Der Sänger (Heigel 1893)
Der Sänger.
Siegfried Leisewitz ist unbestritten der größte Opernsänger der Gegenwart. Daß Sie auf Ihren Reisen nie von ihm gehört haben, wundert mich. Freilich, so weit da unten – am Kap Horn oder – hm, ja – und dann waren Sie immer mit Seeschnecken, Tintenfischen und so weiter beschäftigt, mit der Flora und Fauna wilder Paradiese. Beiläufig, Sie sprachen gestern von einem Vogel, dessen Eier feiner als unsere Kiebitzeier schmecken – wie heißt er?“
„In den Pampas Teru-tero, nach seinem Rufe; sein lateinischer Name ist vanellus cayanensis.“
„Sie schütteln die lateinischen Namen nur so aus dem Aermel! Ja, ja, Sie waren schon auf dem Gymnasium ein guter Lateiner. Und ist die Milch einer frischen Kokosnuß wirklich so köstlich? Doch da sind wir – sind wir auf Tahiti, wenn ich nicht irre. Und ich wollte Ihnen von unserem Eiland erzählen. Denn der Wohnsitz Ihrer Hoheit ist eine Insel inmitten einer unruhigen, brüllenden See.“
Der dies sprach, war Herr von Aschau, Hofmarschall der Prinzessin Erna; der ihm gelassen zuhörte, war Felix Walter, der neue Arzt Ihrer Hoheit. Sie saßen auf japanischen Porzellansitzen, unter einem japanischen Schirm, auf dem Rasen zwischen Schloß und Park. Wenn die Gebieterin, die leidend war, allein speiste, fand die Tafel für ihren kleinen Hofstaat um sechs Uhr abends statt. So war es auch heute gewesen. Zum Kaffee hatte Herr von Aschau den Hofmedikus ins Freie geladen. Er und Walter hatten zusammen das Gymnasium besucht, dann aber sich aus den Augen verloren und erst seit wenigen Tagen die Bekanntschaft erneuert . . . Der Hofmarschall rauchte eine Cigarette und schlürfte den Kaffee langsam und in großen Pausen. Auf der geschweiften Marmortreppe, die das bräunliche Schlößchen wie ein weißer Kragen umgab, stand ein Lakai und blickte den breiten Baumgang hinab. Denn zu dieser Stunde pflegte der Landesfürst seine tägliche Spazierfahrt mit einem Besuch der Tochter zu schließen. Seine Hoheit verließ dann den Wagen in einer Straße, die längs der Rückmauer des Parkes lief, und kam durch den Baumgang „unverhofft“ ins Schloß. In kleinen Schwachheiten verräth sich oft eine große Zärtlichkeit.
Das „fürstliche Jagd- und Lusthaus Solitude“, das außer einem Prachtsaal nur etwa ein Dutzend Wohnzimmer enthielt, war im üppigsten Rokokostil einst auf freiem Felde erbaut worden, jetzt stand es im Straßennetz einer bevölkerten Vorstadt. Doch wie die Stadt sich erweitert und vergrößert hatte, waren auch die Baumpflanzungen auf Solitude gediehen. Aus dem abgezirkelten Ziergarten war ein englischer Park geworden, dessen Baumgruppen der Nachbarschaft das Schloß und den Schloßbewohnern die Außenwelt verbargen.
Der Tag, ein wolkenloser Junitag, ging zu Ende; ein warmer Goldton lag auf allem. Die Rosen, deren es auf jedem freien Plätzchen eine Menge gab, erfüllten die Luft mit Wohlgeruch. Das Geräusch der großen Stadt war hier nicht aufdringlich.
„Unter uns gesagt,“ fuhr Aschau fort, „der gegenwärtige Leiter der Hofbühne ist nicht schneidig genug. Auf meine Anregung ist Leisewitz für unsere Oper gewonnen worden. Die Prinzessin, die für Musik schwärmt, war über den Erfolg der Verhandlungen entzückt. Da sieht sie kurz vor der Ankunft des Sängers sein Bild – und der Mensch mißfällt ihr. Denn anders weiß ich ihr räthselhaftes Verhalten nicht zu erklären. Der Sänger tritt auf, und sie bleibt dem großen Ereigniß dieses Winters fern. Ihr Papa, unser gnädigster Fürst, der Hof, die Stadt, wir alle sind begeistert; die Prinzessin hört uns über Leisewitz, liest die Zeitungen über Leisewitz, aber besucht keine Oper. Der Sänger wird ihr in einem Wohlthätigkeitsbazar vorgestellt, sie unterhält sich mit ihm aufs huldvollste, spricht von seinem Weltruhm und so weiter, aber vermeidet nach wie vor die Oper. Der Mann fühlt sich gekränkt, klagt über das rauhe Klima und meldet sich unpäßlich. Seine Heiserkeit versetzt die Stadt in tiefere Bestürzung als alle trüben politischen Nachrichten. Hoftheaterintendant von Sporn wendet sich an mich – wir entwerfen für die Sommerferien einen Kriegsplan. Da kommt uns die Prinzessin selbst zuvor. Leisewitz soll vor ihr singen, der Fürst überrascht werden und so weiter. Die Nachricht läßt den Sänger sofort genesen, und so werden Sie heute abend – Sie wie die Prinzessin zum ersten Mal – unsern ,Schwan‘ singen hören!“
„Macht die Laune der Prinzessin öfter solche Sprünge?“
Der Hofmann, der eine zarte weiße Haut hatte, wurde dunkelroth. „Mein lieber Doktor, Sie besaßen schon auf dem Gymnasium eine erstaunliche Aufrichtigkeit, und im Umgang mit Yankees und Indianern scheinen Sie nicht – vorsichtiger geworden zu sein.“
„Wir zwei brauchen doch einander nichts weiszumachen, wir sind keine Auguren. Wenn ich hier nützlich werden soll, muß ich die Wahrheit wissen. Warum zum Beispiel ist unsere Prinzessin schwermüthig?“
„Ist Hoheit nicht lungenleidend?“
„Ah bah, ein Emphysem, mit dem man hundert Jahre alt werden kann! Sie ist schön, geistvoll, gemeine Sorgen sind ihr unbekannt, die Ihrigen tragen sie auf den Händen – wo also liegt der Grund zur Schwermuth? Und mir knüpft sich eine [462] andere Frage daran: warum hat Prinzessin Erna nicht geheirathet? Sie wird kaum zehn Jahre jünger sein als wir.“
„Die Umstände waren für Hoheit in ihrer ersten Jugend nicht günstig; es gab keine passende Partie für sie. Dann verordneten die Aerzte der Zarten einen ländlichen Aufenthalt im Süden, und unsere durchlauchtigste Fürstin zog mit ihrer Tochter an den Gardasee. Und nun kam eine unglückliche Zeit für die Prinzessin. Ihre Mutter fiel in eine schwere Krankheit – starb. Seitdem neigt Hoheit zur Einsamkeit. Sie kann sehr heiter sein, doch im großen und ganzen – hier – aber ist es denn möglich? Der selige Hofrath – er hätte Ihnen nichts mitgetheilt? Keine Rathschläge, keine Winke gegeben?“
„Nichts. Ich habe auf der Hochschule seine Vorlesungen gehört; später war ich ein paar Jahre lang Hilfsarzt in seiner Klinik. Herzlich sind wir uns niemals näher getreten. Dann schloß ich mich der Expedition Mr. Lloyds an. Zum Briefschreiben hatte ich während unserer Reisen keine Zeit. Als ich nach fünfjähriger Abwesenheit vor kurzem hierher zurückkehrte, kam ich mir wie ein Fremdling vor. Indes, dem alten Hofrath wollte ich meinen Besuch machen, wurde aber nicht angenommen; der Aermste lag im Sterben. Mit dem Ordnen meiner Sammlungen Tag und Nacht beschäftigt, erhielt ich die Nachricht von seinem Tode und gleich darauf die überraschende Mittheilung des Hofmarschallamtes, daß der alte Herr zu seinem Nachfolger mich empfohlen habe. Ich stand auf dem Markt und war glücklicherweise im Besitz eines Frackes. So stellte ich mich denn Seiner Hoheit vor und so kam ich zu Amt und Würden wie der Blinde zum Schützenpreis.“
Aschau nickte. „Auch ich war – natürlich angenehm – überrascht. Sind Sie doch dem Seligen in keinem Stück ähnlich. Er war bedächtig, zurückhaltend, fast schüchtern. Schüchtern sind Sie meines Wissens nie gewesen.“
„Niemals!“
„Auch in der Erscheinung sind Sie so vollständig anders als der Hofrath – vom Alter ganz abgesehen. Er war klein, schwächlich, farblos. Sie sind groß und breitschulterig, braun, bärtig, ein Gewaltmensch. Aber lassen wir die Vergleiche! Gleichviel wie Sie hierhergekommen – Sie sind nun hier, und, wie gesagt, ich freue mich dessen ungemein. – Also Mitte Juli brechen wir nach der großen Seestadt Wörde auf? Ist Ihnen Wörde bekannt?“
„Nur vom Hörensagen und aus Fachberichten. Ein unbedeutendes Städtchen, aber in hübscher und gesunder Lage. Uebrigens lebt unser Landsmann und Schulfreund Lenz dort als Kapellmeister.“
„Lenz, Lenz – ich erinnere mich nicht.“
„Was, Sie erinnern sich des ‚armen Robert‘ nicht, des guten sanften, etwas einfältigen Robert?“
„Nein, wirklich nicht. Aber wenn es in Wörde einen Kapellmeister giebt, ist auch eine Kapelle dort. Wir werden also nicht nur Hausmusik, sondern sogar Konzerte haben. Unser herrlicher Leisewitz nämlich verbringt seinen Urlaub ebenfalls in Wörde. Eine Kriegslist von uns –“
„Ich will Seeluft, Seebäder für die Prinzessin – keine Musik!“
„Keine Musik?“ rief Aschau erschrocken. „Das setzen Sie nicht durch! Unsere Gebieterin, wir alle leben und weben in der Kunst! Uebrigens ist mir nicht bange. Wenn Sie ihn erst singen hören, unseren Leisewitz – heute abend, im Palmenhaus sprechen wir uns wieder!“
„In der blauen Grotte –“
„Wissen Sie auch schon davon? Maler und Techniker mußten auf Befehl Ihrer Hoheit ganz im geheimen wirthschaften. Für die blaue Grotte kann ich also in keiner Weise einstehen, aber vom Sänger bin ich überzeugt, daß er Sie bezaubern wird! Achtung – der Lakai verläßt seinen Posten; unser gnädigster Fürst ist angekommen.“ Er stand auf und gab dem Diener die leere Tasse. „Beiläufig, lieber Doktor, wenn Ihnen an der Freundschaft der Contessa Casasola liegt, so müssen Sie für die italienische Oper alten Stiles schwärmen, und wenn Sie es mit Frau von Schönfeld nicht verderben wollen, zu Wagner schwören!“
Der Doktor zuckte zur Antwort nur abwehrend die Schultern. Und doch würden wohl wenige Männer über Gunst und Ungunst der drei Frauen, die jetzt die Stufen herunterkamen, so kühl wie Doktor Walter gedacht haben, obschon keine mehr in der ersten Blüthe stand. Die Gräfin Casasola verrieth ihre italienische Abstammung sofort, schon dadurch, daß sie ihrer Vorliebe für Geschmeide und ungebrochene Farben keinen Zwang anthat. Sie trug ein rothes Kleid, das gut zu ihrem kohlschwarzen Haar und ihren lodernden Augen paßte. Die Greisin war lebhaft, auch wenn sie schwieg, während Frau von Schönfeld, die zweite Hofdame, die blond, groß und hager war, kalt blieb, selbst wenn sie ihren Liebling Wagner vertheidigte. Die dritte, Prinzessin Erna, war um einiges älter als ihre Begleiterinnen. Doch würde sie jedermann – wenigstens auf den ersten Blick – für die jüngste gehalten haben. Sie hatte ein rundes, blasses Gesicht, ein liebes Gesicht, sagten alle, doch über die räthselvollen braunen Augen war das Urtheil derer, die der Prinzessin nahe standen, sehr verschieden. Einigen blickten sie zu starr, andere fanden sogar, daß sie einen lauernden Ausdruck hätten, die meisten waren von dem schwärmerischen Strahl und feuchten Glanz entzückt. Der nüchterne Walter fand als das Besondere dieser Augen, daß sie zuweilen schielten, allerdings kaum merklich schielten.
„Papa!“ rief die Prinzessin jetzt von der letzten Stufe der Treppe aus, „welche Ueberraschung!“
Der Fürst, der eben aus dem Baumgang trat, war ein schöner alter Herr, von guter Haltung und leichtem Gang. Vater und Tochter begrüßten sich mit stürmischer Zärtlichkeit, als ob sie sich monatelang nicht gesehen hätten. Dann wandte sich der Fürst an das Gefolge; er richtete einige freundliche Worte an die Damen, musterte die Herren und fragte dann nach Doktor Walter. Der Arzt stand noch unter dem japanischen Schirm. Rasch trat der Fürst mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, schüttelte ihm die Rechte und sagte mit lauter Stimme: „Lieber Doktor, ich bin mit dem Vermächtniß des Hofraths außerordentlich zufrieden. Meine Tochter sieht seit einigen Tagen vortrefflich aus.“ Leise setzte er hinzu: „Seien Sie beharrlich in Ihren Anordnungen. Wenn wir Männer fest bleiben, so sind die Frauen Engel.“
Die Prinzessin schien eine Unterhaltung ihres Vaters mit Doktor Walter nicht zu wünschen. Wenigstens sahen die Ihrigen den Zug um ihre Mundwinkel, der für sie das Warnzeichen der Unzufriedenheit war. Sie brach ihr Gespräch mit dem Hofmarschall plötzlich ab und näherte sich jenen beiden. „Lieber Papa –“
Es lag etwas in ihrem Ton, das ihren Vater beunruhigte. „Herr Doktor Walter ist mit Deinem Befinden sehr zufrieden,“ sprach er rasch.
„Wirklich?“
Der Arzt verneigte sich schweigend.
Sowie die Prinzessin jetzt am Arm des Vaters hing, war ihre Verstimmung vorüber. Sie blickte sich mit einem vergnügten Lächeln um. „Ich mache einen Spaziergang mit Dir – kommst Du mit mir in das Palmenhaus?“
„Wenn Du wünschest –“
„Und dort, was thun wir dort?“
„Je nun, Du giebst mir eine Tasse Thee und wir plaudern.“
„Hast Du in der That keine Ahnung?“
„Wovon, liebe Erna?“
Sie ließ seinen Arm los, um in die Hände zu klatschen. „Meine Damen und Herren,“ rief sie, es ist mir das Unglaubliche gelungen, mein Geheimniß zu bewahren.“ Sie legte den Finger auf den Mund des Fürsten. „Nicht weiter fragen, lieber Papa! Wir gehen spazieren bis es dunkelt; und dann – st! ich verrathe nichts.“
Der Fürst bot, indem er den Arzt mit einem Augenwink einlud, sich anzuschließen, Erna aufs neue den Arm. Vater und Tochter gingen voran, ein paar Diener bildeten die Nachhut; der lose Schwarm der anderen nahm die Breite des Weges ein.
Während sie noch im Baumgang waren, traten der Hoffourier Stenzel und der Kammerdiener Brausewein auf die Treppe. Stenzel richtete den Blick gen Himmel, „Ich habe Zeit,“ sprach er. „Bevor es Nacht wird, fangen wir nicht an. In der Grotte ist alles fix und fertig, und Herr Leisewitz ist auch schon da.“
Der andere hatte aufmerksam den Lustwandelnden nachgesehen, jetzt lächelte er befriedigt. „Das Kleid der Gräfin ist doch um einen Ton heller als unsere Rothröcke. Allerdings nur für ein geübtes Auge.“ Er hatte das geübte Auge; Herr Brausewein war nämlich in seinen Mußestunden Maler. Die Gesellschaft unter den Bäumen zog ihn nun nicht mehr an, er wandte sich wohlwollend zu seinem Begleiter. „Haben Sie für die Grotte endlich das richtige Blau?“
„Ich bin selbst in der Grotte bei Capri gewesen; Sie können mir also glauben: wunderbar! Wollen Sie sich nicht jetzt schon persönlich davon überzeugen?“
[463] „Nein, nein, ich will warten, bis ich das Werk vom richtigen Stanbpnukt aus betrachten kann. Wird Leisewitz im Kostüm singen?“
„Bewahre! Er steht wie wir in der Nische und singt dort ein Lied. Gestern bei der Hauptprobe hörte ich Leisewitz zu dem Maler sagen, daß das Lied höchsteigene Komposition unserer Prinzessin sei.“
„Ah, deshalb saßen wir Tag und Nacht am Flügel! Das wird ein theures Lied!“ – –
Die Prinzessin hatte inzwischen ihrem Vater erzählt, wie sie den Tag verbracht habe: zum größten Theil mit Briefschreiben.
„Strengt Dich das viele Schreiben nicht an?“
„Weit weniger als reden, lieber Papa. Und schreibend kann ich mich aussprechen, ohne die erstaunten oder lauernden Mienen meiner Zuhörer zu sehen.“ Sie wandte sich um, ob die Ihrigen in gebührender Entfernung seien, und fuhr dann leise fort: „Findest Du die Augen des neuen Doktors nicht unangenehm, Papa? Es sind Augen, von denen man sagt, sie könnten durch ein eichenes Brett sehen. Und er scheint eingebildet darauf zu sein – er verfolgt mich förmlich mit diesen Augen.“
„Rede Dich in kein Vorurtheil gegen den Mann! Ich halte ihn für tüchtig und brav.“
„Er fragt soviel.“
„In seinem Beruf!“
Erna schwieg verstimmt, bis sie am Ende des Baumganges waren, wo sie der Fürst fragte, ob sie nach rechts oder links wolle. Sie blieb zaudernd stehen, sah zum Himmel auf, der jetzt die Farbe eines blassen Smaragdes hatte, und sagte zuletzt: „Ich fühle mich, ich weiß nicht warum, müde. Wenn Du nichts dagegen hast, halten wir auf dem Boccia-Platz eine kurze Rast.“
„Weil Du Dir zu wenig Bewegung machst, ermüdet Dich die kleinste.“
„Du bist heute hart gegen mich.“
„Wahrhaftig nicht. Komm! Es ist noch hell und der Boden dort trocken. Herr Walter soll sich Dir von seiner besten Seite zeigen und etwas von seinen Reisen erzählen.“
„Nicht doch, Papa! Ich habe Dich so selten für mich – verkürze mir dies Vergnügen nicht!“
Felix Walter schlenderte schweigend neben den anderen her. Ihre halblaute Unterhaltung drehte sich um irgend ein Hofereigniß, das ihn nichtig deuchte. Gräfin Casasola lachte einmal hell auf, erinnerte sich dann der Nähe des Landesherrn und summte aus Rossinis „Barbier“: Zitti, zitti! Piano, piano!“ Als man dann stille stand, wandte sie sich in ihrer raschen, fast sprunghaften Weise an Walter. „Wie gefällt Ihnen Solitude? Natürlich außerordentlich! Kennen Sie die Lombarbei?“
„Wenigstens die große Heerstraße.“
„Nun, an der großen Heerstraße zwischen Brescia und Bergamo steht das Schloß meiner Ahnen. Aber die Bekanntschaft unserer Prinzessin habe ich auf unserem Landsitz am Gardasee gemacht. Geben Sie zu, daß dort eine Juninacht noch schöner als hier ist?“
„Ich stelle niemals Vergleiche an; ich feiere die Feste, wie sie fallen.“
„Empfindsam sind Sie also nicht. Musikalisch? Warum lachen Sie?“
„Weil man dieser Frage hier niemals und mit niemand entgeht. Ich bin hier Saul unter den Propheten, Gräfin, denn ich verstehe wenig oder nichts von Musik. Doch ich werde mich bilden.“
„Bravo! Haben Sie Leisewitz gehört?“
„Das ist die zweite unvermeidliche Frage. Nein, Gräfin. Aschau sagt mir, daß ich vielleicht heute noch –“
„St, das dürfen wir ja nicht wissen! Ich war immer der Meinung, daß nur die Italiener singen könnten. Da hörte ich ihn! Zwar wird dies und das über seine Herkunft gemunkelt, aber jedenfalls ist er ein Deutscher. Und seine Kunst ist ebenso wunderbar wie seine Stimme. Die Luft wird Wohllaut, wenn er singt, wir schweben und schwelgen.“
Da der Zug sich wieder in Bewegung setzte, nahm Livia Casasola unbefangen den Arm des Arztes; ihre freie Hand spielte mit dem Fächer. Sie blieben hinter den anderen zurück, denn die Gräfin stand still, wenn sie sprach, und blickte dabei ihren Begleiter an. „Wie ich fürchte,“ fuhr Livia fort, „ist aber dieser Leisewitz, bei all seiner Kunst, im Leben ein großes Kind. Nun lösen Sie mir das Räthsel: wie verträgt sich kindisches Wesen mit starkem, tiefem Gefühl? Oder legen wir in seinen Gesang das hinein, was er nicht giebt? Jedenfalls ist Leisewitz doch ein großer Sänger – nebenbei gesagt, auch ein schöner Mann.“
„Das ist der erste Tenor ja immer. Was ihm dazu fehlt, wird ihm von den Damen zugelegt.“
„Nein, nein, in diesem Punkt urtheile ich kühl. Da! Die Prinzessin biegt nach dem Palmenhaus ab, das heißt, die Ueberraschung beginnt und der Spaziergang hat ein Ende. Schade!“
„Ich habe eine Bitte, Gräfin. Wenn ich wieder Ihr Begleiter sein darf, erzählen Sie mir von Ihrer ersten Bekanntschaft mit der Prinzessin!“
Miene und Haltung des schönen Mädchens waren plötzlich verändert. „Ich würde Ihnen nichts erzählen können, Signor Dottore,“ sagte sie kühl. „Zwar ist es noch nicht sehr lange her, immerhin lange genug. Ich spielte noch mit der Puppe, und Ihre Hoheit war, was die poetischen Deutschen einen ‚Backfisch‘ nennen. Jene Zeit liegt hinter mir wie ein Traum. Aber wir müssen uns eilen, kommen Sie, Dottore!“
Das Palmenhaus, ein hoher Eisenbau, wurde wie Schloß und Park mit einbrechender Dunkelheit elektrisch beleuchtet. Palmengruppen nahmen den halben Flächenraum ein, ein kleiner Teich und ein Rasenhügel die andere Hälfte. Dieser Theil des Innern war heute den Eintretenden durch einen Vorhang verdeckt, durch bemalte Florgewebe, die leichtes lichtes Morgengewölk darstellten. Davor standen Stühle wie vor einer Bühne. Als die Gesellschaft, von der Prinzessin aufgefordert, Platz genommen hatte, versank der Palmenhain in jähe Finsterniß. Dagegen erschimmerte der Vorhang in einer sanften Helle; er theilte sich, und die Zuschauer blickten in eine „blaue Grotte“. Aus dem lichtblanen Wasserspiegel, über den elektrische Funken wie Wellen blitzten, stiegen hüben und drüben feuchtschimmernde Felsen auf, die sich zu einer sanften Wölbung zusammenschlossen; Tropfsteine hingen als Zierat herab und Krystallgebilde ragten wie Pfeiler empor; der Hintergrund verlor sich in tiefblaue Dämmerung. Die Täuschung, die der Kunst möglich ist, war erreicht; es war nicht die Grotte von Capri, aber die anmuthigste Theaterdekoration, die man sich vorstellen konnte.
„Das ist Dir gelungen, liebe Erna,“ sagte der Fürst, „wahrhaftig gelungen! Ich bin erstaunt –“
Die Herren murmelten Beifall. „Sehr hübsch,“ sagte halblaut Frau von Schönfeld. „Nur hübsch? Wundervoll !“ jubelte die Casasola, und ihre Freude war aufrichtig. Da erklang im geheimnißvollen Hintergrund Mandolinenspiel, und dann sang eine Männerstimme:
„O wie sehn’ ich mich nach Süden,
Nach der Sonne Gnadenfülle,
Nach des Herzens Kirchenstille,
In des Lebens Blüthenreich!
O wie sehn’ ich mich nach Frieden!
Eine Tafel, unbeschrieben,
Ist mein Sein bis jetzt geblieben,
Aber endlich scheint das Licht.
Jetzt soll anders sich gestalten
Und sich warm und reich entfalten
Meines Lebens Festgedicht!“
Die Worte aus Ibsens nordischem Drama paßten nun freilich nicht für einen neapolitanischen Schiffer, doch wer nimmt es mit einem Liedertext so genau! Jedenfalls bot die Weise dem Sänger Gelegenheit, seine Stimme wie seine Kunst zur Geltung zu bringen. Und er war Meister seiner Stimme! Und welcher Stimme! Schön, wenn sie stieg und fiel oder wenn sie stark und mächtig dahinquoll; fähig, alle Empfindung auszudrücken, süße Traumseligkeit, schmerzliche Sehnsucht, glühenden Wunsch!
„– Jetzt soll anders sich gestalten
Und sich warm und reich entfalten
Meines Lebens Festgedicht!“
Der Sänger schwieg. Aber noch waren alle in seinem Bann, verzückt, regungslos. Nur Doktor Walter, der abseits saß, hatte dem Gesang kein Ohr geliehen, weil er ganz Auge für seinen Schützling war. Das Lied, das vielleicht ihrer eigenen Sehnsucht Worte gab, rührte Erna tief. Thränen standen in ihren Augen und stahlen sich über die Wangen. Als der Gesang verklungen war, blieb sie wie die anderen in sich versunken, als hörte sie noch die Stimme. Die Beleuchtung bleichte und entstellte alle Gesichter, dennoch entging es dem Arzte nicht, daß Erna jetzt plötzlich die Farbe wechselte. Ihre Lippen zitterten eigenthümlich, ihr Kopf neigte sich schwer – doch da war der Arzt schon bei ihr: er hielt die Ohnmächtige aufrecht.
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Nachdem Erna noch im Palmengarten sich erholt hatte, war sie ins Schloß gebracht worden. Die Herren ihres Hofstaates standen im Vorzimmer des Saales, in dem die Abendtafel hätte stattfinden sollen, und harrten, noch immer bestürzt und in aufrichtiger Sorge, auf Nachrichten aus dem Krankenzimmer. Endlich [464] erschien der Kammerdiener. Schon seine Miene ließ sie aufathmen Er berichtete, was ihm die Kammerfrau vertraulich mitgetheilt und was sie im Namen des Fürsten ihm offiziell aufgetragen hätte. Alle Gefahr sei vorüber, gegenwärtig schlafe die Prinzessin. Der Fürst, den Staatsangelegenheiten in die Residenz riefen, werde den Arzt zu einer letzten Besprechung im Saale empfangen; er verzichte für heute auf etwaige Glückwünsche zu dem Erfolg, den die Komposition seiner Tochter davongetragen habe.
„Ich danke Ihnen, Herr Brausewein,“ sagte Aschau, „Sie haben uns eine Last vom Herzen genommen.“
Der Kammerdiener verneigte sich. „Herr Leibmedikus Walter giebt der Schwüle im Palmenhaus, theilweise auch der ungewöhnlichen Beleuchtung schuld.“
„Er wird recht haben, sie war zu blau.“ „Die Herren Künstler sind noch im Palmenhaus,“ bemerkte Brausewein.
Aschau zuckte die Schultern. „Ja, was ist da zu machen – wenn Seine Hoheit zum Thee geblieben wäre, würden sie ohne Zweifel eingeladen worden sein, aber unter solchen Umständen – der Hofwagen, der sie hergebracht hat, soll sie wieber heimfahren.“
„Herr Kammersänger Leisewitz hat mich ersucht, Ihrer Hoheit sein Bedauern auszudrücken. Dem Herrn Hofmarschall soll ich melden, daß er morgen seinen Urlaub antritt.“
„Morgen! Was glauben Sie – wartet er vielleicht auf sein Honorar?“
„Ich glaube nicht, Herr von Aschau. Meines Wissens lebt er in wohlgeordneten, guten Verhältnissen. Auch reist er erst morgen abend ab.“
„Ah dann! Dann hat es ja bis morgen früh Zeit.“ Er sann vor sich hin. „Indessen – Sie wissen, wie sehr unser gnädigster Herr den Künstler schätzt – und ich kann augenblicklich nicht abkommen – wenn Sie ihm in meinem Namen alles Schöne und so weiter sagten, würde er das besonders hoch aufnehmen!“
„Sehr gern, Herr von Aschau.“
–
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –Der Saal, in dem der Fürst ruhelos auf und ab schritt, war das Kleinod des Hauses. Man hatte am Alten nichts geändert, auch die schönen glitzernden Kronleuchter gelassen. Es war der einzige Raum, der nur durch Kerzenlicht erleuchtet wurde. Dieser Unterschied in der Beleuchtung gab dem Saal abends ein besonderes Gepräge. Von der Decke grüßten die heiteren Farben eines reichen Freskogemäldes: es stellte eine Gesellschaft zierlich gekleideter weißgepuderter Rokokodamen dar. Sie lagerten auf einem Blumenrasen und lauschten einem kleinen Faun, der, derb und braun, mitten unter den Rosigen auf einem Säulenstumpfe saß und auf einer Rohrflöte blies. Dem Haupteingang gegenüber lag die Fensterwand, in geschwungener Linie eine Nische bildend, einen überdachten Austritt oder verglasten Erker. Dort stand der Tisch für die Abendtafel, mit kostbarem Geschirr, Blumen- und Fruchtschalen und vielarmigen Rokokoleuchtern beladen.
Eine fürstliche heitere Pracht überall! Nichtsdestoweniger fühlte sich der Hausherr in dieser Stunde genan so unglücklich wie irgend ein besorgter Vater in einer Dachkammer.
Als der Arzt in der Thür erschien, eilte ihm der Fürst entgegen. „Nun? Was sagen Sie?“
Doktor Walter, der als thatkräftiger Mann ein Feind feierlicher Amtsmiene und wichtigthuender Zurückhaltung war, erwiderte so gelassen wie zuversichtlich. „Der Schlaf ist fest und ruhig. Unsere gnädigste Prinzeß wird sich morgen vollständig erholt haben.“
„Glauben Sie? Sind Sie dessen gewiß?“
„So gewiß ein Arzt seiner Sache sein kann, ja.“
„Mein Sohn, der Erbprinz,“ fuhr der Fürst fort, immer noch beunruhigt, „hat mich gebeten, ihm während seiner Reise genaue Nachrichten über Ernas Befinden zu geben. Darf ich ihm diese Unpäßlichkeit verschweigen?“
„Der Vorfall wird keine Folgen haben, Hoheit.“
„Und jede Gefahr für mein Kind ist vorüber?“
„Es kommt darauf an, welche Gefahr Hoheit meint.“
Die Blicke beider ruhten ineinander, dann seufzte der Fürst aus tiefster Brust. „Kommen Sie,“ sagte er leise.
