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Der Sprung im Glase

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Autor: Anton von Perfall
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Titel: Der Sprung im Glase
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24–25, S. 756–762, 788–797
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[756]
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Alle Rechte vorbehalten.

Der Sprung im Glase.

Erzählung von Anton Freiherr v. Perfall.


1.

Die „Laura“ lag auf der Werft. Sie war schlimm dran, ein Engländer hatte sich im Kanal sehr ungalant gegen sie bewiesen. Man zweifelte lange Zeit, ob man überhaupt noch imstande sein werde, ihre alten, zerbrochenen Rippen wieder einzurichten. Aber der Reeder, der alte Christen Rungholt, gab nicht nach, er blieb dabei, die „Laura“ könne auch das Flicken vertragen. Sie war eine alte Liebe von ihm und an einem wichtigen Tage hatte sie einst ihren Namen erhalten, der ihm ein Stück von seinem Leben bedeutete. –

Christen Rungholt war schon nicht mehr jung gewesen, als er vor zwanzig Jahren Holde Buiksloot von den, „Halligen“ geehlicht hatte und mit ihrem Gelde – der alte Buiksloot war Besitzer von halb Oland, der fruchtbarsten der Inseln, und früher Vorsitzender des Seegerichtes für die „Halligen“, das hier seit alter Zeit seinen Sitz hatte – selbständiger Reeder geworden war. Um so größer war die Freude, als ihm Holde eines Tages ein echtes Nordseekind brachte, mit großen, feuchten Blauaugen, die leuchteten wie ein sonniger, freudiger Meertag. Er drückte es an seinen stachligen Seemannsbart, schob das Primchen bei Seite und gab ihm einen saftigen Kuß, darob das kleine Korallenmündchen sich gar bitter verzog. Plötzlich fuhr er zusammen, daß Holde ängstlich nach dem Kinde griff.

„Wie soll’s heißen, Holde?“ fragte er in einem jähen Tone, „rasch – rasch!“

Er sah sichtlich beängstigt auf die Uhr.

Holde erschrak. „Aber lieber Mann, es hat ja noch Zeit bis zur Taufe!“

„Es hat keine Zeit! Den Namen! Den Namen!“

Er hatte die Thürklinke schon in der Hand.

„Ich dachte – aber wie gesagt – ,Laura’ dachte ich –“

Schon war Christen Rungholt verschwunden, er lief, was er konnte, mit seinen schiefen kurzen Beinen der Werft zu. Ein mächtiges Schiff, von Gerüsten umgeben, leuchtete von weitem in frischen, noch feuchten Farben, der taktmäßige Schlag der Hämmer zitterte melodisch klingend durch die Luft.

Christen war außer Athem. „Halt! Halt! Nicht ,Oland’ – ,Laura’,“ schrie er von weitem.

Niemand schien ihn zu hören bei denn Getöse der Arbeit. Endlich stand er vor dem Schiffe; vorn am Bug arbeiteten zwei Männer auf einem hängenden Gerüste, unter dem Vordersteven leuchtete in Messing ein mächtiges „O“ in erhabener Arbeit.

„Halt, sage ich!“ schrie er keuchend hinauf. „‚Laura‘ soll es ja heißen! Donner und Wolken, ich kann doch mein Schiff nennen, wie ich will! Runter mit dem O, sage ich –,Laura’! Hört Ihr nicht?“

Kopfschüttelnd machten sich die Arbeiter daran, das O wieder abzustemmen.

„Mit den verdammten Frauenzimmern!“ brummte der eine von ihnen. „So ein stattliches Vollschiff – ,Laura’!“ Der Matrose oben am Bugspriet spuckte verächtlich einen braunen Saft über Bord.

[758] Einige Wochen später dampfte die „Laura“ zum Hafen hinaus, vollgepfropft mit kostbarer Ladung nach Indien. Und das „verdammte Frauenzimmer“ hatte Glück, zwanzig Jahre hindurch kreuzte sie zu Christen Rungholts Ehr’ und Nutz den Ozean, bis ihr vor einigen Wochen der saubere Engländer bei Nacht und Nebel in die Rippen rannte, als sie nach einer halbjährigen Abwesenheit keine fünfzig Seemeilen mehr von der Heimath entfernt war; und auch dabei hatte sie noch Glück gehabt, sonst läge sie wohl mit Mann und Maus auf dem Nordseegrund.

Jetzt wimmelte es um ihre breite klaffende Wunde wie von Sommerfliegen und da und dort blitzte schon eine neue Rippe aus dem dunklen Rumpfe. Die Mannschaft der „Laura“ war durchaus nicht ungehalten über diesen unverhofft langen Aufenthalt am Lande, sondern nützte im Gegentheil, jeder auf seine Weise, diesen seltenen Umstand. Da wurden alte Freunde aufgesucht; die wohligen, längst entbehrten Freuden der Familie, des festen sicheren Hauses, des ungestörten Schlafes genossen. Da wurde Umschau gehalten in den Strandhäusern und Fischerhütten weit und breit und manch goldenes Luftschloß gezimmert. Die Zeit der Wahl ist kurz für den Seemann. Neue Schwüre wurden geschworen, alte, schon fast erstorbene Hoffnungen wieder neu belebt.

Am besten von allen, darüber galt kein Zweifel, nützte die Zeit Bill Lührsen, der zweite Steuermann, indem er Hochzeit hielt mit eben derselben Laura, um derentwillen vor zwanzig Jahren das blitzende O herab mußte vom Schiffsbug, mit Christen Rungholts, seines eigenen Patrones, schöner blauäugiger Tochter.

Er war schon seit zwei Jahren mit ihr verlobt, und jetzt nach seiner Rückkehr von dieser westindischen Fahrt sollte die Hochzeit sein; so war es ausgemacht, und da es Christen Rungholt einmal destimmt hatte, so blieb das fest wie der Leuchtturm von Dungeneß, obwohl der Alte ein böses Gesicht machte, als er die arme „Laura“ in den Hafen bugsieren sah. Was konnte am Ende der zweite Steuermaun dafür, der Kapitän war verantwortlich, und er, Christen Rungholt, kannte ja diese verfluchten Engländer aus eigener Erfahrung!

In dem schmucken, durch seine Bauart und seine Reinlichkeit an Holland erinnernden Hause am Hafen von H. ging es hoch her. Christen und Holde übertrieben die Sache sogar ein bißchen, die Leute sollten nicht glauben, das Mißgeschick mit der „Laura“ habe ihnen die Laune verdorben, oder gar, sie gäben Bill Lührsen Schuld daran.

Von den „Halligen“ kamen die Vettern und Basen, wettergebräunte, flachshaarige Männer und Frauen in kleidsamer Tracht, unter Führung von Claus Buiksloot, dem jetzigen Seerichter auf Oland, Holdes bejahrtem Bruder, alle Rungholts von H., einige Kameraden Bills von der „Laura“, Lars Tönningen, der Kapitän selbst, ein wackerer altbewährter Seemann, dem der brave Christen vor allen Leuten zeigen wollte, daß er Nebel und gewissenlose Engländer von Fahrlässigkeit wohl zu unterscheiden wisse.

Das waren die eigentlichen Hochzeitsgäste. Abends jedoch, als Feierabend draußen im Hafen war und aus den Fenstern der großen Wohnstube unten fröhliche Tanzmusik erscholl, da pochte gar manche in der Eile etwas zurechtgestutzte, wenn auch nicht gerade festlich gekleidete Theerjacke an die Thür, um ihren Glückwunsch mit einem so vielsagenden Blick auf das stattliche Fäßchen Flensburger Bier, das in der Ecke stand, anzubringen, daß die Einladung, etwas zu verweilen und eines mitzutrinken, nie ausblieb. Mit der Form nahm es Christen Rungholt nicht so genau, wenn er auch gar stolz auf sein Haus und seinen Wohlstand war.

In dem lauschigen, epheuumrankten Erker, von dessen dunkler Holzdecke das Modell eines stattlichen Dreimasters herabhing, saßen Christen Rungholt und sein Weib, das junge Paar, der Kapitän und der Seerichter beim Hochzeitswein. Lars Tönningen erzählte bereits zum dritten Male das Unglück mit der „Laura“ und wies mit dröhnender Stimme, auf die Bank steigend, an dem Schiffsmodell seine völlige Unschuld nach. Christen gab dann die Geschichte von einem anderen rücksichtslosen Engländer zum besten, selbst Claus, der Seerichter, ein ernster stiller Mann, ward lebendig, er erzählte von dem endlosen Kampfe seines kleinen Heimathlandes mit der gierigen See, in dem er ergraut war; – da heulte der Sturm im Takelwerk, wälzten sich die weißköpflgen Wogen durch die Sturmnacht, ächzte, stöhnte das rollende Schiff, brüllte die Brandung – das hörte sich so wohlig an in dem heimlichen Erker, unter den Klängen der Tanzmusik, beim Rheinwein, der die rauhen Männer so weich machte, daß ihre Augen sich feuchteten bei Erzählung kühner Seemannsthat, heldenhaften Rettungswerkes.

Bill und sein junges Weib bildeten einen scharfen Gegensatz inmitten dieser ernsten, wetterharten Gesichter mit dem männlichen Trotz in den Zügen; für sie rollten keine Wogen, ballten sich keine drohenden Wolken, im Sonnenglanz junger Liebe dehnte sich das sanft gekräuselte Meer und blühende Küsten lachten ihnen entgegen. Bill spielte mit den schweren blonden Zöpfen seiner jungen Frau und sprach im Flüstertone, nicht von kühnen Abenteuern, sondern von ganz kleinen nichtigen, kindischen Dingen, von einem Gärtchen, welches Gemüse sie bauen wollten, von Schürzen und Bändern, von seinem Lieblingsgericht, von der neuen Hauseinrichtung.

Laura hörte andachtig zu, von seinem Arm umschlungen, und die kleinen nichtigen Dinge färbten ihre Wangen dunkelroth und feuchteten ihr blaues Meerauge wie die Erzählungen kühner Seemannsthaten und der Rheinwein die der Männer.

„Und es ist doch so, ich lasse mir’s nicht nehmen, es giebt Vorbedeutungen, man muß nur darauf horchen, und niemand hat mehr Gelegenheit dazu als unsereins,“ sagte erregt im Laufe des Gespräches Kapitän Lars Tönningen. „Sie sollen nur einmal ein paar Jahre herumkreuzen mit unsereinem, die gelehrten Herren, die alles wissen; da sieht und hört man allerhand zwischen Fockmast und Bramsegel, was über den Verstand geht! Manchen verstockten Kerl habe ich auf die Kniee fallen sehen zum Gebet in der Sturmnacht, oder angstvoll in die Segel gucken in der Dämmerung, wenn vom Klabautermann erzählt wurde. Sieht sich alles anders an da draußen als unterm festen Dache – lachen Sie nicht so ungläubig, Frau Holde – es ist doch so! Ich wußte es, daß der ‚Laura‘ ein Unglück zustoßen werde, drei Tage zuvor wußte ich es und lauerte auf jede Gefahr wie eine Möve auf den Abfall – und doch geschah’s – doch!“

Er stürzte den ganzen Inhalt des Römers hinunter.

„Doch!“ wiederholte er und seine Faust schlug dröhnend auf den Tisch.

Claus, der Richter, nickte ernst. Frau Holde aber schüttelte ungläubig den Kopf. Das junge Paar wurde aufmerksam.

„Und woher wußten Sie es denn?“ fragte lächelnd Laura. Gewiß eine recht gruselige Geschichte von einem grauen Männchen auf dem Maste, einem räthselhaften Schiffe, das vorbeifuhr, einem bleichen Meerweibe …

Lars sah sehr ernsthaft drein.

