraft des einigen Vaterlandes.

Und um die Erinnerung an das große Jahr Dreizehn vollständig zu machen, hat des Reiches Schirmherr auch „das eiserne Kreuz“ wieder als Tapferkeitszeichen erneut. Das alte hat keine sächsische Brust schmücken können, aus Ursachen traurigsten Andenkens; möge das neue eiserne Kreuz der Stolz vieler Sachsen zur Ehre Deutschlands werden!
Friedrich Hofmann. 

[522]
Nr. 2. Durchmarsch und Abschied in Leipzig.[1]


Der Marktplatz zu Leipzig in der Weltgeschichte. – Deutschlands Trauer und Erhebung. – Leipzigs Arbeit für’s Vaterland. – Der internationale Hülfsverein. – Lebewohl der Wehrmänner. – Die Lieder und Blumen der Jugend. – Das Scheide-Abendmahl. – Die Durchmarschirenden. – Gesundheit für Roß und Mann. – Die Bahnhöfe als Wallfahrtstätten. – Der erste, der moralische Sieg der Deutschen.


Als ich vor etwa zwölf Jahren zum ersten Male als hier Angesiedelter in schöner Mondnacht über den stillen Marktplatz schritt, über den Markt von Leipzig, traten mir aus der Vergangenheit desselben Zug um Zug hochragende Gestalten und bunte Menschenwogen vor das geistige Auge, die in dem Bilde der Weltgeschichte an uns vorüberziehen, und mit Ehrfurcht beschritt ich diese Stätte, wie ein Heiligthum des Völkergeschicks, denn jedes große europäische Verhängniß seit mehr als drei Jahrhunderten führte Freund und Feind über unsern Markt.

Luther und Kaiser Karl den Fünften, Tilly und Wallenstein, Gustav Adolf und Herzog Bernhard, Karl den Zwölften und Friedrich den Großen – sie Alle sah dieser Markt und noch Hunderte, die die Geschichte nennt, und Hunderttausende, die nur als Menge zählten. Doch über alle diese Fürsten und Führer und ihre Getreuen [523] und Völker eilte in der damaligen Stimmung meiner Seele der Blick den ewigen Weihetagen unserer Nation, den blutigen Siegen zu, die sie draußen auf den Feldern dieser Stadt errungen. Wie rasselt’s und dröhnt’s auf dem Pflaster des Markts! Ganz Frankreich auf der Flucht! Und dort, die Grimmaische Straße her, sprengt der Reiter mit dem kleinen Hütchen tief in der Stirn. Da hält er am „Königshause“, – zum letzten Abschied von dem König, den er zu Grunde gerichtet. Mit „Adieu, Herrn Sächser!“ scheidet er von seinen geschlagensten Verbündeten – und fort mit der hastigen Suite der Hainstraße zu. Sie ist verstopft, der flüchtige Kaiser kehrt das Roß, noch einmal sieht er den Markt von Leipzig, die Petersstraße hinauf folgen ihm seine Trabanten – um den Graben jagt die Schaar, hinter dem geretteten Selbstling fliegt die Elsterbrücke in die Luft und der Fluch von Millionen folgt dem vervehmten Verbrecher an der Menschheit.

Und nun – der Siegesjubel so vieler Völker, er steigt hinauf zum Himmel, zu demselben Himmel, zu welchem rings auf kaltem, blutigem Grunde tausend brechende Augen blicken, tausend Jammerschreie und Klagen der Verwundeten dringen. Und das Alles zu dem Einen Himmel, hinauf zu dem Einen Gott! – –

Und aller Jubel und alles Wehe zog herein in’s Herz der Stadt, auf ihren Markt, aber der Sieg blieb Herr, er blieb der Stolz der deutschen Nation, und über dem Namen „Leipzig“ schwebt der Eichenkranz durch alle kommenden Jahrhunderte der Weltgeschichte. –

So schwärmte ich in jener Mondnacht; das Hochgefühl des Deutschen im Widerglanz jener Tage in der Brust, – aber der Blick ging weiter, und der Kummer über all die Täuschungen, die das treue deutsche Volk dreißig, vierzig, ja fünfzig Jahre lang zu tragen hatte, quoll mir im verbitterten Herzen auf. „Wann wird der Tag kommen, wo in Deutschland Ein Geist wieder Alle erhebt, Alle einigt zu Einer That und nach Einem Ziele?“ – Die verdunkelte Nacht hatte keine Antwort für meine Frage.