Sie traten in den Erker und nahmen etwas abseits von der gedeckten Tafel Platz, einander gegenüber, beinahe Knie an Knie. „Ich hatte die Absicht,“ begann der Vater Ernas, „Sie mit mir in die Residenz zu nehmen, aber mein Gott – dort erwarten mich Sorgen, die mir ebenso wichtig sein müssen wie die Sorge hier.“ Er fuhr mit der Hand über die Stirn. „Die Zeiten sind schwer, lieber Herr! Ein fürchterlicher Krieg droht, sein Ausgang ist unberechenbar. Und dazu dieses Elend daheim! – Was wollte ich sagen? – Ja, hier ist der beste Ort und heute muß es sein. Ich habe Vertrauen zu Ihnen und hätte mich Ihnen schon am ersten Tage entdecken sollen, aber – – verzeihen Sie mein Zaudern!“ Er schöpfte tief Athem. „So hören Sie denn,“ sagte er dann zu dem gespannt aufhorchenden Arzte. „Es hat sich mit jener italienischen Reise Ernas und ihrer Mutter anders verhalteln, als alle Welt glaubt. Allerdings war mein Kind von schwankender Gesundheit, schnell aufgeschossen, blutarm, indes dies allein war nicht der Grund der Trennung, die für die Fürstin und mich eine ewige – nein, keine ewige, aber eine Trennung für dieses Leben geworden ist! Ach, wir haben uns geliebt!“
Nach einer Weile fuhr der Fürst fort: „Die Wahrheit ist, daß nicht die Tochter, sondern die Mutter die Kranke war. Sie war – erlassen Sie mir das schaudervolle Wort über die Unvergeßliche!“ Sein Athem ging schwer, seine Stimme sank fast zum Flüstern herab. „Meine erste Frau war gestorben, nachbem sie dem Erbprinzen das Leben gegeben hatte. Zwei Jahre darauf vermählte ich mich mit meiner Base Helene. Diesmal war es ein Herzensbund. Wir lebten jahrelang glücklich. Aber auf dieses Glück vielen schon die Schatten; es gab Tage, welche mich die schreckliche Wende ahnen ließen. Und dann wurde die Ahnung zur Gewißheit. Dank der Klugheit und Festigkeit einiger Getreuen gelang es mir, der Welt mein häusliches Unglück zu verbergen. Der Arzt hiltt die Umnachtung meiner Gattin für unheilbar; ich hoffte immer noch. Nach schweren Kämpfen willigte ich in ihre Entfernung. Ich hatte an meinem Hofe den Vater unserer Comtesse Livia, den Grafen Casasola, als Gesandten kennengelernt. Er galt mir damals als das Muster eines feinen Weltmannes. Ich wandte mich in meiner traurigen Lage an ihn, und er nahm Mutter und Kind samt dem bescheidenen Gefolge in sein Haus, in seine Familie auf. Er und die Seinen mußten – ich erfuhr es vom Arzt – von der Fürstin oft Schweres ertragen. Sie ertrugen mit himmlischer Geduld, denn sie hatten den höchsten Begriff von Gastfreundschaft. Erna zeigte sich tapfer, klug, brav . . . überdenken Sie, was sie in jener Zeit gelitten! Und ich, ich“ – er sprang auf – „ich war damit einverstanden, daß sie sich opferte – ich opferte mein Kind!“
„Mein theuerster Fürst,“ sagte Walter warm, „wenn Ihr Entschluß, der erste Schritt nothwendig war – und es dünkt mich so – sind Sie für die Folgen nicht verantwortlich. Was konnten Sie thun?“
„Was ich hätte thun müssen: meine Tochter zurückrufen und mich selbst mit dem Arzt in die Pflege thellen.“
„Sie würden weder das Herz der Tochter, noch das Schicksal der Mutter erleichtert haben.“
Der andere wies die Vertheidigung mit einer Handbewegung zurück. „Das Ende kam jählings – schrecklich. Graf Casasola rief mich schonend an ein Sterbebett – bei meiner Ankunft fand ich einen Sarg. – Sie werden mir glauben, daß ich, wieder in der Heimath, alles gethan habe, um mein Kind jene zwei Jahre vergessen zu machen. Umsonst! Sie war liebevoll zu mir, doch nichts, nichts verwischte und verlöschte ihre Erinnerungen. Und dann – dann entdeckte ich, daß nicht nur das Andenken an die Mutter in ihrem Gemüthe, sondern daß die Mutter selbst in ihr fortlebt! Zwischen dem Arzt und mir war Einverständniß ohne Worte. Ernas unüberwindliche Schwermuth, ihre Reizbarkeit heute, ihre Gleichgültigkeit morgen, hundert Erfahrungen beweisen mir, daß die Dämmerung wächst – und unaufhaltsam kommt die Nacht!“
„Nein!“ rief feurig Walter, „ich gebe die Hoffnung nicht verloren!“
„Vererbung!“ versetzte dumpf der Fürst. „Ach, ich habe mich in dieses Wort vertieft; ich kenne es nach seinem ganzen Inhalt!“
„Schlagwörter treffen nicht immer ins Schwarze. Nicht nur aus der geistigen Veranlagung, auch aus den Lebensschicksalen erklärt sich so manches. Jetzt kenne ich das Schicksal Ihres Kindes, und Wissen ist halbe Hilfe. Mein Fürst, ich bin ein schlichter Mann, aber ein redlicher Arzt. Ich wiederhole Ihnen: ich gebe den Kampf nicht auf!“
Da warf sich der Fürst, von seinen Empfindungen überwältigt, dem Arzte schluchzend an die Brust.
Nahe der See, die unter dem Sommerhimmel nur leise athmete, auf einem umgestürzten Fischerboot saß ein junger schöner Mann und klimperte auf einer Mandoline; es war Herr Hofopern- und Kammersänger Siegfried Leisewitz. Er trug einen abenteuerlichen Sommeranzug, das Werk eines Pariser Schneiders, und auf dem braunen Lockenhaar – die Locken waren das Werk seines Kammerdieners Purzel – einen verfeinerten Südwester. Um ihn im Halbkreise stand eine dichte Schar barfüßiger Dorfkinder – der Delphinenschwarm um den modernen Arion. Er klimperte und sang eine italienische Barcarole. Als er geendigt hatte, schwang er sich herab und rief fröhlich: „Und nun, Ihr baltischen Nixen und männlichen Meerungeheuer, sagt: wie hat Euch dieses Lied gefallen? Sprecht Euch aus, ich bin gegen alle Kritik gefeit, ein hörnerner Siegfried ohne Achillesferse. Sprecht!“
Die Buben und Mädchen grinsten oder kauten verlegen an den Fingern, dann fing ein Knirps zu kichern an, andere fielen ein, zuletzt brachen alle in ein unbändiges Gelächter aus. Er aber zog lustig den Hut und verbeugte sich.
„Euer Beifall rührt mich. Hier“ – er griff in die Tasche und warf eine Handvoll Nickelmünzen unter sie, die sich alsbald darum im Sande balgten und pufften – „hier die Reste eines königlichen Vermögens! Vergeudet sie, obzwar ich nicht weiß, wie das hier möglich ist. Aber das kindliche Gemüth ist erfinderisch. Und nun fort, und wenn Ihr alt und grau seid, erinnert Euch, daß Ihr ihn gesehen, gehört und vierzehn Tage lang besessen habt, den letzten großen Sänger, Siegfried Leisewitz!“
Seine Mahnung war überflüssig, der Kinderschwarm wirbelte zankend und sich zerrend weiter und weiter, dem Dorfe zu, das zwischen der zerklüfteten waldbestandenen Düne lag. Leisewitz hing seine Laute über die Schulter und rief einem Manne zu, der weitab im nassen Geröll stand und meerwärts blickte. Dieser folgte dem Rufe sogleich und gesellte sich zu dem Sänger.
Neben dem hochgewachsenen breitschulterigen Leisewitz machte der andere, der städtische Kapellmeister Robert Lenz, einen dürftigen Eindruck. Er war mittelgroß und leidlich hübsch. Man erkannte auf zwanzig Schritte den Deutschen, während sich Leisewitz getrost für einen Romanen ausgeben konnte. Lenz war ein tüchtiger Musiker, und das eine und andere „Opus“ pon ihm hatte einen Verleger und wohl auch eine kleine gläubige Gemeinde gefunden. Wegen dieser bescheidenen Anfänge indes würde ihn der gefeierte und verwöhnte Leisewitz kaum seines Umganges gewürdigt haben. Allein im Fischerdorf war Lenz die einzige Gesellschaft. Unter Tages brachte nur die liebe Jugend, die Schulferien hatte, einiges Leben in das Dorf – die Männer waren auf der See, die Frauen auf den Feldern oder am Webstuhl; abends ging alles mit den Hühnern schlafen. Den dunklen Vorstellungen von einer „Idylle am Meer“, die Leisewitz verlockt hatten, die paar Wochen bis zur Ankunft der Prinzessin nicht im Seebad Wörde, sondern in dem benachbarten Wahndorf zu verleben, entsprach die Wirklichkeit nur wenig. Ohne Lenz, der sich in die Einsamkeit begeben hatte, um zu arbeiten, würde Leisewitz nach den ersten drei Tagen geflohen sein; glücklicherweise war jener ein guter Kamerad.
„Undankbarer!“ redete Leisewitz den Ankommenden an, „ich singe mit meiner schönsten Stimme, und Sie patschen im Nassen und kümmern sich den Kuckuck um den Sänger.“
„Ich blieb immer in Hörweite, lieber Herr Leisewitz. Während Sie die ‚Meerfahrt‘ sangen, kam ein Dampfer in Sicht, tauchte auf und verschwand in fröhlicher Fahrt, und das machte sich sehr hübsch.“
„Da sind Sie glücklicher als ich. Ich habe auf diesem fluth- und ebbe- und salzlosen Wasser noch kein ordentliches Schiff gesehen,“ sagte Leisewitz gähnend. „Wie viel Uhr haben wir denn?“ Er zog aus der bunten Schärpe, die er anstatt einer Weste trug, eine diamantenbesetzte Uhr. „Ein Geschenk des Großsultans,“ ließ er einfließen. „Zehn Uhr vorüber! Um Elf holt uns der Wagen des Sonnenwirths ab. Es bleibt dabei, Sie fahren mit!“
Robert nickte vergnügt.
Und der Knecht schafft nachmittags unser Gepäck in die Stadt. Und wenn Sie Ihr altes Klavier nicht in den Dorfkrug stiften wollen –“
„Sie sind ein Spaßvogel, Herr Leisewitz.“
„– so hat auch das noch auf der Karre Platz. Wir aber sind um Zwölf in Wörde und haben gerade noch Zeit, uns zur Wirthstafel in der ‚Sonne‘ umzukleiden. Denn daß Sie heute mein Gast sind, versteht sich von selbst.“
Robert nickte wieder, ganz roth vor Vergnügen und Verlegenhelt.
„Das Packen wird von meinem Kammerdiener besorgt,“ fuhr Leisewitz fort, „doch was machen wir?“ Er sah gelangweilt umher. „Es ist zu warm, und der Seespiegel und die weißen Ufer blenden mich. Kommen Sie mit auf die Düne! Aber, liebenswürdigster Maestro, einen Gefallen: rauchen Sie nicht! Die Luft ist das einzige Gute hier, und Ihre Cigarren – nehmen Sie mir meine Offenherzigkeit nicht übel – Ihre Cigarren riechen verrucht!“
Auf der bewaldeten Düne unter jungen Buchen standen Tisch und Bank. Leisewitz schwang sich auf den Tisch, so daß er die Sonne und das blitzende Meer im Rücken hatte, und benutzte den Sitz, auf dem sein Begleiter Platz nahm, als Fußbank.
„Es thut mir leid,“ begann Robert, „daß Ihnen der Aufenthalt hier so ganz und gar nicht gefallen hat.“
„Der Name dieses Nestes verführte mich; er erinnerte mich an Richard Wagner und seine Lehre vom Wahn. Gerade unsere edelsten Empfindungen wurzeln nur im menschlichen Wahnvermögen. Wahn, überall Wahn! Das stimmt! Hoffentlich sind auch Sie dieser Ansicht.“
„Hoffentlich werde ich niemals dieser Ansicht sein,“ erwiderte Robert. „Doch wie dem auch sei – ich muß dem Philosophen Wagner dankbar sein, denn mir werden diese vierzehn Tage unvergeßlich bleiben!“
„Sie sind ein guter Junge, alter Freund! Uebrigens, wie alt sind Sie denn eigentlich?“
„Gestern feierte ich meinen zweiunddreißigsten Geburtstag.“
„Feierten? Sagen Sie, wie man das hier möglich macht! Haben Sie vom Göttertranke ,Frank und Söhne‘ eine Schale mehr getrunken?“
Der andere lächelte verschmitzt. „Der Trank, den unsere Wirthin braut, dankt seine Kraft nicht ‚Frank und Söhne‘, sondern Fritz Hagemann und Kompagnie. Aber gefeiert hab’ ich meinen Geburtstag – und wie gefeiert! Erinnern Sie sich, daß ich Sie vorgestern abend bat, mir das neukomponierte Lied meines ,Tasso‘ zu singen; Sie wissen, im letzten Akt kurz vor der Wende:
,In Deinem Haar die blasse Rose –‘
und Sie Ahnungsloser erfüllten meinen Wunsch und sangen, sangen wie ein Gott! Konnte der Vorabend schöner sein?“
„Ei, ei, solche Scherze treiben Sie mit mir!“
„Und dann, wahrhaft begeistert, brachte ich während der Nacht das Finale der Oper zu Papier. Und als ich die letzten Noten hingeworfen hatte, brach der Morgen an. Ich ging ans Meer. Himmel und Erde kamen mir festlich vor – ich hörte Sonntagsglocken den ganzen Tag.“
„Eigentlich sollten Sie erst zwanzig Jahre zählen. Sie haben noch soviel jugendliche Begeisterung.“
„Und Sie, der wahrhaft große Künstler, etwa nicht?“
„O doch – das heißt, wenn ich auf der Bühne stehe oder in einer glänzenden Gesellschaft vor einem Schwarm schöner Mädchen und Frauen – dann wohl. Aber wie Sie in Wörde ausdauern konnten, ohne daß die Sonntagsglocken einen Sprung bekamen, ist mir unbegreiflich.“
„Nun, ein Krähwinkel ist Wörde denn doch nicht. Und was die schönen Frauen anbelangt, so kann man ja nur für eine schwärmen, und die ich meine, ist schön!“
„Ah, das ist stark! Vierzehn Tage lang reden Sie mir nur von Gesang, niemals von Wein und Weib – also doch Don Juan, aber heimlich!“
Robert schüttelte traurig den Kopf und sagte einfach : „Hoffnungslos!“
Leisewitz strich seinen Schnurrbart. „Am Ende bilden Sie [479] sich das nur ein. Wenn Ihr Name erst bekannt wird, wenn Sie berühmt sind –“
„Du lieber Himmel!“
„Warum nicht? Ihre Oper ist eine sehr achtbare Arbeit, allerdings eine Erstlingsarbeit, aber vielversprechend, voll Talent – Maëstro, als nachträgliches Geburtstagsgeschenk gebe ich Ihnen das Versprechen, für Ihr Werk ins Zeug zu gehen. Mein Chef ist zwar kein Licht aber ich habe Einfluß. ‚Excellenz,‘ werd’ ich sagen, ‚die Talente sind heutzutage dünn gesät – hier ist eins; greifen wir ihm unter die Arme! Der Erfolg eines Bühnenwerkes ist allerdings unberechenbar, doch nach meinem Gefühl, nach meiner Erfahrung erringen wir mit ‚Tasso‘ einen schönen Erfolg.‘“
„Das würden Sie –“
„Das werde ich sagen! Beiläufig, haben Sie Feinde in Ihrer Vaterstadt?“
„Ich? Nein!“
„Warum sind Sie dann aus Ihrer Heimath verzogen?“
„Ach, das ist eine traurige Geschichte! Ich war schon als vaterlose Waise – doch das ist für einen Mann wie Sie nur langweilig.“
„Warum? Der Künstler kann niemals genug Erfahrungen sammeln. – Aber einen Augenblick, lieber Maëstro! Bitte, nehmen Sie die Mandoline, ich will mich nur in eine bequemere Lage bringen – so!“ Er streckte sich auf den Tisch, zog die Beine ein und legte den Kopf in die aufgestützte Hand. „Es ist zwar kein Diwan, aber in Wahndorf – bitte, erzählen Sie!“
Und Robert Lenz begann seine Lebensgeschichte, die alte Geschichte aller mittellosen Kunstjünger, die erst um den Ruhm ringen und dann um das Brot kämpfen. Er war noch lange nicht bei seiner Uebersiedlung nach Wörde angelangt, als er bemerkte, daß Leisewitz trotz seiner unbequemen Lage den Schlaf des Gerechten schlief. Es verletzte ihn nicht. Der unsterbliche Goethe läßt die reizende Marianne bei den Jugendgeschiehten ihres Geliebten entschlummern; wie kann ich verlangen, daß meine kleinen Fahrten und Erfahrungen einen Weltmann und Weltberühmten wie Leisewitz anziehen, dachte er, freundlich lächelnd, und setzte seine Erzählung in Gedanken fort. Und plötzlich ging es wie Verklärung über sein Gesicht und er sagte laut: „Emma!“
„Ja,“ antwortete Leisewitz und raffte sich auf. „Beinahe wär’ ich eingeschlafen. Die Hitze, die Stille – wovon sprachen wir eben? Bei Gott, ich habe geschlafen, bin ganz in Schweiß – und gerade jetzt beginnt es zu wehen!“ Er schlang rasch ein Tuch von himmelblauer Seide um den Hals. „Ach, lieber Maëstro, danken Sie dem Schöpfer, daß Sie keine Million in der Kehle haben! Immer in Sorgen, immer auf dem Posten! Was sind Sie dagegen beneidenswerth!“
Leisewitz hatte über dem Schlaf die Erzählung Roberts vergessen. Die Uhr des Sultans zeigte auf Elf. Das brachte ihn aus Rand und Band; als ob jede Minute länger in Wahndorf Unheil sei, drängte er fort. Er war bissig und übelster Laune, bis er im Dorfe den Landauer vor dem Schulzenhofe stehen sah.
Das Wohnhaus des Gemeindevorstehers war neben den übrigen Häusern der Einäugige unter Blinden. In der Schlafstube der Ehegatten links vom Flur hatte der Tondichter, in der Amts- und Staatsstube rechts der Sänger gehaust. Die Schulzenleute waren unters Dach gezogen, unb der Bediente Peppi Purzel hatte seine Schlafstelle in der Schenke. Dieser Purzel war von Leisewitz im Laden eines Wiener Haarkräuslers entdeckt und angeworben worden. Der schöne Peppi, den der Sänger mit Vorliebe Giuseppe nannte, war flink und geschmeidig wie ein Windhund und ebenso treu.
Jetzt bürstete Purzel, in einen Staubmantel gekleidet, geschäftig, aber zwecklos an Leisewitz herum, während der Kapellmeister seine Handtasche aus dem Hause holte. Zuschauer waren die Jugend und das hohe Alter und die eine und andere Stallmagd aus dem Dorfe. Nun kam Lenz zurück, von der halb erwachsenen Tochter seiner Hauswirthe begleitet. Sie hatte zu Ehren der Scheidenden blaue Strümpfe und Holzschuhe an, machte vor Leisewitz einen steifen Knicks, wobei sie lachte, und sagte leise und stockend, was ihr die Eltern an den Künstler aufgegeben hatten. Dabei sah sie nicht den Sänger an, sondern schielte nach den Pferden.
„Verstehen Sie, was unser Meermädchen sagt?“ fragte Leisewitz den Kapellmeister.
Dieser machte den Dolmetsch. „Trudels Eltern lassen uns bitten, nicht ohne Abschied abzureisen. Der Schulze ist zu einem Termin in die Stadt, die Frau zu einem Begräbniß nach dem Kirchdorf. Aber die Kleine meint, jetzt müßten beide bald heimkommen. Und da wir nichts versäumen, denk’ ich –“
„Der Recke Siegfried warten? Was fällt Ihnen ein! Ich warte nie, auch im Vorzimmer eines Königs nicht! Und wofür soll ich unseren Wirthen danken? Für gute Luft und schönes Wetter? Für die kurzen Betten und langen Brühen? Nein, mein elegischer Freund, ich hinterlasse dem Schulzen und den Seinen meinen Segen – Ceres fülle ihre Tennen mit Korn und Poseidon ihre Netze mit Flundern! – aber ich bleibe keine Minute länger. Sie haben Fischblut, ihre Kehlen sind rauh und ihre Ohren dem Zauber eines schöngetragenen Tons verschlossen!“
„Wenigstens der Kleinen thun Sie Unrecht, sie hat ein gutes Ohr und stand immer auf der Lauer, so oft Sie sangen.“
„Nun, so komm’ her, sangesfreundliche Nixe, und wenn Du eine verwitterte Großmama bist, so erinnere Dich –“
Trudchen verstand den Sänger zum ersten Mal und spitzte den Mund. Leider hatte sie Schwarzbeeren gegessen. Leisewitz bog sich schaudernd zurück; – „so erinnere Dich, daß Dir Siegfried Leisewitz die Hand gedrückt.“
„Gnädiger Herr,“ sagte Purzel, „Sie reden sich heiser . . . einen Augenblick! Ihr Foulard sitzt zu locker.“ Er liebte die Fremdwörter wie Trinkgelder.
„Ich danke Dir, Giuseppe! Und nun, steigen wir ein! Der Sänger scheidet. Blast die Muscheln, Rangen! Fort! Ktscher, peitsche Deine Sonnenpferde!“
Aber Robert stieg nicht ein, ohne das gekränkte Mädchen herzhaft auf den schwarzen Mund geküßt zu haben.
Ein paar Köter sprangen wüthend und kläffend vor den Pferden her, die johlenben Buben umschwärmten den Wagen. Auch im Ententeich gab es einen gewaltigen Aufruhr, als der Zug vorbeikam. Doch in den Häusern blieb es still; sie schienen ausgestorben, nur da und dort stieg Rauch aus den Strohdächern. Das Dorf dehnte sich lang; bei den letzten Häusern blieben Vorläufer und Gefolge zurück. Eine Strecke weit fuhr man zwischen Kornfeldern, dann begann der Wörder Stadtwald, ein echter Wald; hüben und drüben Stamm an Stamm und verschlungenes Grün, ringsum Waldesstille.
Erst ließ Leisewitz die Unterhaltung einschlafen, dann schlief er selber ein, aber nicht so fest wie auf der Düne. Zuweilen richtete er sich auf, um mit großen Augen umherzusehen. Er fand den Wald kühl, aber feucht. Robert dagegen war von der Fahrt entzückt, weil er ein Naturfreund war, weil er die fertige Partitur in seinem Handkoffer heimbrachte, weil der Weg zu Emma führte!
Der Wald lichtete sich; die Straße lief dicht am Meere hin. Ein leichter Wind furchte das Gewässer und trieb sachte die Wellen ans Land. Auf einer freundlichen blumenreichen Halde, die Stirnseite dem Meere zugekehrt, stand ein Sommerhaus. Leisewitz ermunterte sich. „Hier beginnt städtischer Schliff und Gesittung,“ bemerkte er, indem er auf das hübsche Gebäude deutete. „Wie man mir gesagt hat, wird unsere Prinzessin in dieser Villa wohnen.“
„Das mag wohl sein, Sie gehört Herrn Fritz Hagemann.“
„Sagen Sie ’mal, dieser Fritz Hagemann muß in Ihren Augen eine sehr wichtige Persönlichkeit sein. Ich erinnere mich, diesen Namen wiederholt von Ihnen gehört zu haben. Wie Sie roth werden! Sind Sie dem Manne Geld schuldig?“
„Bei Gott, nein!“ erwiderte eifrig der andere. „Fritz Hagemann hat mit einem Kaffee-Ersatzmittel – ‚Hagemanns Hagedorn-Fruchtkaffee‘ – ein großes Vermögen erworben und zählt allerdings zu den ersten Bürgern Wördes. Seine Tochter ist eine anerkannte Schönheit.“
„Ah so!“
„Sieht es nicht aus, als ob unsere Prinzessin schon eingezogen sei?“
„Unmöglich! Der Mann dort würde sonst nicht in Hemdärmeln am Stallthor stehen, Ich erinnere mich seiner, er gehört zur Hofdienerschaft. Ei, wen erblicken meine Augen! Herr Stenzel, Herr Hoffourier Stenzel, ja, grüß’ Sie Gott!“
Am Waldsaum erhob sich ein runder Bau, ein Siehdichum mit zierlicher Brüstung. Dort oben tauchte der Hoffourier Stenzel auf, der sich in stiller Beschaulichkeit auf die Bank gestreckt hatte. Nun kam er eilig herab, um den berühmten Sänger, mit dem er in der blauen Grotte bekannt geworden war, zu [480] begrüßen. Sie drückten einander die Hände, sprachen von daheim und vom fürstlichen Hofe, vom Seebad und von der Julihitze, von der auf morgen festgesetzten Ankunft der Prinzessin. Endlich schüttelten sie sich wieder die Hände, und der Wagen rollte von dannen, dem Städtchen zu.
Hafenstadt und Seebad Wörde sind räumlich nicht eins; das alte Städtchen mit dem Hafen liegt in der Tiefe einer Bucht. Als man in Wörde wie anderwärts mit den Erinnerungen an die vergangenen Zeiten aufräumte, als die Thore fielen und die Wälle in Anlagen verwandelt wurden, erstanden auf der umbrandeteu Westspitze der Bucht das große Badehotel zum „Deutschen Kaiser“, das städtische Schützen- und Konzerthaus „Strandschloß“ und eine Anzahl niedlicher Sommerhäuser, eine vielversprechende Siedlung, mit Wörde durch eine Pferdebahn und durch wohlgepflegte Anlagen verbunden.
Zur Zeit unserer Geschichte gab es in Wörde sehr viele alte Häuser, aber nur noch wenige alterthümliche. Zu diesen gehörte ein großes Giebelhaus auf dem Hafenplatz, der Gasthof „Zur Sonne“. Ein eiserner Vorbau, der im ersten Stock als Söller diente, war zwar stilwidrig, aber zweckmäßig. Der „Sonne“ gerade gegenüber, in der jenseitigen Häuserreihe, stand das nagelneue zweistöckige Wohnhaus Fritz Hagemanns, des reichsten Wörder Bürgers. Im Erdgeschoß war ein Laden. In den zwei Schaufenstern zwischen der Ladenthür und der Hausthür lagerten Hunderte großer und kleiner Düten mit Fritz Hagemanns Hagedorn-Fruchtkaffee. Der Ladengehilfe, ein bleicher Jüngling mit einer blauen Brille, besaß eine außerordentliche Geschicklichkeit, diese Düten jeden Tag anders zu ordnen. Er folgte dabei ganz seiner Stimmung und Laune und huldigte heute einer strengen Klassicität, morgen dem freiesten Naturalismus. Uebrigens hatte er vollauf Muße, Neues zu ersinnen, denn das Stadtgeschäft ging flau. Doch Fritz Hagemann konnte sich über diese Verkennung seitens seiner Mitbürger leichter trösten als die Propheten. Schon in den umliegenden Dörfern halte er zahlreiche Gläubige, und draußen in der weiten Welt waren es ihrer Millionen. Man trank Hagemanns Fruchtkaffee - mehr oder minder rein – am Rhein und an der Donau, vom Fels zum Meer; das Geschäft Hagemanns blühte wie der Hagedorn auf seinen ausgedehnten Ländereien. Als junger Mann, wohlhabender Eltern Sohn, hatte er sich der Apothekerkunst gewidmet, nach wenigen Jahren indes diesem Beruf entsagt, um seinem alternden Vater, der einen lebhaften Handel mit Farben und Droguen trieb und in Schweden und Norwegen seinen festen Markt hatte, an die Hand zu gehen. Dann gelang ihm der große Wurf. Ueber die Anfänge seiner Erfindung, ob er selbst sie gemacht oder sie irgend einem armen Burschen mit schöpferischem Kopf und erschöpftem Beutel abgekauft habe, war Gewisses nicht zu ermitteln. Er war schon reich, als er Gesellschafter fand, die dem Geschäft einen neuen Schwung gaben und es in großem Stile betrieben. Jetzt war man auch am Hudson und Mississippi vor seinem Fruchtkaffee nicht mehr sicher. Hauptort der Verwaltung war Berlin; die alten Werkstätten und Verwaltungsgebäude bei Wörde blieben unter der Leitung und Aufsicht des Erfinders. Sie lagen gerade weit genug außerhalb der Stadt, um Hagemann täglich zu einer gesunden Bewegung zu veranlassen, und wenn das Unwetter zu arg war, so benutzte er Pferd und Wagen oder ließ seinen Geschäftsführer zu sich kommen. Ihm schlug alles glücklich aus. Er hatte ein armes Mädchen niedrigen Standes wegen ihrer Schönheit geheirathet – sie wurde ihm eine zärtliche, durchaus würdige Gattin. Der erste Kummer, den sie ihm bereitete, war auch der letzte – ihr Tod. Er hatte wohlgerathene Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Der älteste trat früh in ein großes Bankgeschäft Chicagos ein, genügte dann im Vaterland seiner Militärdienstpflicht, ging wieder hinüber und hatte jetzt die sichere Aussicht, der Schwiegersohn und Geschäftstheilhaber seines Prinzipals zu werden. Der jüngste war vorläufig noch unbesoldeter Handlungsgehilfe in einem Hamburger Hause. Beide Söhne besaßen die Tugenden des Kapitalisten: Produktivität und Enthaltsamkeit. Die Tochter, welche die Schönheit und Gemüthsart der Mutter geerbt hatte, führte dem Witwer das Haus und wurde von ihm vergöttert. Ihr zuliebe ließ Hagemann sein Elternhaus von Grund aus umbauen, zu Emmas heimlichem Leide, denn ihr war im windschiefen winkligen Häuschen wohl gewesen. Jetzt stand an seiner Stelle ein glatter regelmäßiger Neubau, der allen Anforderungen der Neuzeit entsprach und durch hohe Spiegelscheiben den Tag in alle Räume blicken ließ. Der zweite Stock enthielt außer einigen Fremdenzimmern eine große Stube, über deren Bestimmung verschiedene Stillleben an den Wänden und eine reichgeschnitzte Anrichte keinen Zweifel ließen. Allein dieses Prunkgemach wurde nur geöffnet, wenn Hagemann Gäste hatte, wenn er sein Steckenpferd zäumte.
Ja, Hagemann hatte wie jeder Kulturmensch sein Steckenpferd, war aber auch darin glücklich: er hielt sich nämlich für einen Feinschmecker, ohne es zu sein. Seine gewöhnliche Nahrung bestand in gesunder Hausmannskost; die gekünstelten scharfgewürzten und schwerverdaulichen Speisen kamen nur bei Gastereien auf den Tisch. Dann war er aber so eifrig in der Anpreisung der Leckerbissen, im Vorlegen und Anbieten, daß er selbst kaum zum Essen kam und so verdarben sich in der Regel nur die Freunde, nicht der Wirth den Magen. Trotzdem hielt Hagemann die Feinschmeckerei für sein höchstes Verdienst. Es kam vor, daß ihm gute Bekannte seine Erfindung schlecht machten, dann antwortete er gelassen: „Meine Herren, haben Sie jemals bei mir anderen als reinen Kaffee getrunken? Sagen Sie, ich wünsche arabischen Mokka oder West India Perl oder die Hamburger Mischung, Plantagen Ceylon mit grünem Java – eins, zwei, drei – er wird Ihnen gereicht. Nur wenn Sie Hagemanns Fruchtkaffee verlangen, kann ich Ihnen innerhalb meiner vier Wände nicht aufwarten. Ich halte jeden Zusatz für Barbarei, aber seien Sie überzeugt: ich befinde mich mit dieser meiner Ansicht stark in der Minderheit!“
Wehe aber, wenn ihm jemand im Speisezettel, den er entworfen hatte, kleine Sünden gegen den Geist der Kochkunst nachwies, zum Beispiel, daß des Geflügels zuviel sei oder daß zwei Tunken von ähnlichem Geschmack aufeinander folgten – dann war er gekränkt, dann war er unglücklich.
Vater und Tochter lebten im schönsten Einverständniß; für Emma waren nur die Mahlzeiten im zweiten Stock ein schwarzer Punkt an diesem reinen Himmel; da nämlich Hagemann behauptete, daß ihm alle Freude verdorben sei, wenn sie nicht mitspeise, mußte sie bei jeder Herrentafel bis zum Nachtisch ausharren. Nun aber sprachen diese Herren beim Essen immer nur vom Essen, und das verdroß Emma. Sie war ein schlichtes Mädchen, doch nicht ohne einen Anflug von Romantik, mit einem Hauch von Schwermuth. Sie galt nicht nur für das reichste, sondern auch für das schönste Mädchen Wördes, und zwar bei der ganzen Bevölkerung. Allerdings hatte diese wunderbare Unparteilichkeit im weiblichen Lager ein Aber. Wenn bei Frau X oder Z ein auswärtiger Vetter oder Onkel oder Bekannter zum Besuch war, kam die Rede sicherlich auf Emma Hagemann. „Ja, ja, Fräulein Hagemann fällt jedem auf,“ sagte dann wohl die älteste Tochter, „sie ist wirklich schön.“ „Vollkommen schön,“ fällt eine andere ein, „achten Sie nur auf das herrliche lichtblonde Haar und den Schmelz ihrer Augen ... die blendend weiße Haut, die rosigen Wangen, die purpurnen Lippen! Und wie ist sie gewachsen! Sie ist breitschulterig und voll und erscheint dennoch schlank.“ „Ja,“ nimmt schließlich Mama das Wort, „Emma ist ein schönes Mädchen und ein Engel. Schade, daß sie taub ist – das heißt nicht so taub, aber doch recht schwerhörig. Ein rechtes Unglück!“
In Wahrheit hörte Emma so gut und im Vergleich zu einem Wilden so schlecht wie die Mehrzahl von uns Kulturmenschen. Als Kind verlor sie einst infolge eines heftigen Schreckens das Gehör, doch schon nach kurzem war sie wieder von dem Uebel genesen, und die Aerzte erklärten einen Rückfall für unwahrscheinlich. Nur wenn jemand sehr leise sprach, drückten Emmas Züge eine gewisse Spannung aus. In der Wörder Gesellschaft aber blieb die Erinnerung an jenen Unfall lebendig, und so war Emma „eine reizende Erscheinung, doch leider, leider beinahe taub“. Wenn Emma von ihrer Begeisterung für Musik sprach, lächelten die Freundinnen eigenthümlich, und als sie den Klavierunterricht, dem sie auf Bitten der geängstigten Mutter entsagt hatte, nach langer Zeit wieder aufnahm, bedauerte man ihren Lehrer, den armen Robert Lenz.
Wie es zu gehen pflegt, erfuhr die Betroffene das Gerücht zuallerletzt, und als eine vornehme Natur vertheidigte sie sich nicht. Doch die Lieblosigkeit der Welt erfüllte sie mit Schrecken. [482] Sie fühlte sich beobachtet und wurde schweigsam. Das bestärkte die Leute erst recht in ihrem Vorurtheil. Emma ergab sich der Einsamkeit, in der sie wie alle Einsamen schließlich die Entdeckung machte, daß sie zur Schwermuth veranlagt sei.