„In Ihrem Alter lachte ich auch über solche Geschichten, Frau Lührsen. Wie werden Sie erst lachen, wenn ich Ihnen sage, daß es von all dem nichts war! Eine einfache armselige Katze war’s, mein guter alter Rolf – Sie haben ihn ja gut gekannt, Herr Rungholt, ich nahm ihn einst auf der Südsee von einem verlassenen Wrack, das halbverhungerte Thier, ich war damals einfacher Matrose – wollten ihn sitzen lassen, die andern, ärgerlich, nichts Besseres gefunden zu haben, da nahm ich ihn zu mir. Und von dem Tage an wich Rolf nicht mehr von mir und mit ihm nicht das Glück. Das ging nur so im Sturmlauf: Bootsmann, zweiter, erster Steuermann, bis ich zu Euch kam als Kapitän. Mein guter Rolf immer dabei, auf der Brücke, am Steuer, hoch oben in den Rahen, auf dem Lugaus, bei Sturm und Wetter, nacht und tag. Wollt’ ich verschlafen, rieb er mich wach; er kannte meine Feinde; wenn er die Haare sträubte vor einem Manne, nahm ich mich in acht vor diesem. Das Wetter verstand er wie unsereins, sein Schauen war Sprechen, das nur ich verstand, aus seinen feurigen Augen leuchtete mir das Glück. Ich war immer ein bißchen abergläubisch – ganz richtig – ich hielt ihn für meinen guten Geist; ich wußte, mit meinem Rolf konnte mir nichts zustoßen. – Sicherheit, Selbstvertrauen ist alles beim Seemann – in der schwierigsten Lage festigten mich die ruhigen, stetig auf mich gerichteten zwei glänzenden Augen – ich ward gesucht von den Schiffsherren, ‚der Mann hat Glück und kann was,‘ hieß es. Auch auf der ‚Laura‘ begleitete mich Rolf, zehn Jahre saß er neben mir auf der Brücke, schnurrte mit dem Tosen der Wogen um die Wette und blinzelte über das Meer. Stieg ein Schiff herauf am Horizont, so erblickte er es zuerst, der Augenstern drehte sich, bewegte sich nicht mehr, den Rücken krümmte er wie vor einem Feinde. Des Nachts leuchteten seine Augen wie Phosphor, ich glaube, ihr Licht drang durch Nebel und Wetter als Warnungszeichen.

[759] Da kam der Morgen, wo Rolf nicht mehr um meine Füße geschlichen kam auf der Brücke. Mir wurde angst und weh – ich ließ das ganze Schiff untersuchen, ich tobte und drohte. Ein Schurke hatte ihn wohl getödtet, in das Meer geworfen – ja ich ahnte, wer es war. Ich hatte einen neuen Steward aufgenommen im letzten Hafen; Rolf haßte den Menschen vom ersten Tage an, und er täuschte sich nicht, ich ertappte den Mann bald auf verschiedenen Unehrlichkeiten – der war’s! Ich setzte eine Belohnung aus für den, der den Thäter ausfindig machen würde, ein Schiffsjunge verrieth ihn mir – ich war nahe dran, den Kerl meinem armen Rolf als Todtenopfer nachzusenden, auf die Bitte meiner Leute sperrte ich ihn nur in die Segelkammer. In der Nacht darauf rannte uns der Engländer in die Seite – wie ein Gespenst tauchte er plötzlich auf aus dem Dunkel – mir erstarrte das Blut – meine Hand, die das Steuer herumriß, war lahm, kraftlos – Rolf saß auf einer Speiche, zwei glühende Punkte waren auf mich gerichtet, centnerschwer schien das Rad und stemmte sich gegen meine Hand – ein furchtbares Krachen und Splittern, Sausen, Gurgeln! – Als ich mich vom Fall erhob, war das fremde Schiff verschwunden, die ‚Laura‘ aber neigte sich, ich hörte sie Wasser saugen. Ich sah zitternd nach dem Rade, Rolf war fort, ich drehte es bei, es lief leicht ohne Widerstand – Rolf hat es gehalten, er hatte Sehnsucht nach seinem Herrn!“

„Oder Ihr habt mit Eurem Rolf Euere Entschlossenheit, Eure Sicherheit verloren, Kapitän,“ meinte Frau Holde scharf.

„Und die Angst saß am Ende auf der Speiche, glotzte mich an und machte meine Hände schwach, meinen Sie, Frau Holde! Es ist wahr, man soll dem Zeug nicht nachhängen, es macht den bravsten Mann verwirrt – aber das sind Anlagen, über die man nicht hinauskann, und am Ende – was sagen Sie denn dazu, Herr Buiksloot,“ wandte er sich an den alten Richter, der immerfort mit dem Kopfe nickte; die kleine Thonpfeife lag erkaltet neben ihm, so eifrig hörte er zu.

„Als die große Springfluth war, die halb Oland fraß,“ begann er mit unsicherer Stimme, „da sah man die Nacht zuvor – die Fischer beschworen es aufs Sakrament, mein Schwager selbst war dabei – einen Reiter über die Dünen jagen von Langeneß her, als ob er übers Wasser käme; er ritt um die Kirche und hielt an vielen Häusern; es waren unerschrockene Männer, die Fischer, sie kamen vom Abendfang, sie folgten dem Reiter, obwohl sie wußten, daß es nicht mit rechten Dingen zuging – es gab kein Pferd auf Oland damals – doch sie konnten ihn nicht erreichen; nur wo er still gestanden hatte, war ein kleiner Wassertümpel; auch vor meinem Haus. Holgr, der Schwager, erzählte mir alles und drückte schwere Besorgniß aus; ich war damals jung und hatte ein junges, schönes Weib, ich lachte ihn aus und die andern, die Nacht war kalt, und da trinkt man gern eins mehr als nöthig – die nächste Nacht kam die Fluth, mein Haus fraß sie zuerst sammt meinem jungen Weib und meinem Kinde in der Wiege – seit der Zeit lache ich nicht mehr, auch über Lars Tönningens Rolf nicht!“

Die Musik schwieg, das junge Volk drängte sich um den Erzähler – da gab es was zu hören von diesen zwei alten Seewölfen. Die Mädchen schmiegten sich inniger an die Bursche, die das Gruseln schmunzelnd sich zu nutze machten und in losen Scherzen es zu vermehren suchten. Bald zuckte einer zusammen und starrte regungslos zum Fenster hinaus, als habe er auch einen Reiter oder etwas ähnliches Gespenstiges erblickt; bald deutete einer in irgend einen dunklen Winkel mit ängstlicher Gebärde, und als plötzlich die Thür aufging und ein neues Faß Flensburger hereingerollt wurde, schrie alles jäh auf, als ob Rolf, der Kater, sich hereinwälzte.

Am Erkertisch herrschte eine gedrückte Stimmung, die paßte dem alte Rungholt heute nicht.

„Mit Euern Gruselgeschichten an solchem Abend!“ brach er polternd los – „Holde, hol’ mal den vom Vetter am Rhein, der vertreibt alle bösen Geister!“

„Und verschaft Tönningen vielleicht einen neuen Kater!“ spottete Holde.

Der ‚vom Vetter am Rhein‘ kam; in den grünen Römern duftete und glänzte es.

Der alte Rungholt erhob sich. Ihm zu Häupten schwankte der Segler noch vom Tanze. Mit seiner mächtigen Stimme gebot er Ruhe und sprach dann:

„Freunde! Hausgenossen! Man heirathet nicht alle Tage! Es ist ein Doppelfest, das wir heute feiern, ein großer, schwerer Tag für Christen Rungholt. Gott gebe seinen Segen! Dem Mann dort, Bill Lührsen aus Bremerhaven, meinem braven Steuermann, übergebe ich heute das Beste, was ich habe – meine beiden Lauren! Die blonde, lustig aufgetakelte hier, mein Herzenskind, und die alte, wieder glücklich geheilte, draußen im Hafen.“

„Grobian!“ murmelte Frau Holde.

„Du verstehst mich schon,“ unterbrach sie der Alte. „Bill Lührsen, nochmals, es ist mein Bestes, was ich Dir gebe. Halte es wohl in Ehren, steuere beide mit fester, liebender Hand, schenke der einen Dein ganzes Herz, der andern Deinen ganzen Verstand, halte beiden Mannestreue, sie verdienen es beide. Verlasse Dich auf keinen Rolf, auf kein graues Männchen – Lars, ich mein’s nicht übel – sondern nur auf Gott und Deine gesunden Sinne! Gute Fahrt mit beiden allewege, Hurrah!“

„Hurrah!“ dröhnte es im Chor gegen die Fenster. „Hurrah! Hurrah!“

Laura weinte rückhaltlos, Bill kämpfte mit der aufsteigenden Rührung, alles drängte sich herbei, die Gläser stießen zusammen, es war ein lustiges, harmonisches Klingen, und ein freudiger Duft stieg auf, vom Hafen herein tönten in schrillem Accord die Schiffssignale – da plötzlich – ein klangloser, gequetschter, häßlicher Ton wie ein kurzes Auflachen –

Jedermann hörte ihn, alles sah sich fragend an. Eigenthümlich, das fröhliche Gläsersingen war verklungen, nur der eine häßliche Ton saß jedermann im Ohre. Lars Tönningen hob sein Glas gegen das Licht und betrachtete es genau – jedermann that unwillkürlich das Gleiche – dann blickte er mit seinen scharfen, kleinen Mövenaugen auf das in Lauras Händen.

„Ein Sprung im Glase!“ sagte er, mit seinen Fingern es berührend, und sein Antlitz nahm denselben Ausdruck an wie vorhin, als er den Tod seines Rolfs erzählte.

Laura wechselte die Farbe, ihr rosiger Finger folgte dem Sprung, der durch den hellgrünen Römer sich zog.

„Ein böses Zeichen, heißt es, nicht wahr, Lars Tönningen?“

Dieser zog die dichten Augenbrauen bis unter das buschige Haar hinauf.

„Heißen thut es so; da erinnere ich mich –“

„Unsinn!“ fuhr der alte Rungholt dazwischen, „laß Deine Erinnerungen! Hast ein vortrefliches Schiff mit eisenfesten Rippen unter Deinen Füßen fast zerschellen sehen und wunderst Dich über einen Sprung im Glase – ja so, dort war ja der alte ersoffene Kater schuld und jetzt irgend ein anderer böser Geist, der nichts Besseres zu thun hat, als nagelneue Weingläser zu zerbrechen! Noch einmal, Kinder, Gott mit Euch – das vertragen sie nicht, die Lügengeister!“

Wieder klangen die Gläser und wieder der häßliche Ton.

Rungholt griff wüthend nach dem Glase Lauras, es in die Ecke zu schleudern; Bill fiel ihm in den Arm und nahm es zu sich.

Man machte sich lustig darüber, man machte den Vorschlag, alle Gläser zu zertrümmern, um den bösen Geist zu verwirren, doch die Stimmung war verdorben. Lars Tönningens Augenbrauen blieben dicht unter den Haaren stehen, er sprach kein Wort mehr. Claus, der Richter, warf auf Laura verstohlene Blicke, in denen es wie Mitleid aufleuchtete. Bill war ärgerlich erregt, er machte Laura leise Vorwürfe, daß sie nicht besser aufgepaßt habe.

Die Gläser waren das Hochzeitsgeschenk Claus’, des Richters; Bill hatte sie selbst ausgepackt und kein Fehl war daran gewesen. Laura meinte, sie habe ja kaum angetippt an die andern Gläser. Um Lars’ Mund zog sich herbes Lächeln bei dieser Aeußerung, er strich sich den grauen struppigen Bart und athmete tief auf.

Das Fest endete rascher, als man gedacht hatte, die Segenswünsche beim Abschied klangen alle so weinerlich, so furchtsam und wurden mit Leichenbittermienen gegeben.

Frau Holde endließ den Kapitän sehr ungnädig, ja, sie machte eine Bemerkung über verderblichen Aberglauben, der wohl schon manches Schiff und manchen Menschen habe untergehen lassen; dann setzte sie der Laura den Kopf zurecht, bei Bill, einem jungen Manne, hielt sie es wohl nicht für nöthig.

Allein oben in der blumengeschmückten Kammer sank Laura schluchzend an ihres Mannes Brust.

[762] „Bill, glaubst Du daran?“

„Närrchen, der Lars ist an allem schuld mit seinem dummen Geschwätz! Recht lieb haben, treu aushalten zusammen, was da kommen mag, dann kann nichts springen bei uns.“

Seine Worte klangen nicht aus voller Brust. Er nahm das Glas aus der Rocktasche und fühlte daran herum.

„Wenn ich sie nicht selbst alle ausgepackt hätte, würde ich sagen, der Sprung liege im Glase, das kommt ja vor und damit wäre die dumme Geschichte zu Ende!“

„Und der häßliche Ton, ich höre ihn noch!“ meinte Laura.

„Einbildung wie der verfluchte Kater des Kapitäns auf dem Steuerrad!“

Er stellte das Glas auf den Schrank und ging unruhig in der Stube hin und her.

„Laura, ich gehe in See in vierzehn Tagen; mach’s uns nicht schwerer mit solchen Gedanken.“

„Bill, ich laß Dich nicht!“

Sie klammerte sich fest an den jungen Mann. Draußen brüllte die Brandung, ein steifer West hatte sich erhoben, feiner Wasserstaub drang durch das offene Fenster, die Lichter der vor Anker liegenden Schiffe tanzten in der Finsterniß, von der See her dröhnte drohend ein Nebelhorn.