Nur ein Trost ging damals mit den Vaterlandsfreunden zur Ruhe und stand mit ihnen auf: das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen war geweckt, und kein Reactionsdruck hatte es wieder ersticken können. Und weil sich keine That bot, klammerten wir uns an die großen Erinnerungen an und huldigten dem Ideal in deutschen Nationalfesten. Das Schiller- und das Leipziger Schlachtfest erreichten für die Entwickelung des deutschen Geistes den Werth von Thaten. Nur Eines fehlte zur Vollendung der nationalen Einigkeit: die einträchtig mitschaffende Hand der Fürsten. Jedermann weiß, was dem deutschen Volke ein Jahr nach der großen Volks- und Turnerverbrüderung in Leipzig geschah, und was wiederum zwei Jahre darnach ihm für Rosen blühten auf Schlachtfeldern im Vaterlande.

Und Alles, Alles, Alles dies – heute, im großen Sturmsommer von 1870, ruft’s ganz Deutschland aus: es war unsers Herrgotts Schule für Fürsten und Völker, und heute haben wir ausgelernt, die Prüfung ist bestanden, wir treten mündig ein in’s große Völkerleben als die Macht, die wir nicht eher werden konnten, als bis unsere Zwietracht überwunden war. –

Und Leipzig? Es thut wohl, gerade dies in Leipzig schreiben zu können: der Geist der Bürger in der Stadt der großen deutschen Schlachten und Feste ist nicht hinter dieser Zeit zurückgeblieben. Wir können getrost erzählen, wie hier an der allgemeinen Erhebung Theil genommen wurde.

Noch mitten im Sturme der ersten Begeisterung nach dem Trompetenstoße von der Seine leitete der praktische Tact des vorherrschenden Handels- und Industriegeistes der Bevölkerung zur Arbeit für das Vaterland. Nach vier Richtungen machte sich sofortige und rascheste Thätigkeit nöthig: da Leipzig 1866 Lazarethstadt war, so lag der Gedanke der Vorsorge für die Verwundeten am Nächsten; die Mobilmachung der Landwehr und Reserve lenkte die Theilnahme auf die Frauen und Kinder der vielen Aermeren dieser Wehrclassen hin; daß der Krieg viele von ihnen zu Wittwen und Waisen machen werde, rief eine neue Sorge wach; gleichzeitig mußten Vorbereitungen für die Bewirthung der von hier ab- und der hier durchmarschirenden Truppe getroffen werden.

Wir dürfen es uns nicht versagen, auf Einzelnes einzugehen. Für die Vorsorge zur Pflege der Verwundeten trat zuerst der „sächsische internationale Hülfsverein“, dessen Protectorin die Kronprinzessin Carola von Sachsen ist, auf. Er wandte sich vor Allem an die Frauen und Jungfrauen Sachsens, und um strengste Ordnung in diesen wichtigen Theil der Kriegsvorbereitungen zu bringen; erschien eine gedrängte und klare Belehrung unter der Ueberschrift: „Rathschläge für die Hülfsvereine, Anschaffung und Verarbeitung von Hülfsmitteln für die Kriegslazarethe betreffend“ in allen Localblättern. Und so tüchtig erwies sich die Vaterlands- und Menschenliebe der Leipziger Frauenwelt, daß schon nach wenigen Tagen ihnen ein Dank für nicht unbedeutende Lieferungen von Verbandsmitteln aller Art ausgesprochen werden konnte. Diese Opferfreudigkeit wirkt rastlos weiter, und das ist um so höher zu schätzen, als sie nicht erst durch die jammernde Noth aufgeregt wurde.