Sie suchte in der Kunst Ersatz für die Gesellschaft, und der städtische Kapellmeister wurde ihr Klavierlehrer. Da Vater Hagemann den Stunden beiwohnte, knüpfte sich bald an den Unterricht ein Plauderstündchen. Vater und Tochter empfanden die geistige Ueberlegenheit des jungen Mannes, doch ohne Unbehagen, denn Robert Lenz war auch ein guter Mensch. Emma blickte in eine neue Welt. Mit Ungeduld wartete sie auf sein Kommen, mit Bedauern sah sie ihn gehen. Sie sah von ihm auf den Vater, vom Vater auf ihn und wünschte sich keine andere Gesellschaft. Dann fragte sie sich, ob das Gleiche wohl auch bei Robert Lenz der Fall sei, und beantwortete eines Abends die Frage folgendermaßen: er liebt mich. Weiterer Fragen wurde sie überhoben, denn ein Briefchen des Kapellmeisters meldete, daß ihm eine große Arbeit die Fortsetzung der Klavierstunden unmöglich mache. Emma war bestürzt, Hagemann brummig. Er ging schnurstracks zu dem Abtrünnigen, doch seine Mittheilungen über die Unterredung waren ebenso dunkel wie trostlos. „Er kann wirklich nicht mehr kommen – Du darfst ihm nicht zürnen; er verdient alle Hochachtung, er ist ein ehrlicher Kerl!“ Eine Ahnung beschlich Emma. Robert Lenz dachte: „Arm zu arm und reich zu reich!“ und wagte nicht, ihre Hand zu erobern. Sie versagte ihm nicht ihre Achtung, aber Robert Lenz war von nun an nicht mehr der „Herrlichste von allen“. Der Mann nach ihrem Herzen mußte nicht nur gut und geistvoll, sondern auch kühn und verwegen sein.
Sie redete sich ein, den Verlust leicht zu ertragen, doch die Musik blieb ihr verleidet; so flüchtete sie sich zu den Büchern. An den langen Winterabenden saß sie allein bei der Lampe und las. Punkt Neun verließ der Vater die Herrengesellschaft in der „Sonne“ und erschien daheim zum Thee. Ein halbes Stündchen wurde von beiden verplaudert, dann las Hagemann seine Zeitung, die er beim Morgenkaffee nur überflog, vom Leitartikel bis zur letzten Anzeige gründlich durch, und Emma las auch – Gedichte, Dramen, Geschichte und Geschichten, „populärwissenschaftliche“ Werke. Sie hatte keine kritische Ader, las ohne Auswahl, vielleicht manches ohne Verständniß, aber alles mit völliger Hingabe. Wenn sie las, hörte sie nicht den klatschenden Regen, nicht das Brausen und Rollen der See.
Während einer Reise hatte Emma in Berlin einer Aufführung von Ibsens „Nora“ beigewohnt. Die theatralischen Genüsse, die den Wördern dann und wann von Wandertruppen geboten wurden, waren mäßig. Das glänzende Haus, die gute Darstellung, die eigenartige Dichtung, alles trug dazu bei, Emma jenen Berliner Abend unvergeßlich zu machen. Henrik Ibsen war fortan ihr Lieblingsdichter und sie verschlang seine Werke, die sie vielleicht mit Vorsicht hätte lesen müssen.
Der Tochter Hagemanns würden die Freier nicht gefehlt haben, wenn sie nur weniger znrückhaltend gewesen wäre. Ihr Vater war selbstsüchtig genug, über ihre Unnahbarkeit sich zu freuen, denn der Gedanke an ihren Verlust war für ihn fürchterlich. Wenn er die Goldene Jugend seiner Geburtsstadt musterte, fühlte er sich beruhigt. Aber auf Ausflügen, oder wenn die Sommerfrischler aus dem „Deutschen Kaiser“ in das friedliche Städtchen einbrachen, zitterte er für seine Perle. Als die Kaufmannschaft zu einem Ball, der besonders glänzend werden sollte, die Offiziere der nächsten Garnisonstadt einlud, würde Hagemann mit Vergnügen abgesagt haben. Anderseits hielt er seine Anwesenheit für eine patriotische Pflicht. Als er mit Emma am Arm in den Ballsaal trat, erfüllten Stolz und Furcht sein Herz; Emma schoß den Vogel ab – das war keine Frage. Eine Stunde lang schwelgte er dann beruhigt in Vaterwonnen. Die Herren vom Ausschuß drückten ihm ihre Dankbarkeit, ihre Bewunderung aus. Der Regimentskommandeur und seine sämtlichen Offiziere stellten sich dem Papa der Ballfee vor.
Schon trug sich Hagemann mit dem Gedanken, die bewaffnete Macht auf nächsten Sonntag zu Tisch zu bitten, schon entwarf er bei den Klängen der ersten Quadrille den Speisezettel, den wunderbarsten seines Lebens – da entdeckten seine eifersüchtigen Augen, daß Emma mit einem ihrer vielen Tänzer mit Vorliebe tanzte. „Natürlich ein Lieutenant!“ murmelte er grimmig, und sein Vergnügen verwandelte sich in Wermuth. Seine üble Laune endigte nicht mit dem Ball, er ging mit ihr zu Bett und wachte mit ihr auf. Er wagte keinen Schritt aus dem Hause zu thun, denn er erwartete den Feind. Und seine Ahnung verwirklichte sich, der Lieutenant traf ein.
„Was denkst Du,“ fragte Hagemann lauernd, „nehmen wir ihn an?“
Emma sah vom Buche auf. „Ganz wie Du willst, lieber Vater.“
Hagemann that erleichtert einen tiefen Athemzug. „Wir lassen bitten,“ sprach er zu seinem Kutscher, der, wenn er nicht fuhr, den Diener vorstellte.
Emma benahm sich musterhaft. Der Lieutenant war ein ausgezeichneter Tänzer, aber er hatte sie gekränkt. Als sie mit ihm nach einem Walzer die Runde durch den Saal machte, fiel ihr Blick auf den Kapellmeister, der schwermüthig hinter dem Dirigentenpulte saß. Die Wörder Ballmusik, früher entsetzlich, war diesmal ausgezeichnet, dank Robert Lenz, der sich freiwillig erboten hatte, nicht nur in den Proben, sondern auch am Ballabend zu dirigieren. Bisher hatte der Lieutenant seine Tänzerin über dies und das ausgefragt nun fragte sie: „Wie finden Sie unsere Musik?“
„Wenn man mit einer Sylphe tanzt, ist die Musik gleichgültig,“ versetzte der Kriegsmann. „Mit Ihnen, mein Fräulein, würde ich ebensogut und gerne nach einer Sackpfeife als nach einem Orchester tanzen. Uebrigens spielen die Leute recht brav, der Kapellmeister ist leider nur kein Strauß.“ Die Schmeichelei that keine Wirkung, das Herz Emmas war vielmehr für den armen Robert aufgewallt. So beobachtete sie denn während des kurzen Besuches eine höfliche Schweigsamkeit, die den Vater entzückte, den Lieutenant entmuthigte. Gestern war ich versucht, das Gerede für Fabel zu halten, dachte der junge Mann, als er an der Hausthür mit einem letzten Aufblick rechtsum machte; aber sie ist wirklich taub wie eine Wachtel! –
Als Frau Hagemann noch lebte, hatte die Familie Sommer für Sommer in ihrem Landhause an der See verbracht. Mit Emma allein fühlte sich der Witwer dort durch die Erinnerungen drinnen und die Waldeinsamkeit draußen bedrückt. In der Stadt hörte er den Marktlärm am Morgen und das Hafengetreibe den ganzen Tag. Wenn er einen Blick aus dem nächsten Fenster warf, sah er drüben das traute alte Haus, die „Sonne“; wenn er in der Nacht aufwachte, unterschied er die Tritte auf dem gepflasterten Platz, den eiligen eines Bürgers, der zu lang in lustiger Gesellschaft geblieben war und nun muthig seiner Gardinenpredigt entgegenging, oder den schweren eines Fischers, der mit dem Tagesgrauen in die See stach. Er hörte die Stadtuhren schlagen, hörte das Rasseln der Ankerketten im Hafen oder Dampfpfeife und Schiffsglocke von der fernen Ostspitze, wo die Dampfer lagen. In seinem Strandhause sah er oft tagelang kein bekanntes Gesicht und hörte nachts nur Wind und Wogen. Aber sein Widerwille wurde von der Tochter nicht getheilt.
In diesem Jahre nun hatte sich eine Gelegenheit geboten, auf die Sommerfrische draußen mit Anstand zu verzichten. Der Fürst von H., hieß es, suche ein großes Wohnhaus an der See für seine Tochter. Sofort bot Hagemann dem Bürgermeister sein Landhaus an. „Es ist ein Opfer, das wir für das allgemeine Beste bringen,“ sprach er zu der schmollenden Emma. „Eine Prinzessin! Das macht Reklame für Wörde.“ Glücklicherweise fand der Bevollmächtigte, daß die Villa Hagemanns allen Wünschen seiner Gebieterin entspreche, und der Miethsvertrag wurde abgeschlossen. Hagemann vertröstete sein Kind auf eine Herbstreise.
„Nach dem Süden!“ rief Emma.
„Wohin Du willst,“ antwortete er mit einem Seufzer, denn er dachte an die vielen Fallen und Gefahren für die Freiheit seiner Tochter.
Nachdem die Vorläufer der hohen Gäste angelangt waren, machte Hagemann jeden Mittag vor seiner Heimkehr aus der Fabrik einen Abstecher nach seinem Landhause. Der Umweg war groß, doch das neue Leben dort zog ihn mächtig an. Das alles hatte Schick, und sie alle, vom Leibkutscher bis zum Stalljungen, waren von einer beneidenswerthen junkerhaften Gelassenheit. In der Villa wurde das unterste zu oberst gekehrt. Aber auch das geschah planmäßig, ohne Ueberhastung und ohne die geringste Rücksicht auf den Hausherrn. Und wenn Hagemann eine saure Miene machte, tippte ihm der Hoffourier auf die Brust, das heißt, auf das oberste Knopfloch und sagte verbindlich: „Unsere Hoheit wird entzückt sein, und unsere Hoheit weiß Verdienste zu schätzen.“ Ueber Herrn Stenzel sprach sich Hagemann besonders lobend aus. „Er ist ein vielgereister vielsprachiger Mann. Und gerieben! [483] Schlosser und Schreiner, Gärtner und Tapezierer werden aus meiner Tasche bezahlt. Aber ich bringe auch dieses Opfer. Und das alles einer Bürgerschaft zulieb, die mit wenigen Ausnahmen ‚Frank und Söhne‘ trinkt!“
Auch an dem Tage, an dem Siegfried Leisewitz von Wahndorf für immer schied, war Hagemann in der Villa gewesen. Nun saß er seinem Töchterchen gegenüber bei Tisch, rückte den geleerten Suppenteller von sich und sagte: „Nichts Neues im Städtchen?“
„Doch! Wie mir Anna erzählt hat, ist Herr Lenz zurückgekommen, mit dem Wagen von der ,Sonne‘ drüben, in Begleitung eines Fremden –“
„Weiß ich alles und noch mehr. Der Herr wird längere Zeit in der ,Sonne‘ bleiben, ich habe ihn in der Strandstraße gesprochen – hier ist seine Karte!“ Hagemann reichte seiner Tochter eine Besuchskarte größter Form über den Tisch, und Emma las:
„Siegfried Leisewitz.
Hofopern- und Kammersänger.
Chevalier de plusieurs ordres.“
„Ist Dir der Name bekannt?“
„Aber, Vater, den Namen liest man doch oft genug. Leisewitz ist ein berühmter, ein großer Künstler.“
„Ach was, die berühmten Künstler sind heute wie der Sand am Meer, der Kuckuck behalte alle ihre Namen! Jedenfalls ist der Mann ein wunderlicher Kauz – grob wie Bohnenstroh und dann wieder kannst Du ihn um den Finger wickeln. Unsere Fuhrwerke begegneten sich auf der Strandstraße. Erst hatten unsere Kutscher einen kleinen Wortwechsel, und plötzlich springt ein baumlanger Mensch aus dem Wagen und schreit wie besessen auf unsern Wilhelm ein. Doch da hüpft schon unser Kapellmeisterchen nach und legt sich ins Mittel. Und dann steige auch ich aus, der Kapellmeister bläst Frieden und so machte sich die Bekanntschaft.“
„Wie sieht er aus?“
„Ja, wie soll ich ihn beschreiben? Er sieht aus wie ein Abenteurer – wie ein stutzerhafter Waldmensch – wie ein Budenherkules – ein Herodes!“
„Ein Holofernes,“ sagte Emma und lächelte ihren Vater an.
„Ich bin überzengt, Dir mißfällt er! Du bist für das Zarte, Blonde, Poetische.“
„Meinst Du?“ Sie lächelte wieder, doch diesmal sah sie vor sich nieder.
Die Aufwärterin brachte das zweite Gericht und das Gespräch ruhte eine Weile. „Nun ja, man merkt’s, wir haben Fremde,“ begann dann Hagemann verdrießlich und stach mit der Gabel da und dort in den Braten. „Das Fleisch erster Güte kommt wieder alles in das Badhotel, und die Wörder Bürgerschaft muß vorlieb nehmen.“
„Morgen gehe ich mit Rike zum Einkauf,“ besänftigte ihn Emma, die in der Hauswirthschaft mindestens ebensogut Bescheid wußte wie in der Litteratur. „Uebrigens finde ich es sonderbar, daß ein so berühmter Mann wie Leisewitz nicht im ersten Gasthof, im ‚Deutschen Kaiser‘, wohnt.“
„Das habe ich dem Sänger auch gesagt. ‚Aber glauben Sie denn,‘ rief er mit einer großartigen Handbewegung, ‚wenn man dort den ersten Stock an Russen und Amerikaner vermietet, daß ich zwei Treppen hoch steigen werde? Ich wohne niemals anderswo als im ersten Stock.‘ An Bescheidenheit geht dieser Siegfried nicht zu Grunde. Gleichviel – ich werde meine neue Bekanntschaft doch zu Tische laden!“
„Den Sänger?“ rief Emma.
„Erlaube, den Hofopernsänger Leisewitz! Das ist ein Unterschied. Diamantene Hemdknöpfe, feine Kleider und ein Diener auf dem Kutschbock können Sand in die Augen sein. Vielleicht sind die Diamanten falsch und die Kleider nicht bezahlt, und der Diener kann morgen verduften. Aber ich verlasse mich als erfahrener Kaufmann auf mein Gefühl. Dieser Leisewitz hat ’was und hält fest, was er hat. Auch wollen wir uns ja nicht verheirathen. Er ist ein Kauz und wir werden über ihn lachen.“
„Ich nicht – ich kann nicht fröhlich sein.“
„Warum in aller Welt auf einmal so elegisch? Bist Du nicht gesund, nicht Fritz Hagemanns Tochter, nicht so hübsch und gescheit wie nur irgend ein Wörder Kind?“
Hagemann sprang auf und an die Thür. „Wilhelm,“ schrie er hinaus, „Wilhelm, anspannen! Schnell!“ Dann wandte er sich ins Zimmer zurück. „Du sitzt, Du liest zuviel! Du mußt in die freie Luft, in die Sonne! Wir werden eine Spazierfahrt machen. Wozu hat man denn Wagen und Pferde! Wir fahren nach unserem Landhaus. Ich werde Dir den Leibkutscher der Prinzessin und den Hoffourier Stenzel zeigen – das sind Menschen! Gesund, wohlgenährt und zufrieden! – Geh’, Kind, mach’ Dich schön! Unb während der Fahrt entwerfen wir einen Speisezettel, einen Speisezettel, daß der Hofopernsänger sagen soll: das ist nicht nur eine gute, das ist die beste Tafel meines Lebens!“
Emma war eine gehorsame Tochter; sie ging und machte sich schön.
Und Hagemanns Voraussagungen gingen in Erfüllung. Als Wilhelm spät in der Nacht seinen Herrn vor der „Sonne“ abgesetzt hatte und nun dem Fräulein vor der eigenen Hausthür den Kutschenschlag öffnete, hüpfte Emma leicht wie eine Nymphe heraus; sie klopfte den wohlgenährten Gäulen auf den Rücken und wünschte Wilhelm freundlich Gutenacht. Dann sprang sie die Treppe hinauf, übermüthig fröhlich wie ein Schulmädchen, zum höchsten Erstaunen der Jungfer Anna, die mit der Lampe im Flur erschien. Emma trat in ihre Stube, legte Handschuhe, Hut und Ueberwurf ab und ordnete ihr Haar vor dem Spiegel.
„Na, Fräulein,“ sagte Anna, „die Fahrt hat Ihnen wohl sehr gut gethan! Sie leuchten förmlich –“
„Pst!“ unterbrach Emma sie und lächelte verschmitzt. „Ich habe ihn gesehen!“
„Den Sänger?“
Emma nickte.
„Nun, habe ich zuviel gesagt? Ist er nicht –“
Aber ihre Herrin legte ihr den Finger auf den Mund. „St!“
Als Emma allein war, löschte sie die Lampe aus, denn es war eine herrliche Mondnacht. Sie beugte sich hinaus. Im Hafen umgaukelten die blitzenden Wellen kaum hörbar die Schiffe und schaukelten leicht die Nachen und fernhin ruhevoll dehnte sich die See. Emma warf einen halben Blick nach dem alten Giebelhaus gegenüber. Nur das Erdgeschoß leuchtete mit rothen Fenstern, droben brannte nirgends Licht. Sie setzte sich und träumte mit offenen Augen still vor sich hin. Da traf Musik ihr Ohr. Auf der Brüstung des Söllers, seine Mandoline in den Händen, saß der Sänger im hellen Mondlicht, zupfte die Saiten und sang und sang, wie Emma nie singen gehört hatte:
„O, wie sehn’ ich mich nach Süden,
Nach der Sonne Gnadenfülle,
Nach des Herzens Kirchenstille,
In des Lebens Blüthenreich!
O, wie sehn’ ich mich nach Frieden!“
Der folgende Nachmittag, an dem die Prinzessin erwartet wurde, war so schön, daß es in den Anlagen von Spaziergängern wimmelte und die Wagen der Pferdebahn bei der Abfahrt vom Städtchen immer überfüllt waren. Auf den Terrassen vor dem Strandschloß und dem „Deutschen Kaiser“ war kein Platz frei, der Strand bis zum Landhause Hagemanns wie an einem Feiertage bunt bevölkert. Es wehte eine kühle Brise, angenehm für die Menschen, harmlos für das blaue Gewässer. Das war wirklich nur ein Wellentanz, und wenn zuweilen eine lange hohe Woge mit weißem Kamm über das kleinere Wellengetümmel hereinbrach, glaubten die Poetischen unter den Badegästen das Gelächter und Kreischen fröhlicher Nixen zu hören.
Das einsame Haus in den Armen des Waldes, mit neubemalten Wänden, braunem Holzwerk, blanken Fensterscheiben, machte einen stattlichen Eindruck. Die Pflanzengruppen und Gesträuche wie der Rasen, den man zu Ehren des hohen Gastes geschoren hatte, schimmerten, frisch besprengt, wie im Morgenthau, der Fahrweg, mit feinem Kies bestreut, schien noch von keinem Fuß berührt zu sein. Ein Laubbogen wölbte sich über dem Eingang, Blumengewinde hingen am steinernen Siehdichum von der [494] Brüstung. Kurz, alles war festlich unb lockte die Menge. Allein die Sicherheitsmannschaft von Wörde war vollzählig, war zwei Mann hoch da und duldete keine Stauung. Hüben und drüben von dem Vorplatz lief ein Fußweg am Walde hin; auf dem Wege rechts vom Eingang ging die adelige Gesellschaft aus dem „Deutschen Kaiser“, links spazierten die Bürgerlichen auf und ab. So sieht man an den Thürbogen gothischer Kirchen einerseits die Geistlichkeit, andererseits die weltliche Gesellschaft.
Fritz Hagemann, im Frack, hatte sich zuerst eingefunden. Der Hoffourier machte ihn mit Aschau bekannt, der seiner Gebieterin vorausgefahren war. Als dieser mit hochgezogenen Brauen nach Hagemanns Wünschen fragte, kam er übel an. „Erlauben Sie,“ antwortete Hagemann und warf sich in die Brust, „es ist doch selbstverständlich, daß ich und meine Tochter die Prinzessin auf meinem Grund und Boden willkommen heißen. Sonst wünsche ich nichts, aber das werd’ ich thun.“
Aschau setzte seinen Kneifer auf und betrachtete den Mann mit Staunen. Dann reichte er ihm die Hand und sagte trocken: „Sehr hübsch von Ihnen. Bitte, mich Fräulein Tochter vorzustellen.“
„Sie ist noch nicht da, wird aber kommen. Und unser Bürgermeister und die Gemeinderäthe kommen auch. Wir sind zwar Kleinstädter, aber nicht ohne Lebensart.“
Dann gingen beide im Hause von Zimmer zu Zimmer, zuletzt auch in die Küche. „Potztausend,“ sagte der Hofmarschall, „da haben wir ja einen Spieß!“
Hagemann schmunzelte. „Wir sind nur Kleinstädter, aber den Unterschied zwischen Spießbraten und anderem Braten kennen wir doch!“
„Das freut mich, freut mich außerordentlich,“ sagte Aschau mit einem zärtlichen Blick auf die Vorrichtung. „Auch ich bin für den Spieß.“ Er sah umher. „Die Küche ist sehr geräumig – fließendes Wasser, große Anrichte, Uhr über dem Herde . . . Herr Hagemann, ich wette, Sie sind ein Gourmand!“
„Ich will mich nicht rühmen, aber – auf gute Küche halte ich allerdings.“
„Das Thier nährt sich; der Mensch ißt; der Mann von Geist allein versteht zu essen.“
Hagemanns Gesicht strahlte vor Vergnügen. „Mir aus der Seele gesprochen, und wenn ich mir bei näherer Bekanntschaft erlauben darf, Herrn Baron zu Tisch zu bitten –“
„Sehr liebenswürdig. Leider bin ich von früh bis spät außerordentlich in Anspruch genommen, indes“ – er klopfte Fritz Hagemann auf die Schulter – „wir werden näher bekannt werden!“
Sie gefielen sich gegenseitig, doch da kam die vornehme Gesellschaft, darunter eine russische Fürstin, und nahm den Hofmarschall für sich in Anspruch. Indes blieb Hagemann nicht lange allein. Die Väter der Stadt erschienen, und dann schritt Siegfried Leisewitz mit dem Machtbewußtsein eines Herrschers an der Schutzwache vorüber in den Garten, schwenkte grüßend den Hut gegen den Hofmatschall, gesellte sich aber dann zu den Bürgerlichen. Denn seitdem er Fräulein Hagemann gesehen, gestern im Wagen, heute am Fenster, zog ihn alles, was zu Wörde gehörte, magnetisch an. Land und Leute, zumal der biedere Hagemann, mit dem er gestern bis spät in die Nacht in der „Sonne“ gesessen hatte, gefielen ihm außerordentlich. Dafür hatte aber auch er die Herzen der „Sonnenbrüder“, wie sich die Stammgäste der Gastwirthschaft nannten, im Sturm erobert. Er war unerschöpflich in Schnurren und Schwänken, er konnte Negerlieder und Schnaderhüpfeln singen, den Csardas tanzen wie den Schuhplattler. Die „Sonnenbrüder“ waren sonst gegen Fremde mißtrauisch und zugeknöpft, doch diesem Kauz widerstanden sie nicht. Sie verziehen ihm sogar das Kopfweh, mit dem sie heute erwacht waren, und die Frauen und Mädchen, als sie den Verführer ihrer Gatten und Väter sahen, verziehen ihm auch.
Endlich erschien auch Emma. Sie trug einen mächtigen Rosenstrauß für die Prinzessin und glühte selbst wie eine Rose, als sie an der Seite ihres Vaters den Sänger erblickte. Hagemann stellte seine Tochter mit Stolz dem neben ihm stehenden Leisewitz vor und dieser verneigte sich vor ihr, wie er sonst nur bei einem Hervorruf gegen die fürstliche Loge sich verneigte. Emma sah auf die Rosen nieder, mehr schelmisch als schüchtern, denn sie dachte an die gestrige Unterhaltung mit dem Vater. Er war der beste, der klügste aller Väter, doch in Bezug auf ihren Geschmack täuschte er sich. Dann schlug sie die Wimpern auf, und die Blicke der zwei schönen Menschenkinder begegneten sich. Gleich darauf entstand eine Bewegung unter den Leuten auf der Straße, und Stenzel, der auf dem Gartensöller stand, sah sich nach dem Hofmarschall um und streckte den Arm in die Höhe, was der Verabredung gemäß hieß: sie kommen!
Alle eilten dem Eingang zu, und die Adeligen rechts, die Bürgerlichen links bildeten eine Ehrengasse, denn der Viererzug durfte auf Befehl Ernas, die bei jedem Gedränge unruhig und ängstlich wurde, nicht in den Garten einfahren. Sie stieg mit ihren Damen am Eingang ab.
Der erste Blick der Prinzessin fiel auf die ihr bekannte russische Fürstin. „Meine theure Fürstin,“ sagte sie auf französisch, „wie freue ich mich, Sie hier zu sehen.“ Und Fragen und Antworten folgten einander wie Blitz auf Blitz, denn die beiden Damen waren sich lange nicht mehr begegnet. Herr von Aschau hielt Emma an der Hand. „Hoheit,“ sprach er in einem günstigen Augenblick, „Fräulein Hagemann, die Tochter unseres Hauswirthes, bittet Ihre Hoheit, diese Rosen als Willkommgruß gnädigst anzuuehmen.“
„Wie hübsch!“ sagte die Prinzessin und nahm die Rosen. „Sie verpflichten mich sehr, mein Fräulein; ich liebe Blumen –“ sie sah das Mädchen an und setzte dann, einen Ton wärmer, hinzu: „wie alles Schöne. Ich finde Wörde sehr hübsch. Und beim ersten Schritte treffe ich eine Freundin und eine so liebliche Blnmenspenderin. Ich werde Sie bitten lassen, mich zu besuchen.“ Und sie zog Emma sanft an sich und küßte sie auf die Stirn.
„Das Mädchen ist eine Schönheit,“ sagte Gräfin Casasola, die den neuesten und rothesten Pariser Sommerhut trug, „aber der geschlossene Hut kleidet sie nicht. Sie erinnert mich an die Klosterschule und an deutsche Romane.“
Jetzt wurde die Prinzessin den Sänger gewahr. „Sieh da, Herr Leisewitz! Wie kommen Sie nach Wörde? Doch ja, Aschau hat mir von Ihrem Sommerplan schon vor längerer Zeit erzählt. Unterhalten Sie sich gut?“ Sie fragte leichthin und blickte dabei schon auf die schwarzgekleideten Stadtherren. „Herr Bürgermeister Segeberg,“ stellte Aschau die einzelnen vor, „Herr Fritz Hagemann – – – –“
Der Empfang war vorüber. An einem anderen Tage würde Leisewitz über die kühle Ansprache der Prinzessin verstimmt gewesen sein, heute zuckte er nur die Schultern. Was liegt daran? dachte er, als er Emma Hagemann durch das Gedränge der Straße führte; wie glücklich würde er gewesen sein, die Hand, die leicht auf seinem Arm ruhte, drücken zu dürfen; doch zum ersten Mal fühlte er sich blöde. Als ihm Emma die Hand entzog, weil der Weg freier wurde, seufzte er, seufzte aufrichtig; es ging sich so wunderbar leicht mit diesem sanften Druck auf dem Arm – man ging nicht, man schwebte!
„Die Prinzessin hat mich bezaubert,“ sagte Emma.
„Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit, denn sie ist sonst sehr kühl; immer höflich, aber unnahbar.“
„Ich beneide ihre Begleiterinnen dennoch.“
„Sie brauchen niemand in der Welt zu beneiden, liebes Fräulein,“ rief er treuherzig, „am allerwenigsten jene. Sehen Sie, da ist mein Freund, Herr von Aschau, der Herr mit dem rothen Backenbart dort, der Sie vorstellte! Er ift Hofmarschall. Klingt das nicht hübsch ? Und über Jahr und Tag ist er Excellenz, das klingt noch hübscher. Unsereins hat ja auch das eine und andere Ritterkreuz“ – er schielte auf die bunten Bändchen in seinem Knopfloch – „aber Freund Aschau hat Halsorden in allen Farben und über Jahr und Tag funkelt seine Brust wie ein Juwelierladen. Glauben Sie nun, daß ich mit ihm tauschen möchte? Nicht auf einen Tag, nicht auf eine Stunde! Denn das Köstlichste fehlt ihm: er ist nicht unabhängig. In mancher Hinsicht sind wir Künstler das ja auch nicht – der nächste beste Tintenverschwender kann mich in seinem Blatte herunterreißen. Aber ich bin auch frei wie der Vogel: der singt sein Lied und fliegt dahin.“ Und Siegfried rollte die Augen gen Himmel, zu den Möwen, die allerdings keine Singvögel sind.
„Man sagt, daß die Prinzessin leidend sei?“
„Sie leidet hauptsächlich an Langerweile. Ihr Schloß Solitude leistet in dieser Beziehung nicht viel weniger als das gesegnete Wahndorf.“
„War Ihnen Wahndorf wirklich so schrecklich? Mein Vater [495] hat mir Ihre Leiden erzählt. Uebrigens hatten Sie doch Gesellschaft – Herrn Lenz –“
„Lenz ist ein kreuzbraver Mensch, das lautere Gold – mein Freund – aber als Gesellschafter gleich Null. Erstens war er von seinem Klavier, einem greulichen Klimperkasten, nicht fortzubringen, sodann trägt er eine Liebe im Herzen.“ Leisewitz sah aus den Augenwinkeln auf seine Begleiterin.
„Man hört in Wörde alles,“ erwiderte sie ruhig, „doch davon habe ich nichts gehört.“
„Weil er in diesem Punkt ein Duckmäuser oder besser gesagt ein Spießbürger ist. Er liebt ohne Schwung. Ich, wenn ich liebte, ich –
‚Mit starker Hand, aus Norwegs Wäldern
Reiß’ ich die höchste Tanne
Und tauche sie ein
In des Aetnas glühenden Schlund, und mit solcher
Feuergetränkten Riesenfeder
Schreib’ ich an die dunkle Himmelsdecke:
N. N. ich liebe dich!‘“
„Hallo, Siegfriedrich, alter Schwede, stopp!“ rief Fritz Hagemann hinter ihnen. Das junge Paar blieb seufzend stehen. Hagemann trug den neuen Hut in der Hand und einen rothen Striemen an der Stirn. Der Bürgermeister und Schiffsreeder Segeberg ging neben ihm, ein hünenhafter schweigsamer Mann; Gesicht, Bart und Hals hatten bei ihm die Farbe einer gut angerauchten Meerschaumpfeife. Die übrigen Rathsherren waren zurückgeblieben und stritten sich über eine Brigg, die in weiter Ferne kreuzte.
„Kind,“ sagte Hagemann, „daß Du den Wilhelm heimgeschickt hast, kann ich Dir nicht verzeihen. Wozu hat man denn Wagen und Pferde? – Freund Segeberg meint, da der Tag einmal angebrochen sei, sollten wir irgendwo vor Anker gehen. Ich bin für das Strandschloß, denn ich habe mir nun vornehme Welt genug angesehen. Wir lassen uns das Erkerstübchen aufschließen. Dort sitzen wir fest, und Leisewitz braut uns ein leichtes Rothweinbowlechen wie gestern. Kind, das versteht er so gut wie Singen.“
„Und ich?“
„Welche Frage! Du trinkst mit.“
„Aber Vater –“
„Na, unseren Bürgermeister zur Rechten und Deinen Vater zur Linken bist Du wohl sicher genug vertaut! Und ich will, daß Du unter Fröhliche gehst. Denn Fröhlichkeit steckt an. Leisewitz, fideles Haus, Du bist doch auch für Strandschloß und Bowle?“ Der Sänger bejahte freudig und Emma fügte sich nicht ungern dem väterlichen Willen. – –
Prinzessin Erna war aus dem Innern des Landes gekommen; sie hatte bisher nichts von der See gesehen und am Hafenplatz von Wörde entzückt halten lassen, um den ungewohnten Anblick länger zu genießen. Das Bild war nicht großartig, aber anziehend: der freundliche Platz, der Hafen mit seinen Booten und Jachten, dann das breite unruhige Gewässer, auf dem sich schwanke Segel blähten, und endlich Fluth und Himmel in eins verschwimmend.
Währenddem waren die Wagen mit dem Gefolge angekommen, und Doktor Walter hatte sich nach Ernas Befinden erkundigt; sie war heiter gewesen und hatte sich wohl gefühlt. Darauf war der Arzt nicht mehr eingestiegen. Er habe eine Karte im Städtchen abzugeben und komme mit der Pferdebahn sofort nach.
Die Wahrheit war, Walter wollte die erste Viertelstunde an der See allein sein. Der Theergeruch des Städtchens wirkte auf ihn wie Waldgeruch auf andere. Ihm war, als trete er aus dem Engen in das Weite – die Masten und Raaen gaben dem nüchternen Denker Schwingen. Er sah einen Welthafen vor sich, einen Wald von Masten, eine Legion rauchender Essen, Ostindienfahrer und Walfischfänger und die Leviathane der Neuzeit, riesenhafte Panzerschiffe; er sah und hörte das tosende Gewühl, sah seltsame Trachten und abenteuerliche Waffen, Gesichter braun wie Tabak, schwarz wie Ebenholz; er sah den rollenden Ocean an rosig angehauchten Felsenküsten branden, sah fremdartige, von der Sonne vergoldete Gebäude und da und dort über dem Gemäuer eine Palme. – Gewaltsam rüttelte er sich auf. Ich habe das Reisen verschworen, dachte er, doch wenn ich nicht bald ein festes Daheim finde, werde ich meineidig.
Die Einbildungskraft spielt auch dem Ernstesten zuweilen Possen; so sah der Doktor jetzt eine blasse dunkeläugige schlanke Schöne, allerdings nur eine zarte Wolkengestalt, unfaßbar, unerreichbar – dennoch der Gräfin Livia zum Verwechseln ähnlich.