Bill schloß das Fenster, das Licht erlosch. – Von dem Schrank herunter leuchtete es grünlich wie das Auge Rolfs, des Katers.

[788]
2.

Ein Jahr ist vergangen.

Auf der Kommandobrücke der „Laura“ steht Bill Lührsen, der Kapitän. Durch die sternenhelle Nacht leuchten die Watten in unsicherem Schein, dunkle Landmassen heben sich von allen Seiten aus dem flüsternden, kosenden Meere. Sein Grund ist hier gepflastert mit Schiffstrümmern und Leichen, ein Gewirr von Inseln, Untiefen, Klippen bereitet tausendfaches Verderben den Seefahrern; da braucht es eine sichere Hand am Steuer, und das Auge muß die Flamme der Leuchtschiffe, die schwankenden Richtungsbojen fest erfassen; jeder Irrthum bringt Verderben – Tod! Aber die Nacht ist ja hell und Bill Lührsen ein erfahrener Seemann, der die Küste kennt wie seine Tasche – und doch steht der Schweiß ihm auf der Stirn, trotz des steifen Nordost, und mit einer nervösen Unruhe läuft er hin und her, die auffallend absticht gegen seinen ersten Steuermann, der, die kalte Pfeife im Munde, mit eiserner Ruhe den unter buschigen Brauen verborgenen Blick auf die erleuchtete Kompaßplatte vor sich heftend, das Steuerrad lenkt. Das verwitterte Gesicht ist grell beleuchtet, die Gestalt im Dunklen, der steife Wind fährt klatschend um seinen Sturmhut.

Der Kapitän sieht jeden Augenblick nach dem leise sich bewegenden Zeiger unter dem Glase, geht dann wieder vor an die Brüstung und wieder zurück.

„Kommt es Dir nicht vor, Jansen, als kämen uns die Watten zu nahe?“ Sein bleiches, gar nicht seemännisches Antlitz kehrte sich dem hellen Streifen in der Ferne zu.

Jansen hob nicht den Kopf. „Alles in Ordnung, Kapitän!“

Bill begann wieder seinen Rundgang.

„Stopp!“ rief er plötzlich durch das Sprachrohr in den Maschinenraum.

Die Maschine arbeitete rückwärts, das Wasser schäumte um die Schraube, ein schriller Pfiff – ein Matrose sprang auf die Brücke.

„Lothen!“ klang der kurze Befehl.

Der Steuermann schüttelte den Kopf.

Das Loth sank in die Tiefe, viele Faden tief.

„Vorwärts!“ tönte der Befehl.

Bill athmete tief auf und lehnte sich weit über das Geländer.

Schwarze drohende Eilande lagen rings umher, hie und da blitzte ein Licht, er dachte an den gespenstischen Reiter von den Halligen, von dem Claus, der Richter, an seinem Hochzeitsabend erzählt hatte, an Rolf, den Kater, der eben da gesessen auf der Brüstung mit seinen feurigen Augen – er glaubte sie vor sich funkeln zu sehen – aber da waren es keine feurigen Augen, es war ein grünes, zersprungenes Glas. Der grüne Römer stand noch immer oben auf dem Schrank; Bill hatte ihn schon oft entfernen, in die Gosse werfen wollen, aber immer hielt ihn etwas davon ab. Wozu auch? Sie waren ja glücklich, was kümmerte ihn der Scherben! [789] Daß er immer mit schwerem, sorgenvollem Herzen von daheim schied, das war ja ganz natürlich, dafür hatte er jetzt ein geliebtes Weib – ja, noch mehr, ein gesegnetes Weib.

Vor zwei Monaten war er nach Bergen ausgelaufen, da war der Abschied doppelt hart gewesen, das Herz ihm schier gebrochen. Ihre Blicke hatten sich zuletzt an dem Glase oben auf dem Schrank getroffen und er hatte, Thränen in den Augen, einen schlechten Witz gemacht. Es waren zwei harte Monate gewesen und zum erstenmal in seinem Leben fühlte Bill Lührsen die Schwere seines Berufes.

Laura war gesund und kräftig, ein Nordseeweib, es war eigentlich kein Grund vorhanden zu solcher Unruhe. Der Sprung im Glase am Ende? Das wäre denn doch zu kindisch für einen Mann, einen Seemann! Was kümmerten denn ihn diese dummen Landsagen, glaubte er ja nicht einmal an die der See, an den Klabautermann, den fliegenden Holländer und andern „Unsinn“.

In einer halben Stunde hatte er Gewißheit. Schon liefen die Lichterreihen von H. hinter der schwarzen Insel dort hervor. Das Geschäft war gut, die Fahrt glücklich, er sorgte schon dafür, noch nie fuhr er den gefährlichen Weg mit solcher Vorsicht – oder war es mehr als Vorsicht – Aengstlichkeit? Das macht alles die Familie – ein Seemann sollte ledig bleiben. Sie wird ihm entgegenkommen, das Kindchen auf dem Arme –

Er lachte laut in das schäumende Meer hinab, er vergaß die Watten, die Inseln, den Kurs.

Ein spitzes Signal machte ihn aufsehen: ein Segelboot zog schemenhaft mit flatternden Segeln vorüber.

„Steuerbord! Hörst Du nicht? Steuerbord! Ums Himmelswillen, Steuerbord!“ brüllte Bill dem Steuermann Jansen zu, sprang selbst zum Rad und riß es dem Starren aus der Hand, es mit aller Gewalt drehend, daß das Schiff jäh zur Seite schwenkte.

„Aber Kapitän – eine halbe Seemeile dazwischen!“ bemerkte Jansen.

Bill ließ das Rad und wischte sich den Schweiß von der Stirne.

„So dachte Lars Tönningen wohl auch und ließ sich übern Haufen rennen!“

Er ging wieder an die Brüstung, er fühlte sich so matt in den Beinen – der Schreck! Schreck vor einem Segelboot mit so viel Wasser dazwischen!

Bill! Bill! Er hielt sich den Kopf.

Wär’s am Ende nicht besser, es wäre weniger Wasser zwischen ihm und dem Segler gewesen und er hätte nicht Steuerbord gerufen – wenn am Ende doch ein Unheil bestimmt wäre für ihn – vielleicht hätten es ein paar Rippen der „Laura“ gesättigt, es abgelenkt von der andern Laura daheim – „Gute Fahrt mit beiden allewege!“ hatte der alte Rungholt damals gerufen. Da war das Glas gesprungen!

Das Schiff lief jetzt langsam in den Fluß ein, der in den Hafen von H. mündet. Der Mond leuchtete am Himmel, der Einfahrt stand nichts im Wege. Noch eine qualvolle Stunde – schnelle Fahrt ist hier verboten. Endlich ist die „Laura“ im Hafen.

Wie das Beidrehen langsam ging! Der Kapitän wetterte wie noch nie.

„Jansen, ich muß zu meinem Weibe, ich verlasse mich auf Dich!“ rief Bill.

Er wartete das Legen der Treppe nicht ab, mit einem Sprung war er am Land.

Es war schon spät, der Hafen leer, in den erleuchteten Kneipen lärmte das Schiffsvolk. Jetzt noch um die Ecke, dann – dann mußte er Rungholts Haus erblicken, wo Laura wohnte – er mußte anhalten, Athem schöpfen. Wie ein Dieb schlich er weiter. – Da lag es! Im ersten Stock rechts ein Licht, sonst alles dunkel; er studierte seinen Schein – kein sanfter, heimlicher, wie er von der gemüthlichen Lampe ausgeht – ein matter, grünlicher Schein! Wo sah er nur schon den Schein? – Als wenn er von dem zersprungenen, grünen Römer ausginge, gerade so! – Gott, hab’ Erbarmen!

Das Hausthor stand offen, eine dicke Frau mit einem Körbchen begegnete dem die Treppe hinaufstürmenden Bill.

„Lebt sie?“ keuchte er und wartete die Antwort nicht ab. Die dicke Frau sah ihm erstaunt nach.

Er sank in die Kniee, indem er an der Glocke riß – es war ihm, als donnere die See zu seinen Füßen.

Leise Tritte näherten sich von innen, vorsichtig wurde die Thür geöffnet.

„Pst!“ Die Magd legte den Finger auf den Mund – eine warme schwere Luft quoll aus dem Flur heraus.

„Lebt sie?“ keuchte er, vom Boden sich erhebend.

„Beide leben, freilich, man soll’s nicht glauben – Herrgott! der Herr Kapitän!“ schrie die Magd auf, in dem Mann mit dem blassen, feuchten Gesichte vor sich ihren Herrn erkennend.

„Beide? Und warum sollt man’s nicht glauben?“

Er drückte ihre Hand, daß sie aufschrie.

„Weil – weil – Herr, Sie dürfen nicht so plötzlich – weil sie so viel leiden mußte und das Kleine – der Doktor sagte es, ich versteh’s ja nicht – so schwach, so schwach – ein Hauch, Herr – aber es lebt, es ist ganz munter – ich werde nachsehen, Herr – pst!“

Sie verschwand hinter einer Thür. Leises Gewimmer drang heraus, eine Kinderstimme – die Stimme seines Kindes! Er knieete nieder, verbarg sein Antlitz in seine Hände und weinte.

Die Magd blieb lange aus. Bill wagte nicht, einzutreten in das Zimmer, aus dem das Kinderstimmchen kam, er hätte ja sein armes Weib tödten können durch ein plötzliches Erscheinen. Still horchte er – leises Geflüster – jetzt ein jubelnder, sich aus kranker Brust gewaltsam bahnbrechender Jubelruf: „Bill! Bill!“

Er riß die Thür auf.

„Bill!“ tönte es gell. Er sank vor dem Bett auf die Kniee und hielt sein bleiches, abgemagertes Weib in den Armen. Hinter ihm knarrte die Diele, er fuhr auf; Frau Holde stand lächelnd vor ihm; aus dem weißen Linnen in ihren Armen leuchteten zwei große blaue Augen.

„Maria, Deine Tochter!“ sagte die Mutter.

Er berührte scheu die zarten geballten Händchen und küßte den so eigenthümlich schmerzlich verzerrten Mund in dem schmalen, durchsichtigen Gesichtchen.

Lauras Blick hing zaghaft an ihrem Mann.

„Sie wird schon werden, Bill, ich ängstigte mich so um Dich –“ sagte sie mit zitternder, thränenerstickter Stimme.

„Ja, ja,“ grollte Frau Holde, „und so ein armes Wesen muß es dann büßen! Eine Kapitänsfrau! Und bei dem guten Wetter! Wie soll denn das noch werden?“

„Ja, es ist auch wahr, Laura – bei dem guten Wetter! Wie konntest Du nur – ?“

Der Blick des jungen Weibes war in die Höhe gerichtet, Bill folgte ihm unwillkürlich und erblickte auf dem Schrank den grünen Römer. Jäh sprang er auf, einen wilden Fluch auf den Lippen – eben erreichte er das Glas, hob es auf zum vernichtenden Wurfe –

„Aber Bill, sei doch vernünftig! Was kann denn das Glas dafür!“ sagte Frau Holde.

„Natürlich, was kann denn das Glas dafür!“ wiederholte Bill wie beschämt und stellte es auf seinen alten Platz.

Er setzte sich auf das Bett, Frau Holde legte Mariechen zwischen beide Eltern und schlich hinaus. Ueber Lauras Antlitz zog ein seliges Lächeln.

„Ich war recht albern, Bill, und recht gewissenlos!“ sagte sie leise. „Verzeih’, aber es lag mir auf der Brust, ich konnt’s nicht wegheben.“

Bill nickte stumm.

„Ich kenn’s – wenn sich’s nur an uns hält, das Unglück, und unser Mariechen verschont – !“

„Unglück? Haben wir denn Unglück?“

„Ich meine nur, wenn’s einmal hereinbricht, mein Gott, das kommt über Nacht – beruf’ es nicht!“

Sie wagten nicht, sich anzusehen, und blickten auf das Kind. Das streckte die Aermchen aus nach der Mutter; die nahm es und zog es an sich, und das junge Wesen blickte wie erstaunt nach dem bärtigen fremden Mann.