Herzergreifend zeigte sich vom ersten Augenblick der Kriegsgefahr an die Auffassung der Unterstützung der Angehörigen unserer Reserve- und Landwehrmänner. Sie galt sofort als nationale Pflicht, und Alt und Jung, Vereine und Einzelne, Männer und Frauen boten die Hand zur nachhaltigsten Erfüllung derselben, und zwar ganz im Geiste unseres Aufrufs im ersten Beiblatt der Gartenlaube. Die Sammlungen dazu ergaben schon nach wenigen Tagen in Leipzig allein über sechstausend Thaler. Nicht wenige Principale und sonstige Arbeitgeber lassen den Gehalt der einberufenen Männer deren Familien zukommen und verpflichteten sich dazu für die ganze Dauer des Kriegs; und während der nach Zöllner benannte Sängerbund dem Zwecke allein tausend Thaler aus der Bundescasse opferte, machten, zunächst für ein Vierteljahr, fünfzig Bäcker sich verbindlich, wöchentlich je zwölf bis fünfzehn Pfund Brod durchschnittlich zu liefern; diese etwa sechshundert Pfund Brod wöchentlich haben bereits manche Thräne trocknen, manche Sorge lindern helfen. Auch dieses Beispiel Leipzigs ging auf alle Nachbardörfer über; immer weiter hinaus vom Mittelpunkte ergehen die Aufrufe, die ihren warmen Ursprung in edlen Herzen fanden. Und wahrlich; es bedurfte nur eines Ganges zu den Sammelplätzen der Abmarschirenden und auf die Bahnhöfe; um die Theilnahme für die Lieben der Männer, welche in ihrer Armuth dem Vaterlande das größte persönliche Opfer bringen, immer lebendiger werden zu lassen. Auf dem Wageplatze unweit des Thüringer Bahnhofs stand eine Compagnie solcher Wehrmänner. Man konnte sie schon von Weitem, auch ohne die Montur zu prüfen, als solche an den vielen Frauen und Kindern erkennen, welche gleichsam ein drittes Glied der beiden Soldatenreihen bildeten. So lange es nur immer der Dienst erlaubte, hielten viele der Männer noch die jüngsten Kindchen auf dem Arme und ließen die andere Hand auf den Häuptern der anderen Kinder liebkosend ruhen. Eines der Kindchen war außer sich vor Freude über den Tornister des Papa und wandte ihm all’ seine streichende und patschende Zärtlichkeit zu. Auch beim Abmarsch wich diese Begleitung nicht von Reih’ und Glied bis zum Bahnhof und bis der letzte Befehl zum Einsteigen Alles auseinanderriß, was Himmel, Kirche und Natur für ewig verbunden hatte. – Ein Wort aus einem solchen Frauenmund des Volks war’s, das alle Umstehenden tief ergriff: „Ach, was gilt nun unter den Tausenden dort mein einziger Mann, der mir Alles, Alles in der Welt ist!“ –

Ist es wirklich jetzt für solche Frauen ein Trost, daß sie täglich lesen, wie eifrig für sie als Wittwen gesorgt wird? – Und doch ist diese Sorge so edel und so gebieterisch. Guten Müttern wird sie auch ein Trost sein; wenn sie ihr Auge auf ihre Kinder richten, die ein furchtbares Geschick zu Waisen bestimmt haben kann.

Diese Beziehungen der Scheidenden und Zurückbleibenden gaben dem kriegerischen Bahnhofleben einen ganz andern Charakter, als der spätere Durchmarsch anderer norddeutscher Regimenter bot. Trotz aller ungeschwächten Begeisterung für den großen Entscheidungskampf um Deutschlands und Europas Zukunft war die Trauer und der Schmerz aus der Stille des Hauses, wo sie sonst sich hinter das Thränentuch in’s Abgeschiedene und Dunkle verkriechen, mit hinaus in’s wogende Gedränge gezogen. Das Weib war herausgerissen aus seiner natürlichen Scheu vor der Oeffentlichkeit, und Liebe und Treue; Freundschaft und Eheglück traten frei hinaus mit allen ihren Aeußerungen. Umarmung, Kuß und Thräne, Alles ist frei; und manche verborgene Liebe verräth jetzt ungescheut die Jungfrau mit dem ersten Blumenstrauß, den sie jetzt – vielleicht als letzten – dem waffengerüsteten Jüngling reicht. Väter und Mütter stehen dabei und ahnen, vom eigenen Schmerz übermannt, nicht, welche süßaufkeimenden Lebensknospen hier vor der Vernichtung zittern. Und die sich nun nicht mehr noch einmal Hand und Mund zum letzten und allerletzten Abschied reichen können, drinnen in den Wagen die Väter und Männer, Söhne und Brüder, Geliebten [524] und Freunde – und draußen, die Hände auf die Herzen gepreßt, die Gattinnen und Mütter, die Schwestern und Kinder, die Bräute und Geliebten – wie hängen mit den letzten Blicken da die Augen aneinander! Wie brennt da das Herz, dem letzten Riß und Ruck entgegenbebend! O, es ist groß, welche Stärke im Menschenherzen ruht, welche Stürme es überstehen kann!