Der Arzt hatte seinem fürstlichen Schützling zulieb Wörde und das umliegende Gelände zu seinem Studium gemacht; obwohl er daher heute das Städtchen zum ersten Mal betrat, war er doch darin zu Hause. Er bog in eine Seitengasse ein, die den kürzesten Weg zur Haltestelle bildete. Jetzt machte er sich Vorwürfe: „Wahnvorstellungen! Ich werde dich unter ärztliche Beobachtung stellen, Felix! Und es war unverantwortlich von dir, deinem Schützling nicht auf den Fersen zu folgen. Wenn jetzt ein Ungtück geschähe! Robert Lenz ist morgen auch noch da!“
In der Straße, die der Doktor durchschritt, schien die Armuth sich Häuser gebaut zu haben. Diese hatten nicht nur von der Zeit gelitten, sondern waren offenbar von Anfang an dürftig und bresthaft gewesen. In einem der besseren Häuschen, einem einstöckigen Gebäude, klang aus den offenen Fenstern droben Klavierspiel von einem Instrument, das jedenfalls nur noch das Gespenst eines Klaviers war. Und jetzt sang eine Tenorstimme von hoffnungsloser Dünne und Heiserkeit:
„In deinem Haar die blasse Rose -“
Das Instrument und diese Stimme – sagte sich Walter und trat in das Haus, in einen hallenartigen Raum, der als Schusterwerkstätte diente. Der Meister, schwärzlichgrau vom Scheitel bis zu den Sohlen, saß in tiefsinniger Betrachtung eines äußerst schadhaften Wasserstiefels; auf Walters Frage blickte er über die Brille weg auf den Fremdling.
„Ja, Herr Robert wohnt bei mir. Haben Sie den Vogel an seinem Gesang erkannt? Aber ein schlechter Sänger ist noch kein schlechter Vogel.“
Walter hörte den philosophischen Schuster nicht mehr, er sprang die knarrende Stiege in drei Sätzen hinan; und alsbald lagen sich die Freunde in den Armen. Von Robert auf das Sofa gedrängt, sah der Arzt in der Stube umher. Sie war wider alles Erwarten geräumig und trotz der ärmlichen Einrichtung ganz wohnlich. Eine Bücherei füllte beinahe eine ganze Wand. Klavier und Notenständer, auch Rafaels „Heilige Cäcilie“ in einem vortrefflichen Kupferstich ließen auf den Musiker schließen. Eine holländische Standuhr, ein uralter geschnitzter Lehnstuhl und ein paar Delfter Vasen verriethen den Sammler. Geniale Unordnung war nirgends, sogar nicht auf dem langen Wirthshaustisch, der vor den Fenstern stand und als Schreibtisch diente. Feldblumen, Maßliebchen und Mohnblumen in einem venetianischen Glase brachten den Sommer in das Zimmer. Ein Alkoven barg das Bett. Aus den Fenstern sah man in trübe Fenster gegenüber.
„Aber, Mensch,“ sagte Walter, „wie kann man so nahe an der See in einer engen häßlichen Straße wohnen!“
„Ja, siehst Du, die Zimmer mit Seeanssicht sind nicht billig. Auch ist für unsereinen nicht alle Tage Feiertag. Wenn ich an der See wohnte, würde ich von früh bis spät im Fenster liegen. Und vom Herbst bis zum Frühjahr rückt sie uns nahe genug. Aber nun sag’ – wie ich höre, bist Du –“
„Davon bei der ersten Flasche heute abend; ich kann mich jetzt nicht aufhalten. Nur noch eine Frage: bist Du geneigt, draußen in Hagemanns Landhaus zuweilen Musik zu machen? Nicht mir, sondern der Prinzessin und ihrem Hof. Natürlich gegen Bezahlung. Du nimmst das doch nicht übel, mein feinfühliges Kerlchen?“
Robert war dunkelroth geworden. Er rieb verlegen mit der Rechten die Linke und stotterte: „Ich – ich weiß nicht, ob –“
„Ja oder nein?“
„Freilich – das heißt, gern – aber –“
„Du bist der Alte. Wo kneipst Du heute?“
„Ja, siehst Du, ich stecke tief in einer furchtbaren Arbeit. Zwar ist sie vollendet, aber, du lieber Himmel, was heißt vollendet! Doch heute trifft es sich glücklich, heute muß ich kneipen. Ich bin nämlich nicht nur Dirigent der Stadtmusik, sondern auch des Cäcilienvereins. Um Fünf ist heute für die Männerstimmen Probe im Strandschloß –“
„Strandschloß?“ rief Walter und schnellte empor, „dann haben wir einen Weg. Von hier bis zur Pferdebahn sind es fünf Minuten, bis zum Strandschloß fährt man zwanzig Minuten – wir können also eine Menge Neuigkeiten besprechen. Avanti! – [496] Die Gesellschaft der schönen Livia Casasola wirkte in sprachlicher Beziehung verderblich auf Walter.
„Auch Du bist noch der Alte,“ sagte Robert und holte seinen Hut vom Thürnagel. –
Als der Kapellmeister vor dem Strandschloß abstieg, rief ihm Walter nach: „Ohne Verbindlichkeit, aber hoffentlich auf Wiedersehen!“
„Um Sechs!“
Es waren außer Lenz viele Fahrgäste ausgestiegen, sangliebendes Männervolk; der Wagen wurde beinahe leer. Walter streckte die Beine von sich. „Herr Leisewitz,“ sagte er bei sich, „wir werden uns ohne Sie behelfen!“
Unterdessen war in der Erkerstube der Strandwirthschaft die Bowle gebraut worden. Das Wort: „Sänger sind immer durstig“, paßte nicht auf Leisewitz. Er saß nicht ungern unter fröhlichen Zechern, aber zechte nicht selbst. Nicht nur aus Furcht für die Million in seiner Kehle, sondern auch aus „Selbstachtung“. So konnte es nicht fehlen, daß ihn auch diese Eigenschaft für Emma, die zwischen ihrem Vater und Segeberg saß, unter den kantigen Männern, die gewaltig tranken, zu einer Erscheinung aus einer schöneren Welt machte.
Leisewitz hatte ein hübsches Stück Welt gesehen und wußte gut davon zu erzählen. Vielleicht war nicht alles wahr, doch er erzählte so, daß man ihm glaubte, mit dem schönsten Aufgebot seiner lebhaften Phantasie. Und da seine Zuhörer einfache biedere Leute waren, wurden sie von der Pracht und Verschwendung in seinen Schilderungen bezaubert; sie staunten über das Sonntagskind, das solches gesehen und erlebt hatte, und waren so versunken ins Zuhören, daß sie von dem Lärm und der Unruhe draußen nichts vernahmen. Die Erkerstube lag nach dem Walde zu, stieß aber an den großen Saal, in dem der Cäcilienverein seine Konzerte und der Schützenbund seine Tanzkränzchen veranstaltete. Aus dem Saal, der Erkerstube gegenüber, führte eine Thür unmittelbar ins Freie, auf die Terrasse mit dem Ausblick auf Strand und Meer. In diesem Saale hatten sich inzwischen die „Eismänner“ versammelt. So hieß ein Zweig des Cäcilienvereins, dessen fast durchweg jugendliche Mitglieder ebenso den vierstimmigen Männergesang pflegten wie im Winter den Schlittschuhsport.
Jetzt wurden plötzlich die beiden Flügel der Thür, die zur Erkerstube führte, von außen geöffnet, und unsere Gesellschaft sah vor ihrer Schwelle dichtgeschart und vollzählig den Bund der Jugend, die gesangeskundigen „Eismänner“, mit Robert Lenz an der Spitze. Dieser winkte mit der Rechten, worauf aus vierzig kräftigen Kehlen der Wahlspruch der „Eismänner“ erklang:
„Unser Lied, es sei
Wie der Sänger – stolz, wahr, frei!“
Dann trat Lenz auf die Schwelle und richtete das Wort an Leisewitz, der – ein umwölkter Zeus – ihm gegenüber thronte. Er sprach ohne Schüchternheit und ohne Uebertreibung. „Ich bitte, diese Störung zu verzeihen. Wir hatten uns zu einer Probe für das nächste Wohlthätigkeitskonzert des Cäcilienvereins versammelt, als wir erfuhren, daß ein großer Künstler, ein Sänger von Gottes Gnaden im Hause anwesend sei. Herr Siegfried Leisewitz! So klein unsere Stadt ist, so sind doch der aufrichtigen Musikfreunde viele darin und jedem ist Ihr Name theuer. Ihr Ruhm ist heimisch bei uns. Von unserer Probe kann heute nicht mehr die Rede sein. Doch da der Grund unseres Verstummens kein trauriges, sondern ein freudiges Ereigniß, ein Ereigniß im wahren Sinne des Wortes ist, stehlen wir uns nicht davon, sondern bleiben und feiern nach germanischem Brauch den Tag und den Helden des Tages. Sie aber und Ihren liebenswürdigen Kreis bitten wir, sich zu uns zu gesellen. Mißverstehen Sie uns nicht! Das soll nicht heißen: nun wirst Du uns auch singen. Nein, wir wollen Sie nur unter uns haben wie Rekruten einen berühmten Feldherrn. Und wenn Ihnen der eine und andere von uns derb die Hand drückt, so sagen Sie sich, ich bin nicht bei Hofe, sondern in Wörde. Mich hat zwar die See nicht wie meine Freunde hier schon als Kind in Schlaf gewiegt, aber ich kenne die See und das Volk, das an ihr großwächst – die See hat ihre Tücken, aber im Volk ist kein Falsch. Und so heißen meine Freunde, meine Schüler hier den berühmten Künstler aus aufrichtigem Herzen willkommen. Der große Sänger lebe hoch!“
Leisewitz sah die Augen Emmas seinetwillen süß aufleuchten vor Freude und Stolz, und berauscht von diesem Erfolge sprang er auf. „Ich danke Ihnen, Freund,“ rief er pathetisch, „und Ihren Freunden. Ueber unser Bleiben habe aber nicht ich, sondern haben Fritz Hagemann und Kompagnie zu entscheiden. Wenn es ihnen recht ist, bleibe ich gerne noch ein Stündchen in Ihrer Mitte. Aber singen werde ich heute nicht – hem, hem – denn ich möchte meine Probe vor Ihnen mit Ehren bestehen, fühle mich aber – hem, hem – heute dazu außer stande. Freund Lenz sprach von einem Wohlthätigkeitskonzert Ihres Vereins. Ich bitte, mitwirken zu dürfen. Und zwar bitte ich darum nicht nur aus Dankbarkeit für Ihre Begrüßung, sondern auch, um Ihnen einen gemeinsamen Freund, den Sie sicherlich hochschätzen und dennoch kaum in seinem ganzen Werthe kennen, ins Herz zu singen. – Lieber Maëstro, erlaube mir, Dein Progamm um eine Nummer zu vermehren – um Tassos Lied aus der Oper ‚Tasso‘ von Robert Lenz!“
Nachdem das Hurrarufen und Beifallklatschen verhallt war, fand die Uebersiedlung statt, denn Hagemann und Kompagnie gaben mit Begeisterung das Stündchen zu . . . Man hat gesagt, daß es unmöglich sei, eine Schlacht und einen Ball zu beschreiben. Ebenso schwierig dürfte es sein, das Gelage junger Stürmer zu schildern, auch wenn sie sich mit Alten zusammenthun, denn die bemoosten Häupter sind bald um kein Haar besser als die andern. Jeder ist gesprächig, doch kaum einer wird sich am folgenden Tage erinnern, was er gestern gesprochen, gepriesen, getadelt, verleugnet, geschworen hat; alle, auch die Nüchternen, sind nichts als eben seelenvergnügt. Aber warum?
Wenigstens zwei wußten an jenem Abend, warum, und weil sie es wußten, waren sie nur still vergnügt, verschämt selig: Emma, die wieder zwischen dem Bürgermeister und ihrem Vater vertaut wurde, und Siegfried, der ihr gegenüber saß. Die Wandlung des Sängers kam Herrn Hagemann nachgerade sonderbar vor. Der eine und andere Blick zu Emma hinüber, der beredt war wie der schönste Brief, wurde auch von ihm aufgefangen und gedeutet. Alle Wetter der junge Mann bildet sich am Ende ein – doch just, wenn Hagemann grimmig werden wollte, kam wieder ein „Eismann“, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Hagemann, famoses Haus, das haben wir Ihnen zu verdanken – auf Ihr Wohl!“ Hagemann nahm Dank und Huldigung mit Würde in Empfang und that schmunzelnd Bescheid. Warum sich heute den Abend verderben, dachte er. Aber morgen werde ich ihm den Standpunkt klar machen!
Doktor Walter traf erst um Neun im Strandschloß ein, gerade als sich die Familie Hagemann, Leisewitz und der Bürgermeister von den „Eismännern“ verabschiedeten, um als gesetzte Leute den letzten Wagen der Pferdebahn nach dem Städtchen zu benutzen.
Leisewitz hatte ein Umschlagetuch malerisch um Schultern und Hüften gezogen. Das Tuch hatte ihm der Kapellmeister aufgenöthigt. „Sie haben recht,“ hatte Leisewitz erwidert, „man kann hier abends nicht vorsichtig genug sein. Mein Diener wird Ihnen – ja so, will sagen, Dir das Tuch morgen früh zurückbringen.“ Er warf einen Blick auf Doktor Walter, der nahebei in einer Fensternische stand. „Wenn ich Dich vorhin recht verstanden habe, bist Du mit dem neuen Hofmedikus unserer Prinzessin bekannt?“
„Wir sind Jugendfreunde.“
„So, so. Na, adieu! Es bleibt bei der Verabredung, ich singe Tassos Lied, und wie werd’ ich singen!“
Die vierzig „Eismänner“ stimmten den Scheidenden zu Ehren abermals ihren Wahlspruch an; doch klang derselbe nicht mehr so stolz und siegessicher wie das erste Mal . . .
Zwischen jenem Abend im Strandschloß und dem Tag, an welchem das Konzert stattfand, waren zwei Wochen vergangen, für Leisewitz in Qual und Seligkeit. Schon bei der Heimkehr hatte Hagemann jedes Zwiegespräch vereitelt, und seitdem war es dem Sänger nie gelungen, Emma allein zu treffen. Keine Mutter hätte diese besser als Hagemann bewacht; ja eine Frau hätte sich am Ende durch die schönen Augen Siegfrieds, durch seine Liebenswürdigkeit, seinen Gesang und sein Klavierspiel, nicht weniger durch die sanfte Ergebenheit Emmas rühren lassen – Hagemann blieb unbestechlich. Er vermied den Sänger nicht, im Gegentheil, wenn dieser nicht zu ihm kam, suchte er ihn selbst auf. Er war [498] ihm gut, aber er wollte ihn nicht zum Schwiegersohn. Alle im Städtchen waren dem Sänger gut, denn er wirkte wie ein Gärmittel auf die schwerblütige Gesellschaft. Da das Wetter beständig blieb, wurden fast an jedem Nachmittag Ausflüge zu Wasser und zu Lande unternommen, Emma war immer dabei, aber keine Minute allein. Zuweilen löste der Hausfreund Segeberg den Vater in der Wache ab. Da dieser ein rüstiger Witwer und reich war, sah Leisewitz anfangs einen Freier in ihm und empfand alle Qualen der Eifersucht, bis ihn endlich die wahrhaft feierliche Hochachtung, die Emma dem Vater der Stadt erwies, beruhigte. Aber was half ihm diese kleine Erleichterung seines Herzens? Wenn die anderen Wörder Damen morgens mit der Pferdebahn zum Seebad fuhren, brachte Hagemann seine Tochter im eigenen Wagen dahin und wartete dann auf dem Platz vor dem „Deutschen Kaiser“, wo auch schon der Sänger beim Kaffee, seinem zweiten Morgenkaffee, saß. Die beiden Männer plauderten, bis Emma wieder erschien, den Hut in der Hand, das wellige Haar, das ihr tief über den Gürtel herabhing, aufgelöst. Sie nickte und grüßte dann herüber, doch Hagemann bezog das auf sich allein, verabschiedete sich von Leisewitz und fuhr mit seinem Töchterlein in die Fabrik, wo die Essen rauchten und ein widrig süßlicher Geruch die Luft verdarb. Emma beklagte sich darüber und fortan fuhr Hagemann mit seiner Tochter nach Wahndorf zu spazieren.
Bei alledem wagte Emma zur Verzweiflung des Sängers nicht die geringste List gegen ihren Wächter. Wenn sie auf den Ausflügen nur ein einziges Mal dem Beispiel der anderen Mädchen gefolgt wäre, die wie Rehe in das Dickicht sprangen! Leisewitz würde sie eingeholt haben – und wieviel läßt sich mit wenig Worten sagen! Doch Emma sprang nicht mit dem Rudel, sondern ging sittig an der Seite des Vaters, „in gleichem Schritt und Tritt“. Siegfried klagte sowohl sie wie sich selbst der Feigheit an; verzweifelnd faßte er dann den Entschluß, morgen abzureisen. Doch da gab ihm ein heimlicher Blick oder ein Erröthen wieder Trost und Hoffnung, und er rief sich zu: Du bist ein Thor, an ihr zu zweifeln!
So genoß er das Glück, zu lieben und geliebt zu werden, ohne Uebermuth. Das Hangen und Bangen vertiefte seine Empfindung, es gab seinem Wesen ungewohnten Ernst und seiner Miene einen schwärmerischen Ausdruck, was alles ihm in den Augen Emmas zu nicht geringem Vortheil gereichte.
Prinzessin Erna verlangte niemals nach dem Sänger, dagegen wurde Kapellmeister Lenz täglich in das Sommerhaus geladen. Leisewitz hörte das ohne Verdruß, Für ihn war das Städtchen Wörde jetzt die Welt und Emma deren Königin.
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Das Konzert des Cäcilienvereins sollte um Fünf beginnen. Bald nach Tisch hatte Leisewitz seinen Bedienten Purzel mit einem Blumenstrauß für das Fräulein zu Hagemanns hinübergeschickt und dann am Fenster sehnsüchtig auf die Rückkehr des Boten gewartet. Aber noch bevor dieser wieder aus dem Hause getreten, war drüben Emma an einem offenen Fenster erschienen, den Strauß in der Hand, und als sie den Sänger gewahr geworden, hatte sie freudig genickt und das Gesicht in die Blumen gedrückt; nur einen Augenblick lang, denn alsbald war Herr Fritz Hagemann neben ihr erschienen und hatte auch genickt.
Nun war es fünf Uhr und der große Saal des Strandschlosses dicht gefüllt; nur inmitten zwischen den zwei Sitzreihen war der Gang zu den vorderste Stühlen frei, die von der Prinzessin und ihrem Gefolge eingenommen waren. An den Langseiten standen die Leute Kopf an Kopf. Ein paar Stufen höher als der Boden lag die Bühne für die Vereinsmitglieder, für Sänger und Orchester, ebenso dicht besetzt wie der Zuschauerraum. Emma hatte ihren Platz nahe dem Mittelgang, in der vierten Reihe, zwischen dem Vater und dem unvermeidlichen Bürgermeister.
Siegfried Leisewitz hatte sich nach reiflicher Erwägung nicht auf die Tondichtung seines Freundes Lenz beschränkt. Er trug schon am Schluß der ersten Abtheilung ein paar Lieder Schuberts vor und sang, dem stürmischen Zuruf sich fügend, das Lied „Gute Nacht, du mein herziges Kind!“ als Zugabe. Er sang von den „blauen Aeugelein“ der blauäugigen Wörder Maid zu Ehren, er sang das Lied für Emma allein und zwar mit einer Inbrunst und Klangfülle, daß nicht nur Emma es für das allerschönste hielt. Die biederen Wörder verwandelten sich in feurige Südländer; der Sänger mußte ein dutzend Mal vor die Rampe. Selbst Segeberg erwachte aus fünfundvierzigjähriger Ruhe; er vergaß seine zehnjahrige Amtswürde, stampfte mit dem Fuß, schlug mit der Rechten in die Linke und rief dröhnend ein Bravo um das andere. Wie das Horn von Uri klang seine Stimme.
Auch während der Pause hielt die freudige Erregung an. Niemand blieb steif und ruhig, jedermann fühlte sich leichtblütig und mittheilsam. Nur in der nächsten Nähe der Prinzessin wurde es eine Weile still, als der Hofmarschall seiner Herrin Fräulein Hagemann zuführte. Emma, aus allen Himmeln gerissen, war über die Auszeichnung wenig erfreut und stand roth und verlegen vor Erna, die allerlei Freundliches zu ihr sagte.
„Wie Ihre Augen glänzen!“ meinte Erna zuletzt; „ich freue mich an Ihrer Freude. Bleiben Sie in meiner Nähe, damit ich Sie sehen kann. Bitte, Herr von Aschau, schaffen Sie Platz!“
Der Hofmarschall überließ dem Mädchen seinen eigenen Stuhl und setzte sich zu Fritz Hagemann, der verdrießlich neben zwei leeren Sesseln saß, denn auch Segeberg hatte ihn verlassen.
„Nun, was sagen Sie zu unserem Schwan, zu unserem gemeinsamen Freunde, denn wie ich vom Kapellmeister höre, stecken Sie ja von früh bis spät mit Leisewitz zusammen!“
Hagemann als ehrenfester Kleinstädter glaubte sich deshalb entschuldigen zu müssen – Leisewitz sei eben ein ausgezeichneter Gesellschafter und guter Junge.
„Sie nehmen ihn doch wohl zu leicht, lieber Herr. Er ist vor allem ein großer Künstler.“
„Das auch, das auch, aber Sie wissen, für uns Bürger sind die Künste brotlose Sachen.“
„Na, na, brotlos! Das paßt auf unseren Leisewitz am allerwenigsten. Von seiner amerikanischen Kunstreise hat er bare fünfzigtausend Mark heimgebracht. Jetzt halten wir den kostbaren Vogel vorläufig auf zehn Jahre fest. Dafür sind ihm jährlich fünfundzwanzigtausend Mark zugesichert, als emsiger Mann aber verdient er weit mehr. Denken Sie nur an die Busennadeln, Diamantringe und so weiter, die er sich nebenbei ersingt. Sein Einkommen ist wahrscheinlich geringer als das Ihrige, aber jedenfalls viel größer als das meinige.“
Hagemann machte ein verblüfftes Gesicht. „Was Sie sagen! Allerdings – er hat einen Bedienten, geht fein, flunkert gerne mit der Million in seiner Kehle – aber da dies Künstlervölkchen immer mehr ausgiebt, als es einnimmt, so denke ich –“
„Da sind Sie wieder im Irrthum, mein Bester. Leisewitz ist ein sparsamer Mann, obwohl er es nicht nöthig hätte. Er raucht, trinkt und spielt nicht, macht freilich die Herrenmoden mit, nun ja – doch sein Diener ist zugleich sein Barbier, Friseur und vermuthlich auch Claqueur. Was wollen diese Ausgaben bei seinen Einnahmen sagen! Er legt auf die hohe Kante, lieber Herr. Und das wird ihm doch unter Bürgern nicht verargt werden!“
„Das freut mich, das freut mich, daß er mein Vertrauen verdient. Ich habe ihn nämlich für morgen zu Tisch geladen.“
„So, so, und an mich haben Sie nicht gedacht?“
„Aber, Herr Baron! Wenn ich wüßte, daß Sie mit Leisewitz und einem Teller Suppe vorlieb nehmen –“
„I, Leisewitz ist der beste Tischkamerad, den man sich wünschen kann, und – und – aber was hat das zu bedeuten? Es wird immer dunkler!“
Hagemann sah zum nächsten Fenster hinaus. „Segeberg behält recht,“ sagte er, „es giebt ein Gewitter.“
„Dann würd’ es wohl besser sein, Hoheit ginge schon jetzt?“
„Nein, nein! Entweder bricht es sofort los oder drückt sich noch lange herum. Wir haben übrigens nur noch zwei Nummern bis zum Schluß- und Glanzstack des Abends.“
Während dieser zwei Nummern war es im verdüsterten Saal unruhig, sobald aber Leisewitz zu seinem letzten Lied erschien, trat Totenstille ein. Kapellmeister Lenz setzte sich an den Flügel. Erst sangen die „Eismänner“ den Chor der schadefrohen oder furchtsamen Höflinge, Tassos Ungnade beim Fürsten verkündend. Dann sang eine stimmbegabte Wörderin mit Leisewitz ein Duett – sie, Leonorens Freundin, schmeichelt dem gekränkten Tasso, tröstet ihn, doch er antwortet nur in abgerissenen Lauten, dumpf, verzweiflungsvoll.
Da tritt Leonore von Este selbst ein, und nun strömte Siegfrieds Stimme im Lied sich aus:
[499]
„In deinem Haar die blasse Rose
Will ich von deiner schönen Hand,
Dann lebe wohl, du Gnadenlose:
Verworfen bin ich und verbannt!
Einst wollt’ ich fliehen, doch es sprachen
Die Augen zärtlich damals: bleib’!
O diese Strahlenaugen brachen
Mein Herz – die damals baten: bleib’!
Nun wandr’ ich wieder, aber finde
Den Weg nicht mehr, der vor mir lag –
Wohin? Es schleicht der arme Blinde
Von Haus zu Haus, in Nacht am Tag!
Ich soll auf immer von dir scheiden?
Unmöglich – Fieber – Wahnstnn! Sprich!
Scheiden ist Tod! Ich will ja leiden,
Doch leben, denn ich liebe dich!“
Als der Sänger endigte, erzitterte das Haus unter dem losbrechenden Beifall, die Menge raste. Prinzessin Erna und ihre Damen gingen mit dem Beispiel voran; sie standen auf und schwenkten ihre Tücher. Blumen flogen. Emma liefen die Thränen über die Wangen, und doch war sie unaussprechlich selig.
Kaum aber hatte der Jubel, der minutenlang dauerte, sich gelegt, so brauste ein anderer Sturm durch den Saal. Mit eins flogen die Fenster auf und die Windsbraut stürzte heulend herein, ihr Brausen mit dem Donner der Wogen vermischend. Eine unglaubliche Verwirrung entstand. Alles rannte durcheinander. Und Siegfried benutzte die Gunst des Augenblickes; mit einem Sprung war er unten bei Emma, faßte ihre beiden Hände und flüsterte leidenschaftlich: „Ich liebe Dich – ich liebe Dich!“
„O, Siegfried!“
„Und liebst Du mich?“
Sie schlug die großen Augen zu ihm auf. „Ewig!“ –
Anfangs wurde Fritz Hagemann von den Badegästen, die erschreckt ins Freie wollten, fast bis zur Thür mitgewirbelt, dann arbeitete er sich mühsam gegen den Strom zu seiner Tochter durch. Sie stand jetzt vor der Rampe zwischen Lenz und Leisewitz. Hagemann hatte den Hut auf und war sehr roth, als er angeschnauft kam. Dann aber beruhigte er sich; bei zwei Beschützern haftet der eine für den anderen. Er stellte sich breitspurig vor Emma.
„Hat man je einen solchen Aufstand erlebt um einen Mundvoll Wind! Diese Landratten! Weil ein paar Scheiben in Scherben gehen, glauben sie schon, der Sturm bläst das Haus um und die See ersäuft sie.“ Er blickte in das Gewühl auf der Bühne. „Aber die Cäcilianer sind auch keine Helden. Wenn ich Musikmeister wäre, ich hätte einen Walzer spielen lassen, und alles war gut. Na, nehmt’s nicht übel, Lenz! Lustig, Leisewitz! Ich bin kein Freund von Redensarten – aber es war großartig!“
„Vater, meine Blumen!“ rief Emma. „Ich habe sie Dir übergeben, als man mich zur Prinzessin holte.“
„Erlaube mir, in diesem Wirrwarr konnte ich unmöglich –“
„Sie sind das Opfer der rasenden See,“ sagte Leisewitz und lachte.
„Die schönen armen Blumen!“
„Morgen bringe ich Ihnen andere. Und was wird jetzt? Es zieht hier fürchterlich!“ Im Nu hatte ihm Emma ihr Spitzentuch um den Hals geschlungen – ihre erste Kühnheit!
„Sie sind ein Engel, Fräulein Emma! Aber wehe meinem Giuseppe, der Kerl läßt sich nicht blicken!“
„Sie dürfen heute niemand böse sein, Herr Leisewitz,“ sagte Emma mit einem Blick, der dem Vater nicht gefiel. Er sah mißtrauisch von ihr auf den Sänger. „Warum heute nicht?“
„Fräulein Emma meint wohl, wenn man eben soviel Güte erfahren habe - aber was machen Ihre Miether, Hagemann? Ich sehe die Prinzessin nicht mehr.“
Hagemann stellte sich auf die Fußspitzen. „Zum Teufel, wer kann an alles denken!“ Robert konnte ihn beruhigen. Er hatte die Prinzessin am Arm des Bürgermeisters auf der Bühne gesehen.
„Am Arm Segebergs – die Prinzessin!“ rief Hagemann. „Mein Sonnenbruder Prinzessinnenführer – Gott, daß ich das nicht gesehen habe! Aber jetzt gelüstet mich nach etwas Trinkbarem – ich denke, wir können jetzt in das Erkerstübchen. Nein, nein, Leisewitz, lassen Sie den Kapellmeister nicht fort, reichen Sie ihm den Arm, so! Ihr habt Euch heute in die Ehren getheilt, Ihr müßt auch für den Rest des Tages die Unzertrennlichen sein.“ –
In der wogenden Menge war die Gruppe um die Prinzessin eine Insel. Wenigstens Segeberg, der den Bedrängten beigesprungen war, die zwei Lakaien, die sich aus dem Hintergrund den Weg zu ihrer Herrin ertrotzt hatten, und Doktor Walter standen wie Felsen. Erna verlangte dem Arzt gegenüber die sofortige Heimkehr. Er wandte ihr ein, daß die Pferde des fürstlichen Marstalls wohl an Gewitter, aber nicht an die brüllende kochende See gewöhnt seien.
„Aber ich will ja nicht fahren! Ich will gehen!“
„Unmöglich, Hoheit!“
Sie lachte unmuthig auf. „Glauben Sie denn, ich werde den Wellen in die Arme laufen? Was kann mir geschehen?“
„Naß werden Sie werden, gnädigste Prinzessin,“ sagte Segeberg, „naß bis auf die Haut.“
„Ach was – ein Gang von zehn Minuten! Daheim giebt’s trockene Kleider und warmen Thee – Sie müssen ihn mit uns trinken, Herr Segeberg! Ja, daheim beim warmen Thee und in trockenen Kleidern – Aschau, Sie werden für unseren Bürgermeister Sorge tragen! – lachen wir darüber.“
„Sie vergessen den Sturm, Hoheit,“ sagte Walter.
„Den Sturm? Glauben Sie, ich kenne nicht den Unterschied zwischen einem Sturm und einer Bö? Vorwärts!“
Da war nicht länger zu streiten; der Zug setzte sich in Bewegung. Die Bedienten gingen an der Spitze; Segeberg folgte mit Erna und gab den anderen die Richtung an. Der Adjutant schritt der Prinzessin zur Linken. Aschau führte Frau von Schönfeld oder vielmehr sie führte ihren Ritter; denn der Wind blies ihm derart über Augen und Nase, daß er das Niesen bekam und alle Haltung verlor. Der Arzt und Gräfin Casasola beschlossen den Zug. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel und stützte sich ohne Zimperlichkeit auf den Arm Walters.
Es war nicht Tag, nicht Nacht, aber auch nicht die holde Dämmerung der langen Sommerabende. Ein fahles Licht unter einem schwarzen Himmel, das nicht dem Aether, sondern den Gegenständen anzugehören schien; die kahle Hinterwand des großen Gasthofes, die schwanken Wipfel über der Gartenmauer, die farbigen Sommerhäuser, Kioske und Laubgänge, das alles war deutlich und scharf umrissen, aber in seiner Buntheit unter dem ungeheuren Trauermantel ebenso sonderbar wie ein Kerzenlicht bei blauem Himmel. Der Wind heulte und wimmerte; dazwischen hörte man das Donnern der See. Der Steig führte im Zickzack erst aufwärts in der Richtung auf den Wald, dann seewärts hinab. „Jetzt aufgepaßt!“ schrie der Führer; sie traten aus dem Schutz der Mauern auf die freie Uferstraße. Der Sturm packte sie sofort und schleuberte ihnen Schaumflocken und den Sprühregen der hochgehenden Wogen ins Gesicht. Sie mußten sich schief stellen und sammeln. Dann gingen sie langsam, ruckweise vorwärts.
Zur Rechten hatten sie die tobenbe See: Wellen über Wellen, wuchtige Massen mit krausen Kämmen; dunkle Schlünde, im nächsten Augenblick von stürzenden Bergen verschüttet; eine Million häßlicher ruheloser Polypenarme, gierig hervorlangend aus fliegendem Gischt. Ueberall sinnlos wüthende Kraft. Zur Linken der Wald, landein gebeugt, wie auf der Flucht vor der See. Möwen taumelten über dem Gewoge und schossen auf dem Strande hin und her; zuweilen hörten die Wanderer ihr Geschrei durch das Getöse. Die Prinzessin blickte scheu auf das Meer und seine greuliche Unrast. Ihr wurde schwindlig, die unendliche Wasserwüste schien sich über sie zu wälzen . . . „Unmöglich – Fieber – Wahnsinn!“ murmelte sie unwillkürlich und schmiegte sich an den wetterfesten Bürgersmann wie ein furchtsames Kind an den Vater.