„Laura, ist das nicht das höchste Glück?“ rief Bill beseligt von diesem Anblick. „Jetzt spring’ noch einmal!“ drohte er mit geballter Faust nach dem unseligen Glase auf dem Kasten hinauf. „Wir sind glücklich, hörst Du?“

Sonderbare Lichter spielten darin, es blinkte so höhnisch, katzenartig – und Bill wandte sich rasch ab – zurück zu seinem Glück.


3.

Bettnischen in der hölzernen Wand mit auf und zu sich bewegenden Thürchen, in die Wand eingelassene Bänke, eine schwankende qualmende Lampe, von der sanft gewölbten, hölzernen [790] Decke herabhängend über dem massiven Tisch, zwei nach Seewasser und Fischen riechende, seemännisch gekleidete Männer daran, die schweigend Karten spielen – dumpfes Brausen, das eigenthümliche Schlürfen der Wasser, Pfeifen und Heulen des Sturmes vor den wie Schiffsluken geformten Fenstern; alles schwankend, zitternd, feuchten Seegeruch athmend – man hätte schwören können, in einer Schiffskajüte sich zu befinden. Und doch war es des Seerichters Wohnzimmer auf Oland und zu Claus Buiksloot war sein alter Kamerad Lars Tönningen von Föhr gekommen auf Besuch. Der ehemalige Kapitän der stattlichen „Laura“ führte jetzt ein kleines Küstenfrachtschiff; Rungholt hatte ihm zwar trotz seines Unglücks ein anderes Schiff anvertrauen wollen, doch Lars selbst fehlte der Muth, es anzunehmen ohne seinen Rolf.

Man sprach davon, daß es bei Lars nicht recht geheuer sei seit seinem Unglück mit der „Laura“, der Kater spuke ihm im Gehirn. Er hatte keinen Freund mehr als Claus, den Richter, der hörte noch immer gerne seine Geschichte. Darum fand Lars auch oft den Weg herüber nach Oland. An holzgetäfelten, mit blauer Farbe gestrichenen Wänden leuchteten bunte rohe Skizzen von Schiffen und Schiffbrüchen, an die sich wohl Familienerinnerungen knüpften; die Lehnen der Eichensessel zeigten Walroßköpfe, Meerungeheuer; auf den Gesimsen lagerten vielgestaltige Muscheln, Korallen aus der Südsee, grellfarbige Vogelbälge hingen neben der alten Wanduhr, Erinnerungen an des Besitzers Meerfahrten.

Der Sturm brüllte draußen gegen das Watt, er rüttelte und schüttelte das Haus des Seerichters.

„Bill ist auf der Fahrt nach Sylt, ein verdammtes Wetter, soll sich in acht nehmen,“ unterbrach Claus das Schweigen, während Lars von neuem Karten gab. Der zog die buschigen Augenbrauen steif hinauf.

„Hat auch kein Glück mehr, der Lührsen! Wie geht es denn seinem Kinde jetzt?“

„Schwach, Lars, recht schwach, wird’s nicht weit bringen! Wie’s nur möglich ist von solchem Blut! Holde sagt, die Angst um ihren Mann habe der Frau so zugesetzt. Ein Seemannskind – Angst! Keine Kraft ist mehr drin in dem jungen Volk!“

Lars spielte aus.

„Mein Gott, ich verdenk’ es ihr nicht einmal.“

Claus sah ihn erstaunt an, er hielt die zum Auswurfe erhobene Karte in der Luft.

„Geht das am Ende auf Bill? Zu jung zum Kapitän, meinst Du? Laß doch die Geschichten! Du wirst doch nicht glauben, daß er Dich verdrängt hätte!“

Lars lachte.

„Nicht das, mich hat niemand verdrängt –“

Plötzlich gab es beiden einen Stoß. Horch! Ein lang gezogener Ton – noch einer –

Claus öffnete das Fenster. Finstere Nacht, der Ton wiederholte sich, und dort –

„Das kann doch Langeneß nicht sein – das Licht dort, siehst Du, Lars!“

Ein rothes Pünktchen schwankte wie ein Funken in der Finsterniß.

„Er sitzt auf dem Watt,“ entgegnete Lars.

„Wer?“ rief Claus erbleichend.

„Wer? Irgend wer – nach oder von Föhr oder Sylt.“

„Sylt!“ wiederholte Claus, langte ein dütenförmiges Horn von der Wand und rannte zur Thür hinaus. Derselbe Ton erscholl wie von dem Lichte her, nur kräftiger, wie ein Schlachtruf – von dort Antwort heischend.

Die Fenster erhellten sich in den nächsten Häusern, dunkle Gestalten bewegten sich auf den Werften. Die Männer sammelten sich um Claus, einige Worte genügten: der rothe, auf und ab sich schwingende Funke, die den Sturm durchdringenden, sich immer schneller wiederholenden Hilferufe sagten alles. Eile that Noth, jede Schwingung des Funkens kostete eine Schiffsrippe, das wußten die Männer.

Am Wiesgrund ging es rasch vorwärts mit Stangen und Seilen, die schmalen Wattbäche, die sich hereindrängten, wurden übersprungen, durchwatet. Claus Buiksloot trieb zur Eile, hoch schwang er die Laterne. Da begann der schlammige Schlick, der sich wie Blei an die Füße hängt, es quatschte, gurgelte, man sprang auf die weißen Steine, die vom schwankenden Boden heraufleuchteten, mit den Stangen und Seilen sich im Gleichgewicht haltend; das Licht draußen machte wilde Sprünge, das Nothhorn tutete wie besessen; immer näher toste die Brandung – über den Köpfen sausten die aufgeschreckten Seevögel. Man erreichte die Fischerboote im Wattstrom; das Schiff konnte dem Lichte nach nicht weit von seinem Laufe gestrandet sein.

Claus und Lars sprangen zusammen in ein Boot.

„Von Sylt glaubst Du, Lars?“ fragte der Richter, die Ruder schwingend.

„Nach H.,“ war die Antwort.

Claus holte stärker aus, sein Boot hatte einen Vorsprung vor den andern.

Das Licht vergrößerte sich, in fernem dunstigen Kreis glaubte man eine riesige, schwarze Masse sich auf und ab bewegen zu sehen. Die weißen Schaumhäupter der Brandung blitzten durch die Nacht, sie schwangen sich über die dunkle Masse. Die Männer arbeiteten mit aller Kraft, das Schiff lag wenige hundert Schritte seitwärts vom Strome auf dem Schlick und schlug, von der Brandung gehoben, mit dumpfem Knall taktmäßig auf. Jetzt sah man den Rumpf, die Masten, kleine schwarze Gestalten in schwankenden Lichtkreisen. Aber die Brandung drängte die Boote zurück und warf ihren Gischt gegen die zu Hilfe eilenden Männer.

„Setzt Boot aus, nicht näher heranzukommen,“ signalisirte der Seerichter mit dem Horn.

„Boot über Bord! – Leine! – Höchste Noth!“ lautete die Antwort. Und als Bekräftigung dazu stieß das Schiff mit einem splitternden Krach von neuem auf den Boden auf, und wie ein gieriger Wolf die Gelegenheit benutzend, stürzte eine mächtige Woge darüber her.

Claus sah starr hinüber, sein graues Haar flatterte im Sturme.

„Rolf! Rolf!“ schrie plötzlich Lars neben ihm. „Komm’, mein alter Freund, ein Sprung nur – Rolf! hörst Du nicht?“

Er lachte gell auf, – Claus schauerte – er packte den Freund bei der Schulter.

„Siehst Du ihn denn nicht, meinen Rolf, meinen guten Rolf?“ rief dieser schmeichelnd, lockend.

„Narr, was soll das Thier auf dem fremden Schiff?“ schrie Claus dem verrückten Freunde in das Ohr.

„Fremdes Schiff? Es ist ja die ‚Laura‘ und der Rolf sitzt drauf!“ – er lachte wahnsinnig – „er holt sie, ich wußte es ja! Ich laß sie aber nicht – die Leine, Leute, die Leine!“

Er riß sie dem Nachbar aus der Hand, der sie bereits zweimal vergebens geschleudert hatte. Die Entfernung war groß, der Sturm lenkte den Wurf ab. Lars sprang aus dem Boot, bis an die Kniee versank er in dem weichen Schlick.

„Rolf! Rolf!“ tönte sein wahnsinniger Ruf, während er mühsam vorwärts watete. Er verschwand in der Finsterniß, keiner wagte dem Rasenden zu folgen. Aber die Leine wickelte sich stetig ab, er kam doch vorwärts – jetzt einen jähen Ruck – das Signal „An Bord!“ vom Schiffe herüber – Lars hatte das Wagstück glücklich vollbracht.

Claus machte die Leine fest, sie straffte sich, er folgte ihr mit gierigen Augen in die Finsterniß; am Schiffe drüben wurde es laut, jetzt eine zerrende Bewegung an dem Seil, dunkle Gestalten schwankten durch die Nacht.

„Bill, bist Du’s?“

Keine Antwort; – endlich kommt der erste durch den Schlick heran – das ist Bill nicht.

„Wie heißt das Schiff? – Woher?“ tönen die Fragen.

„‚Laura‘, von H.,“ erwiderte der schmutzbesudelte, durchnäßte Mann.

„Und der Kapitän?“

„Lührsen, noch an Bord!“

„Gehört sich auch, er allein ist schuld daran,“ sagte der Nächstfolgende.

„Das lügst Du,“ schrie Claus ihn an, „Lührsen versteht sein Geschäft.“

Der Matrose warf einen Pack in das Boot und stieg hinein.

„Dann kennt Ihr ihn wohl von früher, jetzt ist’s aus mit ihm.“

Wieder wankten zwei Männer, schwer bepackt, das Seil entlang dem Boot zu; Bill war nicht dabei, und das Schiff neigte sich bedenklich zur Seite.

„Was sind denn das für verdammte Lichter?“ fragte der eine.

„Die Lichter von Oland!“

„Sagt ich’s nicht dem Kapitän? Aber nein, er glaubt’ es [791] nicht, Langeneß mußt’ es sein. Er hat den Kopf ganz verloren, der Teufel steh’ da am Steuer.“

Sechs Mann waren schon glücklich in den Booten, es fehlten nur noch der Kapitän und Lars. Die Leute hatten den letzeren begegnet, wie er an ihnen vorübereilte. Dem Schiff sei weiter nicht zu helfen, meinten sie. Zwar wenn es bis zur Fluth aushalte, vielleicht könne es dann wieder flott werden, der Kapitän denke wohl daran und wolle das Schiff nicht verlassen.

Claus freute sich jetzt, daß Bill nicht kam. Wie die elenden Burschen ihren Kapitän verleumdeten!

„Da könnt Ihr lange warten, der Lührsen verläßt sein Schiff nicht!“ rief er triumphirend. „Wo nur Lars bleibt?“

Ein wilder kurzer Schrei flog herüber, die Leine schwankte.

„Na, Alter, jetzt kommt er schon, wäre auch ein Narr,“ sagte spöttisch der eine Matrose.

Claus wollte es noch nicht glauben; hatte der Matrose nicht die Wahrheit gesprochen, so mußte Bill bleiben.

Ein Mann näherte sich mühsam den Booten – ist’s Lars – ist’s Bill Lührsen, der Kapitän?

„Bill!“ schrie Claus.

Der Mann an der Leine stutzte, dann eilte er rascher dem Rufenden zu; sein Gesicht war weiß wie die aufblitzenden Wogenkämme. Er wankte – Claus griff nach ihm und half ihm in das Boot. Es war Bill.

„Hast Du Lars nicht gesehen?“

„Lars! Ein Mann kletterte auf den Vordersteven. Er schrie wie wahnsinnig, eine Sturzwelle riß ihn weg – also es war doch Lars!“

„Ja, Lars und kein anderer! Lars! Sein Rolf rief ihn –“

„Sein Verhängniß!“ entgegnete düster Bill.

„Hoffst Du denn nicht auf die Fluth?“ meinte Claus.

„Das heißt, ich hätte bleiben sollen,“ sagte nach Athem ringend Bill. „Wär’ auch geblieben, da glaubte ich Lars’ Gesicht vor mir zu erblicken, er sah aus wie ein Gespenst und mich packte das Grauen. Er rief nach seinem Rolf, bis ihn die Welle erfaßte; da floh ich – ich dachte an gar manches und gab jede Hoffnung auf.“

Eine weißköpfige Woge wälzte sich heran, die schwarze Schiffsmauer hob sich krachend auf ihrem Rücken – die Boote mit den Männern flogen weit zurück über die Ufer des Wattstromes – „die Fluth!“ tönte es aus jedem Munde.