Unserm Künstler verdanken wir das Bild einer solchen Scheidescene auf dem Dresdener Bahnhof. Damals befanden sich auch viele Leipziger Studenten beim Zuge, um sich dem Heere anzuschließen. Ihnen gab der berühmte akademische Gesangverein der „Pauliner“ das Comitat. Da erscholl noch manches wehmüthige und frischmuthige Lied, und am hingebenden Leben der blühendsten Jugend erhob sich da manches niedergedrückte Herz. Es war eine rechte gegenseitige Jugendschmückung, die Studenten mit ihren Liedern, die Mädchen mit ihren Blumen – das warf selbst auf das herbe Weh noch einen Rosenschimmer.

Beim Abschied der einberufenen Studenten auf dem Dresdener Bahnhof in Leipzig.
Nach der Natur aufgenommen von Heubner.

Wieder ein anderes, aber nicht weniger fesselndes Bild gewährte der Abschied unserer beiden Garnison-Bataillone. Viele der Angehörigen unserer Soldaten waren herzugekommen. Die Scheidescenen wurden gleichwohl, nach dem Charakter unseres Volks, mit stillerer Gemüthlichkeit verlaufen sein, wenn nicht die zarten Beziehungen der Dienstmädchen zu dieser Truppe buntes Leben und aufregende Bewegung hineingebracht hätten. Nie aber wich aus diesen Gruppen ein Hauch von Feierlichkeit; der Schmerz heiligt. Erst einige Eisenbahnstunden vom Orte der Trennung entfernt ist der scheidende Mann mit der ersten Verwindung der heimischen Gefühle fertig; er packt sie zusammen, um sie vor der eisernen Hand des Berufs für gelegenere Zeiten – „Steh’ ich in finstrer Mitternacht etc.“ – aufzubewahren.

Auch die kirchliche Weihe der Scheidenden fand – wie im Jahre Dreizehn überall – jetzt hie und da statt. In Lindenau, dem als letzte Raststätte Bonaparte’s nach der Völkerschlacht bekannten [525] Dorfe bei Leipzig, kündigte der Pastor (Dr. Schütz) eiligst noch für den Abend vor dem Ausmarschtag einen Gottesdienst mit Communion für die zur Fahne einberufenen Krieger, deren Frauen und Kinder Eltern und Geschwister an; es waren Dreihundert, die daran Theil nahmen, und auch hier schlossen noch mehrere Brautpaare den Ehebund vor der Trennung durch diesen Krieg.

Während all’ dieser Vorgänge und Arbeiten hatten in aller Eile die Vorbereitungen für den Durchmarsch bedeutender Truppenmassen vollendet werden müssen. Sie zerfielen von selbst in obrigkeitliche und freiwillig-bürgerliche. Erstere betrafen namentlich Bauten von Ställen für größere Pferdemassen, letztere die Bewirthung unserer in’s Feld ziehenden Soldaten des norddeutschen Bundes.

Die Mitrailleuse.

Die Aufregung des Augenblicks wie die Gleichgültigkeit der Gewohnheit lassen jetzt Manches übersehen, was der Beachtung werth ist. Ich führe den Leser zu den Baracken für dreihundertfünfzig Pferde auf dem Floßplatze. Sie nehmen eine Länge von dreihundertfünfzehn Ellen so ein, daß zwischen zwei großen Baracken für die Pferde eine kleinere für die Futtervorräthe isolirt steht, irgendwelcher Feuersgefahr wegen. Hier zeigt sich, was einer Stadt mit so trefflicher Wasser- und Gasleitung auch für solche Augenblicksbauten möglich ist, wenn es gilt, durch höchste Reinlichkeit für die Gesundheit von Mann und Roß zu sorgen. Die Wasserleitung versorgt sie nicht nur mit einem immerfrischen guten Trunk, sondern sie hilft auch den Abfluß der Jauche beschleunigen, die aus den Ställen in gebrannte Thonröhren abfließt und durch sie den Hauptschleußen des Platzes zugeführt wird. Und wie räumlich, blank und wohlversorgt stehen die einzelnen Abtheilungen bald für acht, bald für sechszehn Pferde da! Alles, bis zur scheinbaren Kleinigkeit, am rechten Ort, die Krippen und Raufen, dort der Futterkasten, die Siebe, die Schwingen zum Futtermischen, die Wassereimer und sogar die Futtermäßchen – Alles funkelneu und jedes an seinem Platz. In solchen Räumen mußten Roß und Mann, wenn noch so abgemattet angekommen, freudig aufathmen, und das war der Zweck, der damit erreicht werden sollte.