Endlich auf dem Vorplatz der Villa Hagemann, angesichts der weitgeöffneten Thür zu dem schon hellerleuchteten Flur blieb Aschau stehen und sagte, indem er den triefenden Hut schüttelte und nach seinem Kneifer tastete, zu Frau von Schönfeld: „Man muß Gott für alles danken! Denken Sie sich, wenn unsere Gnädigste die Heimkehr zu Wasser befohlen hätte!“
Erna sah blaß und erschöpft aus. Sie verabschiedete sich noch in der Halle, empfahl ihrem Gefolge aufs wärmste den guten Bürgermeister und wünschte allen einen vergnügten Abend. Brausewein ging mit der Würde eines Grandseigneurs voraus, die Treppe hinauf; Erna und eine Kammerfrau folgten. Oben drehte sich die Prinzessin noch einmal um und nickte hinab; die Herren und Damen verneigten sich. Jeder freundliche Zug verschwand aus dem Antlitz Ernas, sobald sie der Gesellschaft den Rücken kehrte. Sie hatte Kopfweh, und wie es jedem zuweilen mit Versen oder Musikstücken ergeht, die Stelle aus dem Liede des Kapellmeisters: „Unmöglich – Fieber – Wahnsinn!“ verließ sie nicht mehr.
Von dem abenteuerlichen Heimweg vom Konzert erzählte Aschau am folgenden Tage dem Sänger, während sie in Hagemanns Rauchstube saßen. Die Stube diente nämlich, wenn der Speisesaal geöffnet wurde, vor der Tafel als Empfangszimmer. Ein Diwan lief um die Wände, niedrige, mit Kameeltaschen gepolsterte Lehnstühle und türkische Tischchen standen umher. Es war ein behaglicher Raum. Die beiden Männer saßen sich gegenüber, Aschau im Gehrock, Siegfried im Frack. Ein halbes Dutzend Ordenskreuzchen und Medaillen an goldenem Kettchen zierte den Frack, Diamantknöpfe – „Geschenk der Zarin“ – blitzten an der gestickten Brust des Batisthemdes; die Uhrkette des Sultans schlängelte sich unter dem Frack hervor. Er trug Lackschuhe, welche die himmelblauen Seidenstrümpfe sehen ließen. Doch sein hoher Wuchs, der edle Gesichtsschnitt, die kühne Kopfhaltung, die glänzenden Augen – mit einem Wort, seine männliche Schönheit rettete ihn vor dem Fluche der Lächerlichkeit.
Die Thür zum Speisezimmer war nur angelehnt, sie hörten das Klirren von Silber, zuweilen ein Geslüster und dann ein lauten: „Ja wohl, Euer Gnaden!“ oder: „Sehr richtig, gnä’ Fräulein!“ von Giuseppe Purzel, den sein Herr zur Verfügung gestellt hatte.
„Was meinen Sie,“ sagte Aschau, „da uns Hagemann im Rauchzimmer empfängt, bin ich versucht, eine von diesen Cigaretten zu rauchen. Ich weiß nicht warum, aber ich hege das Vertrauen, daß Ihr künftiger Schwiegervater guten Tabak raucht.“
„Um Gotteswillen,“ flüsterte Leisewitz mit einem ängstlichen Blick auf die Thür, „was fällt Ihnen ein!“
[511] Aschau drehte unentschlossen die Blechdose mit den Cigaretten hin und her. „Soll ich oder soll ich nicht?“
„Sie werden sich die Eßlust verderben.“
„Was die betrifft, muß ich leider Ihrem Schwiegerpapa –“
„Aber ich bitte Sie!“
„Eine riesige Enttäuschung bereiten. Mein Wille ist wohl gut, aber der Magen schwach. Ach, Freund, ich bin von Tantalus’ Geschlecht. Alle die reizenden Dinge, die ich unserem Hofe auftische, die mir lieblich duften und den Mund wässerig machen, sind nicht für mich.“
„Sie sollten sich einer Kur unterziehen.“
„Ich bin immer in der Kur; aber sobald mir wieder wohler ist, unterliege ich der Versuchung, und mein Elend fängt von vorne an. Ihr Schwiegervater räth mir –“
„Nun bitte ich Sie aber ernstlich, die Scherze zu lassen.“
„Ich scherze nicht. Oder wären Sie wirklich blind für diese in Gold gefaßte Perle? Ja, Fräulein Hagemann ist eine Perle, oder, um ein frömmeres Wort zu gebrauchen, ein Engel.“
Leisewitz sprang auf. „Zum letzten Mal! Ich hielt Sie für meinen Freund –“
„Der bin ich.“
„Dann machen Sie mich hier nicht unmöglich!“
„Seien Sie aufrichtig, und Sie sollen auch von mir eine große Neuigkeit erfahren.“
„Darauf bezüglich?“ fragte Siegfried betroffen.
„Erst reden Sie!“
Der Sänger preßte die Hände zusammen, dann sprach er leise, leidenschaftlich: „Nun ja, ich wünsche, ich hoffe – – ja, ich fühle zum ersten Mal, was wahre Liebe ist. Der Vater weiß noch nichts, aber ich bin bereit fur Emma alles zu wagen. Ich entsage dem Ruhm, der Kunst, der Bühne –“
Jetzt sprang auch Aschau auf „Oho, das werden Sie nicht, das dürfen Sie nicht! Sie würden sich und mich unglücklich machen. Erfahren Sie die große Nachricht: ich bin Ihr Chef!“
Der Sänger starrte Aschau sprachlos an.
„Sie sind überrascht? Ich war es nicht. Diese Wende war von langer Hand vorbereitet. Herr von Sporn geht und ich trete an seine Stelle. Morgen lesen Sie meine Ernennung zum Hoftheater-Intendanten in den Zeitungen.“
„Excellenz, meinen Glückwunsch!“
„Ich bin nicht überrascht, dennoch freudig bewegt. Die edle Kunst, Oper, Drama und so weiter, soll in mir einen wahren Freund finden. Ich will unsere Bühne zu einer Musterbühne machen. Dabei rechne ich in erster Linie auf Ihre Hilfe. Hier meine Hand – auf gegenseitige Unterstützung!“
„Mein Urlanb geht übermorgen zu Ende. Entweder muß ich mich bis dahin dem Vater erklären oder –“
Aschau fiel ihm erschrocken ins Wort. „Verlangen Sie von mir nicht als erste Amtshandlung die Verlängerung Ihres Urlaubs! Unsere Stadt wimmelt von Fremden, der Hof kehrt heim, die Prinzessin ist seit gestern Feuer und Flamme für Ihr herrliches Talent. Ich lasse Sie nicht mehr aus den Augen; wir reisen gemeinschaftlich ab. Sprechen Sie mit dem Vater! Wenn ich für Sie gut stehe, wird er, muß er –“
Der Eintritt Fritz Hagemanns und seiner lieblich erröthenden Tochter unterbrach ihn. Der Hausherr entschuldigte sich, daß er sie so lange allein gelassen, und drückte ihnen die Hand, dann erschien Purzel auf der Schwelle und meldete: „Es ist aufgetragen, Euer Gnaden!“
Der Tisch war reich, aber ohne Ueberladung gedeckt, denn Emma hatte Geschmack. Herr von Aschau nahm die Tischkarte. „Was für eine schöne Handschrift!“
„Die Hand meiner Tochter,“ sagte Hagemann stolz. Emma beugte sich gluthroth über ihren Teller, denn jetzt griff Leisewitz zu seiner Tischkarte, und diese enthielt eine kleine Nachschrift von derselben Hand, aber kritzelig und mit einer Bleifeder geschriebeu: „L. S. Opfern Sie sich mir zulieb! V. ist nur guter Laune, wenn seine Gäste beweisen, daß es ihnen schmeckt. Schrecklich prosaisch, aber – Also bitte, essen Sie recht viel! Stecken Sie die Karte ein!
Ihre E.“„Hummersuppe oder braune Suppe?“ sagte Giuseppe; „Sherry, Wermuth von Turin oder norwegischen Branntwein von Drontheim?“ sagte Wilhelm, der Kutscher.
„Was thut man?“ seufzte Aschau. „Ich werde anstatt Suppe ein Schnäpschen nehmen. Wie ich sehe, sind Sie für französische Küche, aber für deutsche Namen. Ich bin für die französische Benennung. Was sagen Sie, Leisewitz?“
„Ich bin für die Küche, Namen sind Schall!“
Siegfried war schon über der Hummersuppe her.
Aschau zurückgelehnt, hielt in der einen Hand das Likörglas, in der andern die Karte. „Das Menü ist von schöner Hand geschrieben und von einer Meisterhand entworfen. Ich kenne die Schwierigkeiten eines sinnigen Menüs.“
„Im Juli und in einer Kleinstadt!“ fügte Hagemann schmunzelnd hinzu.
„Hagemann,“ rief der Sänger, „diese Hummersuppe ist die beste meines Lebens, und ich habe Hummersuppe beim General Tschagiroff, dem ersten Feinschmecker Moskaus, gegessen. Gnädiges Fräulein, es ist zwar nicht fein, aber – ich bitte um einen zweiten Teller Hummersuppe.“
Emma blickte ihn dankbar an.
„Sie sollten in unsere Residenzstadt ziehen,“ sagte Aschau zum Hausherrn. „Ich schmeichle mir, für die feine Küche dort etwas geleistet zu haben. Sie können bei uns alles haben – echte Vogelnester, welche in Hongkong fünfzig Dollars das Pfund kosten, Schinken aus York, oder wünschen Sie Känguruhschinken?“
„Denk’ ich mir schrecklich schön,“ rief Hagemann.
„Straßburg und Nantes haben bei uns Niederlagen für ihre köstlichsten Pasteten. Unb so weiter und so weiter! Uebrigens wird die Prinzessin Sie nebst Ihrem Fräulein Tochter mündlich einladen, sie auf Solitude zu besuchen. Daß Leisewitz und ich Ihnen beiden das Leben in der Residenz so angenehm wie möglich machen, werden Sie wohl glauben.“
„Ich bin Ihnen sehr verbunden für die Ehre – darüber ließe sich schon reden.“
„Ach, ach,“ seufzte Aschau, „,Steinbutt mit Kapernsauce‘ und ‚Aal, am Spieß gebraten‘ – wer das könnte!“
„Ich kann es,“ sagte Leisewitz und unternahm einen neuen Sturm.
„Lieber Hagemann,“ fuhr er nach einer Weile fort, „ich wollte Ihre Freundlichkeit mit einem Abschiedsmahl in der ‚Sonne‘ erwidern, aber das ist jetzt unmöglich geworden – so etwas können sie drüben nicht, das kann auch die Küche im ‚Deutschen Kaiser‘ nicht. Ich erwarte Sie also bei mir daheim –“
„Ich schlage vor, wir feiern unsern Freund und Fräulein Tochter in unserm Klubhaus. Die Küche dort dürfte unserm verwöhnten Freund einigermaßen genügen.“
So thaten die Verbündeten alles, um Hagemanns Laune zu steigern, und obgleich der Hofmarschall Trinksprüche und die Sitte des Anstoßens innerlich verabscheute, so brachte er doch, als zum Braten Champagner eingeschenkt wurde, die Gesundheit Hagemanns und seines Töchterleins aus.
Hagemann erwiderte die Artigkeit mit einem Trinkspruch auf seine Gäste. Sie hätten die bescheidenen Genüsse des Bürgerhauses nachsichtig, aber mit feinstem Verständniß beurtheilt. Verständniß zu finden sei der schönste Lohn. Mit Bedauern vernehme er, daß die Herren Wörde binnen kurzem verließen. Für Wörde ein schwerer Verlust. Fritz Hagemann aber rufe den scheidenden Sommergästen ein „Auf Wiedersehen in der Residenz!“ zu.
Die Gläser klangen. O, wie die Augen Emmas glänzten!
Und der unermüdliche Hofmarschall ergriff aufs neue das Wort. „Ich weiß bestimmt,“ sagte er, zu Leisewitz gewendet, mit bedeutungsvollem Lächeln, „daß Ihr Chef, Ihr neuer Chef, nicht abgeneigt ist, mit Ihnen einen lebenslänglichen Vertrag abzuschließen. Was geht Ihnen bei uns ab? Sie werden auf Händen getragen. Kaufen Sie das Haus Ihres ehemaligen Chefs – Herr von Sporn verläßt mit seiner Familie die Hauptstadt – das Haus ist ein Schmuckkästchen. Wird zwar nicht billig sein, aber Sie haben ja Geld wie Heu. Kaufen Sie das Haus und heirathen Sie – eine Prinzessin oder, wenn ich Ihnen rathen darf, ein liebes braves Bürgerkind!“
Endlich fühlte Aschau doch den gestrigen Abend und zog sich zu einem Schläfchen in das Rauchzimmer zurück, wo ihn Purzel auf dem Diwan bettete.
Hagemann war nicht müde, denn er ruhte auf Lorbeeren. Mit strahlendem Gesicht lehnte er im Stuhl und trommelte mit den Fingern einen Siegesmarsch, während Leisewitz seiner Tochter die Bonbonsverse vorlas.
„Alles in allem,“ sagte Hagemann, „ich kann zufrieden sein. Es ist von der Suppe bis zum Nachtisch nichts mißrathen. Die [512] Gäste, namentlich Du, lieber Leisewitz – es bleibt bei dem ,Du‘! – warst ein liebenswürdiger charmanter Kerl, und auch Dein Giuseppe machte seine Sache vorzüglich. Wilhelm nahm sich zusammen – alles klappte. Man soll zwar den Tag nicht vor dem Abend loben, doch da ich des Kaffees sicher bin, darf ich schon jetzt sagen: dieser Tag gehört zu den schönsten meines Lebens. Wo ist der Wilhelm? Liebes Kind, schenke Du unserm Leisewitz ein – der alte Schwede trinkt nicht! Was ich sagen wollte – wirst Du das Haus kaufen?“
Da sah er zu seiner Rechten Leisewitz, zu seiner Linken Emma knieen. „Vater, verzeihe uns, segne uns! Siegfried und ich sind miteinander verlobt!“
Hagemann fuhr empor. „Leisewitz,“ rief er, „Sie sind ein falscher Mensch – ein – ein – das verzeih’ ich Ihnen nie!“
Seine Excellenz der Hoftheaterintendant Aschau stand in seinem Amtszimmer an den Schreibtisch gelehnt, im Gespräch mit Siegfried Leisewitz. Wenn wir sagen, daß auf dem Tisch außer einer lebensgroßen Büste Richard Wagners sämtliche im Verlauf von acht Wochen eingereichten Dramen Platz hatten, wird man sich von seiner Länge und Breite eine Vorstellung machen können. Wenn Aschau einen unangenehmen Besuch schnell abfertigen wollte, zeigte er auf diesen Tisch: „Sie sehen, wie sehr ich mit Arbeit überhäuft bin.“ Wenn ihn junge Dichter, Tonsetzer und so weiter um Förderung ihres Werkes baten, wies er auf die Büste: „Meine Begeisterung für die Kunst steht über jedem Zweifel, aber als gewissenhafter Beamter muß ich auch an den Geldpunkt denken.“
Der Lärm einer Hauptstraße tönte unablässig herauf. Ein Gemurmel im Vorzimmer und der Schall von Fußtritten im Flur, auf den eine zweite Thür führte, hörten nicht auf. Dazwischen klangen aus der Ferne Musik und Gesang, Hammerschläge und Klingelzeichen.
„Seien Sie edel, Leisewitz; verbittern Sie mir nicht auch mein Dasein! Ich hasse keinen Feind so, daß ich ihm wünschen würde, Theaterintendant zu sein. Haben Sie irgend einen ernsten Grund zur Verstimmung? Die kleinen Scherze eines neidischen Genossen müssen Sie gar nicht hören. Die Zeitung, die Sie mir nannten, ist ein Winkelblatt. Schicken Sie dem Kläffer eine Freikarte oder dergleichen! Ihnen zulieb gestatte ich gegen mein künstlerisches Gewissen den Hervorruf auf offener Bühne. Gestern, waren die Leute da nicht wieder wie toll?“
„Das wird aufhören, sobald es Krieg giebt. Wer geht dann in die Oper! Dann können wir die Bude schließen.“
„Die Bude? Ich will das Wort nicht wieder hören, Herr Hofopernsänger Leisewitz. Es ist übrigens noch die Frage, ob Sie recht haben, der Krieg selbst ist fraglich. – Beiläufig, unsere Prinzessin ließ mich gestern in die Loge rufen; wir sprachen von Ihnen. Sie möchte Ihnen eine Freude bereiten, weiß aber nicht womit. Ich ließ ein Wort vom Heinrichsorden fallen –“
„Excellenz. wirklich?“ rief der Sänger erfreut.
„Warum denn nicht? Ich wünsche Ihnen alle Ritterkreuze der Welt, wenn Sie mir mein Kreuz erleichtern.“
„Aber erster Klasse, Excellenz.“
„Freilich, freilich! Doch nun reden Sie mir nicht mehr von Ueberanstrengung, von Stimmbändern und so weiter! Das macht mich nervös.“ Er fuhr über den Scheitel; dann veränderte er seine Stellung und wies auf den Schreibtisch. „Stündlicher Verdruß und täglich fünf, sechs Trauerspiele – das bringt den stärksten Mann herunter!“ Er reichte ihm zwei Finger. „Also gut sein, verträglich sein, Leisewitz! Sonst noch etwas?“
„Ich erlaube mir, Excellenz mitzuteilen, daß heute Herr Hagemann mit meiner Braut eintrifft.“
„Also doch! Schön! Grüßen Sie beide, und – und – hm ... nun werden Sie aber nicht heftig, ich frage als Ihr Freund: denken Sie im Ernst an diese Heirath?“
„Ja, haben Sie mir denn nicht selbst dazu gerathen?“
„Ach, in Wörde! Da war ich noch jung und ein Leichtfuß wie Sie. Heute könnte ich Ihr Vater sein. Ich fürchte, die Heirath wird Ihrer künstlerischen Entwicklung schaden. Künstlerehen sind in der Regel keine glücklichen.“
„Keine Regel ohne Ausnahmen, Excellenz.“
Aschau zuckte die Schultern. „Fräulein Hagemann ist ja reizend, aber Sie werden den Papa mit in den Kauf nehmen müssen. Wenn ich mich recht erinnere, sprachen Sie damals von seiner Uehersiedlung hierher. Nun, die Poesie wird er Ihnen nicht ins Haus bringen.“
Leisewitz warf sich in die Brust. „Mein Schwiegervater ist so reich, daß ich nicht mehr nöthig habe, Sklavendienste zu thun. Wir werden reisen; auf Reisen zeigt jedermann nur seine guten Seiten.“
„Glanben Sie, Sie könnten ihren Erfolgen mit einem Mal entsagen? Sie werden und müssen singen.“
„Mag sein, aber nur noch in Konzerten.“
„Und die schönen, wirksamen, namentlich bei Damen wirksamen Kostüme – heute Schwanenritter, Morgen Fra Diavolo? Und vergessen Sie auch nicht, daß Sie an uns gebunden sind; mit goldenen Fesseln, aber gebunden! Doch verlieren wir uns nicht in unmögliche Möglichkeiten! Es ist ein ernster Schritt – Sie werden ihn überlegen.“
Leisewitz lachte. „Ich werde so frei sein, Excellenz zur Hochzeit einzuladen.“
„Werde nicht ermangeln, zu erscheinen, und gleichwohl das Ereigniß aufs tiefste bedauern. Haben Sie der Prinzessin Ihre Verlobung schon angezeigt?“
„Noch nicht,“ erwiderte Leisewitz zaudernd.
„Ah,“ rief Aschau vergnügt, „nun hab’ ich Sie! ‚Noch nicht!‘ Im Grund der Seele fühlen Sie – ich sage nicht Furcht, aber ein gelindes Gruseln. Der letzte Schritt – nicht heftig werden, lieber Leisewitz – ist ein Salto mortale, und Sie wissen noch nicht, ob Sie springen werden. Es wundert mich aber, daß man in Solitude nicht schon von anderer Seite Ihre Verlobung erfahren hat.“
„Ich habe sie außer Ihnen noch niemand mitgetheilt. Der Besitz eines Schatzes macht vorsichtig.“
„Bewahre, das Grausen vor dem Sprunge macht Sie klug. Ich rathe Ihnen ernstlich: sprechen Sie auch heute und morgen auf Solitude nicht davon. Lassen Sie ein paar Wochen ins Land gehen, und wenn Sie dann noch entschlossen sind, in Gottes Namen – dann ziehen Sie eben Ihre Hoheit ins Vertrauen, aber ich fürchte ...“ Er hielt vorsichtig ein. „Vielleicht täusche ich mich, aber ...“ er stockte wieder, dann, dem Sänger aufs neue die zwei Finger reichend, fuhr er fort: „Also grüßen Sie Hagemanns! Und bei ,Tannhäuser‘ am Donnerstag bleibt es.“
Im Vorzimmer saßen oder standen verschiedene Mitglieder der fürstlichen Hofbühne und solche, die es werden wollten. Ihr Geplauder steigerte sich vom Geflüster zur lauten Unterhaltung, bis irgendwoher eine St! erklang, dann ward es auf Augenblicke still, dann wiederholte sich das Spiel.
An einem Stehpult schrieb ein bartloser junger Mann; neben ihm, die Arme aufgestützt, stand ein wohlgenährter grauköpfiger Herr und raunte ihm den neuesten Stadtklatsch über eine Kollegin zu. Jetzt drehte er sich nach Leisewitz um, dem ein Diener in den Ueberrock half – in einen orangegelben Ueberzieher mit einem Doppelkragen. „Ihr seht verstimmt aus, Leisewitz“ sagte der Dicke, „ist drinnen böses Wetter?“
„Im Gegentheil,“ erwiderte jener, „der Chef hat mich ersucht, meine Absage zurückzunehmen. Widerstehe einer solcher Liebenswürdigkeit! Ich werde singen.“ Er schlang ein rosenfarbiges Seidentuch um den Hals und warf dabei einen Blick in den Spiegel. Unter diesem Spiegel saß eine Dame, ein Gesichtchen, in der richtigen Entfernung gesehen, wie Milch und Blut. Neben ihr hatte der erste Liebhaber Platz genommen.
„Wohin fahren Sie denn, Leisewitz?“ fragte sie. „Ich sah unten einen Wagen halten mit Ihrem Giuseppe auf dem Bock. Gewiß wieder nach Solitude!“
„Nein, meine Gnädige, nach Solitude werde ich schwerlich vor morgen abend fahren. Ich hole Verwandte von der Bahn ab.“
„Von woher, wenn ich fragen darf?“ fragte die Dame mit harmloser Miene.
„Von – von Wörde.“
Die Gesellschaft brach in ein schallendes Gelächter aus. „Was ist da zu lachen?“ rief er gereizt.
„Wehe dem, der lügt!“ versetzte die Dame.
Er zuckte die Schultern, murrte etwas zwischen den Zähnen und schritt stolz hinaus.
„Wenn die Hofgunst noch lange dauert, schnappt er über,“ sagte der Liebhaher hinter ihm her.
[514] Im Wagen, der nur langsam fahren konnte, lehnte sich Leisewitz zurück und versank in Grübeln. Lästert, lacht, dachte er, ich bin doch der Glücklichste von Euch allen … Dieser Aschau! Als ob man einen Künstler meines Ranges wie einen Zeisig in den Käfig sperren, wider seinen Willen halten könnte! Das sollte ihm sauer werden. Der Henker hole seine guten Rathschläge. Eigentlich waren sie beleidigend, eigentlich war ich zu höflich. Aber ich bin heute so glücklich! Mein liebes schönes Mädchen, endlich werd’ ich Dich wiedersehen! Ein Schatten flog über sein Gesicht. Aber wie wird es mit dem Vater? Hagemann ist über die romantischen Jahre hinaus. Er wird sich mit Opern nicht abspeisen lassen; er wird heute hier, morgen dort essen wollen. Aschau hat ihm unsere Stadt als ein Schlaraffenland gepriesen. Wo sind die Trüffelberge? Wo schäumt der Sekt? wird er fragen. Hagemann ist gesellig wie ein Truthahn. Er wird „Sonnenbrüder“ finden, und sie werden Brüderschaft trinken und er wird sich und mich bloßstellen, blamieren. Meine Verlobung wird sich nicht länger geheimhalten lassen. Und doch hat Aschau darin recht: sie wird mir bei Hofe schwerlich nützen. Er nagte an der Lippe. Ich wollte, wir wären schon verheirathet, dann wär’ ich auch ein freier Mann und könnte mich rechts oder links wenden, je nachdem!
Er schaute aus dem Wagenfenster und ärgerte sich über die Langsamkeit der Fahrt. Wie anders wird die Rückfahrt sein, wenn ihm Emma gegenübersitzt! Schade nur, daß ihr das Gedränge und Getriebe einer bedeutenden Stadt so wenig etwas Neues ist wie sein eigener Ruhm. Siehst Du, würde er sonst sagen, diese Tausende und Tausende von Spaziergängern und Geschäftigen – allen diesen bin ich bekannt und allen ein Liebling! Unsere Minister, unsere großen Kammerredner kennt man ja auch, aber sie machen den Leuten in einem Jahrzehnt nicht soviel Vergnügen wie ich an einem Abend. Mir blickt keiner finster, mir jeder dankbar nach, denn wie oft hat ihnen mein Gesang Schmerzen und Sorgen eingewiegt oder wenigstens die Langeweile vertrieben. Ich singe, und die Kalten entdecken ihr Herz und die Warmherzigen finden die kalte Welt wieder schön. Und die Frauen, die Frauen! Zum Beispiel Prinzessin Erna! Sie schwärmt für mich … doch nein, das würde ich Emma nicht sagen! Er lächelte, aber alsbald verdüsterte sich wieder seine Stirn. Die schönen Tage auf Solitude sind vorüber; ich werde mich nicht mehr zum Aerger und Neid meiner Kollegen in der Hofgunst sonnen. Sei es! Ich – bin es auch der guten Emma schuldig, daß ich mich frei mache, sei die Fessel von Gold oder ein Seidenband! Dieses Vertuschen und Verschleppen ist grausames Unrecht gegen deine Braust! Sei nicht feige, bekenne deine bürgerliche Liebe, deinen Hang zu bürgerlichem Glück! Eigentlich ist dir im Vorzimmer von Hoheiten und Excellenzen so wenig wohl wie im Kreise bechernder Junggesellen. Eigentlich bist du der geborene Ehemann! Bau’ dir ein warmes Nest, du wirst darum kein schlechterer Sänger! Ja, wenn ich mit den Launen der Prinzessin und ihrer Damen die himmlische Sanftmuth und Ergebenheit Emmas vergleiche , begreife ich mein Schwanken und Bedauern nicht. Die Gunst der Großen hat zudem enge Schranken; sie geht nicht einmal bis zu einem Halsorden für mich. Freilich, wenn man mich fallen läßt, werde ich unangenehme Erfahrungen machen. Ein ungnädiges Wort von oben, und Aschau wird mein Tyrann. Man wird mich kaltstellen, totschweigen – dahin darf es nicht kommen. O, sie sollen mich kennenlernen – mein geliebtes Mädchen, auf Flügeln des Gesanges trag’ ich dich weit übers Meer und wir gründen uns in der Fünften Avenue oder auf dem Washington-Square New-Yorks ein neues Heim!
Nach diesem dichterischen Erguß, in dieser Liebesgluth wurde ihm der Schneckengang des Fuhrwerks unerträglich. Er verzehrte sich in Ungeduld, er fürchtete, die Ankunft des Zuges zu versäumen, er stellte sich die Enttäuschung Emmas vor, die erste Enttäuschung, den ersten Schmerz, den er ihr bereiten würde, wenn er nicht da wäre. Zum ersten Mal zweifelte er an der Uhr des Sultans. Er steckte den Kopf hinaus und rief dem Kutscher, dem Diener, den Gäulen zu, in drei Teufels Namen zuzufahren. So drückte er sich aus, nach all dem Ueberschwang – wir dürfen es nicht verschweigen.
Als er, endlich am Ziel, durch die Wartesäle auf den Bahnsteig stürmte, fuhr der Zug eben in die Halle. Und dann hielt er seine Braut in den Armen, und sie küßten sich beide, unbekümmert um die Welt, die allerdings auf Bahnhöfen ein Auge zudrückt. Da klopfte jemand dem Seligen derb auf die Schulter. „Reihe ’rum!“ sagte Hagemann und that, was die Tochter that, umarmte und küßte den Sänger. Denn da Hagemann seine Emma in ihrer Liebe glücklich und über seinen Zorn unglücklich gesehen, hatte er Leisewitz doch und zwar schon in Wörde verziehen.
Leisewitz gab seiner Braut den Arm, Hagemann nahm dem Diener seine Haudtasche wieder ab, dann überließen sie sich dem Strom ins Freie. Auf der großen Freitreppe machten sie Halt. Der Himmel über dem Bahngebäude und seiner Umgebung war rauchig, aber wie leuchtete er für die Liebenden! Allein Hagemann holte die Glücklichen zur Erde herab; er schob sein Kind sachte beiseite und ließ den Rockknopf des Sängers nicht los, bevor er alle Grüße und Scherze der „Sonnenbrüder“ und „Eismänner“ ausgerichtet hatte. „Und Segeberg würde für sein Leben gern mitgekommen sein, wenn die Zeitläufte nicht so verzweifelt wären; als braver Bürgermeister kann er aber jetzt seinen Posten nicht verlassen. Am herzlichsten von allen jedoch läßt Dich unser Kapellmeister grüßen. Nach Deinem Abschiedsabend kam er wieder täglich in unser Haus, und Emma war wieder eifrig beim Klavierspiel, denn die Frau eines Hofopernsängers muß musikalisch sein, sagt der Kapellmeister.“
Siegfried schmunzelte. Obwohl er nicht zu den Vertrauensseligen gehörte, war er von Roberts Ehrlichkeit bei diesem Wandel überzeugt. Das sieht seiner erhabenen Einfalt und lächerlichen Selbstlosigkeit ähnlich, dachte er; Emma ist Braut, das heißt für ihn: sie ist unter die Sterne versetzt, und „die Sterne, die begehrt man nicht“ – nun kann er wieder in das Haus.
Unterdessen begrüßte Emma den freudeglänzenben Giuseppe. „Mir geht’s, wie es einem armen Hascher und militärpflichtigen Patrioten heute gehen kann,“ antwortete er auf die Frage nach seinem Befinden. „Wenn die Zeitungen nicht bald Ruh’ geben, haben wir den schönsten Krieg. Was wird dann aus dem gnädigen Herrn! Denn ich mag wollen oder nicht, ich muß mich stellen in Wien, sonst könnte die österreichische Armee am Ende nicht ausrucken. Aber, gnädiges Fräulein, mein Komplement! Beim Aussteigen kamen Sie mir um einen Schein blässer vor, aber keine Idee – Sie waren nie so schön wie heute! Aber wir lieben Sie auch erschrecklich; wir haben von nichts anderem als von Ihnen gered’t; wir haben die Tage gezählt!“
Fritz Hagemann blickte auf das Gewirr der Menschen und Wagen gelassen wie sommers auf die Brandung an der Wörder Landspitze. „Gehen wir!“
„Unser Wagen hält dort hinter den Droschken,“ sagte Leisewitz mit einer Handbewegung.
„Wagen? O du meine Güte! Und vollends ein geschlossener! Nein, wir sind nachgerade genug gefahren. Ich will meine Beine schlenkern und dem Blut einen neuen Schwung geben. Ich vertraue Purzel unser Gepäck an. Du führst Emma am Arm und mich nehmt Ihr ins Schlepptau. Unb wo eine Auslage ist, die eines alten Mannes Herz erfreuen kann, drehen wir bei!“
„Dann erlaube mir, Josef Deinen Mantelsack zu geben.“ Die Tasche, die Hagemann nur während der Umarmung aus der Hand gelassen, war ein altes Stück. Sie trug eine Stickerei aus blauen und weißen Glasperlen, einen Vergißmeinnichtkranz um den Wunsch: „Bon voyage!“
Hagemnnn zog hastig die Tasche an sich. „Nein, die Tasche vertrau’ ich niemand. Der Inhalt ist null, aber die Tasche das erste Geschenk meiner Seligen.“ Das war so einfach, so rührend. Leider hatte der Sänger im Leben – nicht in der Kunst – für kleine Züge, für kurze Lichtblitze, die doch fernste Winkel erleuchten, kein Verständniß; er dachte nicht an Emmas Mutter, sondern sah die blauen Glasperlen. „Ich meinte nur – die Straßen, durch die wir gehen müssen, sind sehr belebt.“
„I, meinethalben sei unbesorgt,“ rief Hagemann; der ihn mißverstand, „ich war in Hamburg, Berlin und Paris! Dank unserem erleichterten Verkehr, dank den Rundreisekarten und Vergnügungszügen giebt es keine Kleinstädter mehr. Weiß Purzel unsere Wohnung? Gut, dann gehen wir!“
„Wie Du willst,“ erwiderte Siegfried und warf einen raschen Blick über seine Braut und dann noch einen sinnenden auf ihren Hut.
Sie errieth seine Gedanken sofort und sagte ohne Empfindlichkeit: „Ja, nicht wahr, der Hut gefällt Dir nicht?“
„Rubenshüte sind hier zu Lande außer Schick,“ versetzte Siegfried kleinlaut.
[515] Emma nickte. „Ich hab’ es mir gleich gedacht und werde mir morgen, oder noch heute, wenn Du es wünschest, einen neuen kaufen – auch einen neuen Mantel,“ setzte sie zögernd hinzu.