Bill blickte scheu zurück; die „Laura“ war verschwunden, die Fluth hatte sie befreit; jetzt trieb sie hilflos, verlassen auf den Wogen, Rungholts letzte Hoffnung! Denn es ging schon einige Zeit nicht mehr recht mit der Schiffahrt und es stand schlecht mit Rungholt – die „Laura“ war noch sein einziger Halt gewesen.

Bill fühlte die verächtlichen Blicke der Männer um sich her in der Dunkelheit – die Besinnung schwand ihm, er sank auf den nassen Grund des Bootes.

Als der Tag graute, erblickten die Oländer von ihren Werften aus auf der nahen Sandbank ein Wrack, die steuerlose „Laura“ war dahin getrieben. Die jetzt wieder beruhigten grauen Wellen des Wattenmeeres bespülten einen dunklen Gegenstand am Ufer, mit dem Fernglas erkannte man ihn als menschlichen Körper; – ganz Oland versammelte sich bald davor, es war Lars Tönningen, der Seemann.

Bei Claus in der Stube saß Bill vor einer geleerten Flasche Gin und blickte mit gläsernen Augen, mit dem Kopfe wackelnd, hinaus auf den dunklen Fleck am Horizont.

„Hi hi! Das hab’ ich errathen, da läg’ ich jetzt wie der dumme Lars da unten; ’s ist doch was werth, so ein Sprung im Glas, man kennt sich doch aus! Verdammt gut, das Zeug, besser als Seewasser – ah!“

Er schüttete das letzte Glas hinunter. Vom Watt herauf brachten sie, Gebete murmelnd, die Leiche des Lars.


4.

Christen Rungholts Reederei, einst die bedeutendste in H., war nicht mehr. Der Verlust der „Laura“ war der letzte und entscheidende von einer Reihe von Verlusten.

Als Bill Lührsen in Begleitung des Seerichters Claus mit der furchtbaren Nachricht eintraf, da rührte den alten Rungholt der Schlag, seine rechte Seite blieb seitdem gelähmt.

Der verächtliche Blick Holdes, als Bill den Hergang erzählte, machte diesen im Bewußtsein seiner Schuld stottern, tödtete in ihm den letzten Glauben an sich selbst. Er fürchtete sich vor seinem Weibe. Doch dieses hörte mit einem schmerzlich ergebenen Lächeln sein böses Geschick, sie wußte, daß es einst so kommen müsse, daß noch mehr kommen werde. – Sie sahen jetzt beide mit einer gewissen Ehrfurcht hinauf zu dem bestaubten Glas auf dem Schrank; ja, es lag eine Beruhigung für Bill in dem Anblicke dieses Zeichens seines unbeugsamen, ehernen Schicksals, es sprach ihn frei von aller Schuld. Nie hätte er das Schiff retten können, da stand es ja geschrieben in dem grünen Glase; er war seinem Weibe, seinem Kinde die Rettung seines nackten Lebens schuldig, was hätte denn alles Ankämpfen gegen diese unsichtbare, feindliche Macht genützt! Es kam über ihn die Ruhe des Stumpfsinns, der mit seltsamer Wollust den nächsten Schlag abwartet, er fühlte sich zuletzt wohl in dieser Rolle des vom Schicksal Verfolgten.

Nur ein Gefühl rüttelte ihn noch auf, erhielt noch den schwachen Rest seiner Lebenskraft, die Liebe zu seinem Töchterchen Maria. Die körperliche Schwäche des Kindes bei der Geburt hatte nichts zu bedeuten gehabt, Maria hatte sich herrlich und kräftig entwickelt; sie glich dem frischesten, sonnigsten Meermorgen und ihre großen Augen konnten sich an Tiefe mit der Nordsee messen.

Bill forschte vergebens in ihnen nach dem wehmüthigen Schimmer, der ahnungsvoll in Kinderaugen liegt im dunklen Vorgefühl kommenden Leides – nichts davon! Nur kecker Uebermuth, ein bißchen Trotz, kindliche Unschuld standen darin zu lesen. Er wußte nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte; wie furchtbar würde das arme Geschöpf einst aufgeweckt werden aus seinem Jugendtraume! Der Gedanke, diese lieben, glückstrahlenden Augen einst von Thränen geröthet, dieses rosige Gesicht vom Gram verzehrt zu sehen, nagte erst recht an ihm. Mit selbstquälerischer Spitzfindigkeit suchte er sich zu beweisen, daß der Fingerzeig des Schicksals nicht nur ihm und Laura, sondern auch ihrem Kinde gelte. Er las gierig alte Bücher mystischen Inhaltes, voll Anmeldungen, Vorherbestimmungen, wunderbaren Ahnungen, und gerieth immer tiefer in das verderbliche Netz seines Wahnes.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Bill in der Verbindung mit Laura sein ganzes Unglück erblickte. An dem verhängnißvollen Tag ihrer Hochzeit begann ja der Umschwung, bis dahin war er nur vom Glück begünstigt gewesen, und wenn er auch seinem Weibe keinen Vorwurf zu machen wußte, wenn er sich auch selbst nicht Rechenschaft geben konnte, wie Laura eine Schuld dabei treffen sollte, eine Bitterkeit blieb doch zurück, und in einem verbitterten Herzen stirbt die Liebe.

Der alte Rungholt rettete gerade so viel aus dem Zusammensturz, als er und sein Weib zu spärlichem Unterhalt bedurften. Bill mußte selber für sich sorgen. Aber die Geschichte mit der von der Mannschaft und ihrem Kapitän verlassenen „Laura“ war überall bekannt geworden; man sah Bill mit zweideutiger Miene an. Mit seiner Seemannslaufbahn war es aus, er war jetzt jedem Reeder zum Matrosen zu schlecht.

Nun begannen Noth, Zank und gegenseitige Vorwürfe, und mitten darin stand ewig lachend, scherzend die zehnjährige Maria und knüpfte immer wieder von neuem das gelockerte, zerfressene Band zwischen den Eltern. Für sie mußte der Vater erwerben; wenn es ihr auch nichts nützte, er wollte wenigstens kämpfen mit dem erbarmungslosen Schicksal um sein Kind.

Ein kleiner Kutter aus der Konkursmasse Rungholts wurde von ihm um ein Billiges erstanden.

Er kannte die Küsten und die Inseln weit umher, hatte überall alte Bekannte, der Handel mit Austern, Vogeleiern und Garneelen sollte ihn wenigstens anständig ernähren.

Laura betrieb den Handel in dem kleinen Hause am Hafen, das Bill gemiethet hatte, während dieser die Ware theils selbst sammelte, theils von den Strandbewohnern und Fischern aufkaufte. Die Mannschaft der aus- und einlaufenden Schiffe war ihre Kundschaft. Die kleine Maria ging in die Schule von H., aber auch in ihrer freien Zeit ließ Laura sie nicht theilnehmen an dem Geschäfte des Tages, der Umgang mit dem derben Seevolke schien ihr gefährlich für das unerfahrene Kind.

Eine Reihe von Jahren gedieh das Geschäft, Bill war unermüdlich, und das Glück schien ihm günstig; es kam ihm ganz sonderbar vor, ja, es beunruhigte ihn fast. Sollte das alles, was er seither geglaubt hatte, doch Unsinn sein, blöder Aberglaube, wie Holde sagte? Er erschrak förmlich vor dem Gedanken – dann hatte er ja einem Hirngespinst sein Glück geopfert, seine Ehre – [792] alles! In solchen Augenblicken sehnte er sich ordentlich nach einem Unglück, das ihn wenigstens vor sich selbst gerechtfertigt hätte.

Es blieb nicht aus. Beim Eiersammeln auf einer Felseninsel stürzte Bill und brach ein Bein; er lachte hämisch, als sie ihn in diesem Zustande zu Laura brachten. Maria pflegte ihn, sie hatte die Erfahrung und den Ernst einer Erwachsenen, wenn es galt. Die Mutter mußte ja im Geschäfte sein, das ohnehin, wenn der Vorrath einmal ausging, stark gefährdet war. Außerdem verlangte der Vater selbst immer nach Maria; Laura hatte eine unglückliche Hand, wenn sie nur den Verband berührte, schrie er auf.

Das Krankenlager hätte nimmer enden sollen! Unter dem ewig heiteren, klaren Blick seines Kindes, den munteren und doch so klugen Reden desselben kehrte seine eigene glückliche Jugend ihm wieder zurück.

Maria lockte ihm sein ganzes Inneres unbewußt auf die Lippen; er erzählte von seinen Jugendstreichen, seinen frohen, sorglosen Fahrten auf allen Meeren als junger Matrose. Sie hörte mit hochgerötheten Wangen zu, als wehe eine frische Seebrise ihr um das Gesichtchen. Abends, wenn beim düsteren Schein der Nachtampel die schwarzen Gedanken wieder kamen, die Schmerzen in dem gebrochenen Glied hämmerten und pochten, da ergriff er seiner Tochter Hand und erzählte von dem gespenstigen Reiter auf Oland, von den Wogenmännern, von Lars, dem Kapitän, und seinem Rolf, wie die Wogen den Mann hinwegspülten von der unglücklichen „Laura“, und wie ihn selbst das Entsetzen so erfaßte, daß er das gute Schiff verließ, bevor er das letzte versucht, es zu retten; wie das an ihm fresse sein ganzes Leben lang. Dabei blickte er starr auf das grüne Glas oben auf dem Schranke, in dem die Flamme des Nachtlichtes sich abspiegelte.

„Es giebt keinen Zufall, Verhängniß ist alles!“ rief er, wild an der Decke seines Bettes zerrend.

„Du hast das Glas da oben oft gesehen, Maria – die Mutter verbot Dir strenge, es nur zu berühren, ich weiß es – die schlimmsten Erinnerungen pflegt man ja immer am sorgfälligsten – dieses Glas sprang an unserem Hochzeitstag in der Hand Deiner Mutter, als sie mit Lars anstieß, der eben die Geschichte von seinem Rolf erzählte. Es war ein neues Glas, die Mutter hatte es den Tag zuvor zum Geschenk erhalten, es sprang nicht durch Zufall, ebenso wenig als Lars’ Rolf durch Zufall verschwand. Im ersten Augenblicke erschrak alles, dann lachte man darüber, alle außer Lars und mir! Und wir hatten recht, daß wir nicht lachten; die Folge hat es bewiesen. Lars liegt auf Oland begraben, ich liege hier, schmachbedeckt, mit zerbrochenen Gliedern – mein, des Kapitäns Bill Lührsen, Weib, Christen Rungholts Tochter, sitzt in einem dumpfen Laden und verkauft Eier und Garneelen an scheltende Seeleute!“

Seine Stimme klang thränenerstickt, er preßte die Hand seiner Tochter, die auf das Glas oben mit einem Ausdruck des Zornes blickte, der ihr schönes Antlitz entstellte.

„Sieh nach der Mutter, Maria,“ fuhr er dann plötzlich auf, „sie härmt sich allein, die Arme! Gott, wenn ich denke, wie schön und heiter die Laura war; wie Du, Maria, gerade wie Du!“

„Und Du hast sie traurig gemacht, Du und das häßliche Glas da oben!“ brach das Mädchen plötzlich los. „Es giebt keinen Zufall, aber auch keine Katzen, Gläser, Reiter, die Einfluß haben auf unser Geschick. Keinem Schulkind kann man das heutzutage mehr weismachen; nur einen giebt es, der es lenkt und leitet auf dem Meere, auf dem Lande, der allmächtige Gott. Wer auf ihn fest vertraut, sagte unser alter Lehrer, der segelt nicht irre; wer aber solchem Teufelsspuk mehr Glauben schenkt, den schlägt er mit Blindheit, daß er die Wahrheit nicht mehr sieht!“

Bill hatte sich emporgerichtet und starrte in das von der Nachtlampe matt erleuchtete, geröthete Antlitz seines Kindes. Die blauen Augen leuchteten seltsam, sie sprach wie einer inneren Eingebung folgend, gottbegeistert; der Schleier wich einen Augenblick von seiner verfinsterten Seele, er sah die Wahrheit.

„Maria,“ sagte er mit gebrochener Stimme, „hole die Mutter!“

Das Madchen sprang freudig auf. Da öffnete sich die Thür, ein alter, vornübergebeugter Seemann trat herein, scharfen Fischgeruch verbreitend, hinter ihm, die Schürze vor den Augen, Laura, die den Zögernden vor sich her schob.

„Was giebt’s, Haje? Glücklich zurück? Gut eingekauft? Warum kommt Balk nicht selbst, dem ich den Kutter anvertraut habe?“

Der alte Haje winkte traurig mit der Hand.

