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Der Vogel unsterblicher Wahrheit

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Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Der Vogel unsterblicher Wahrheit
Untertitel:
aus: Zerstreute Blätter (Dritte Sammlung) S. 220-222
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1787
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
Kurzbeschreibung:
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Bearbeitungsstand
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[220]
Der Vogel unsterblicher Wahrheit.


In Mitte des Paradieses standen die beiden wunderbarsten Bäume der Welt, der Baum der Erkänntniß und der Baum des Lebens. Von diesem zu essen, war den Menschen erlaubt; von jenem zu kosten war ihnen, um ihrer Kindheit willen, verboten. Der einzige Phönix, damals der König des ganzen gefiederten Reichs, Er nur nistete in diesen Zweigen und aß von ihnen unsterbliche Götterspeise.


Lüstern trat Eva hinzu und wollte kosten; als fürchterlich auf dem Baume der geflügelte Zeuge der Wahrheit seine Stimme erhob und also weissagte: „Betrogne, wo irrest du hin? was zu erblicken, öfnest du dir die Augen? Dich nackt zu sehen, wirst du weise; dich arm zu fühlen, willt du eine Göttinn werden?“ – Aber [221] Eva’s Blick hing an der täuschenden Frucht und an ihrem listigen Verführer; sie übertrat des Herren Gebot und hörte nicht auf des weissagenden Vogels Stimme.


Als über alle Geschöpfe der Tod kam, ward Phönix ausgesondert, auf ewge Zeiten der Schuldlose Zeuge des Paradieses zu werden. Zwar mußte auch Er mit allen Lebendigen den Sitz der Unschuld räumen, wie die Verführten: König der jetzt einander feindseligen Vögel wollte er selbst nicht mehr seyn; seinen einst glücklichen, ruhigen Thron nahm jetzt ein Raubvogel ein, der Blutgierige Adler. Auch die Unsterblichkeit konnte ihm fortan in der dickeren vergifteten Luft der Erde nicht anders als durch Verwandlung werden; aber durch eine Verwandelung, die nach Jahrhunderten erst, und dann schnell und herrlich ihn wieder verjüngte. Wenn seine Stunde herannahet, ist ihm vergönnt, ins Paradies zu [222] fliegen: vom Baum des Lebens und vom Baum der Erkänntniß bricht er sich da die dürren, alten Zweige, in deren Flamme sich seine Glieder lösen. Die Zweige vom Baum der Weisheit bringen ihm Tod, die Flamme vom Baum des Lebens neue Jugend. Dann zieht er wieder in seine Wüste zurück und trauert um das Paradies; der schöne, einzige, von unserer Welt selten gesehene und noch seltener befolgte Vogel der unsterblichen Wahrheit.