„Vorläufig genügt eine Pelerine,“ versetzte er mit honigsüßer Stimme und blickte auf den Mantel, „aber nicht von Plüsch.“
Sie nahm seinen Arm und sah liebevoll zu ihm auf. „Du wirst mich noch in vielem bilden müssen.“
Er lächelte geschmeichelt. Sie mag recht haben, dachte er; in Wörde fiel mir das nicht auf. Wie schade! Welche Gestalt! Wie lieb das Gesicht! – Soll ich einen Nebenweg einschlagen oder nicht? – –
Leisewitz hatte für die Seinen einige Zimmer in einem Gasthaus gemiethet. Das Haus gehörte zu dem Dutzend Miethskasernen, die den Schillerplatz einschlossen. Bei Tage war es innerhalb des ungeheuren Steinwalles verhältnißmäßig still; man konnte sich auf dem Hofe einer gewaltigen Festung glauben. Doch nachts wurde das Gefängniß festlich beleuchtet und lustig, denn in jedem Hause war unten oder oben eine Bier- oder Wein- oder Kaffeeschenke. Der Platz hieß Schillerplatz, weil das Hoftheater in der Nähe lag, und die vielen Wirthe hatten sich dort angesiedelt, auch weil das Theater in der Nähe lag. Im Herzen der Neustadt, mit großem Aufwand von Cement und Stuck erbaut, war dieses Häuserviertel nur ein Wohnort für Wohlhabende, also ein vornehmes Viertel.
Purzel, der mit dem Gepäck längst eingetroffen war, sprang den Ankommenden entgegen. „Im Hafen!“ sprach Leisewitz mit einem tiefen Athemzug.
Hagemann blieb stehen und blickte umher. Auf ihn machte der Platz einen günstigen Eindruck. Er hielt seinen Hut fest und sah am höchsten Hause empor. „Sechs Stock hoch!“
„Ja“ sagte Purzel, „mich wundert’s, daß bei der heutigen Frische das Dach nicht angeschneit ist.“
„Siegfried!“ rief Hagemann erfreut und zeigte auf ein Schild mit der Aufschrift „C. W. Schreihubers Kaffeehaus“ – „C. W. Schreihuber ist einer meiner ältesten Kunden.“
Die bestellten Zimmer waren nach der übereinstimmenden Meinung des Wirthes und seines Tapezierers prachtvoll eingerichtet. In der Empfangsstube waren die Möbelbezüge von rother Seide bei blauen Tapeten. Den Hut auf dem Kopf und noch die Reisetasche in der Hand, musterte Hagemann die Zimmer und nickte befriedigt. Seine Tochter trat an ein Fenster. Wie daheim hatte sie auch hier ein Gasthaus gegenüber, doch kein alterthümliches Giebelhaus wie die „Sonne“, sondern einen rechteckigen Neubau mit dichtgereihten Fenstern, mit Söllern, auf denen ein Wohlbeleibter niemals, ein Magerer auch nur unter sehr günstigen Verhältnissen stehen konnte; es war der „Artushof“, der den größten Saal der Stadt enthielt, ein denkwürdiges Haus für alle Freunde von Musik und Tanz, denkwürdig dereinst auch für die schöne Emma.
„Hungern und dursten werden wir, scheint’s, auf dem Schillerplatz nicht“ meinte Hagemann, der jetzt auch einen Blick aus dem Fenster warf. „Du hast es gut gemacht, Siegfried. Die Wohnung ist theuer, aber anständig.“
„Fünfzig Schritte von meiner Wohnung.“
„Desto besser! Und jetzt, Kinder, wo essen wir?“
Auf diese Frage war Leisewitz vorbereitet. Morgen sei Begrüßungsmahl in seinem Daheim, für heute empfehle er die feine Speisewirthschaft im Hause, mit ausgezeichneter italienischer Küche.
„Die italienische Küche ist mir nicht so bekannt wie die französische,“ sagte Hagemann, „aber eben darum laßt uns sofort hinunter gehen!“
Emma bat, vorher das Theater sehen zu dürfen, wurde jedoch vom Vater ausgelacht, von Siegfried vertröstet. „Wir bleiben ein Stündchen bei Tisch, dann ist es zu den Einkäufen immer noch hell genug und dabei können wir ja am Theater vorüberfahren.“
„Na, und wie steht’s mit Deinem Hauskauf?“ begann jetzt Hagemann.
„Lieber Papa, ich dachte: abwarten! Falls es Krieg giebt, bekomm’ ich das Haus um die Hälfte.“
„Siehst Du, Junge, das gefällt mir! Wir wollen deshalb nicht wünschen, daß Krieg kommt, um Gotteswillen nicht! Aber daß Du warten, rechnen, kalkulieren kannst, das gefällt mir!“
Leisewitz sah brütend vor sich nieder. „Weiß nicht, ob ich Dein Lob verdiene. Ist es klug, an Kriegsfall sich zu binden? Und wer weiß den Ausgang! Könnte das Haus nicht auch für die Hälfte zu theuer sein?“ Er schüttelte den Kopf. „Ueber das und anderes wollen wir mit Muße reden!“
„Ja, nur erst die Beine unter einen ordentlich besetzten Tisch. Auch von der Prinzessin mußt Du uns dann Genaueres erzähten. Wie geht’s ihr? Wie stehst Du mit ihr? Hast uns nie davon geschrieben!“
„Recht gut – das heißt – was liegt daran! Am Donnerstag singe ich den ‚Tannhäuser‘, da sollt Ihr sehen, was die Stadt von mir hält.“
„Erst am Donnerstag?“ klagte Emma.
„Sei doch froh! So kann ich mich heute und morgen ganz Euch widmen!“
Hagemann, die Hände auf dem Rücken, ging auf und ab. „Der Italiener kocht alles mit Oel. Es hat manches für sich. Die Frage ist nur, werden wir Maccaroni oder Risotto essen? Am Ende beides.“
Man begab sich in den ersten Stock, wo die Wirthsräume lagen, und erhielt ein kleines Zimmer für sich. Die Küche war in der That eine echt itatienische. Glücklicherweise kam Hagemann mit tüchtigem Hunger zu den neuen Gerichten; er aß daher mit Behagen und lobte mit Ueberzeugung. Der Valpolicellawein, den Leisewitz weislich mit Wasser mischte, wurde von Hagemann anfangs unterschätzt; bald spürte er aber seine Wirkung, er wurde warm, ausgelassen, kurz, er unterhielt sich königlich, obwohl Siegfried und Emma um keinen Grad unterhaltender waren als andere verlobte und verliebte Paare.
Eben hatten ihm die Brautleute noch ein halbes Stündchen und eine halbe Flasche zugegeben, und er lehnte sich, mit Gott und der Welt zufrieden, im Stuhl zurück. „Daß Du berühmt bist, Siegfried, läßt sich nicht leugnen. Aber auch ich habe hier mehr Kunden als ich dachte. Beim letzten Aufenthalt las ich die Liste meines Geschäftsführers durch ... erstaunlich! Ich werde sie der Reihe nach besuchen und dann“ – er hob die Stimme – „wenn das Geschäftliche erledigt ist, zu Weihnachten oder Neujahr machen wir Hochzeit!“
Die Glücklichen wollten ihm um den Hals fallen, da wurde stark an die Thür geklopft. Der Störenfried war Purzel. Der Herr Kammersänger, lasse der Hoffourier der Prinzessin sagen, werde in Solitude erwartet; der Hofwagen halte vor seiner Wohnung.
Mit einem Blick auf Emma verweigerte Leisewitz rundweg den Gehorsam. Allein – sein künftiger Schwiegervater war damit nicht einverstanden. In seiner rosigen Laune sah er die Prinzessin von einem Strahlenkranz umgeben. Alle Achtung vor Männerstolz an Königsthronen, doch der liebenswürdigen leidenden hohen Frau gegenüber zieme sich Ritterlichkeit!
„Sie leidet an Launen,“ sagte der Sänger ärgerlich.
Purzel zog die Brauen hoch. „Der Fall sei wichtig, meint der Herr Hoffourier.“
Da fielen dem Sänger die Andeutungen des Intendanten ein – die Ueberraschung, der hohe Orden! Er stand auf und sagte, nicht ohne Verlegenheit, doch schon fest entschlossen, dem Rufe zu folgen: „Lieber Papa Hagenann, Du hast ja recht – ich verdanke dem fürstlichen Hause manches, und man beabsichtigt zudem, mir einen neuen Beweis der Hochachtung, ich darf sagen, Verehrung zu geben, die mir der Fürst und die Seinen zollen.“
„Sie schenken Dir ein Haus!“ rief Hagemann.
„Nein, so materiell sind die hohen Ueberraschungen nicht, indes – mein Gott ich kann nichts Bestimmtes sagen, denn da ich selbst überrascht werden soll –“ Er blickte auf seine Braut.
Diese sagte mit ruhiger Güte: „Geh!“
Und er ging, nicht mit blutendem Herzen, sondern in freudiger Aufregung. Es war ja keine Reise, sondern eine Spazierfahrt; eine Trennung auf Stunden, für die sie obendrein glänzend entschädigt werden sollte!
Als Vater und Tochter sich allein gegenüber saßen, er nicht im geringsten empfindlich über Siegfrieds Weggang, sie still in sich versunken, begann jener: „Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir an Siegfried noch große Freude erleben. Aus dem wird etwas!“
„Ist er nicht schon berühmt genug? Was kann er mehr werden als ein großer Künstler? Ich wünsche fast, er wäre weniger berühmt.“
„Aber, Du liebe Einfalt, Dein Bräutigam wird zu Gott weiß welchen Ehren und Auszeichnungen abgeholt, in einem Hofwagen abgeholt, und Du grämst Dich darüber!“
„Am ersten Abend!“ sagte sie leise.
[526] Der Fürst stand im Rokokosaal mit dem Arzt im Gespräch. Durch die offene Thür sahen sie in eine Reihe erleuchteter Zimmer, aus dem letzten klang Klavier und Gesang.
„Der Aufenthalt an der See,“ sagte eben Doktor Walter, „hat leider nichts gebessert; doch steht es auch nicht schlimmer als vor der Reise.“
„Und jede Stunde kann unser Geheimniß verrathen. Wir wandeln immer an einem Abgrund.“
„Und warum wollen Hoheit nicht einer so grausamen Entdeckung zuvorkommen?“
„Wie meinen Sie das?“
„Muß es Geheimniß bleiben? Ein Sprichwort sagt: ,am Geheimniß ist kein Segen.‘“
„Ich verstehe Sie jetzt. Ich soll der Welt, der schnöden Welt freiwillig unser Unglück, das Ansehen meiner Tochter, das Andenken ihrer Mutter preisgeben? Zu diesem Schritt fehlt mir der Muth – nichts mehr davon! – Aber das Konzert ist zu Ende, die Gesellschaft bricht auf. Was ich Sie fragen wollte: kennen Sie den Musiker, der auf Ernas Wunsch hierher kommt, genau?“
„Robert Lenz ist mein bester Freund; ein Ehrenmann, Hoheit, und wie ich von Sachverständigen gehört habe, in seinem Fache sehr tüchtig. Ich sehe in der Nähe der Prinzessin sehr viel lieber ihn als den Opernhelden Leisewitz.“
„Sie haben ein Vorurtheil gegen den Sänger. Die Prinzessin hält ihn hoch, und ihrem Urtheil in künstlerischen Dingen vertraue ich unbedingt. Ueber sein Privatleben hört man nichts Nachtheiliges. Freilich, er ist eitel, aber das sind sie alle.“
Damit wandte sich der Fürst von Walter ab und ging in das anstoßende Zimmer, der Gesellschaft entgegen. Erna kam auf ihn zu und ergriff seinen Arm. „Du hast sehr viel versäumt, Papa,“ sprach sie. „Leisewitz hat das Lied von Schumann wundervoll gesungen.“ Flüsternd setzte sie hinzu: „Bitte, sag’ es ihm jetzt, bevor Aschau fortgeht.“
„Warum bleibt Aschau nicht zum Thee?“
„Ach, seit er Intendant ist, ist er unausstehlich. Er behauptet, er müsse die Nächte hindurch Manuskripte lesen.“
Leisewitz, ein Notenheft in der Hand, trat zuletzt in den Saal.
„Sie haben uns wieder einen großen Genuß bereitet, lieber Leisewitz,“ redete der Fürst ihn an. „Wir stehen bei Ihnen in der Schuld.“ Der Sänger verneigte sich; jetzt kommt die Ueberraschung, dachte er. „Meine Tochter und ich wünschten längst, Ihnen einen Beweis unserer Dankbarkeit zu geben, der Ihrem Werth und Wesen entspricht. Ein Künstler wie Sie lächelt über die üblichen Auszeichnungen. Wir sannen hin und her; meine liebe Erna fand das Richtige. Sie hat mir von dem Erstlingswerk eines Musikers erzählt, von Ihrem herrlichen Vortrag einer Arie –“
„Von Tassos Lied, lieber Leisewitz!“ sagte Erna.
„Kurz, meine Tochter wünscht Ihnen Gelegenheit zu einer neuen künstlerischen That zu geben. Ihr Freund, Herr Robert Lenz trifft in diesen Tagen als unser Gast hier ein, und Excellenz von Aschau wird für eine in jeder Weise glänzende Aufführung der Oper ‚Tasso‘ Sorge tragen.“
Wieder verbeugte sich der Sänger, nicht aus Dankbarkeit, sondern um seine Verwirrung zu verbergen. In ohnmächtiger Wuth zerknitterte er das Liederheft. Er haßte in diesem Augenblick nicht diejenigen, welche ihm diese Enttäuschung bereiteten, sondern Robert Lenz. Etwas von diesem Haß funkelte in seinen Augen, als er sich wieder aufrichtete. „Sind Sie mit mir zufrieden?“ fragte hastig die Prinzessin.
„Ueberglücklich!“ erwiderte er mit gepreßter Stimme, „Wenn die Hoheiten keine Befehle mehr haben –“
„Wollen Sie uns schon verlassen?“
„Ich bitte um die gnädigste Erlaubniß.“ Er richtete die Augen auf die Prinzessin. „Wie der Zufall spielt – ich habe Besuch aus Wörde – Herrn Hagemann –“
„O, unsern Hauswirth!“ rief Erna und lachte fröhlich.
„Herrn Hagemann und seine Tochter, meine Braut.“
Eine neue Enttäuschung! Die Prinzessin rief, offenbar angenehm überrascht:
„Das schöne blonde Mädchen ist Ihre Braut? Und ich erfahre das erst heute?“
„Ich dachte nicht, daß ein so unbedeutendes Ereigniß wie meine Verlobung –“
„Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück! Ihre Braut und Herr Hagemann bleiben hoffentlich länger hier?“
„So lange, bis mir eine untertänigste Bitte von Seiner Hoheit dem Fürsten gewährt wird.“
„Eine Bitte, lieber Leisewitz?“ fragte dieser. „Die wäre?“
„Die unterthänigste Bitte um meine Entlassung. Herr Hagemann willigt in unsere Verbindung nur unter der Bedingung, daß ich der Bühne entsage und in Wörde lebe.“
„Leisewitz, Sie wollten –“ rief der Fürst.
„Mein Lebensglück hängt von der Großmuth Eurer Hoheit ab.“ Und jetzt war er befriedigt – die Prinzessin stand blaß, fassungslos.
„Sie verlassen uns?“ rief sie.
[527] „Es wird mir nicht leicht, indes –“ Er sah Thränen in den Angen Ernas schimmern – er hatte sie ins Hcrz getroffen! Das brach seinen Zorn. „Hoheit, ich bin zerknirscht, ich –“
Der Fürst fiel ihm ins Wort. „Dem Glück eines Menschen hinderlich zu sein, liegt mir ferne,“ sprach er kalt. „Ordnen Sie Ihre Angelegenheit mit Herrn von Aschau! Von meiner Seite steht Ihrer Entlassung nichts entgegen.“ Er sah auf Erna und erschrak über ihre Blässe, die Verzweiflung in ihren Mienen. „Nicht, als ob ich Ihren Entschluß nicht bedauerte,“ setzte er einlenkend hinzu. „Vielleicht ist er nicht unwiderruflich, vielleicht Herr Hagemann nicht unerbittlich. Wie gesagt, besprechen Sie die Sache mit Ihrem Chef! – Liebe Erna, Excellenz von Aschau will sich Dir empfehlen.“
Leisewitz ging wie betäubt aus dem Saal. Während er im Vorzimmer auf Aschau wartete, sammelte er sich. Das war der dümmste Streich seines Lebens – oder auch nicht. Er brütete vor sich hin. Hatte er nicht jetzt den deutlichen Beweis dafür, daß das Herz der Prinzessin – ihre Blässe, ihre Thränen – konnten sie etwas anderes bedeuten?
Als er mit Aschau im Wagen saß, begann dieser: „Ich sage wie Heines Kapitän: ,Doktor, sind Sie des Teufels?‘ Ich soll mit Ihnen die Angelegenheit ordnen; was heißt das? Wenn der Fürst Sie entläßt, wie kann ich Sie halten! Und wo find’ ich sofort Ersatz? Leisewitz, das war nicht schön von Ihnen! Meine Nerve sind für solche Sturzbäder nicht mehr stark genug.“
„Haben Excellenz mich auf diese Ueberraschung mit der tollen Oper des Kapellmeisters vorbereitet? Nach Ihren Andeutungen durfte ich anderes erwarten.“
„Die Prinzessin hat mich ja selbst erst kurz vor Ihrer Ankunft eingeweiht. Das ist noch der einzige Trost in meiner schrecklichen Lage, daß mir die Oper erlassen bleibt. Tasso! Alte Hofgeschichten! Das liest sich in Goetheschen Versen ja recht schön, liest sich! Aber als Oper! Wie soll ich das Stück ausstatten? Weder Turnier noch Tarantella, kein Sturm, kein feuerspeiender Berg oder dergleichen! Dieser Robert Lenz – wie Herr Walter mein Studiengenosse – war als Schüler herzlich unbedeutend, nun wird er plötzlich zum Genie gestempelt. Das haben Sie auf dem Gewissen! Wenn Sie das Lied nicht so verrückt schön gesungen hätten, würde dieser Lenz nie zur Blüthe gekommen sein!“
„Die Oper sei gut oder schlecht, ich will nicht darin singen. Und da ich der Prinzessin das nicht sagen konnte, blieb mir kein anderer Ausweg –“
Aschau beugte sich vor, um dem Sänger ins Gesicht zu sehen. „Deshalb, deshalb! Ihr Künstler bleibt mir ewige Räthsel. So viel Talent und so wenig Lebensklugheit! Ich bitte Sie, wenn wir zwei einig sind, kann der Mann auf die Aufführung warten bis zum jüngsten Tag!“
„Und die Prinzessin, der Fürst?“
„Ja, glauben Sie, daß unsere Herrschaften ihr Herz an eine Komödie hängen? In acht oder vierzehn Tagen denken sie nicht mehr an ,Tasso‘, und wenn Sie vier Wochen lang nicht singen, auch nicht mehr an Sie! Das Gute für Sie bei der Sache ist: man hat Ihre Verlobung nicht ungnädig aufgenommen. Morgen beim Vortrag werde ich ja sehen, ob nicht jetzt der Fürst auf Ihrem Abschied besteht.“
„Ich komme nicht in Verlegenheit. Für eine zweite Kunstreise in den Vereinigten Staaten sind mir außer freier Reise – und ich reise wie ein Fürst – hunberttausend Mark zugesichert.“
„Und was sagt Papa Hagemann zu dieser Hochzeitsreise?“
„Da sein ältester Sohn in Chicago lebt –“
Aschau wurde ärgerlich. „Also, Sie wollen fort.“
„Ich bleibe, wenn ich nicht den Tasso singen muß.“
„Lasseil Sie doch die Toten ruhen, oder richtiger – lassen Sie mich für das Begräbniß sorgen! Wegen Herrn Walters Schützling wollen wir uns nicht entzweien ... wo verbringen Hagemann und Ihre Braut den Abend?“
„In ihrem Daheim, Schillerplatz Nummer sieben. Sie werden mich kaum mehr erwarten. Dennoch –“
Aschau zog an der Schnur und sagte dem Bedienten, der den Kutschenschlag öffnete: „Schillerplatz Nummer sieben!“
Dort erfuhr Leisewitz vom Zimmermädchen, daß sich die Herrschaften bereits zurückgezogen hätten. Der alte Herr gehe früh zu Bett, das Fräulein sei bis vor einer halben Stunde allein im Lesezimmer gesessen ...
„Sagen Sie morgen früh, daß ich dagewesen bin! Sie kennen mich doch?“
„Aber,“ erwiderte die Donna mit verschämtem Lächeln, „wer wird Herrn Leisewitz nicht kennen!“
„Also vergessen Sie nicht, morgen früh!“
Der Schillerplatz strahlte in elektrischem Licht; Droschken kamen an und fuhren ab. Dazwischen wimmelten die Fußgänger. Alle Durstigen der Stadt schienen sich hier ein Stelldichein zu geben, denn in den vielen Bier- und Weinstuben hätte kein Apfel zur Erde fallen können. Der Lärm in den Schenken und auf dem Platz war groß. In der Pilsener Bierhalle war Blechmusik, beim Müncher-Bräuwastel hielten Studenten, die ersten Winterschwalben, ihre Antrittskneipe:
„Brüder, zu den festlichen Gelagen
Hat ein guter Gott uns hier vereint!“
klang es herüber. Der Artushof war eine aufgezogene Spieldose mit geschlossenem Deckel. Man hörte aus dem Innern Walzerweisen, jetzt Brummbaß und Geigen, dann Paukenwirbel und Trompeten – alles aber gedämpft, heimlich. Im großen Saal war Ball.
„Die arme Emma!“ sagte sich Leisewitz, als er in das Freie trat, „sie wird nicht schlafen können. Ich habe an den Nachtlärm nicht gedacht. Aber die Wohnung liegt so bequem – nur fünfzig Schritte, und ich bin daheim.“
Die Gesellschaft in Solitude hatte sich längst zerstreut; Erna war mit der Gräfin Casasola allein. Im Kamin brannte ein Feuer; der Flammenschein und das ruhige Licht aus dem anstoßenden Schlafgemach leuchteten ihnen allein. Die beiden waren Freundinnen, sobald sie sich unter vier Augen befanden.
„Seine Verlobung ist Dir also gleichgültig, Erna?“
„Nicht gleichgültig, mich freut es, daß jenes liebe Mädchen, das meine ganze Zuneigung besitzt, aus der Enge herauskommt und eine gute Partie macht.“
„Aber dann bist Du mir noch wunberbarer: Du schwärmst für die Braut und bist unglücklich, weil sie uns den Bräutigam entführt!“
„Ja, unglücklich! Ihn singen hören war meine einzige, meine letzte Freude.“
„Uebertreibst Du nicht seinen Werth? Niemand ist unersetzlich. Das gilt wohl auch von Tenoristen!“
„Nicht zweimal spielt der Zufall so wunderbar!“
Die Gräfin nahm die Hand der Freundin „Ach, Erna, Erna! Nicht wegen seiner Geburt, seines Standes – in meinem Vaterland denkt man milder darüber – nicht deshalb mißgönn’ ich ihm den Sieg –“
„Welchen Sieg?“
„Ja, glaubst Du denn, Deine Thränen heute hätten dem eitlen Manne nicht alles verrathen?“
„Was verrathen?“ fragte Erna erstaunt, dann schlug sie ein helles Gelächter auf. „Du hältst mich doch nicht für verliebt in Herrn Leisewitz?“
„Erna – ich weiß nicht, was ich sagen soll – aber man weint doch nicht um den Verlust eines Sängers, sondern höchstens um den eines – Freundes!“
Erna blickte mit schwärmerischer Miene in die Flammen. „Ich schon, ich schon,“ sagte sie in singendem Ton. „Ja, das war bisher mein einziges Geheimniß vor Dir, mein süßes Geheimniß. Ich glaube, jeder hat einen Wunsch oder eine Erinnerung, die er vor der Welt verbirgt – auch Du! Warum entziehst Du mir so hastig Deine Hand? Verrathe mir nichts! O, ich kenne die Seligkeit, ganz allein mit seinem Traum zu sein! Höre mich an, und dann, und dann, meine Livia, hilf mir ihn fesseln!“
Sie blickte von den Flammen auf die Freundin, die vom Widerschein des Feuers, vor Neugier und im Bewußtsein des eigenen Geheimnisses glühte.
„Hast Du Eueren Wintersitz am Gardasee noch im Gedächtniß? Euer Wohnhaus hatte einen zweiten Eingang von der stillen Straße her. Man trat durch einen Mauerbogen auf einen Vorplatz, auf dem eine Platane stand, und wandte sich dann links in das Haus. Eine alterthümliche Steintreppe, mit Aloën besetzt – [528] erinnerst Du Dich? – führte im Zickzack in den Garten hinab, wo nahe dem See das zweite, prächtigere Haus, meiner armen Mutter letzter Wohnsitz, stand. Das Gitterthor vor jener Treppe blieb immer verschlossen – Du weißt, warum! Zur Rechten vom Eingang lag eine Art Laube, ein altes Gemäuer, von Epheu überwuchert, mit einer Bank hüben und drüben. Inmitten schaute der Himmel durchs morsche Dach herein; ein Brunnen plätscherte dem Eingang gegenüber. Man konnte sich in einem Kloster denken. Von der einen Bank sah man auf die Wipfel des Gartens, von der andern ein Stück von der Straße und die jenseitige Mauer und drüber Hügel über Hügel, zu höchst eine schroffe Bergwand.“
„Nach Deiner genauen Beschreibung mußt Du oft dort gewesen sein. O, Dio! Dio!“ rief Livia und rang die Hände, „früher saßen die Armen meiner Mutter dort und warteten auf die Suppe und das Glas Wein, das man ihnen reichte!“
„Früher,“ sagte die Prinzessin bitter, „früher saßen die Armen dort und dann ich, die allerärmste. Ja, es war mein Platz. Wenn mich über den häßlichen Auftritten im Hause, über der Angst vor dem Schrecklichsten die Verzweiflung packte, lief ich durch Euer Haus die Treppe hinauf und verbarg mich vor den Meinigen in der verlassenen, gemiedenen Ecke. Einmal floh ich wieder hin; ich stahl mich über den Flur, an Euren Thüren vorbei, und hörte Dich und Deine Geschwister. Ihr waret so fröhlich, denn es war der Tag der Santa Lucia, Euer Christfest. Die Luft war sommerlich mild, die Welt so heiter. Ich aber duckte mich in meine Ecke und weinte bitterlich. Da ergriff jemand meine Hände, zog sie mir sachte vom Gesicht und sagte – in Eurer Sprache: ‚Warum weinen Sie, liebe Kleine? Hat Sie Papa ausgezankt oder haben Sie eine schlechte Schulnote bekommen oder ist Ihre Lieblingspuppe heiser?‘“
„So unverschämt kann nur ein Mann sein.“
„Ach, wir Menschen! So gewiß ich Grund hatte, unglücklich zu sein, so gewiß ich unglücklich war, so gewiß empfand ich in jenem Augenblick nur noch die Kränkung, für ein Kind gehalten zu werden. Ich richtete mich kerzengerade auf, doch der Unbekannte überragte mich hoch. Stelle Dir Leisewitz älter vor, mit – ja, mit mehr Geist auf der Stirn und in den Augen! Der Zorn giebt uns immer das Lächerlichste ein. ‚Ich bin nicht Ihre liebe Kleine,‘ sagte ich, ‚ich bin Prinzessin Erna.‘ Und da – ja, es war ungewöhnlich, übertrieben, doch von ihm geschah’s mit solcher Anmuth, daß es natürlich schien – er ließ sich auf ein Knie nieder, und indem er meine Hand an seine Brust führte, sprach er: ‚Nicht weil Sie Prinzessin, sondern weil Sie unglücklich sind, bitte ich Sie, mir zu perzeihen.‘ ‚Und wer sind Sie?‘ fragte ich von oben herab. Da war er leicht wie eine Feder aufgesprungen und erwiderte mit einem Lächeln, das mich ebenso wie seine Rührung bewegte: ‚Ich bin nur zeitweilig Prinz. Noch einmal, vergeben Sie mir, und ich will Sie nicht länger stören!‘ Ich fühlte mich beim innigen Klang seiner Stimme erleichtert und bedauerte es schmerzlich, als er dann ging. Er grüßte noch einmal – wie Leisewitz, ein wenig zu schwungvoll – und dann war er verschwunden.“
„‚Bisweilen Prinz.‘ – sicherlich war er ein fahrender Künstler.“
„Mag sein, jedenfalls ein Mann mit warmem Herzen, ohne Falsch. – O, ich erinnere mich an jenen Tag besser als an das Gestern. Ihr fuhret nachher in große Gesellschaft; meine arme Mutter schlief; in unserem Hause, im Garten war es totenstill. Ich saß in meinem Zimmer am Kaminfeuer, dann sah ich vom Fenster aus in die sinkende Nacht. In einem Dorfe läuteten die Glocken; der Dampfer mit rothen Lichtern glitt über den schwarzen See – die Einsamkeit legte sich über die Welt. Da stieg der Mond über den jenseitigen Höhen auf, groß, eine tote Sonne, und der See begann zu athmen, zu leuchten. Ein Boot fuhr in die glitzernde Bahn. Ein Fischer oder Träumer stand aufrecht darin und bewegte sacht die Ruder. Ich glaubte – ich dachte –“
„Nun kommt der Unbekannte als Prinz – natürlich als Märchenprinz im Sammetwams, mit einem Federhut.“
„Ich öffnete das Fenster. Der Ruderer wandte das Boot und verschwand hinter den Bäumen des Gartens. Und dann ertönte Gesang – o, Livia, das war die Stimme des Unbekannten, die mir den Abend lang im Ohr geklungen hatte, aber jetzt im Gesang! Die ganze Welt mit Leid und Lust war in dieser Stimme. Er sang – was galten mir die Worte? – er sang mir meine verlorene Jugend!“
Livia drückte die Freundin an sich. Nach einer Pause sagte sie: „Ich kann Dir nicht ganz nachempfinden, aber ich kann mit Dir fühlen. Nur in einem Punkt gieb mir recht: es mußte nicht gerade Leisewitz kommen, um Dich an jene Zeit zu erinnern. Es sind seitdem – einige Jahre vergangen, und diese Brüder in Apoll sehen sich alle mehr oder minder ähnlich!“
Da zuckte Erna wie ein Blitz empor. „Glaubst Du, weil ich eine Deutsche bin, hätte ich kein Ohr für Stimme, Vortrag, Kunst? Es giebt auf der Welt nur zwei solche Stimmen, heute vielleicht nur noch eine! Aber Du bist ebenso kalt wie die anderen! O, hätte ich geschwiegen! – Geh’, verlaß mich! – Marie! Marie!“ Eine Kammerfrau erschien mit verschlafenem Gesicht in der Thür. „Begleiten Sie die Gräfin nach ihrem Zimmer!“
Gräfin Casasola kannte ihre Herrin. Sie machte einen tiefen Knicks. „Hoheit, gute Nacht!“ Da lag ihr die Freundin am Halse. „Sei gut, Livia! Ich will ihn ja nur hören, will nur den Trost, das Leid vergessen, das mir einzig diese Stimme gewährt – giebt es einen bescheidneren Wunsch, ein unschuldigeres Glück? Was sollen wir thun, daß er bleibt? Wenn wir mit seiner Braut redeten –“
„Das geht nicht an.“
„Was sollen wir also thun?“
Livia zog einen rothen Shawl über den Kopf und schwang die Enden über die Schultern. „Beruhige Dich, liebe Erna!“ sprach sie, „wir werden ihn halten. Er ist sehr eitel, und eitle Menschen sind so leicht glücklich zu machen!“ – –
Eitel war Siegfried Leisewitz – dieser Wahrheit konnte sich sogar seine Braut nicht ganz verschließen, als sie mit ihrem Vater am folgenden Tag den Verlobten in seinem Daheim besuchte. „In Wörde würde das nicht angehen,“ meinte Hagemann, „aber hier und in meiner Begleitung – ich bin wirklich neugierig.“ Und wie neugierig war erst Emma! Sie erwartete eine Art Museum, Kunstschätze, gesammelt in all den Ländern, die der große Mann bereist hatte, Gruppen von Palmen, eine vielleicht verschwenderische, doch gediegene Pracht. Was sie fand, war ein Leisewitz-Museum. Die Möbel hatten wahrscheinlich mehr Geld gekostet als diejenigen in ihrer Gastwohnung, doch sie waren im gleichen Geschmack. Unwillkürlich dachte Emma an den Ladengehilfen, der in Wörde die Schaufenster mit den Fruchtkaffeedüten schmückte – so ungefähr würde auch der die Zimmer eingerichtet, die Möbel gestellt haben. Ein Steinwayflügel und ein altpersischer Teppich im Arbeitszimmer – beides Geschenke – waren allerdings sehr kostbar. An allen Wänden hingen vertrocknete Lorbeerkränze mit ellenlangen Atlasbändern, photographische Bildnisse in allen Größen, Bildnisse in Oel- und Wasserfarben, gute und schlechte: Leisewitz in allerlei Operntrachten, Leisewitz mit und ohne Schnurrbart, Leisewitz im Frack mit allen seinen Orden und Leisewitz im Schlafrock. Im Speisezimmer stand an der einen Schmalseite seine Marmorbüste, an der anderen seine überlebensgroße Büste in Gips, beide mit olympischem Gelock, das Peppi Purzel niemals ohne Lächeln betrachtete; an den Langseiten waren auf Sockeln und unter Glasstürzen alberne Lorbeerkränze, Becher und ähnliche Ehrengeschenke aufgestellt.