„Der kommt nicht mehr, der Balk –“ er würgte bedenklich und zerknüllte die gestrickte Haube in den Händen. „Mein Gott, ’raus muß es doch – übersegelt im Nebel von einem Schweden! –“ und er strich mit der flachen, knöchernen Hand wagerecht durch die Luft.

Ein gelles Lachen schallte durch die Stube, daß das grüne Glas zu klingen anfing.

„Was sagte Dein alter Lehrer, Maria? ‚Wer auf ihn vertraut, der segelt nicht irre.‘ – Ich vertraue auf dich da oben, braver alter Scherben! haha! und segle überhaupt nicht mehr!“

Bill schlug in einem Anfall von Wuth mit beiden Fäusten gegen die Wand.

„Jetzt ist’s aus mit der Plackerei! Laura, bring’ von dem alten Gin, Haje muß den neuen Spaß erzählen, ich will ihm aus dem braven Glas da oben vortrinken. Gin, Laura! Was guckst Du denn so unheimlich?“

„Bill, nur das nicht, das wäre das Ende!“ flehte unter Thränen sein Weib.

„Herrgott, das auch noch! Bring’ Gin, oder ich krieche in die Kneipe!“

Laura entfernte sich. Haje kratzte sich verlegen im Haar.

„Mutter, Du bringst keinen Gin, der Vater ist krank und darf ihn nicht trinken. Ich dulde es nicht. Haje kann unten bewirthet werden.“

Der Ton in Marias Worten duldete keinen Widerspruch.

Haje drückte sich scheu aus dem Krankenzimmer, Laura blieb zaghaft unter der Thür stehen.

„Maria, hab’ Erbarmen!“ flehte Bill mit glühender Stirn. „Nur ein Gläschen! Ich ertrage es nicht ohne Gin! Ich wollte ja eben Deinen schönen Worten glauben, merkest Du es nicht? O, es sind ja schöne Worte, aber nur für die Schule, Kind, nicht für das Leben! Da, da kam das Schicksal selbst in der Gestalt des Haje zur Thür herein, um Dich auszulachen – und das Glas! – kling! kling! – ich hörte es deutlich. Maria, Gin, oder ich erwürge mich!“

Er schnürte sich den Hals zu mit krampfhaften Händen. Maria löste sie gewaltsam, ihre klaren Augen waren mit liebevollem Ernst auf den Vater gerichtet, und wirklich beruhigte er sich unter dem stetigen Blick.

„Hat Dir das grausame Schicksal nichts mehr gelassen als ein Glas Gin? Liegt die Mutter, liegt Dein Kind auch auf dem Grund der Nordsee? Stehen sie nicht hier vor Dir mit inniger Liebe im Herzen und wollen alles mit Dir tragen?!“

Bill schloß die Augen vor Scham.

„Mutter!“

Laura näherte sich mit dem gewohnten, zaghaften Schritt. „Sieh’ auf uns, Vater!“ redete Maria eifrig weiter, „ich bin jung, habe kräftige Arme, die Mutter hat nur der Gram gebeugt, – ein gutes Wort, und der böse Zauber muß weichen. – Sprich es aus!“

Seine Brust hob sich zitternd, und seine jetzt fest auf Mariens Antlitz ruhenden Augen blickten unsicher durch Thränen.

„Maria – Laura!“

Er streckte die Arme weit aus, sie zu umfangen. „Verlaßt mich nicht!“

Der alte Haje stand noch immer draußen vor der offenen Thür, er wollte seinen Gin doch nicht einbüßen, über dem Anblick vergaß er ihn aber ganz – er hätte auch lang warten können. Er wischte sich mit der schmutzigen Mütze über die Angen.


5.

Bill war nicht mehr jung und sein Beinbruch war schwer. Die Heilung ging langsam trotz der vortrefflichen Pflege, und zu Bills Geschäft gehörten vor allem gesunde Knochen. Wenn ihn auch die Frauen von seiner Absicht, gar kein Schiff mehr zu kaufen, glücklich abgebracht hatten, so wollte er doch vorderhand nichts von einem solchen wissen. Was wollte er denn in diesem Sommer noch damit machen? Es anderen Leuten anvertrauen? Das wollte er nicht noch einmal probieren. Laura mußte sich so behelfen, Maria, die jetzt achtzehn Jahre alt war, half ja auch wacker mit, so wacker, daß er sich selbst ganz überflüssig fühlte und am liebsten hinüberhinkte in die Seemannskneipe zu den alten Kameraden. „Man bleibt dann doch im Fahrwasser und verweichlicht nicht ganz,“ pflegte er zu sagen.

[794] Dort in der „Grünen Auster“ fand er stets aufmerksame Ohren für seine Leidensgeschichte, beim Gin werden alle Sünden vergeben. Er hatte ganz recht, hieß es da, daß er die sinkende „Laura“ verließ, daß er sich kein neues Boot kaufen wollte, man soll einen Wink des Schicksals verstehen – ein Sprung im Glas der Braut am Hochzeitstag! da gehört überhaupt ein verdammter Kerl dazu, der sich da noch auf die See wagt – übrigens habe jetzt das Schicksal wohl ausgetobt und er könne nun in aller Ruhe seinen Gin trinken und die Weiber arbeiten lassen, die ja doch immer an allem Unglück schuld seien.

Solche Reden sog Bill gierig ein, diese Leute meinten es wirklich ehrlich mit ihm! Was hatten sie denn davon? Die gute Kameradschaft machte sie so besorgt, während sein eigenes Weib und sein Kind es kaum erwarten konnten, bis er wieder den Gefahren der Seefahrt sich aussetzte.

Unterdessen kam der Spätherbst heran, der Winter stand vor der Thür, der dem Handel in dem kleinen Häuschen gefährlich zu werden drohte. Die Schiffahrt steht dann still, die Kunden bleiben aus und auch die Waren.

Als Bill eines Tages mit schwerem Kopfe aufstand und nach seiner Tochter fragte, erklärte ihm Laura, Maria habe selbst einen Kutter gemiethet und sei mit dem alten Haje fortgefahren, alle Geschäfte für den Winter zu besorgen.

Bill erschrak heftig bei dieser Nachricht. Seine Maria in dieser rauhen Jahreszeit mit Haje auf einem Segler draußen auf der Nordsee! Jetzt sollte es sich vollenden, sein Schicksal, jetzt sollte der Hauptschlag kommen, gegen den alles andere, was schon geschehen, nichts war! „O, das Glas! das Glas!“ jammerte er, schalt Laura eine schlechte Mutter und ging von neuem in die „Grüne Auster“, seinen Kummer, seine Sorgen zu vertrinken.

Unterdessen segelte Maria unverdrossen in dem Wattenmeer von Insel zu Insel bis nach Romöe hinauf und füllte den Kutter mit Vorräthen aller Art.

Auf Oland saß noch immer Claus, der Richter, der Patriarch der Halligen, der Großmutter Holde Bruder. Den wollte Maria besuchen, sie hatte ihn nicht mehr gesehen seit ihrer Kindheit, seit damals, als er mit dem unglücklichen Vater kam, der das schöne Schiff verloren hatte. Sie hatte die milden Trostesworte, die der Greis dabei zur Mutter gesprochen, nicht vergessen, vielleicht wußte er auch jetzt Rath gegen des Vaters schlimmstes Uebel, gegen den Gin.

Sie fuhren über die Stelle, wo die „Laura“ verunglückt war. Maria forschte vergeblich nach einem Zeichen; dann fuhren sie in den Wattstrom, der Oland durchschneidet, bis dicht vor Claus Buiksloots Werfte.

Ob er wohl noch lebte? Das Haus lag so still, kein Mensch war weit und breit zu sehen. Wenn Claus am Ende allein, verlassen gestorben wäre! Auch Haje äußerte Besorgniß und meinte das sei schon oft vorgekommen bei so alten Leuten.

Die Haustür war offen. Maria horchte im Gange. – Was war das? War sie denn im falschen Haus? Eine kräftige Mannesstimme ertönte, Gelächter, dazwischen das heisere Kichern eines Greises.

Sie klopfte, und „Herein!“ rief es von drinnen.

Ein großer blonder Mann stand vor ihr, der die Decke der Stube fast mit den Haaren streifte; in dem Lehnstuhl beugte sich der halbblinde Claus weit vor.

„Wer kommt denn, Jakob?“ fragte er.

„Deiner Schwester Enkelkind, die Maria Lührsen aus H., und ihr Bootsmann Haje,“ rief laut das Mädchen, des Greises Hand ergreifend.

Der sah mit zitterndem Haupt an der hohen Gestalt hinauf.

„Die kleine Maria, meiner Schwester Enkelkind und – und – wer?“

„Mein Bootsmann, hier, der alte Haje –“

Sie zog den zögernden Alten aus dem Winkel.

„Und Bill Lührsen, Dein Vater?“

„Ist krank – lange schon – hat das Bein gebrochen – nun muß ich das Geschäft besorgen. Geht auch herrlich! Nicht wahr, Haje? Gott, ist’s auf dem Meere schön! Und da bin ich, um Dich zu besuchen!“

„Und hoffentlich ein bißchen auszuruhen von der Fahrt,“ mischte sich der junge Mann darein, der seither zurückgetreten war; „ein Mädchen wie Sie bei der Jahreszeit in einem so jämmerlichen Kasten, wie ich da unten sehe, unter Führung eines –“ er stockte und blickte auf Haje – „gewiß erfahrenen aber doch schon hochbejahrten Seemannes!“

Maria kehrte sich mißmutig nach dem Sprecher um.

„Was kümmert Sie der ‚jämmerliche Kasten‘, und der ‚hochbejahrte Seemann‘?“

Aber plötzlich schien alle Kühnheit, aller Trotz sie zu verlassen. Sie erröthete tief, schlug die Augen nieder vor dem lächelnden Mann und trat unwillkürlich näher zum Großvater.

„Jakob Tönningen, Kapitän, der Sohn meines alten seligen Freundes,“ stellte ihn Claus dem Mädchen vor.

„Des Tönningen mit dem Rolf?“ fragte neugierig Maria.

„Ja, der Sohn des Tönningen mit dem Rolf, ganz recht, Fräulein Maria, der gekommen ist, das Grab seines Vaters zu besuchen. Sie glauben wohl an die Geschichte mit dem Rolf?“

Maria zog verdrossen die Lippen hinauf.

„So wenig als Sie.“

„Ich wollte Sie nicht kränken, ich dachte nur – wir sprachen eben von Ihrem Vater.“

„Ich hätte etwas geerbt, meinen Sie! Wenn man das so mitmacht von Kind auf, Herr Kapitän, das Unheil, welches ein so häßlicher Aberglaube in einem Menschenleben anrichten kann, dann haßt man den Unsinn.“

Der aufsteigende alte Groll röthete ihr von den goldblonden Flechten umrahmtes Gesicht. Maria war in diesem Augenblick wunderschön.

„Was macht denn der Bill?“ redete der Alte dazwischen, der nichts von allem verstanden hatte. „Schwört er noch immer auf das zersprungene Glas? Sonderbar! Sonderbar!“

Maria war sichtlich verlegen, sie schämte sich vor dem Fremden.

„Ich weiß alles, Fräulein Maria,“ beruhigte sie Jakob Tönningen. „Erzählen Sie nur, wir sind uns ja nicht fremd!“

„Nicht fremd?“

„Nicht ganz, das Schicksal unserer Väter schlingt ein Band zwischen uns. Erzählen Sie nur, lassen Sie mich ruhig zuhören!“

Er sprach so herzlich, so einfach; sie schämte sich nicht mehr vor ihm. Und sie erzählte dem Greise ihr junges, hartes, entsagungsvolles Leben voll kindlicher Liebe, männlicher Thatkraft und heiligem Gottvertrauen. Sie bat ihn um Rath für das schwere Seelenleiden, dem der Vater verfallen war, wie sie den Geliebten retten könne von dem häßlichen Wahne, der ihn ganz beherrsche. Sie vergaß in ihrem kindlichen Eifer ganz den Mann im Hintergrunde des Zimmers, dessen Augen trunken an dem schönen, edlen Geschöpfe hingen.

Claus, der Richter, hörte mit bedrückter, sorgenvoller Miene dem Mädchen zu. Er erinnerte sich wohl, wie er selbst damals am Hochzeitsabende erschauerte, als das Glas zersprang in den Händen der Braut beim Trinkspruch auf die beiden Lauren; er war zu alt zum Heucheln, und doch that ihm das Herz so weh beim Anblick dieses zerstörten jungen Lebens. Wie hilfesuchend blickte er auf Jakob, dem die Zornesader schwoll bei der Schilderung von Bills unverantwortlichem Treiben.