Derselben Aufmerksamkeit bis zu den anscheinlichen Kleinigkeiten herab begegneten wir auf den Bahnhöfen, wo der Verpflegungsverein für die durchmarschirenden Truppen eine wahrhaft großartige Thätigkeit entfaltete.

Mit militärischer Kürze hatte sein Aufruf gelautet: „Einwohner Leipzigs und der Umgegend! Unseren deutschen Truppen stehen schwere Tage bevor! Laßt diejenigen, welche unsere Stadt berühren, nicht ohne äußere Zeichen unserer Theilnahme von uns scheiden. Um den in’s Feld rückenden Soldaten, welche in unseren Mauern eine kurze Rast haben, Erfrischungen bieten zu können, richten wir an Euch die Bitte, uns schleunigst mit entsprechenden Beiträgen an Geld und Naturalien zu unterstützen. Oeffentliche Quittung wird später erfolgen.“ –

An vierundzwanzig Annahmestellen für Geldbeiträge und einer Stelle für Naturalien, namentlich Wein, Bier und Cigarren, sammelten sich in wenigen Tagen Vorräthe, mit welchen viele tausend Mann erquickt werden konnten.

Ein Bahnhof giebt uns das Bild der Einrichtung und Bewirthung für alle anderen. Wir eilen zum Thüringer, dessen Räumlichkeiten allezeit den unverwehrten Zutritt der begrüßenden Bevölkerung gestatten. Ein Verein von neunzig Bürgern leitete die Verpflegung und die Vertheilung der Gaben. Wir berichten noch über die Masse des Dargebotenen, wenn am Schluß der Durchmärsche die Zusammenstellung derselben geschieht.

Längs der Güterhalle stehen unabsehbare Wagenreihen auf dem Geleise, welches mit der sogenannten Verbindungsbahn zusammenhängt, einer Gürtelbahn, welche die vier Bahnhöfe im Norden der Stadt, den Berliner, Thüringer, Magdeburger und Dresdener, mit dem bairischen Bahnhofe im Süden verbindet. Zwischen den Wagenreihen und den Güterhallen sind Wasserbehälter angebracht. Die Güterhalle selbst ist zu einem riesigen Speisesaal umgewandelt, und jenseits der Halle dampft und kocht es in einer unter Bretterschutz improvisirten Küche mit zwei Kochheerden von je sechs Kesseln vom größten Kaliber. Vor der Küche die Bretterbude zur Reinigung des Speisegeschirrs für Bataillone von Tischgästen. Auch hier konnte nur durch Wasser- und Gasleitung früher Unglaubliches möglich gemacht werden.

Während wir noch bei frühem Morgenbesuch uns am Kaffeeduft der Küche labten, erscholl draußen zum Pfeifen und Donnern des herankommenden Zuges das Hoch der jubelnden Volksmenge. Bataillone des achtundfünfzigsten Linienregiments kamen von böser Nachtfahrt in den dichtgefüllten Wagen. Jetzt ward uns der Zweck der vielen Wasserbehälter klar. So viel der abgematteten Soldaten es nur vermochten, drängten sich um diese Behälter, um Gesicht und Hände durch eine Waschung zu erfrischen. Das Wonnige dieses Wohlgefühls strahlte von allen Gesichtern. Und nun in geordnetem Zuge zu den Tischen in der Halle. An aufwartenden Händen fehlte es nicht, die Bedienung war musterhaft, wie das Aufgetragene massenhaft. Und sobald der Tyrann Magen beruhigt war und jeder Mann sein Theil an Cigarren oder Tabak und, eine Zugabe des guten Geistes dieser Tage, ein Gratis-Liederbüchlein mit alten und neuen Gesängen für den Herzbedarf der Gegenwart in Empfang genommen, begann an allen Tischen und in allen Gängen die mittheilselige Lust; aber Musik und Gesang behielten die Oberhand. Die Regimentsmusik begann mit der rasch zum Nationallied emporgeschwungenen „Wacht am Rhein“, und alle Soldaten- und Volkskehlen stimmten mit ein. Die halbstündige Rast war wie in wenigen Minuten vorüber, wie zum Dank und zur Ermuthigung schmetterte die Musik den „Pariser Einzugsmarsch“ aus den Wagen heraus, mit der Minute war das Einsteigen vollendet, das Commando schrillte, die Locomotiven keuchten und pfiffen und fort ging’s wieder, von Hochruf und Tücher- und Hüteschwenken begleitet – fort in den furchtbarsten Kampf des Jahrhunderts. – Und so ging’s Tag und Nacht und ununterbrochen, auf die Minute genau, und Tag und Nacht blieben die Bahnhöfe die Wallfahrtstätten der Bevölkerung von Stadt und Land. Selbst der Kronprinz von Preußen, den als Feldherrn der Süddeutschen eine besondere Verehrung auszeichnete, gehorchte dem Commando des Militärzuges, mit dem er zu seinen Armeen fuhr. Dafür ließ er uns die ruhige Zuversichtlichkeit seines Ausspruchs zurück: „Einen moralischen Sieg haben wir bereits über Frankreich errungen, zu dem andern wollen wir unser Bestes aufbieten!“ –