Gegen den frischen Blumenschmuck der Tafel stach das welke Zeug an den Wänden, das an einen Kirchhof erinnerte, häßlich ab.
Beim Begrüßungsmahl entfaltete Leisewitz großen Aufwand. Er sagte sich, daß dem Schwiegervater seine Sparsamkeit gefalle, aber eine Ausnahme zu seinen Ehren schmeicheln werde. Purzel war heute nur Handlanger; die beiden gemietheten Aufwärter sahen wie Engländer aus und sprachen französisch. Der dritte Kellner, der als Haushofmeister mit steifer Würde neben dem Anrichttisch stand, sprach überhaupt nicht; er lenkte den Gang der Ereignisse mit seinem Mienenspiel, mit einem Wink seiner Augen, einem Zucken der Brauen. Da er eine schwere goldene Kette um den Hals trug, hielt ihn Hagemann anfangs für einen eingeladenen Rathsherrn, später, als ihm die Erscheinungen im Raume nebelhaft verschwammen, für den Geist Segebergs. Herr von Aschau war der dritte Gast, für Emma ebenso unwillkommen wie unverhofft. Ihr Vater fühlte sich durch die Anwesenheit eines alten Bekannten, der inzwischen einen so schönen und mundgerechten Titel gewonnen hatte, angenehm gekitzelt; das Leisewitz-Museum fand seinen Beifall, das Mahl entzückte ihn. Vom feurigen Estremadura nach der Suppe [530] bis zum duftigen Schiras beim Nachtisch waren ihm alle Weinmarken unbekannt; es gab Gerichte, deren Namen er nie gehört hatte, Eßwerkzeuge, womit er nicht umzugehen wußte. Wie Leisewitz vorhergesehen hatte, wurde der wackere Pommer dadurch nicht in Verlegenheit gesetzt, sondern höchlich unterhalten. „Wenn Du täglich solche Tafel hieltest,“ sprach er, „würde ich Dir meine Emma nicht geben, denn dazu reicht Dein und mein Geld nicht aus.“
„Bewahre, 1ch esse jahrein jahraus an der Wirthstafel im ‚Berliner Hof‘. Nur bei außerordentlichen Gelegenheiten geht es aus der heutigen Tonart. Sonst wär’ es bald vorbei mit meiner Stimme. Ach, Ihr habt von den Opfern, von der Arbeit, die mich mein Ruhm kostet, keine Ahnung! Jeder verlorene Tag rächt sich. Eiserner Fleiß, weise Vorsicht, üben, lernen, die großen Meister studieren, den kleinen unter die Arme greifen –“
„Ja, ja - dem Robert Lenz und so weiter.“
Emma, von dem hämischen Ton dieser Worte Aschaus betroffen, wandte sich an ihren Verlobten: „Du hältst doch unseren Freund für ein großes Talent?“
Der Sänger wiegte den Kopf „Mit hundert anderen verglichen, ja; mit Richard Wagner verglichen, nein.“
„Mein liebes Fräulein,“ sagte Aschau mit der Miene eines unfehlbaren Kunstrichters, „da ich der Studiengenosse des Herrn Lenz gewesen bin, kann ich die Tragweite seiner Kraft besser als Leisewitz beurtheilen. Es geht ihm zu schwer von der Hand. Seine Arbeiten riechen nach der Lampe.“
„Hat er denn schon als Student komponiert?“
„Halt!“ rief der Sänger. „Weil wir soeben von Richard Wagner sprachen, will ich Euch den Brief zeigen, den mir Verdi geschrieben hat.“
„So kann es einem ergehen,“ sagte der Intendant, als Leisewitz das Zimmer verlassen hatte, „ich muß froh sein, wenn mir Verdi auf meine Briefe antwortet; an Leisewitz schreibt er aus freien Stücken. Ihr Bräutigam ist ein weltberühmter Mann, liebes Fräulein, halten Sie ihn fest! Sie haben Neiderinnen in den höchsten Kreisen.“
„Ich fürchte nichts, Excellenz – Siegfried und ich lieben einander, das ist die beste Bürgschaft.“
Ihre Zuversicht giebt mir Muth. Erinnern Sie sich der russischen Fürstin im ‚Deutschen Kaiser‘ zu Wörde? Sie hält sich gegenwärtig hier auf. Nun erwartet sie heute zum Fünfuhr-Thee hohe Persönlichkeiten aus Petersburg, und da beauftragte sie mich – ach, Sie werden mir zürnen! – kurz, wenn Sie Leisewitz erlaubten, sagen wir, um Sechs erlaubten, in die erlauchte Gesellschaft zu gehen und ein Liedchen oder zwei zu singen, würden Sie die Fürstin und mich zu ewiger Dankbarkeit verpflichten. Natürlich wird morgen die Juwelensammlung unseres Freundes um ein schönes Stück reicher werden.“
„Das hängt ja einzig von meinem Bräutigam ab,“ erwiderte Emma kleinlaut, „Wenn er uns verlassen will –“
„Verlassen! Das Wort ist zu hart, Der Wagen der Fürstin holt ihn um sechs Uhr ab und bringt ihn nach einem Stündchen zurück.“
„Gestern schon war es ebenso – doch wenn Siegfried wünscht –“
„Wie wird er nicht!“ sagte Hagemann. „Für ein Liedchen eine diamantene Busennadel! Warum bin ich nicht Sänger geworden!“
„Nun ja, wenn Du glaubst, daß Siegfried selbst damit einverstanden ist –“
„Bewilligt, bewilligt!“ rief Aschau dem Zurückkehrenden zu. „Ihre liebenswürdige Braut giebt Ihnen Urlaub.“
Leisewitz zuckte die Schulter. „Ein Schwager der Fürstin, Marchese Ruspolli in Rom, war mir allerdings dort sehr gefällig, dennoch – wenn ich gehe, gehe ich nur Excellenz zulieb.“ Er nahm Platz. „Dieser Marchese Ruspolli – kennen ihn Excellenz?“
„Ich? Nein! Aber vergessen Sie nicht den Brief!“
„Richtig, der Brief – da ist er!“
Das schmeichelhafte Schreiben des großen Tondichters machte unter diesen Umständen nur geringen Eindruck auf Emma; sie ließ den Kopf hängen. Endlich faßte sie sich. „Wir besuchen morgen vormittag die Gemäldesammlung, Siegfried,“ begann sie.
„Schade, daß ich da Probe habe. Uebrigens würde Euch meine Begleitung wenig nützen. Die alten Bilder lassen mich kalt. Es ist soviel Wahn dabei! Wir versinken vor einem Raphael in halbstündige Andacht, und ein Jahr darauf erweist sich der angebliche Raphael als grobe Fälschung! Aber nun muß ich Euch doch vom Marchese Ruspolli erzählen! Ich war ihm, ich weiß nicht mehr von wem, empfohlen worden. Er ist ungeheuer reich und nebenbei berühmter Kunstkenner. Mit ihm besuchte ich die verschiedenen Kirchen und Paläste und – und – kurz, ich sah alles. Es war keine leichte Arbeit. Doch schließlich wurde ich von seiner Begeisterung angesteckt. Die Größe Roms ging mir auf. Eines Tages fuhren wir in zahlreicher Gesellschaft nach Tivoli. Nachdem wir des Wassers genug gesehen hatten, tafelten wir im Freiem im Schatten eines heidnischen Tempelchens, und als der Abend nahte, gab ich den Bitten nach und sang, Weltliches und Kirchliches von alten und neuen Meistern bunt durcheinander: zuletzt vor einem großen Publikum, denn alle Umwohner waren herzugeströmt – meist Bauernvolk, aber von einer Andacht, einem Verständniß – nach jedem Stück lohnte mir ein Entzücken, ein Jubel – dem alten Tempelgötzen ist schwerlich jemals so gehuldigt worden! Und dann die Abfahrt – das Volk um meinen blumenbekränzten Wagen – ah! ah! Ich hielt jenen Abend für den höchsten Triumph meines Lebens, bis ich in Wörde –“ Leisewitz sprang auf und schwang sein Glas. „Gebenedeit sei das Lied, mit dem ich mir meine Braut gewann!“ Und er begann:
„O wie sehn’ ich mich nach Süden,
Nach der Sonne Gnadenfülle – –“
Er sang das Lied zu Ende, und wer konnte ihm böse bleiben, wenn er sang! -
Leisewitz stellte die Versöhnte auf eine harte Probe. Um sechs Uhr waren Vater und Tochter in die Gastwohnung zurückgekehrt, aber aus dem von Aschau verheißenen Wartestündchen wurden Stunden. Schwarzer Kaffee und düstere Nachrichten hatten Hagemann ernüchtert. Auf dem kurzen Heimweg waren sie vom Geschrei, mit dem die Abendblätter ausgeboten wurden, erschreckt worden: „Krieg in Sicht – Marschbereitschaft – letzter Vorschlag“ und ähnliche Schlagworte hatten das Paar umschwirrt. Daheim las Emma die neuesten Berichte über die Händel und Verhandlungen der Mächte vor; sie las noch, als tiefe Glockentöne zu summen begannen. Sie zwangen Emma zu schweigen und verschlangen sogar das Straßengetöse; so groß und volkreich die Stadt war, wenigstens sekundenlang verstummte sie vor dieser ehernen Stimme. Es war nur eine Glocke, doch mit schönem mächtigen Ton. „Nun,“ sagte Hagemann zu seiner Tochter, die durch das Geläute geängstigt wurde, „da ist nichts zu erschrecken. Wir sind eben in einer katholischen Stadt.“ Allein in demselben Augenblick trat die Hauswirthin aufgeregt herein. Ob sie die Stadtglocke gehört hätten, die alte gewaltige Glocke im Rathhausthurm, die nur bei ungewöhnlichen Ereignissen und zu außerordentlichen Rathssitzungen geläutet werde – dos sei gewiß der Krieg!
Fritz Hagemann erschrak. „Wir reisen morgen nach Hause,“ sagte er, sobald sie wieder allein waren.
Emma entfärbte sich. „Aber Vater!“
„In solcher Zeit muß jeder Bürger auf seinem Posten sein.“ Er war in Gedanken schon bei Segeberg.
Das Vorgefühl der jähen Trennung machte Emma beredt, sie suchte dem Vater mit aller Spitzfindigkeit zu beweisen, daß alles übertrieben sei – das freche Geschrei der Zeitungsverkäufer habe die Gefahr vergrößert, die Gemüther verwirrt. Sie redeten hin und her, und dabei dachte Emma unablässig: kommt er noch nicht? O, wenn er doch käme!
Endlich trat der Ersehnte ein, mit strahlenden Augen, fröhlich, als ob die Welt kein Kriegslager, sondern ein Festsaal wäre. Vater und Tochter sprachen aufgeregt zugleich auf ihn ein, er dagegen rief mit Gelächter dazwischen: „Marschbereitschaft, Kriegserklärung – ha, ha, ha! Unsinn! Der russische Gesandte hat mich aufs bestimmteste versichert, daß seit vierundzwanzig Stunden ein anderer Wind weht. Er erwartet mit Sicherheit die friedliche Lösung aller Wirren. Ihr wollt abreisen? Ganz verfrüht! Sollte es aber trotzdem zum Kriege kommen, so würde ich mit Euch gehen. Emma und ich lassen uns dann in Wörde trauen und retten uns vor dem Kriege nach Amerika. Der Vertrag über meine Kunstreise durch die Vereinigten Staaten liegt in meinem Pult. Ich brauche ihn nur zu unterzeichnen.“
[531] „Fahnenflüchtig?“ sagte Hagemann unwillig, „Im Unglück verläßt man sein Vaterland nicht!“
„Ich bin kein Soldat, auch nicht im geringsten für den Krieg verantwortlich – warum soll ich dafür leiden? Ich weiß, was Du mir entgegnen willst, lieber Papa Hagemann, aber gieb Dir keine Mühe! Wahn, alles Wahn! Streiten wir nicht um des Kaisers Bart! Es giebt keinen Krieg – ja doch, übermorgen den ‚Sängerkrieg auf der Wartburg‘!“
„Auf den freue ich mich,“ sagte Hagemann. „Doch was meinst Du mit dem Wahn?“
Emma trat ängstlich dazwischen. „Aber Vater, wir wollen uns wirklich nicht um Worte streiten und froh sein, daß der Krieg vermieden wird. Ende gut, alles gut! O Siegfried, Siegfried, der Abend begann so traurig – und nun! Du mußt uns alles genau erzählen.“
„Es ging sehr vornehm her,“ versetzte Leisewitz. „Auch die Hofdame unserer Prinzessin, die Italienerin war dort – sie hat sich nach Dir erkundigt. Alle waren sehr liebenswürdig gegen mich.“ Ein Seufzer entschlüpfte ihm. „Ach ja, jene Welt hat ihren Zauber!“ –
Am folgenden Tage wurden die Mittheilungen des Gesandten durch die Zeitungsnachrichten bestätigt. Es hatte den Anschein, als ob alle die Wolken, die Europa bedrohten, „in des Weltmeers tiefen Schoß“ begraben werden sollten. Hagemann dachte nicht mehr daran, die Stadt zu verlassen, deren Bevölkerung sich unter dem Eindruck der Friedensbotschaft von der besten Seite zeigte. Emma mußte den größten Theil des Tages ohne Siegfrieds Gesellschaft verbringen; sie sehnte sich nach ihm, und doch, wenn er gegenwärtig war, fühlte sie sich auch nicht glücklich. Ihr Bräutigam war hier in der Residenz ein anderer als in Wörde. Hier nahmen außer der Liebe hundert Angelegenheiten und Rücksichten sein Herz und seinen Kopf in Anspruch; es wurde ihr schwer, seinen Gedankensprüngen zu folgen, den Wechsel seiner Stimmungen zu begreifen. Jetzt schwärmte er vom Glück am häuslichen Herd, in der nächsten Minute plante er eine Kunstreise um die Welt. Er legte Werth auf den Gruß der Kleinen und Großen; er spielte eine Rolle, wenn er sich von Fremden beobachtet sah. Als einmal Hagemann von seinen Kunden sprach, da klopfte ihm Siegfried gönnerhaft auf die Schulter: „Laß nur gut sein, Alterchen; wenn ich erst Dein Schwiegersohn bin, werde ich Dein Reisender, und ganz Deutschland trinkt nur noch Hagedorn-Fruchtkaffee.“ Das war ein Scherz, aber Emma ward dadurch verstimmt. Und doch – er ist eben ein Künstler, dachte sie dann wieder, wenn sie in Nummer sieben unter den Klängen irgend einer aus der Nachbarschaft herübertönenden Militärmusik zur Ruhe ging; er hat mehr Saiten als ein gewöhnliches Menschenkind, und die Unrast der Großstadt fährt darüber her und entlockt ihnen auch falsche Töne. Aber sein Herz ist gut, und sein Herz ist mein.
Auf Hagemanns Wunsch, der auch der heimliche seiner Tochter war, wohnten sie der Aufführung des „Tannhäuser“ auf der Bühne bei. Purzel führte sie treppauf, treppab, durch lange Gänge, dann durch das Gewühl von reisigem Volk und Tänzerinnen bis an ihren Platz, eine Nische zwischen dem Rahmen des Vorhangs und der ersten Bühnenwand. Sie sahen einen großen Theil der Bühne, sahen in die jenseitigen Schiebewänbe und über sich in den schwindelnd hohen Hängeboden. Leute im Straßen- oder Arbeitskleid waren zahlreich genug auf der Bühne, um jede Täuschung zu verhindern. Eine weiße Gestalt mit aufgelösten Haaren saß auf einem rosenumrankten Pfühl und unterhielt sich mit Excellenz von Aschau. Es war die Venus! Uebrigens war sie wie eine Vestalin gekleidet, auch hielt sie keinen Taumelbecher in der Hand, sondern eine Papierdüte, wahrscheinlich mit Malzbonbons. Schon war mancher Minnesänger neugierig an unserem Paar vorbeigestrichen, der eine und andere mit feierlichem Gruß, einer aber war besonders keck, ein blasser Mann mit langen blonden Locken und blondem Vollbart; er trat dicht heran, verschränkte die Arme und maß das Fräulein unheimlich mit seinen schwarzumränderten Augen. „Was ist das!“ sprach er endlich, „meine Emma kennt mich nicht?“
„Siegfried!“ rief sie.
Da klatschte jemand in die Hände – husch, husch! Wer nicht in den Hörselberg gehörte, drückte sich beiseite. Die Tänzerinnen bildeten im Handumdrehen eine wohlgeordnete Gruppe. „Auf Wiedersehen!“ rief Siegfried. Ein blendendes Licht fiel aus der Höhe und Emma sah, wie sich Tannhäuser der holden Unholdin Venus zu Füßen legte. Draußen in der Tiefe spielten sie die Ouvertüre, allein Emma vernahm das Pochen ihres Herzens deutlicher als die Musik. Dann rauschte es in ihrer Nähe, ein Lufthauch strich über ihr Gesicht - der Vorhang ging auf.
Die ganze Vorstellung war für Emma mehr Pein als Genuß. Sicherlich sang Leisewitz so schön wie immer, aber er sang nicht für die kleine Nische, sondern für das große Haus. Und das blonde Haar und der wirre Bart! Und vor allem die bösen Choristen! Oft sah sie minutenlang nur Mäntel und Mützen und Federn. Als der Vorhang fiel, hörte Emma ein Summen und Klatschen im Hause; ihrem ungeschulten Ohr klang der Beifall schwach, und sie fühlte sich gekränkt. Sie wurde in ihrem Wahn bestärkt, als ihr Bräutigam in übler Laune zu ihnen trat. „Das Publikum ist durch den Zeitungstratsch rein des Teufels, eine Unruhe und Unaufmerksamkeit im Hause – hol’ sie der Kuckuck! Und was sagt Ihr zu dieser Venus? Sie thut, als ob sie von Glas wäre. Und mit solch einer Drehorgel muß man sich in den Beifall theilen! Das Haus ist ausverkauft. Unsere Prinzessin ist auch da, mit dem Kronprinzen von K. Ich würde Euch gerne Gesellschaft leisten, aber mein Giuseppe wartet auf mich mit dem Brenneisen. Adieu, adieu!“ Und er verschwand im Gewühl des Seitenganges.
Auf der Bühne war ein Hin und Her, ein Hämmern und Poltern, und von oben klangen scheltende Stimmen. Ach, und die Unterhaltungen in ihrer Nähe! „Noch immer im ‚Artushof‘?“ fragte der Landgraf den edlen Wolfram von Eschenbach. „Was wollt Ihr!“ erwiderte der. „Das Bier dort bekommt mir, und das Beefsteak ist eminent!“ Und dann nahm er eine Prise. Als der Vorhang zum letzten Mal gefallen war, sagte sich Emma: nie mehr, nie mehr! Siegfried, den Kragen seines Pilgermantels übergestülpt, eilte heran. „Es zieht jetzt fürchterlich - Purzel führt Euch hinunter, schickt ihn gleich wieder zurück! Auf Wiedersehen in Nummer sieben!“ Fort war er.
Im Freien sagte Hagemann: „Die Oper selbst hört sich auf einem Sperrsitz jedenfalls besser an aber putzig war es!“ Emma sagte nichts.
Im Flur von Nummer sieben stand ein Herr und grüßte. „Alle Hagel!“ rief Hagemann, „Robert Lenz! Das ist nett von Ihnen!“ Auch Emma freute sich; ein guter Mensch war ihr niemals so willkommen gewesen wie heute. Er war vor zwei Stunden angelangt, hatte seinen Freund Walter in Solitude begrüßt und dort die Wohnung Hagemanns erfragt. „Und Segeberg? Und die anderen ‚Sonnenbrüder‘?“ rief Hagemann.
„Heute, nach der neuesten Friedensbotschaft, werden sie wohl munter sein.“
„Und Ihre Oper?“ fragte Emma.
Ein Schatten flog über die Stirn Roberts. „Ich ging auf die Einladung der Prinzessin von Wörde fort, aber auch, um für den Kriegsfall – doch das war nun, Gott sei Dank, überflüssig.“
„Aber bei der Oper bleibt’s?“
„Ja; das heißt, Walter meint, alles hänge von Leisewitz und Aschau ab. Nun, Leisewitz ist mein Freund - aber Aschaus bin ich nicht sicher.“
Darüber waren sie in das Lesezimmer gelangt. „Leisewitz wird bald hier sein,“ sprach Hagemann zuversichtlich, „dann setzen wir uns im Weinstübchen drunten gemüthlich hinter eine Flasche, und Leisewitz muß ’ran und die Oper muß ’raus!“
Nach einiger Zeit erschien Giuseppe Purzel. Sein Herr lasse sich entschuldigen, er sei plötzlich nach Solitude befohlen worden. „Der Kronprinz von K. wünscht unsere Bekanntschaft.“
„Ja, ein Kronprinz hat freilich den Vortritt!“ sagte Hagemann verstimmt. „Aber die Flasche Policinello trinken wir doch!“ Emma bat, in ihrem Zimmer bleiben zu dürfen. „Verargen Sie mir es nicht, Herr Lenz,“ bat sie, „ich bin – ich bin so müde.“
„Aber, Fräulein –“
Hagemann sah seine Tochter an und begleitete sie dann, ohne ein Wort zu sagen, bis an die Zimmerthür.
Droben in ihrem Zimmer ließ sich Emma erschöpft auf einen Stuhl fallen. So, noch in Hut und Shawl, die Hände im Schoß gefaltet, saß sie lange in qualvollen Gedanken.
Herbststürme entrissen den Bäumen das letzte Laub. Aus den Fenstern in Solitude sah man auf windgepeitschtes schwarzes Geäst unter einem schweren Wolkenhimmel. Es war noch Tag und in den Zimmern doch nicht Tag. Aber daß die Mienen der Prinzessin nichts Gutes verhießen, sahen ihre Begleiterinnen dennoch. Sie lag, in einen Pelz gehüllt, den Kopf auf die Hand gestützt, auf dem Sofa. Wangen und Lippen waren blutlos, dabei glänzten ihre Augen fieberhaft.
Frau von Schönfeld hatte zwar ein für sie selbst sehr angenehmes Ereigniß, ihre Verlobung mit Herrn von Aschau, angezeigt, dennoch saß sie in dem seidenen Sessel gegenüber der Prinzessin unbehaglich, kerzengerade und auf der Kante, bereit, bei der ersten Beleidigung zu fliehen.
„Ihre Beziehungen zu Aschau, liebe Schönfeld, waren mir längst kein Geheimniß. Glauben Sie ja nicht, daß ich Ihnen deshalb zürne. Warum soll eine junge Witwe sitzen bleiben gleich einer alten Jungfer wie ich! Aschau ist jetzt Excellenz und das Haupt einer nach Friedrich Schiller moralischen Anstalt. Bei Ihren beiderseitigen strengen Grundsätzen kann Ihr Einfluß auf die Primadonnen, Primaballerinen und so weiter nur heilsam sein. Ich wünsche Ihnen und Ihrer zweiten Ehe alles Gute. Aber ich befehle Ihnen, sich deutlicher darüber auszudrücken, inwiefern bestimmte Persönlichkeiten und Verhältnisse an meinem Hofe für Sie unerquicklich, warum sie für Ihre schmerzliche Trennung von mir maßgebend geworden sind! Die Ihnen mißliebige Persönlichkeit kann nur Leisewitz sein. Singt er Ihnen noch nicht genug Wagner?“
„Als Künstler schätze ich ihn heute ebenso wie früher.“
„Am Menschen liegt Ihnen hoffentlich ebenso wenig wie mir.“
Frau von Schönfeld zwinkerte unwillkürlich mit den Augen. „Es würde doch unnatürlich sein, wenn ich den Mann ohne Widerwillen sehen könnte, der meinem Verlobten das Leben verleidet. Herr Leisewitz behandelt seinen Vorgesetzten ebenso schroff wie seine Kollegen; er ärgert, kränkt, ängstigt ihn auf jede Weise. Herr Leisewitz ist die Geißel unseres Hoftheaters. Mit dem Drohwort: ,Ich werde mich bei der Prinzessin beklagen!‘ – so und nicht anders drückt er sich aus – mit dieser Drohung schüchtert er jeden ein, denn wem wird nicht die Ungnade Ihrer Hoheit als das schwerste Unglück erscheinen!“
„Er beruft sich auf mich? Was weiß ich von seinen Launen!“
„Ja, wie sollte ich – selbst verlobt – einem Manne nicht gram sein, der seine Braut, ein braves tugendhaftes Mädchen, vernachlässigt!“
„Das wird wohl Schuld der Braut sein . . . aber ist diese denn nicht unser blonder Engel aus Wörde? Wie man vergeßlich ist! Dann begreife ich wirklich nicht, wie er sie vernachlässigen kann.“
„Herr Leisewitz beruft sich auch in diesem Fall aus Ihre Hoheit.“
„Ach, gewissermaßen hat er da recht. Ich nehme seine freie Zeit stark in Anspruch. Allerdings wird er dafür bezahlt.“
„O, die ganze Stadt spricht von der Großmuth Ihrer Hoheit; die ganze Stadt kennt die wahrhaft fürstlichen Geschenke, mit denen ihn die gnädigste Prinzessin überschüttet.“
„,Ueberschüttet‘ ist stark, meine liebe Schönfeld. Das würde mir schon mein Hofsekretär nicht erlauben. Es ist aber sehr thöricht von Leisewitz, mit meiner Großmuth zu prahlen; er zwingt mich, künftig sparsamer zu sein. Uebrigens, woher wissen Sie etwas über die Vernachlässigung der Braut?“
„Man spricht überall davon. Herr Leisewitz ist bedauerlicherweise sehr unvorsichtig in seinen Aeußerungen und – Einbildungen.“
Frau Schönfeld sprach den zweiten Satz kaum hörbar, allein Erna saß im Nu aufrecht und sagte mit entstellter Stimme: „Jetzt verstehe ich Sie und bin Ihnen dankbar! Als glückliche Braut werden Sie sehr beschäftigt sein – auf Wiedersehen morgen oder übermorgen! Wenn ich Ihrer bedürfen sollte, werde ich Sie bitten lassen.“
Sobald Erna mit der Gräfin Casasola allein war, überließ sie sich ihrer Leidenschaft; sie zerriß ihr Spitzentuch in Stücke und schritt wie rasend im Zimmer hin und her. „Ein Schurke,“ sagte sie mit wutherstickter Stimme. „Ein Geck und ein Schurke!“
„Hoheit,“ bat Livia, „Sie schaden sich! Darf ich Doktor Walter rufen?“
Dieser Name wirkte wie immer. „Nein; ihn nicht!“ Dann fiel sie der Freundin um den Hals. „O, Livia, fühlst Du denn nicht, wie schmachvoll dieser Leisewitz mich erniedrigt! Jetzt verstehe ich seine Blicke, seine Seufzer, so manches dunkle Wort! Ich hielt ihn für einen Schwärmer, und er prahlt mit meiner Gunst!“
„Hoheit!“
„Sage das Wort nicht mehr! In dieser schnöden Welt ist nichts mehr hoch und hehr! Und das arme schöne Mädchen, dem ich so gut bin, denkt, glaubt – Aber er soll es büßen, tausendfach büßen! Setze Dich und schreib’!“
Livia sah sie verwundert an und ließ sich dann am Schreibtisch nieder, nahm einen Briefbogen und tunkte die Feder ein.
„Herr Doktor Walter!“
„Aber, liebe Erna, Doktor Walter ist wahrscheinlich in seinem Zimmer. Wenn wir Brausewein –“
„Schreib’! ‚Herr Doktor Walter! Sie genießen das Vertrauen des Fürsten. Benachrichtigen Sie Ihren Herrn, daß ein Unwürdiger Ihren Schützling, Prinzessin Erna –‘“
Livia setzte die Feder ab. „Theuerste, warum das schreiben? Das sagt sich doch besser! Doktor Walter verdient auch Dein Vertrauen.“
„Daß er mir mit seiner gewohnten unverschämten Gelassenheit erwidert: das hab’ ich vorausgesehen? Nein! Alle Welt zetert über anonyme Briefe, aber alle Welt legt Gewicht auf sie.“
Livia warf entschlossen die Feder hin. „Erna, ich schreibe keine anonymen Briefe. Wenn Du willst, werde ich mit Doktor Walter reden. Was soll er?“
„Der Fürst und er sollen Zeugen sein, wie ich den Elenden vernichte. Ich könnte diesem Menschen gegenüber, der meinen Ruf vergiftet, meine Würde vergessen, ich könnte – den Männern sei es überlassen, die Beleidignug zu sühnen. Er ist auf heute abend neun Uhr befohlen, nicht?“
„Erna, Erna, was willst Du?“
[543] „Mich vom Wahnsinn dieses Menschen überzeugen, Geh’ zu Deinem Freunde – Du brauchst nicht roth zu werden, er ist es doch – geh’ und sag’ ihm, er möge um zehn Uhr zur Stelle sein.“
Livia ließ den Arzt in den anstoßenden Saal rufen und entledigte sich ihres Auftrags. Er hörte ihr aufmerksam zu und bat sie dazwischen, ihm das eine und andere genauer zu sagen. Dann nickte er und rief: „Jetzt hab’ ich ihn!“
„Herrn Leisewitz?“
„Nein, entschuldigen Sie meine Unschicklichkeit, ich meine den Fürsten. Wenn mich nicht alles täuscht, stehen wir an einem Wendepunkt. Ich gehe sofort zum Fürsten.“
Livia hielt ihn erschrocken zurück. „Was werden Sie dem Fürsten sagen? Sie wollen mein Vertrauen mißbrauchen?“
„Vertrauen Sie mir – ich handle zum besten Ihrer Freundin. Ahnen Sie denn nichts? Haben Sie nie für Ihre Freundin gefürchtet?“
Livia ließ erblassend seine Hand fahren. „Jetzt versteh’ ich Sie. Das Los ihrer Mutter! O, mein Gott! Aber ich will fort! Solitude war niemals fröhlich, jetzt wird es ein Kerker!“
„Und ich bin der Kerkermeister, meinen Sie? Nein, theuerste Gräfin, fassen Sie Muth. Solitude wird sich nicht verändern und nur für mich ein Kerker sein, wenn Sie gehen –“
Livia fiel ihm ins Wort. „Ich werde nicht gehen. Ich kann erschrecken, bin aber nicht feige. Was auch kommen mag, ich bleibe bei Erna.“
Walter ergriff ihre Hände. „Dank, herzlichen Dank! Nicht nur um die Leidende, auch um den Arzt erwerben Sie sich unendliches Verdienst, denn –“
Wieder kam sie seiner Erklärung zuvor. „Doktor, Doktor – Sie sind ein guter Mensch – versprechen Sie mir, meine Freundin zu retten –“
„Ach, Gräfin, wenn es in meiner Gewalt stünde –“
„Geben Sie mir zum Trost nur ein schwaches Vielleicht, und Ihre Wünsche sollen erfüllt werden!“
„Sie stellen meine Redlichkeit auf eine harte Probe, denn was ich wünsche, wissen Sie.“ Er drückte ihre Hände ungestüm an seine Brust. „Dich wünsche ich, Dich! Aber Ihre Stellung, Ihre Familie wird Sie hindern –“
Sie lächelte unter Thränen, „Meine Familie! Sie Heuchler wissen ebenso sicher, daß ich mündig, wie daß ich Ihnen gut bin.“
„Livia!“ Er zog sie, die nicht widerstrebte, an sich und küßte sie.