Jäh sprang er in die Höhe und seine Augen flammten. „Ich will ihn heilen, Maria, den Vater!“ rief er.

Das Mädchen sah ihn groß an. Er war so schön in seiner Erregung; sie wäre ihm am liebsten zu Füßen gefallen und hätte ihn angefleht, gleich mit ihr zu kommen, so glaubte sie an seine Kraft.

„Du kennst Bill Lührsen nicht! Bill ist mißtrauisch gegen Fremde, nimm Dich in acht,“ meinte Claus bedächtig.

„Ich will ihm bald kein Fremder mehr sein,“ erwiderte Jakob mit einem Blick auf Maria, der das Mädchen wie ein Blitz durchfuhr. „Laß mich nur machen – ich habe Eile – mein Schiff liegt auf Sylt, ich habe Befehl nach Liverpool, dann geht’s nach Bremen. In drei Monaten längstens bin ich mit meinem Heilmittel bei Ihnen in H., Fräulein Maria. Vergessen Sie unterdeß den Jakob Tönningen nicht!“

Er reichte ihr die breite Hand und ließ lange die ihrige nicht.

„Nicht vergessen, hören Sie, sonst wirkt das Mittel nicht, und Du Claus kommst nach H., wenn es gewirkt hat, das versprichst Du mir!“

Claus sagte herb lächelnd zu. „Und wenn ich nicht mehr komme, trinkt auf mein Wohl und gebt fein acht beim Anstoßen.“

Jakob eilte die Werfte hinab zu seinem Segelboot, das im Wattstrome seiner wartete.

[795] Maria fühlte einen heftigen Schmerz im Herzen, sie preßte die Hand darauf und sah dem Scheidenden regungslos durch das Fenster nach.


6.

In starren Fesseln lag der Mastenwald im Hafen von H. Dichter Nebel braute ununterbrochen über der Stadt und kürzte den Tag.

In der „Grünen Auster“ ging es immer gleich lebendig zu, bis spät nach Mitternacht leuchteten die mit blutrothen Vorhängen versehenen Fenster.

Da saßen die Stammgäste an dem mit grünem Wachstuch überzogenen Tisch: Schiffsmakler, Viehhändler, einige Kapitäne, die in H. ihr Winterquartier aufgeschlagen hatten; und mitten unter diesen Ehrenwerthen saß Bill Lührsen, „der Herr Kapitän“, wie er hier genannt wurde. Seine jetzt heisere, aber noch kräftige Stimme war immer hörbar, er wußte stets etwas Neues, wußte überall Bescheid, sprach in großartiger Weise von seinen Leistungen, zuckte die Achseln über andere, übte die schärfste Kritik – ja, wenn er so ein Glücksvogel gewesen wäre wie der und der, was er dann geworden wäre! – und dann ging’s los über sein Pech, das alles je Dagewesene übersteige. Dabei trank er Glas auf Glas des feurigen Trankes in seinem Kneipzorn.

Später, als die alten Geschichten, die man sich allabendlich erzählte, nicht mehr genügten, griff man zu den Karten, natürlich nur zum Zeitvertreib, nicht etwa des Geldes halber.

Bill hatte erstaunliches Glück und eine tolle, fieberhafte Freude an diesem Glück. Er war der erste, der einen höheren Satz vorschlug, er fand wenig Widerspruch – „wenn er will, wir halten’s aus!“ mochten seine Kumpane denken. Auch das gewöhnliche heimische Spiel paßte nicht mehr, es ging zu langsam und wozu denn das Hirn sich dabei abmartern, das Zufallsspiel, sein Fall! Es prickele ihm in allen Nerven, wieder einmal, zum letzten Mal, wie er sich sagte, die große Frage an das Schicksal zu stellen. Verluste, die sich bald einstellten, machten ihn nicht irre, er entwickelte plötzlich einen ungewohnten Widerstand und Trotz gegen sein Verhängniß.

Laura wagte nur einmal eine Einwendung. Die spärlichen Einnahmen litten ja keine solchen Ausgaben. Da kam sie aber gut an!

„Wer ist der Herr im Hause? Etwa weil ich das Unglück gehabt habe, mich Dir zuliebe zum Krüppel zu fallen, soll ich mich in die Ecke stellen lassen und um mein Brot betteln? Nette Liebe das! und dafür ein Leben geopfert!“ so fuhr er auf die unbequeme Mahnerin los.

Die arme Frau hoffte auf Maria, er liebte ja sein Kind, ihren Bitten würde er nicht widerstehen können. Doch sonderbar, Maria lächelte immer so geheimnißvoll und wiederholte stets: „Gieb ihm nur, es wird bald anders werden.“

Erst als drei Monate in dieser den Hausstand vernichtenden Weise vergangen waren, zeigte sich in Marias Wesen eine auffallende Unruhe, ein ständiges ängstliches Warten, und oft überraschte die Mutter sie, wie sie in Thränen aufgelöst in einem Winkel ihrer Kammer saß.

So verstrich der Winter – ein trüber Sommer schlich vorüber, und langsam nahmen die Tage wieder ab. Mehr und mehr brannte das Hoffnungsflämmchen in Marias Herz herab und nur mit dem letzten Rest ihrer Seelenstärke klammerte sie sich noch an Jakob Tönningens Worte: „Nicht vergessen, sonst wirkt das Mittel nicht!“ Nein, vergessen wollte, konnte sie ihn und seine Verheißung nicht. –

*               *
*

Mäuschenstill war es am Stammtische in der „Grünen Auster“, selbst die Karten fielen lautlos auf das grüne Tuch. Die Köpfe waren erhitzt, man spielte heute besonders hoch, ein fremder Seemann betheiltgte sich, und es wäre doch ein Hauptspaß gewesen, den hübsch hereinzulegen.

Er saß neben Bill, der heute wieder seinen Pechtag hatte. Sein Gesicht war bleich, seine Hände zitterten, wenn er das Glas Gin zum Munde führte, seine Gestalt war auf den Tisch herabgebeugt, und seine gierigen Blicke auf das sich zusehends mehrende Geldhäufchen des Fremden entgingen diesem nicht.

Bill verlor den größten Satz, der heute gestanden hatte, er lachte wild auf, zerrte an seinem ergrauten Haar und wischte mit einer krampfhaften Bewegung der Hand seinen ganzen Geldvorrath seinem Nachbar, dem Fremden, zu.

„Fertig!“ keuchte er. „Ihr versteht’s – dürft Euch übrigens nichts einbilden drauf. Habt Ihr von Bill Lührsen noch nicht gehört, dem berühmten Pechvogel? Der bin ich!“

„Der Kapitän Bill Lührsen?“ fragte erstaunt der Fremde. „Das freut mich. Habe freilich schon gehört von ihm. – Jakob Tönningen!“ stellte er sich vor.

Bill wich zurück, er mußte sich am Stuhle festhalten.

„Tönningen? Wirklich Tönningen?“ schrie er und brach dann in ein tolles Gelächter aus. „Verwandt mit dem verstorbenen Kapitän Lars Tönningen?“

„Sein Sohn sogar.“

„Lars’ Sohn? Und mit dem – ? Haha! Das sieht mir gleich, gegen den setz’ ich meinen letzten Heller! Lars’ Sohn! Wenn’s jetzt nicht klar ist! – Gin! Gin!“ brüllte er, sich von neuem setzend und den Mann starr betrachtend, „spielt nur zu, ich bin fertig.“

„Unsinn, Kapitän! Was fertig? Hier!“ widersprach Jakob Tönningen und schob ihm einen Haufen Geld zu. „Kredit, so viel Ihr wollt, und Ihr werdet sehen, Ihr gewinnt jetzt!“

„Gegen Lars Tönningens Sohn?! – Wißt Ihr denn, daß wir – Gott, wo soll ich da anfangen? Die See fraß ihn vor meinen Augen; eine Katze war sein ganzes Unglück! Ja, eine einfache Katze! Das versteht Ihr nicht, nicht wahr? Und meines ist ein Glas! Ein einfaches, zersprungenes Glas! Ich sag’ Euch, ganz dieselbe Geschichte. Wir mußten lachen, so oft wir uns sahen, nur als wir uns zuletzt sahen, da lachten wir nicht, da nicht – und jetzt setze ich mein Letztes gegen seinen Sohn, gegen Lars’ Sohn! Ist das auch ein Zufall? – Sei’s denn! Zum Schlusse der dummen Geschichte!“

Er machte sich bereit, das Spiel fortzusetzen.

„Aber die Geschichte von der Katze und dem Glas muß ich dann hören,“ meinte der Sohn Lars’, dem das närrische Benehmen Bills nicht aufzufallen schien.

„Sollt Ihr hören! Werdet dann manches begreifen, was Ihr vielleicht über mich gehört habt.“

Das Spiel nahm seinen Fortgang, Bill gewann jeden Satz. Der Fremde war nämlich so unvorsichtig, sich jedesmal in die Karten sehen zu lassen, und Bill besann sich keinen Augenblick, diesen Vortheil zu benutzen, es war ja sein Geld, das er zurückgewann! Er hätte jetzt nimmer aufhören mögen – das Häufchen vor ihm stieg höher und höher, vielleicht war gar alles wieder gut zu machen – die „Laura“, das gebrochene Bein, der Kutter! Wenn es ihm nur nicht immer gewesen wäre, als säße Lars neben ihm mit den hinaufgezogenen Augenbrauen und auf seinem Schoß Rolf, der Kater, mit zugekniffenen Augen!

Die anderen merkten das falsche Spiel des Kapitäns und verlangten plötzlich den letzten Rundgang.

Bill athmete auf wie von einer furchtbaren Qual befreit. Jakob Tönningen hatte eine große Summe verloren, doch er mußte sehr reich sein, er sprach kein Wort darüber. Er schob nur die Karten beiseite und sagte: „Nun die Geschichte von der Katze und dem Glas!“

Die Tischgesellschaft machte sich spöttische Zeichen, sie hatte sie schon so oft, unzähligemal oft gehört.

Bill war heute in seiner Laune; der hohe Gewinn, der reichliche Gin – er konnte kein Ende finden. Der Kapitän schien sein Gesinnungsgenosse zu sein; besonders die Geschichte mit dem Glas erschien ihm sehr bedenklich: er begreife ganz wohl, wie einem so etwas nicht mehr aus dem Kopfe gehen könne, und das sei einmal sicher, es gäbe Dinge auf der Welt, die sich nicht erklären lassen. Dann fragte er nach Bills Familie, was die davon denke, und erstaunte nicht wenig, zu hören, daß seine Tochter nicht daran glauben wolle, was doch sonst Mädchenart sei.

Schwer geladen wankte Bill lange nach Mitternacht nach Hause am Arme Jakobs, der noch manche Fragen nach seiner Tochter that, die dem Vater, wäre er in nüchternem Zustande gewesen, aufgefallen sein müßten. Mit dem sicheren Versprechen eines Besuches verließ Jakob den Alten.

Laura wachte noch; sie hatte sich fest vorgenommen, heute mit Bill ein ernstes Wort zu sprechen, es ging so nicht mehr fort, es fehlte bereits am Nöthigsten; sie hatte im geheimen [796] bereits Hausrathsgegenstände veräußert, um die Geldbedürfnisse des Mannes zu befriedigen.

Das war ein bitteres Wachen! Ein Glück, daß Maria den Schlaf der Jugend schlief, das Mädchen hätte sie gewiß an ihrem Vorhaben gehindert, das mit jeder Stunde in ihr fester wurde.

Endlich Stimmen auf der längst verödeten Straße; Laura schlich leise von Marias Seite in das Nebenzimmer, um ihren Mann zu erwarten. Die wankenden unsicheren Tritte die Treppe herauf machten ihr Herz erbeben. Er war in der letzten Zeit recht roh mit ihr gewesen – aber es mußte sein, heute noch, bis morgen verlor sie den Muth.

Er trat ein mit einer Laterne.

„Noch auf, Weibchen?“ lallte er, „das freut mich!“

„Bill!“ begann Laura in flehendem Tone, „hab’ Mitleid mit uns!“

Er pfiff in komischer Weise und schlug auf die Tasche.