Die Züge nach dem Rhein folgten theils der Thüringer, theils der bairischen Bahn; zu letzterer führte sie, wie bemerkt, die Verbindungsbahn, die u. A. auch das größte Dorf Sachsens, Reudnitz, durchschneidet. Hier hatte man für eine besondere allnächtliche Ueberraschung der durchfahrenden Soldaten gesorgt: jeder Zug wurde durch Raketen und andere Feuerwerksstücke begrüßt und dann auf ziemlich langer mit deutschen und norddeutschen Bundesfahnen geschmückten Strecke bengalisch beleuchtet und mit kräftigem Hoch ihm im selben Augenblick Willkommen und Lebewohl gebracht.

Die Armen unterstützen, die Klagenden trösten, die Verzagenden aufrecht halten, an den Muthigen sich stärken, mit den Hoffnungsfrohen sich freuen und für die gemeinsame Sache keine Arbeit und kein Opfer scheuen, Besseres kann der Daheimbleibende jetzt nicht leisten – und hat man Das in Leipzig redlich vollbracht, so gönne man uns draußen das Gefühl der Genugthuung, daß wir bis auf Weiteres unsre Schuldigkeit gethan haben.

Fr. Hfm. 
[592]
Nr. 3. Im Bivouac der sächsischen Truppen.

Das Leben im Bivouac, das den meisten Ihrer geehrten Leser aus Friedenszeiten bekannt sein dürfte, nimmt im Kriege, durch die Noth und den Ernst der Verhältnisse bedingt, einen ganz neuen, ursprünglicheren Charakter an. Wie viele Rücksichten, die der Friede dem Soldaten auferlegt in Bezug auf Situirung des Lagerplatzes und Herbeischaffung von Lebensmitteln, fallen im Kriege zum größten Theile weg, und das praktische Bedürfniß des Soldaten tritt in den Vordergrund. Ein Bivouac, das diesem vor Allem entsprach und das jedem Theilnehmer in der freundlichsten Erinnerung bleiben wird, war das erste Bivouac des Schützenregiments am 6. August bei Kaiserslautern.

Das Hauptquartier des Kronprinzen von Sachsen in Homburg in der Pfalz 7. August.
Nach einer Skizze von Gey.