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Fritz Hagemann hatte in den drei Wochen, die seit der „Tannhäuser“–Aufführung vergangen waren, Großes geleistet; er war dabei stets von bezaubernder Liebenswürdigkeit, beim Geschäft wie beim Vergnügen, in den verschiedenen Kaffeehäusern unter Tags wie am Stammtisch im „Artushof“ bei Nacht. Es war ihm geglückt, in der großen Stadt eine Art von Sonnenbrüderschaft um sich zu sammeln, und der Kreis dieser neuen Freunde vergrößerte sich täglich. Seine seemännischen Ausdrücke, die er nach der Meinung der Wörder nicht auf der See, sondern auf dem Hafenplatz gesammelt hatte, heimelten seltsamerweise diese Landratten an, und so entwickelte sich bei ihnen eine feuchtfröhliche Zuneigung, die Hagemann schönstens erwiderte. Dabei erging es Hagemann wie so vielen: über dem Guten draußen bemerkte er den Schatten im Hause nicht. Leisewitz erschien in Nummer sieben nur nachmittags und auf kurze Zeit, und sein künftiger Schwiegervater ließ seine Entschuldigungen gelten – Studien, Proben, Aufführungen und vor allem der Hof nahmen ja den Aermsten Tag und Nacht in Anspruch! Um so besser, dachte Hagemann, so kann ich mich ungestörter Behaglichkeit hingeben und werde meine Tochter für mich haben. Emma verbarg ihren Kummer vor dem Vater, nicht aber vor Robert Lenz, Der gute Mensch wurde ihr in ihrer Verlassenheit vertraut wie ein Bruder. Er hätte wohl selbst des Trostes bedurft, denn so sehr der Intendant und Leisewitz aufeinander erbost waren, so hielten sie doch an ihrem Uebereinkommen bezüglich der neuen Oper fest, Sie wurde auf den Nimmermehrstag verschoben und ihr Schöpfer auf die nächste „Saison“ vertröstet. Lenz war zu stolz, die vergeßliche Prinzessin an ihr Versprechen zu erinnern, er mied Solitude, und Doktor Walter verließ das Schloß nicht mehr. Dabei waren die Mittel Roberts knapp. In der Freude, sein Werk aufgeführt zu sehen, dem heimlich geliebten Weibe für immer nahe zu bleiben, hatte er seine Schiffe verbrannt, seine feste Stellung in Wörde aufgegeben. „Für mich sind die friedlichen Aussichten nicht tröstlich,“ klagte er in düsteren Stunden, „draußen im Felde hätte ich gewußt, was thun, und wenn ich gefallen wäre, würde ich etwas Ganzes und Rechtes gewesen sein!“ Doch diese verzweifelten Stimmungen gingen vorüber. Er war ein Sonnenkind. Die Enttäuschung in der einen Hoffnung machte ihm die Erfüllung der anderen um so süßer. Er war ja der Geliebten nah, war ihr Freund! Ein Sonnenkind! Wie ihn in Wörde das wogende Meer für die Entbehrungen der Kleinstadt entschädigt hatte, so ersetzte ihm jetzt das Gewühl, das tausendgestaltige Leben der Großstadt die Natur. In jeder Brust dieser Hunderttausende wühlt die Leidenschaft wie in der meinen, dachte er. Welch ein Sturm, wenn sie entfesselt wären! Aber frommer Glaube, Pflichttreue, Schaffensfreude streiten dagegen und stellen die schöne Ordnung her. An die Arbeit also! Und er arbeitete. –
An jenem rauhen Tage, an dem Frau von Schönfeld in Solitude ihre Verlobung anzeigte, machte Herr von Aschau auf dem Schillerplatz seinen ersten Besuch. Er traf Hagemann nicht zu Hause an, aber die Tochter im düsteren kalten Lesezimmer. Die Unterhaltung währte nicht lange, doch Emma hatte genug gehört und errathen, um die bis jetzt mühsam behauptete Ruhe unwiederbringlich zu verlieren. Die Gunst der Prinzessin lockte Siegfried! Darum war es ihm lieb, daß sie ihre Opernbesuche eingestellt hatte – die Gegenwart der Braut störte ihn in seiner Romantik, in dem Bewußtsein, für die Hohe, Hehre zu singen! Darum ließ er sich nur noch auf kurze Augenblicke bei seiner Braut sehen, darum ließ er sich so gerne nach Solitude berufen! Thränenlos, mit geisterhaften Augen saß sie da und starrte vor sich hin.
Als Hagemann nach Hause kam, erschrak er über ihre Blässe. Sie aß nichts. „Kind, was fehlt Dir? Du bist krank! Ich werde unseren Bekannten, den Hofmedikus der Prinzessin, rufen.“
„Den am letzten,“ erwiderte sie mit bitterem Lachen, „Wir haben mit den Hofbekanntschaften kein Glück! Herr von Aschau war da und beklagte sich über Siegfried, ich fürchte, mit Recht. Die Hofgunst macht ihn übermüthig.“
Hagemann wurde nachdenklich. „Ich habe auch schon dies und das gehört, aber man nimmt sich vor dem Schwiegervater in acht und ich sehe nicht klar. Neulich begegnete mir Stenzel, der Hoffourier, Ich fand ihn verändert, mißtrauisch, zugeknöpft. Purzel, der Hanswurst, ist Knall und Fall entlassen worden, weil er mit einem Lakaien der Prinzessin Streit angefangen hat, und setzt, wie mir mein Freund, der Bassist Brummer, erzählte, das Haarkräuseln jetzt im Laden auf dem Schloßplatz fort. I, sicherlich ist nicht alles klar! Im Artushof erscheint Leisewitz nie. Hat er ein schlechtes Gewissen oder schämt er sich meiner bürgerlichen Gesellschaft? Ich werde den Jungen ansegeln. Er soll die Flagge zeigen –“
„Laß mich mit Siegfried reden,“ versetzte sie mit Festigkeit. „Wenn er heute abend kommt – vielleicht kommt er – so laß mich mit ihm allein, nur ein paar Minuten lang. Vater, ich ertrage die Qual nicht mehr!“ rief sie mit ausbrechender Leidenschaft, „ich will mein Urtheil hören!“
„Das ist ja fürchterlich,“ rief Hagemann. „Das kam doch nicht erst heute über Dich. Und mich läßt man fröhlich und guter Dinge sein, während mein Kind –“
„Beruhige Dich, lieber Vater! Vielleicht wird noch alles gut.“
Hagemann sah Emma von der Seite an. Ob wohl Lenz etwas wußte. „Kommt Lenz heute?“ fragte er laut.
„Ich hvffe es; er hat eine stille Art, Antheil zu nehmen, die wohlthut.“
„Lenz ist ein guter Kerl. Ich werde ihn zum ‚Sonnenbruder‘ vorschlagen.“
Leisewitz kam spät abends. „Liebes Bräutchen, guten Abend!“ Er legte seinen rothgefütterten Radmantel ab. „Es weht heute ein häßlicher Wind. Wo ist Papa?“
„Er schreibt Briefe in seinem Zimmer.“
„Endlich, endlich sind wir also einmal allein! Liebes, theures Herz –“
Emma trat zurück und wies auf einen Stuhl. „Nimm Platz!“
Er stutzte. „Was ist mit Dir vorgegangen? Du blickst ja heute ganz anders. Wir haben uns freilich eine Ewigkeit nicht gesehen – aber –“
[544] „Wenn Du willst, daß wir allein bleiben, so nimm Platz!“ Ihre Stimme klang ihr selber fremd.
Nach einigem Zaudern folgte Leisewitz ihrer Aufforderung. Daß es einmal zur Aussprache kommen werde, hatte er sich längst gesagt, boch daß sie diesen Ton in der Kehle hätte – aber so kann man sich in seinen nächsten Bekannten irren!
„Kommst Du aus großer Gesellschaft oder wirst Du erwartet?“ fragte sie mit einem Blick aus seinen Frack.
„Ich gehe in Gesellschaft.“
„Nach Solitude?“
„Wohin sonst! Hofsänger – Hofsklave! Doch habe ich noch eine ganze halbe Stunde Zeit.“
„Siegfried, geh’ heute nicht nach Solitude, verbringe den Abend bei uns!“
„Das geht nicht, Kind – morgen, übermorgen, die ganze Woche stehe ich zu Deiner Verfügung, wenn Du willst, aber nicht heute.“
Sie faltete die Hände. „Ich bitte Dich!“
„Es schmerzt mich, aber ich kann nicht. Zur Absage ist es jetzt zu spät.“
„Mir gegenüber warst Du nie um Gründe zur Absage verlegen.“ Sie trat ihm näher. „Wenn Dn mich liebst, bleibst Du!“
„Niemand kann Dich mehr lieben als ich! Aber verlange nicht, daß ich meine Stellung gefährde! Der Fürst –“
„Lüge nicht!“ unterbrach sie ihn heftig. „Was liegt Dir am Fürsten! Es sind ganz andere Dinge, die Dich nach dem Schlosse ziehen. O, ich weiß, man spricht darüber in der Stadt, man spricht über mich und bedauert mich – wie Du siehst, bin ich unterrichtet. Mache Dich nicht durch Leugnen verächtlich!“
Er fuhr trotzig auf. „Nun ja, wir Künstler bedürfen der Anregung. Der Prunk und Glanz und Duft fürstlicher Gemächer regt mich an. Ich bin kein Alltagsmensch, dem das Gewöhnliche genügt – ich bin ein Künstler, und jene strahlende Welt belebt, begeistert, berauscht mich!“
„Und darum hast Du Dir die Braut aus einem Bürgerhaus gewählt? Sie sorgt für die Prosa des Lebens; die Poesie suchst Du Dir dann hinter Thüren, die ihr verschlossen sind! Diese Poesie! Robert Lenz ist auch ein Künstler, aber ich sehe nicht, daß er um Prunk und Glanz und Gunst buhlt.“
„Ha, daher weht der Wind?“ rief Leisewitz in eifersüchtiger Aufwallung. „Herr Lenz, ja freilich! Was würdest Du sagen, wenn ich von Dir verlangte, diesen Mann nicht mehr zu empfangen?“
„Ich würde sagen, Du seist ungerecht, aber mich Deinem Wunsche fügen.“
Er war geschlagen und schwieg. Emma sah ihn an, während er die Augen wegwandte. Er sah hübscher denn je aus; sogar im Mißmuth hatte sein Gesicht einen kindlichen Zug, der sie rührte. War es denn möglich, daß sie von ihm scheiden mußte, daß er sie verließ? Mußte es denn heute entschieden werden? Aber sie gab dieser Regung der Schwäche nicht nach. Mit einem Ruck stand sie wieder aufrecht und unnahbar wie bei Siegfrieds Eintritt.
„Wozu der Streit? Bleib’ und alles ist vergessen; geh’ und alles ist zu Ende!“
„Was soll das heißen? Du – Du? Klatsch, blinde Eifersucht könnten Dich dahin bringen –“
„Wie kann ich auf ein Phantom eifersüchtig sein! Denn einem Phantom jagst Du nach!“
Sie ahnte nicht, wie tief sie ihn damit kränkte! Seine ganze Eitelkeit bäumte sich auf und machte allem Schwanken ein Ende.
„Da ich einem Phantom nachjage – so laß mich jagen!“
„Du giebst also Deine Treulosigteit zu. Geh denn, aber für immer!“
Er wiegte sich hin und her. „Kann ich Deinen Vater sprechen?“
„Nein. Er ist einig mit mir.“
„Nun denn – Du willst es mit Gewalt – freilich, Herr Robert Lenz –“
Sie hob stolz abwehrend die Hand.
Er griff nach seinem Mantel. „Ich komme niemals wieder. Denn daß Du es nur weißt: wenn Du mich so verabschiedest, trennt uns binnen wenigen Tagen der Ocean.“
„Er ist nicht so tief wie die Kluft, die heute sich zwischen uns aufthat.“
Leisewitz schwang den Mantel über die Schulter, trat aber doch einen Schritt näher. „Auf Wiedersehen, Emma!“
„Nein!“
Er sah sie an, aber sein Blick war machtlos. „Ich werde Dir morgen schreiben.“
„Ich nehme Briefe von fremder Hand nicht an.“
„Also dann – lebwohl!“
Sie horchte, wie sein Schritt im Flur verhallte; er zauderte nicht, es war sein gewöhnlicher beschwingter Gang. Dann schlug sie die Hände über das Gesicht und stöhnte: „Verlassen!“
Wenige Minuten später fuhr Leisewitz durch die hellerleuchteten, aber menschenleeren Straßen. Der Sturm beunruhigte die Pferde; zuweilen mußte das Gefährt fast halten, doch Leisewitz dachte nicht daran, auszusteigen und in die Arme der verlassenen Braut zurückzukehren. „Ich jage nach einem Phantom?“ sagte er. „Wie beschämt wird sie sein! Es ist gut so. Wir würden eins dem andern zur Geißel geworden sein. Ihr fehlt der Schwung, der göttliche Leichtsinn. – Nein, nein, Fräulein Emma, ich jage keinem Phantom nach, ich gehe sicher! Die Welt wird staunen!“
Das windumbrauste Schloß stand unter den gepeitschten Bäumen in allen Fenstern hell, festlich wie ein lächelnder goldbetreßter Marquis. Leisewitz sprang aus dem Wagen und eilte die Treppe hinauf. Die Bedienten in der Halle verbeugten sich tief – er war ja in höchster Gnade!
Prinzessin Erna war heute verführerisch schön, allerdings nicht ohne einige künstliche Nachhilfen, doch Leisewitz war an solche Kunst gewöhnt. Sie empfing ihn in ihrem Musikzimmer; wie während der letzten Wochen immer war nur Gräfin Casasola bei ihr.
„Der Sturm hat Sie nicht abgehalten, das ist hübsch von Ihnen,“ sagte Erna und ließ ihm ihre Hand zum Kuß.
„Der Sturm? Mich würde kein Erdbeben zurückhalten!“
„Wirklich?“
Er legte die ringgeschmückte Hand auf die Brust. Sie sah ihn durchbohrend an. Sie will in meinem Herzen lesen, dachte er. Ein Diener brachte Thee; sie plauderten über Politik, über das Theater. Der Diener ging.
„Seine Hoheit der Fürst kommt nicht?“ fragte Leisewitz.
„Nein,“ antwortete sie rasch. „Papa würde uns ja nicht stören, aber es wird auch sonst niemand, niemand angenommen. Wir sind heute ganz allein, ganz unter uns.“
Und dann sang er. Er sang heute weniger gut als sonst; der Auftritt mit Emma hatte doch auf seine Nerven gewirkt – und dann das Kommende! Doch die Prinzessin fand seinen Gesang wundervoll. Die Zeit verflog ihm. Eine Uhr schlug mit feinem Silberstimmchen Zehn.
„Wie die Zeit vergehst“ sagte Erna. „Und Ihre arme Braut verbringt die Abende allein?“
„Ich habe keine Braut mehr; wir haben die Verbindung gelöst.“
Erna setzte sich aufrecht. „Sie haben das arme Kind geopfert?!“ rief sie.
„Ich würde – würde“ – das Wort Emmas war noch in seinem Gehirn und entschlüpfte ihm – „würde meinem Phantom Eltern, Freunde . . . alles opfern.“
„Hat sie geweint?“
Er erinnerte sich jetzt und wunderte sich, daß Emma auf das gewöhnliche Rührmittel der Thränen verzichtet hatte. „Ja,“ sagte er leise.
„Es giebt nur eine Erklärung, eine Entschuldigung: Sie lieben sie nicht mehr, Ste lieben eine andere!“
Er schlug die Augen auf und nickte.
„O, ich merkte sofort an Ihrem Gesang, daß Sie heute etwas sehr Trauriges, ein großes Leid erlitten haben. Sie sangen nicht so feurig, sieghaft wie sonst –“
„Der größte Schmerz steht mir bevor. Meine Verhältnisse hier sind unerträglich. Ich ziehe Hoheit ins Vertrauen: ich muß fliehen.“
„Haben Sie Schulden?“ fragte Gräfin Livia trocken.
Leisewitz blickte sie entrüstet an. „Ich bitte –“
„Wie prosaisch Sie sind, Gräfin!“ sprach Erna. „Die ganze Stadt weiß: Herr Leisewitz wühlt in Gold. Sie verdienen nicht sein schönes Vertrauen!“
„So werde ich mit Euerer Hoheit Erlaubniß mich während der Beichte in mein Zimmer zurückziehen.“ Livia schlüpfte durch [546] den Vorhang, der vor der einen Thür niederhing; zwei andere Thüren waren unverhangen und geschlossen. Sein Blick haftete an jenem Vorhang.
„Fürchten Sie keine Lauscher! Niemand wird uns stören. Fliehen Sie Ihrer Liebe wegen?“
„Ja.“
„Lieben Sie – ich kann es nicht glauben – lieben Sie hoffnungslos?“
„Ach, sie steht hoch über mir; dennoch, dennoch“ – seine Stimme klang leidenschaftlich, trotzdem er nur flüsterte – „dennoch hoffe ich, denn ich liebe sie glühend.“
„Und Sie thun recht damit.“
Nun war er doch betroffen. Er sah sie fragend an; ihre Augen glänzten sinnverwirrend. „Hoheit waren mit meinem Gesang unzufrieden – darf ich noch einmal singen? Mein letztes Lied oder – ach, mein Lied wird Ihnen alles sagen!“
Er ging an den Flügel und sang Heines Verse:
- „Entflieh mit mir und sei mein Weib!“
Diesmal hatte seine Stimme ihren alten Zauber. Erna erlag ihm, ein Zittern ging durch ihren Körper, sie ließ sich auf das Kissen fallen und schluchzte. Da lag er ihr zu Füßen und sprach mit inbrünstigem Flehen:
„Ich soll für immer von Dir scheiden?
Unmöglich – Fieber – Wahnsinn –“
Sie richtete sich geisterhaft auf, er jedoch sah die Veränderung in ihren Zügen nicht, hörte nicht das Rascheln des Vorhangs. „Sprich!“ rief er,
„Scheiden ist Tod! Ich will ja leiden,
Doch leben, denn ich liebe Dich!“
Und er umschlang sie. Da fuhr sie wie eine Natter auf und schleuderte ihn mit einem Schrei von sich. Der gelle Ruf brachte den Taumelnden zur Besinnung. Er blickte um sich – der Fürst, der Arzt, die Gräfin eilten auf Erna zu. Sie war jetzt „Gorgonen gleich“; ihre Augen traten aus den Höhlen, bis in die Lippen bleich, hob sie die Arme nnb schrie: „Tötet ihn!“ Dann brach sie in den Armen des Vaters zusammen.
Doktor Walter wollte dem Fürsten die leichte Last abnehmen, doch der Fürst, der nur Augen für sein unglückliches Kind hatte, sagte: „Noch nicht! Zum letzten Mal lassen Sie mich für sie sorgen! Erna, mein Liebling – ah, ihr Herz schlägt!“
„Nur Erschöpfung, keine Ohnmacht; sie darf zunächst nur befreundete Gesichter sehen. Keine Gefahr, Hoheit! Ich bleibe in der Nähe.“
Der Fürst, ohne die Augen von dem Gesicht Ernas wegzuwenden, sagte kurz: „Ich rathe Herrn Leisewitz, seine Abreise zu beschleunigen!“ Dann schritt er mit seiner Last fest und aufrecht durch die Thür.
Leisewitz hatte sich unterdessen gesammelt. „Alles Wahn!“ sagte er und blickte trotzig die Zurückbleibenden an. Doktor Walter zeigte auf einen Stuhl, auf dem der Klapphut Siegfrieds lag. „Ihr Hut liegt dort, Herr Leisewitz!“
„In diese Falle haben Sie mich gelockt,“ versetzte Leisewitz, noch bleich, aber mit fester Stimme. „Ich könnte Genugthuung verlangen, allein Narren sind wir beide nicht, obwohl Sie mich nach dem Vorausgegangenen vielleicht dafür halten. Wie auf der Bühne so im Leben: dem besten Schauspieler kann einmal eine Rolle mißlingen. Was thut das! In ein paar Tagen schwimme ich auf dem Ocean; die Kabelnachricht von meiner bevorstehenden Ankunft wird die Millionenstadt drüben in fieberhafte Aufregung versetzen. Sie halten sich jedenfalls für eine Leuchte, Doktor, aber gehen Sie hinüber, und ich kann Sie versichern, New-York wird ruhig bleiben. Herr Geheimer Hofmedikus, leben Sie wohl!“ Und er verbeugte sich mit dem Anstand eines Dragonerrittmeisters vor der Gräfin und schritt mit dem Stolz eines Hidalgos hinaus.
Der Sturm heulte viele Tage lang durch die Straßen und trieb unendliches Gewölk über die Dächer. Es regnete abwechselnd grob und fein, aber immer. Trotz des abscheulichen Wetters machte Robert Lenz täglich den weiten Weg von seiner Herberge in der Vorstadt nach dem Schillerplatz. Die Nachricht von der plötzlichen Abreise des Sängers war ihm in einem höflichen Schreiben Aschaus mitgetheilt worden; ihr zufolge sehe sich Seine Excellenz leider gezwungen, dem Komponisten die Partitur der Oper Tasso, diese „geistvolle Arbeit“, dankend anbei zurückzustellen.
Anfangs ging Lenz einige Male vergebens; Herr und Fräulein Hagemann, hieß es, seien unpaß und ließen sich entschuldigen. Bald aber entschloß sich Fritz Hagemann, den außer Kummer und Aerger in der Einsamkeit auch die Langeweile plagte, seinen alten Bekannten zu empfangen. Ueber den heiklen Punkt, den Rückgang der Verlobung, verlor er nicht viel Worte. „Ich hätte mir keinen besseren Ausgang wünschen können – kreuzunglücklich würde mein Kind mit Leisewitz geworden sein – er leidet am Größenwahn. Aber was soll ich thun? Der ,Artushof‘ ist mir vorläufig verleidet, und nach Wörde mag ich erst recht nicht zurück. Mein einziger Trost ist die italienische Weinstube unten. Die Wirthin und ihre fünf Töchter leisten mir Gesellschaft. Die Mädels sprechen ungefähr so viel deutsch wie ich italienisch – das ist lehrreich. Wenn Sie mitkommen – und Sie müssen mitkommen – werden Sie sich wundern.“
Endlich wurde Lenz bei seiner Ankunft auch einmal von Emma empfangen; Hagemann, der im Zimmer nebenan seine Geschäftsbriefe erledigte, rief ihm durch die offene Thür seinen Willkomm zu. Robert, welcher nur der Hoffnung, nicht seiner Liebe entsagt hatte, dünkte die Verlassene in ihrer Blässe schöner denn je. Ihre erste Frage war nach dem Schicksal seiner Oper; sein Gleichmuth über die Ablehnung befremdete sie und sie machte ihm Vorwürfe.
„Was liegt daran?“ erwiderte er nach einem Seufzer. „Jetzt bewegt alle nur ein Gedanke: kommt der Friede endgültig zustande? Die Verhandlungen ziehen sich unheimlich in die Länge.“
Emma erröthete. Ueber ihrem eigenen Weh hatte sie die große Völkerfrage vergessen; sie fragte und Robert erzählte, was sich inzwischen ereignet hatte. Dabei wurde er warm und Emma konnte die Arbeit seiner Gedanken, das Spiel seiner Empfindungen verfolgen. So hatte sie ihm zu Anfang ihrer Bekanntschaft in Wörde oft gelauscht; so hatte sich damals in der Stimme, im Blick die verhaltene Gluth seiner Seele zuweilen verrathen. Zum ersten Mal seit der Trennung von Leisewitz fühlte sie sich wieder wohl und belebt. Und als ihr Robert schonend mittheilte, daß die heutigen Zeitungen die Nachricht von dem schweren Gemüthsleiden der Prinzessin, wenn auch in schonender Form, enthielten, da beklagte sie die Unglückliche aufrichtig und war sogar fähig, an Leisewitz ohne Zorn zu denken – fast auch ohne Schmerz.
Unterdessen hatte sich das Wetter geändert. Einem starken Schneefall folgte Frost; der Winter war da, doch ein wolkenloser Himmel machte ihn erträglich. Eines Abends saßen Vater und Tochter im wohlerleuchteten Zimmer in Erwartung ihres neugewonnenen Hausfreundes; Hagemann heute in ungeduldigem Harren, denn er hatte beschlossen, seine freiwillige Verbannung zu beendigen und an der Tafelrunde im „Artushof“ wieder theilzunehmen. Die große Nachricht war Robert Lenz im Laufe des Tages zugestellt worden; er sollte Papa Hagemann begleiten.
„Robert läßt auf sich warten.“
„Wenn er nur nicht erkrankt ist! Findest Du nicht, daß er leidend aussieht?“
„Ist mir nicht aufgefallen.“
„Ich fürchte, ich fürchte, Herr Lenz hat Sorgen.“
„Wohl möglich.“
„Wir müssen ihm helfen!“ rief Emma warm.
„Willst Du mir sagen, wie? Mit Geld? Auf welche Art? Er ist empfindlich wie eine Nachtigall und stolz! Ich habe Erfahrungen mit ihm gemacht.“
„Wieso?“
„Ich hatte doch damals in Wörde, als er plötzlich ausblieb, eine lange Unterredung mit ihm. Ein seltsamer Mensch! Eigentlich that er mir leid.“ Die gespannte Aufmerksamkeit Emmas beunruhigte Hagemann. „Alte Geschichten,“ sagte er verdrießlich. „Wie lang die Abende sind!“
Allein damit gab sich Emma nicht zufrieden – er mußte beichten. Obwohl er sich so kurz wie möglich faßte, wurde Emma doch tief bewegt; ihr Gesicht glühte. „Warum hast Du mir diese Liebe verheimlicht?“ sagte sie mit gepreßter Stimme.
„Durfte ich sein Vertrauen mißbrauchen? Und was wäre damit geändert worden?“
„Es wäre doch besser gewesen, es mir zu sagen.“
Hagemann stutzte. „Denkst Du etwa – o, Du kennst seinen [547] Stolz nicht!“ erklärte er kühl, „‚Sie ist reich, und ich bin arm; schon das allein verschließt mir den Mund – ewig den Mund,‘ hat er gesagt.“
„Dann ist ihm freilich nicht zu helfen!“ versetzte sie und lachte. Das war das alte verschleierte und doch so herzliche Lachen! Der Fall Leisewitz ist abgethan, dachte der Vater erfreut.
Als bald darauf der Hausfreund erschien, saß Emma auf dem Sofa und beugte nach kurzem Gruße den Kopf wieder über ihre Stickerei. „Was?“ sagte Lenz, „bekomme ich heute nicht die Hand, Fräulein Emma?“
Sic blickte ihn aus tiefen Augen an, dann erhob sie sich rasch. „Ihnen ist heute Angenehmes begegnet!“
„So, sieht man mir’s an?“ rief er fröhlich, „Nun ja, ich habe eine neue Arbeit vollendet.“
„O, davon weiß ich ja gar nichts!“
„Glaubten Sie denn, daß ich müßig ginge? Aber ich verrathe nicht mehr, denn diesmal – zweite gute Nachricht – diesmal habe ich sichere Hoffnung, daß mein Werk aufgeführt wird.“
„Das erzählst Du uns, wenn wir vom ,Artushof‘ zurückkommen,“ fiel Hagemann ein. „Wenn wir nachher bequem sitzen wollen, müssen wir jetzt gehen.“
„Ihr Glück freut mich, freut mich unendlich!“ sagte Emma und gab Robert beide Hände. Welch wohlige Wärme durchströmte ihn bei ihrem Druck! Und wie schön war sie! Er bildete sich ein, heute einen neuen Zauber an ihr zu sehen. Und am Ende war es keine Einbildung! So strahlend waren ihre Augen, so lockend der rothe Mund! Wenn er sie jetzt ans Herz zöge, wenn er diese Lippen küßte – –
„Bitte, hilf mir in meinen Pelz, Emma!“
Sie ließen die Hände los und sprangen beide dem Vater zu Hilfe. „Wirst Du lange ausbleiben, lieber Vater?“
„In einer Stunde sind wir wieder da! Die Signora unten könnte uns dann noch einen Eierpunsch heraufschicken, und – wir lassen unseren Tondichter leben. Wie heißt denn die neue Oper?“
„Es ist keine Oper, sondern eine Symphonie.“
„So, so!“
„Sie wird herrlich sein!“ rief Emma. „Heute sind Sie wohl sehr glücklich?“ setzte sie leiser hinzu.
„Ach, um glücklich zu sein, fehlt mir viel. Ich bin kein Kopfhänger – das ist alles.“
„Das ist die Hauptsache!“ sagte Hagemann und zog Robert mit sich fort. –
Als Hagemann um Elf ohne Lenz nach Hause kam, trat ihm Emma vom Fenster entgegen. „Du bist noch auf?“ rief er. „Also hat Lenz doch recht gehabt; er wollte Deinen Schatten am Fenster sehen. Nun bist Du wohl übler Laune? Aber dieser Tondichter war nicht fortzubringen.“
„Ich bin ganz und gar nicht übler Laune – auch wenn Du Deine eigene Seßhaftigkeit dem armen Lenz aufbürdest.“
Hagemann schmunzelte. „Nun, die Wahrheit ist, ich wurde großartig empfangen – kurz und gut, wir trinken morgen erst den Eierpunsch. Und Du sollst in Zukunft nicht mehr so allein sein; wir sehen uns nach einer Gesellschafterin um.“
„Nein, nein, nein! Ich habe ganz andere Pläne!“
„Du siehst ja heute merkwürdig unternehmungslustig aus!“
„Froh bin ich, froh! Ich habe hin- und hergedacht, wie Lenz zu helfen ist!“ Sie lachte und schmiegte sich an Hagemann. „O, Vater, ich bin ganz und gar nicht übler Laune und glaube, ich werde nie mehr schwermüthig sein!“
Die Stadt unter einem stahlblauen Winterhimmel war festlich geschmückt. Von allen Thürmen und Häusern wehten Fahnen. Es wimmelte in allen Straßen und Gassen; überall klang Musik. Es schien keine Unglücklichen und Leidenden mehr zu geben. Die langwierigen Verhandlungen der Mächte hatten nun doch zum besten Ende geführt, zum Frieden. Es fügte sich, daß just am Tage des endgültigen Abschlusses ein Konzert im „Artushof“ stattfinden sollte, dessen erste Nummer, das Werk eines bisher unbekannten Tondichters Robert Lenz, den schönen Titel „Friedens-Symphonie“ führte.
Der Fürst war von Doktor Walter an den Schützling der Prinzessin erinnert worden. An eine Aufführung der Oper konnte man nicht denken, man hatte noch keinen Ersatz für Leisewitz, der unterdessen in New-York mit Pauken und Trompeten empfangen worden war. So wurde denn ein Konzert der Hofkapelle veranstaltet und das jüngste Werk des Tondichters, die „Friedens-Symphonie“, dazu einstudiert.
Kurz vor der Aufführung ging Lenz zu den Freunden. Emma war schon im Mantel, sie drückte Robert aufgeregt die Hand und war ängstlich bei aller Freude, ihm aber gab ihr Anblick Muth. Hagemann war beinahe ebenso aufgeregt wie seine Tochter; er hatte alle seine Freunde aufgeboten, und dennoch bangte er für den Ausgang. „Eine Symphonie,“ hatte er zu seiner Tochter gesagt, „weißt Du, eine Symphonie ist Kaviar für das Volk!“ Er lief im Zimmer aus und ein, trank sich in der Weinstube unten Muth, empfing von Freunden drüben Botschaften und schickte Botschaften hinüber. „Der Saal ist ausverkauft!“ rief er durch die Thüre den beiden zu. „Glänzende Gesellschaft!“
„Und nun,“ sagte Robert Lenz zu Emma, „bitte ich um Gerechtigkeit! Sie haben mir während der ersten leidvollen Tage einen schweren Vorwurf gemacht. Weil ich die Ablehnung meiner Oper gelassen ertrug, warfen Sie mir Gleichgültigkeit, Kälte, Mangel an Ehrgeiz vor. Liebste Freundin, ich steckte damals bereits tief in einer neuen Arbeit, wie konnte ich da über alte Geschichten unglücklich sein! Unglücklich war ich nur, weil ich Sie leiden sah, und meine Arbeit gab mir auch dafür Trost. Mir war, als müßten Sie in Ihren schlaflosen Nächten hören, was meine Seele sang, als müßte meine Musik Ihnen Genesung bringen!“
Emma sah gerührt und bewundernd zugleich in das männliche, geistig verschönte Gesicht ihres Freundes; ihr fiel ein Satz ein, den sie jüngst gelesen hatte: „Das Veilchen unter dem Gras, die Nachtigall im Gebüsch, die Tugend, die sich verbirgt, das Genie, das auf seine Stunde wartet – vier herrliche Dinge.“ Gewiß, seine Stunde wird kommen, aber wann? Wie viele Enttäuschungen, welche Kämpfe mögen ihn vorher noch erwarten! Vielleicht ergeht’s ihm wie seinem Helden, dem unglücklichen Tasso – man bekränzt den Sterbenden! Wer ihm sein Ringen erleichtern, den Sieg beschleunigen könnte! Wie viel tiefer war diese Natur, wie viel selbstloser als die jenes Treulosen – und wie viel schwerer wurde ihm der Erfolg gemacht! Ihr Blick streifte wieder sein Gesicht. Ja, sein Gemüth war unendlich reicher und tiefer als das des Sängers – er liebte und sehnte sich nach Liebe! Sie seufzte, daß sie das jetzt erst erkannte. Aber konnte sie, durfte sie ihn ermuthigen? Doch warum sollte sie nicht dürfen, warum sollte das häßliche Ende ihres Liebestraums der Inhalt ihres Daseins bleiben?
Emma erschrak nicht über diese Frage. Sie hatte Siegfried geliebt – ach, was hatte sie seinetwillen gelitten! – aber über dem Leid war sie genesen; die Welt leuchtete ihr wieder, und ihr dünkte, nie schöner als heute. Sie hatte ein zärtliches Wort auf den Lippen, doch da steckte Hagemann den Kopf herein. „Minister, Generäle, alle sind an Bord – los!“
„Sie antworten mir nicht,“ sagte Robert, „vielleicht scheine ich Ihnen wiederum zu gelassen. Doch gelassen ist nicht das rechte Wort – nach all dem Kampf und Leid ergebe ich mich in mein Schicksal. Wie heiter Sie blicken, Fräulein Emma, ich nehme es als gute Vorbedeutung. Aber wie auch die Würfel fallen, ich bin zufrieden, denn die Welt und Sie, die Sie meine Welt sind, haben den Frieden!“
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Die letzten Takte der Symphonie waren verhallt. Es war, wie jeder bekannte, ein schönes Werk, wie manche fühlten, das Werk eines edlen großen Künstlers. Der laute Beifall war verrauscht, da tönte in die Unruhe ein tiefer Glockenton und tiefe Stille trat ein: vom Rathhaus läutete die Glocke „Friede, Friede!“
Die Frauen schluchzten, Unbekannte umarmten sich. Da ging eine schlanke Mädchengestalt auf den gefeierten Komponisten zu, der auf der Bühne stand und dankbar, verzückt wer weiß was für neuen Klängen lauschte. „Herr Lenz – Robert!“
Und wenn er im siebenten Himmel jetzt bei Engelchören geschwelgt hatte, die Musik dieser Stimme rief ihn zurück.
Emma legte ihre Hand in die seine.
„Robert,“ sagte sie, „mein Freund, mein Geliebter – ich weiß, wir werden miteinander glücklich sein.“