„Laß’ das, Kind, und freue Dich! Runter mit dem Scherben da oben. Ich habe gewonnen, mehr als ich in einem Winter verdienen kann, den ganzen Krempel unten kauf’ ich Dir ab!“

Laura fühlte sich angewidert von seinem trunkenen Wesen, sie wich zurück.

„Das glaubst Du nicht, Unglücksrabe? Ist aber doch so! Da –“

Er schüttete einen Haufen Goldstücke auf den Tisch. „Und von wem, rath’ einmal! Wenn es nur nicht wieder eine Falle ist, ich merke so was! Von wem, rathe!“

Er lachte kindisch, mit den Goldstücken spielend.

„Von Lars Tönningens Sohn! Das glaubst Du nicht! Von Lars Tönningens Sohn, der Gott weiß woher mit einem Sack voll Geld zurückgekehrt ist; von Jakob Tönningen –“

Ein leiser Aufschrei ertönte aus dem Nebenzimmer. Laura fuhr auf.

„Das arme Kind! Kein Wunder, daß es schwere Träume hat! – Ich sag’ Dir aber, daß ich dieses Geld verachte!“ fuhr sie mit einer Leidenschaft auf, die Bill an ihr lange nicht mehr gewohnt war – „daß ich nur ein neues Unglück darin sehe! Es wird Dich nur von neuem verlocken, und das Ende wird doch ein erbärmliches sein. Bill, denk’ an Maria! Gott hat Dich wieder gesund werden lassen, arbeite wieder! Es ist nicht wahr mit dem Glas, nur dumme Einbildung ist es, die uns unser ganzes Lebensglück gekostet hat. Ich ahne es längst, wir selbst sind schuld an allem.“

„Ei, ei, wie klug auf einmal! Nur damit ich meine Knochen noch einmal riskire!“ erwiderte verdrossen Bill. „Einbildung soll das sein mit dem Glas? Jakob Tönningen selbst gab mir recht! Frag’ ihn nur darum, morgen, wenn er kommt.“

„Immer Tönningen! Unser ganzes Unglück hängt an dem Namen. Was will er denn hier, dieser Mensch?“

„Was weiß ich! Mir kann’s nur recht sein, wenn er länger bleibt. Uebrigens wird er Euch schon gefallen, wenn Ihr ihn einmal seht, ein schöner lieber Mann! Sieht gar nicht so aus, als ob er Unglück bringen könnte. Da nimm’, Laura!“

Er reichte ihr eine Hand voll Geld.

„S’ ist ehrlich Geld und –“ er sah sich lange im Zimmer um – „es fehlt einiges – merk’ es wohl – hol’ es wieder! Es soll ja anders werden mit mir! Ja, wenn das nur Einbildung wäre – sagtest Du nicht so? – dann – dann – Herrgott, dann –“

Sein bleiches Gesicht bekam einen ängstlichen Ausdruck.

„Laura –“ er griff nach ihrer Hand – „dann wäre ich ein rechter Schurke! Laß’ mich jetzt, frag’ morgen den Tönningen – er wird Dir sagen, daß es keine Einbildung ist, daß es so Dinge giebt – jawohl!“

Er warf noch einen verschwommenen Blick nach dem Glas hinauf und wankte dann in seine Kammer. Als Laura nach einer Stunde voll bitterer Gedanken zu Maria zurückkehrte, fand sie dieselbe mit erhitzten Wangen, ein seliges Lächeln um den Mund, als träume sie einen schönen Traum, auf ihrem Lager liegen. Sie beugte sich besorgt mit dem Lichte über sie, da öffnete Maria weit die blauen, feuchten Augen, schlang die Arme um die Mutter und drückte dieselbe fest an sich.

„Endlich!“ flüsterte sie.


7.

Bill verbrachte jetzt mit Jakob Tönningen die Abende zu Hause; der junge Mann zog ihn durch seine anregenden Gespräche, Vorschläge und Pläne wieder auf sein früheres Interessengebiet, belebte von neuem seinen Standessinn, erweckte in ihm ein neues Verlangen nach der See, der Heimath seiner Jugend; die bösen Dünste der Kneipe wichen langsam vor der gesunden Atmosphäre, die dieser Mann um ihn verbreitete.

Maria glaubte die Heilung des Vaters schon vollzogen und fürchtete die baldige Abreise des siegreichen Arztes. Sie wollte ihm gewiß ewig dankbar dafür sein, aber doch brach ihr das Herz schier. Sie hatte sich das doch anders gedacht, recht kindlich albern, das sah sie wohl ein, aber er war doch auch schuld daran, was brauchte er sich denn gar so in ihr Herz einzuschleichen, wenn alles nur dem Vater galt!

Da kam er in der dritten Woche seiner Anwesenheit eines Tages im Sonntagskleid und in einem Zustande eigenthümlicher Unruhe. Maria dachte: nun will er Abschied nehmen! und ihr ganzes Wesen krampfte sich zusammen. Er aber trat mit ernster Miene auf sie zu.

„Maria,“ sagte er, „heute gilt’s, ich darf nicht mehr länger zögern mit der Operation, sonst erneut sich das Uebel. Jetzt sprechen Sie, haben Sie Wort gehalten, haben Sie immer an mich gedacht seit unserer Begegnung in Oland, herzlich meiner gedacht?“

Seine Hand drückte fest die ihrige, sein großes Auge ruhte voll heißer Liebe und mit dem Ausdrucke inniger Ueberzeugung auf ihr.

„Mehr, Maria, haben Sie sich nach mir gesehnt? noch mehr – haben Sie mich lieb?“

Das Mädchen sank wonnebetäubt in seine Arme, und er hielt sie lange umfaßt und küßte ihr Blondhaar.

„Dann ans Werk, es muß gelingen!“

Er eilte zum Vater.

„Ich komme, von Ihnen die Hand Ihrer Tochter Maria zu erbitten. Unter uns Seeleuten sind lange Vorreden nicht Brauch; ich bin jetzt Eigenthümer eines Schiffes, besitze genug Vermögen, mich selbständig zu machen und eine Familie zu ernähren. Ihre Tochter liebt mich, ich denke, es steht nichts im Wege –“

Bill mit seinem düsteren Blick, seinem tiefergrauten Haar und seinen verlebten Gesichtszügen sah greisenhaft aus an der Seite des blühenden Mannes. Er zuckte schmerzlich zusammen unter diesen kurzen, biederen Worten und ein Blick tiefen Mitleides traf den Brautwerber.

„Nichts läge im Wege, Jakob Tönningen,“ erwiderte er, „wenn ich noch um einen Grad schlechter wäre, als ich so schon bin; dann könnt’ ich Euch sagen: da habt Ihr sie und meinen Segen dazu! Ich kann’s aber nicht, und Ihr selbst seid schuld daran, daß ich’s nicht kann, weil Ihr in der kurzen Zeit, da Ihr hier seid, das Gewissen in mir wachgerufen habt. Ihr fordert von mir Euren Fluch und stürzt, was Ihr gewiß nicht wollt, wenn Ihr sie liebt, Maria in das Unglück! Ihr habt mir selbst recht gegeben, als ich Euch einst mein sonderbares Schicksal erzählte von der Stunde an, wo das Unglücksglas zersprang an dem Eures Vaters. Die geheimnißvolle Kette von Umständen zwischen Tönningen und Lührsen bis auf Eure jetzige Werbung muß Euch selbst zu denken geben. Es ist blöde, ein Menschenschicksal an ein Glas zu hängen, ich weiß es, und hab’ mir’s tausendmal vorgehalten, und doch sag’ ich Euch, es ist mir, als sähe es drohend dort auf mich herab, – ich kann nicht ,Ja‘ sagen, Jakob Tönningen!“

Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein ganzes Inneres war in Aufruhr.

Der Kapitän blickte sinnend hinauf zu dem Glas. „Hm, Ihr habt recht, ein sonderbares Zusammentreffen von Umständen, und das Glas – zeigt mir doch das Unglücksding, das mir mein Liebstes rauben soll auf Erden!“

„Nehmt es nur herab, ich erreich’ es nicht mehr, so hat es mir den Rücken gebeugt.“

Jakob griff danach und trat an das Licht, das sich in der grünen Wölbung spiegelte, betrachtete es genau und prüfte mit dem Finger. Plötzlich lachte er laut auf – betrachtete wieder das Glas, dann Bill, der ihn nicht aus den Augen ließ.

„Bill Lührsen,“ sagte er, „Ihr seid ein Narr! Das Glas hat ja gar keinen Sprung, es ist ja nur eine Falte im Glas, welche so aussieht! Na hört, da sieht man doch genauer zu, wenn man so viel darauf hält!“

[797] Bill war kreidebleich geworden, der Mund stand ihm offen, ein Bild des Entsetzens bot er.

„Das lügst Du, Tönningen,“ röchelte er, mühsam nach Athem ringend. „Es muß ein Sprung sein! Ich sah ihn zwar nur einmal, aber der Klang – her mit dem Glas!“

Mit zitternden Händen entriß er es ihm und drehte es nach allen Seiten.

„Herrgott! Wenn es kein Sprung wäre! Alles einer Täuschung geopfert, ein ganzes Leben – Laura – Maria –“

Er tastete und kratzte wie wahnsinnig an dem Glase herum. „Heilige Maria, kein Sprung!“

Da entglitt das Glas seinen Händen und zerschellte in Scherben. Bill sank in die Kniee, bedeckte sein Antlitz mit beiden Händen und schluchzte laut. „Kein Sprung!“ wiederholte er nur immer wieder verzweifelt.

Tönningen erschrak selbst vor der furchtbar unerwarteten Wirkung seines Heilmittels; doch faßte er sich rasch, die Krisis mußte eintreten.

„Und da freut es Euch nicht,“ redete er dem zusammengebrochenen Manne zu, „daß alles nur ein häßlicher Traum war, daß Ihr mir jetzt ohne Gewissensbisse Maria zum Weibe geben könnt, daß Euer Geschick keiner blinden, dunklen Macht überantwortet ist, sondern nur Eurem eigenen Willen, daß derselbe gütige Gott es leitet, der auch das von uns allen lenkt! Das muß Euch freuen, selbst wenn Ihr Euch dabei sagen müßt, daß Euer Wahn, von dem Ihr nun geheilt seid, Euer ganzes Unglück war. Auf, Bill Lührsen, zu neuem Leben! Ich biet’ Euch Hand und Herz, sie kennen beide kein Falsch!“

Bill lächelte unter Thränen; er erhob sich, wie aus einem Traum erwachend.

„Ist’s denn wirklich möglich! Ein neues Leben! Ein Schiff! Die weite See – mein Weib – mein Kind! Tönningen, es ist zu viel, ich kann das viele Licht nicht allein ertragen. Maria! Laura!“ rief er, die Thür öffnend.

Maria eilte herein. Tönningen streckte ihr die Arme entgegen, – sie wußte alles.

„Es ist ja kein Sprung, Laura,“ rief Bill seinem Weibe zu, „nur eine Falte im Glas, der Kapitän hat es mir deutlich gezeigt! Ich ließ es fallen vor Freude, da liegen die Trümmer, aber ich versichere Dich, nur eine Falte im Glas – Laura, wir waren rechte Kinder – wie eine Binde fällt es mir jetzt von den Augen! – Kinder? Nein, ein Schurke war ich, Laura, ein erbärmlicher Schurke! Verzeihe mir um des Glückes dieser beiden willen – Deiner Kinder!“

Das war zu viel des Freudensturmes für Lauras im Leid ermüdete Seele; sie warf einen Blick auf die grünen Scherben des Glases am Boden, auf das in sich versunkene Paar, auf Bill, der sie in seinen Armen hielt. Erst an dem klaren Blick Jakobs, der auf sie zutrat und ihr die Hand reichte, fand sie ihre Fassung wieder.

*               *
*

Als Claus, der Richter, die freudige Nachricht erhielt, daß das Mittel gewirkt habe und Bill völlig geheilt sei, da eilte er trotz seines hohen Alters noch zur Hochzeit Jakobs und Marias.

Als der Bräutigam nach dem Mahle dem Alten von der Falte im Glase erzählte, die Bill fälschlich für einen Sprung gehalten habe, da lächelte er verschmitzt; als man dann wie einst vor zwanzig Jahren das Brautpaar leben ließ und die Gläser hob, rief er: „Obacht, Kinder, damit es nicht wieder Falten giebt, sie taugen nichts, in den Gläsern nichts und nichts in den Gesichtern!“

Alles lachte, nur Bill senkte beschämt den Blick.

„Lührsen-Tönningen“ heißt heute die größte Reederfirma in H., sie führt einen grünen Römer im Schiffswappen.