Gegen ein Uhr langten wir hungrig und müde bei gelindem Regen in einem herrlich grünen Thalkessel an, der fast auf allen Seiten durch steil ansteigende Wiesen und Wälder begrenzt war. Kurz nach unserer Ankunft hellte sich das Wetter auf, und bei herrlichem Sonnenscheine begann sich das fröhlichste Lagerleben zu entwickeln. Nachdem im Grunde die Bataillone die Gewehre in symmetrischer Ordnung zusammengestellt hatten, eilte jeder den ihm zufallenden Theil der Arbeit auszuführen. Während die Zimmerleute theils am Berge die nöthigen Kochlöcher gruben, theils in den Wald eilten, um Bäume zu fällen, wendete sich eine Abtheilung einem nahen klaren Wasser, dem Lauterbach zu, um das zum Kochen und Trinken nöthige Wasser zu holen. Andere „fassen“ Fleisch, Reis, Salz, Brod und Kaffee, während noch Andere das Stroh zum Nachtlager herbeischaffen. Von den herbeigeschleppten Bäumen werden eiligst mit dem Seitengewehr die Aeste entfernt, und während mit unglaublicher Schnelle riesige Flammen zum Himmel lodern, entstehen unter der Hand geschäftiger Künstler an der Berglehne hin wohnliche Laubhüttem. Das fertig gewordene Mahl, gewürzt durch einen Trunk aus der Feldflasche oder ein Glas Bier, das der vielumschwärmte Marketender herbeigeschafft hat, vereinigt endlich die verschiedenen Corporalschaften, und nach demselben giebt sich jeder, dem Charakterbedürfniß nach, entweder dem Reinigen seiner Waffen und Montirung oder eifriger Unterhaltung oder auch dem Schlafe hin. Unterdessen wird es Abend, die Feuer lodern heller und heller, der Mond und die Sterne finden sich nach und nach ein und die andächtige Ruhe einer klaren Augustnacht lagert sich mehr und mehr über das rührige Treiben. Der Anblick des Lagers um diese Zeit von der Höhe, wo der einsame Posten das wachsame Auge nach allen Seiten hinsandte, war ein so rein poetischer und malerischer, noch gehoben durch die melancholischen Klänge der Retraite, daß er eine ganze Woche mühseliger Strapazen aufwog.

Einen ganz anderen Charakter trug hingegen das Bivouac, das wir zwei Tage später bei Erbach und Homburg bezogen. In [593] letzterer Stadt hatte sich Tags zuvor das Hauptquartier des Kronprinzen von Sachsen befunden. Er hatte im Gasthause zur Pfalz sein Absteigequartier genommen und ihm zu Ehren war nicht nur dieser Gasthof reich mit Fahnen decorirt wie es Ihre an Ort und Stelle aufgenommene Abbildung zeigt, sondern auch fast jede Straße der Stadt. Wir selbst mußten freilich mit einem weniger behaglichen Quartier vorlieb nehmen, am 8. August langten wir auf dem zwischen Erbach und Homburg gelegenen, offenen, Wind und Wetter ausgesetzten Stoppelfelde an, und nachdem wir bei drohendem Regen schnell und ohne besondern Humor unsere körperlichen

Im Lager des sächsischen zweiten Ulanen-Regiments.

Im Bivouac bei Habkirchen am 9.–10. August.

Nach einer Skizze von Gey.

Bedürfnisse befriedigt hatten, warf man sich zeitig auf’s Lager. Da begann nun ein Regenguß, wie ich mich wenige erlebt zu haben erinnere. Eine Stunde lang trotzte ich ihm, in meinen Mantel gehüllt, auf spärlicher Streu. Als aber der Tümpel, der sich mit der Zeit unter mir gebildet, meine eine Seite vollständig durchweicht hatte, während die andere dem strömenden Regen nicht mehr widerstehen konnte, erhob ich mich, um durch herumlaufen und gewaltsame Bewegung meine erstarrten Glieder zu erwärmen. Mehr und mehr der anscheinend Schlafenden verließen ihr nasses Lager und bald sah man in der Dunkelheit schwarze fluchende Gestalten durcheinander wogen und Schutz bei den nur nothdürftig gelingenden Wachtfeuern suchen.

Da war es der Hauptmann meiner Compagnie, der wieder zur rechten Zeit eingriff, ein Mann, der hinter rauhem Wesen eine oft wahrhaft rührende Fürsorge für das Wohl seiner Compagnie verbarg; mein Hauptmann war es, sage ich, der auch in diesem Falle durch persönliches Aushalten im Unwetter und umsichtige Anordnungen die Entsetzlichkeiten der Nacht zu mildern wußte. Zuerst ließ er ungeheure Quantitäten Holzes herbeischaffen, so daß in Kürze mehrere gewaltige Brände zum Himmel emporloderten. Um einen derselben gruppirte sich der Hauptmann mit seinen Officieren, Unterofficieren und einem großen Theile der Compagnie und ein Fässchen vortrefflichen Weines, die Frucht einer vom Geldbeutel des Hauptmanns unterstützten Requisition der jüngsten Tage, wurde angestochen, worauf der Becher stetig unter der frostigen und nassen Gesellschaft circulirte. Dem strömenden Regen zum Trotze wurden alle die poetischen, theils lustigen, theils melancholischen Soldatenlieder hervorgesucht und aus einer so großen Zahl lustiger Männerkehlen brauste manch’ kerniges Lied zum Himmel – dazu in der Mitte die lodernden Flammen ringsum die grell beleuchteten gestalten in ihren langen schwarzen Mänteln und dahinter die undurchdringliche Nacht und das Plätschern des Regens.

Der schönste Augenblick war, als der Hauptmann, nachdem einer von uns in kurzen herzlichen Worten ein begeistertes [594] Hoch auf den Vater der Compagnie ausgebracht hatte, von der Ehre sprach, die es ihm sei, an der Spitze einer Compagnie, zu deren Tapferkeit er das festeste Vertrauen habe, den Feind des Vaterlandes zu bekämpfen, und auf die siegreiche Heimkehr derselben ein dreifaches Hurrah ausbrachte, ein Hurrah, das dreimal kurz und donnernd, drohend und frohlockend zugleich zum Himmel aufstieg. Ein neues Hoch auf den Hauptmann folgte, und noch lange hielt sich der fröhliche Kreis um das wärmende Feuer, bis zuletzt der fort und fort strömende Regen jede Regung der ermüdeten Körper und Geister unterdrückte und nur noch trüb hinschleichende schlafwandelnde Gestalten mit Sehnsucht dem endlich erscheinende Tagesgrauen und mit diesem neuen Strapazen entgegenblickten.

Donnerstag den 11. August war es endlich, als wir Quartiermacher des sächsischen Schützenregiments der französischen Grenze zuschritten. Das Wetter war regnerisch, grau lag der Himmel über der hügeligen Landschaft, und die Straße war mit tiefem Kothe bedeckt. Wir selbst, eine Abtheilung von achtundvierzig Unterofficieren und Soldaten, meist früheren Freiwilligen, unter Führung eines Officiers, waren, im Gegensatz zur trüben Stimmung des Wetters, außerordentlich angeregt und besprachen lebhaft die bevorstehenden Ereignisse. Daß wir in so starker Anzahl vorgingen, hatte seinen Grund darin, daß die Massacrirung einer Patrouille durch die fanatischen Landleute bekannt geworden war, und in Folge dessen ein strenger Befehl für alle Verrichtungen in Feindesland doppelte Besetzung anordnete. Endlich war das letzte Dorf Deutschlands, Habkirchen, erreicht; dort fanden wir noch die Spuren eines Bivouacs, das kaum vierundzwanzig Stunden vor uns Landsleute von uns, das sächsische zweite Ulanenregiment, in der Nacht vom 9. zum 10. August bezogen hatten und dessen Wiedergabe Ihrem Künstler in bester Weise gelungen ist. Nun zogen auch wir unsern wackern Cameraden nach, die bereits die Grenze überschritten hatten. Ohne Aufenthalt ging es durch das Dorf, und indem wir der Saarbrücke eilenden Fußes zuschritten, malte sich mehr und mehr auf den verschiedenen Gesichtern die wachsende Spannung. Jetzt war der bairische Grenzpfahl erreicht und jetzt, es war zwanzig Minuten vor acht Uhr Morgens, einige Schritte weiter der französische; über den französischen Adler hatte eine kecke Hand die Worte geschrieben: „Provinz Lothringen“. Dies schlug in die ohnehin ernsten Gemüther wie ein zündender Strahl, und von der Bedeutsamkeit des Momentes für uns gepackt, brach beim Betreten der Brücke die junge feurige Schaar in ein dreifach gewaltiges Hurrah aus, daß die Pfeiler wankten und die rothen Wellen der Saar schneller vorbeiflohen. Dann wurde mit einer Begeisterung, wie sie eben nur der Moment geben kann, „Die Wacht am Rhein“ angestimmt, und mit erhobenem Kopfe und dem Gefühle gerechten Stolzes nahmen wir die Blicke der Verwunderung und Sorge der Bewohner des französischen Grenzdorfes Mannberg entgegen.
Ernst Htg.

  1. Wir haben in unserem vorigen Artikel schon angedeutet, daß wir in diesen ersten Schilderungen unserer großen Zeit nur Einleitendes geben können, das selten über den Rahmen des Lebensbildes unserer Stadt hinausgeht, eben weil in diesem Bilde im Kleinen die ganze große Bewegung unseres Vaterlandes sich widerspiegelt. Wir liefern damit allerdings nur Material für die künftige Geschichtschreibung; dasselbe wird aber um so werthvoller sein, je treuer wir im beschränkten Kreise auf Wahrheit und Klarheit halten. Und das wollen wir.