Der Knabenhort in München
Der Knabenhort in München.
Ein Asyl für aufsichtslose Kinder nach der Schulzeit – wer hätte an ein solches Bedürfniß vor dreißig Jahren gedacht oder Geld dafür gegeben! Wie Viele legen auch heute noch die Anzeige davon bei Seite und brummen: „Humanitätsblödsinn! Man soll die Jungen auf der Gasse spielen lassen, wenn die Schule aus ist, das wird ihnen nichts schaden. Wohin soll es führen, wenn man nun auch noch die Proletarierkinder in Watte wickelt!“
Allen solchen Philosophen, die in der Behaglichkeit ihres Zimmers keine rechte Vorstellung von der kalten, dunkeln Arbeiterwohnung haben, von der Vater und Mutter abwesend sind, um den Kindern Brod zu schaffen, ihnen allen möchte ich zur Bekehrung den Gang nach der unteren Türkenstraße in München empfehlen, den ich kürzlich zurücklegte, um die Anstalt „Knabenhort“ zu besuchen. Sie hat schon in der kurzen Zeit ihres Bestehens bewiesen, daß sie einem wirklich dringenden Bedürfniß abhilft, und die Zeit ist nicht mehr fern, wo ähnliche Anstalten so gut wie die Volksschulen dauernde Einrichtungen jeder Großstadt sein werden. Bricht doch neuerdings auch in den Kreisen, die sich am liebsten in engherzigem Genußleben ganz vom Elend der Massen abschließen möchten, die Ahnung durch, daß die vielen feinen Reize und Vergnügungen der Großstadt nicht nur mit Geld, sondern mit der Gesundheit und Lebenskraft von Tausenden erkauft werden und daß es deshalb Pflicht der Bevorzugten und Genießenden ist, diese Existenzen in’s Auge zu fassen und ihnen die hülfreiche Hand zu bieten.
In wie vielen Arbeiterhäusern genügt die Thätigkeit des Mannes nicht, die Familie zu ernähren, sodaß die Mutter mit auf den Erwerb gehen muß; wie viele arme Wittwen arbeiten allein und angestrengt tagüber außer dem Hause und kommen Nachts mit banger Sorge zurück, ob ihre Kinder nicht an Leib und Seele Schaden genommen haben! Wie viele junge Verbrecher endlich säßen nicht frech und ruchlos auf der Anklagebank, um später ungebessert aus dem Zuchthaus heimzukehren, wenn in ihrer Kindheit sich eine Menschenseele um ihre Erziehung gekümmert und sie mit Ernst und Liebe auf den rechten Weg gewiesen hätte! Dies Alles sind unumstößliche Wahrheiten, und deshalb erregt es das höchste Interesse, statt der vielen papiernen Declamationen über die sociale Frage, die immer nur das „schätzbare Material“ vermehren, hier einmal dem praktischen Versuch zu begegnen, diese böse und gefürchtete Frage direct an der Wurzel anzugreifen.
Was er wohl sagen würde, der Verfasser des „Emile“, dessen Herz so warm für die bessere Erziehung des Menschengeschlechtes schlug, wenn er mit uns hätte eintreten können in das bescheidene, mäßig große Parterrelocal (Türkenstraße 48), wo fünfzig junge Blond- und Braunköpfe, um eine Anzahl langer Tische gereiht, beim Eintritt des Fremden sich erhoben und einen schallenden „Guten Abend“ wünschten? Der „Erzieher“, der diese Jugend von 6 bis 14 Jahren zu beaufsichtigen hat, und Herr Rath Jung, der ausgezeichnete Mann, dessen aufopferungsvollem Bemühen die Einrichtung der Anstalt zumeist zu verdanken ist, kommen uns mit der größten Freundlichkeit entgegen, und ihnen verdanken wir die Aufschlüsse, welchen ich die nachstehenden Notizen entnehme.
Der satzungsgemäße Zweck des Vereins, welchem Jeder durch den Jahresbeitrag von nur einer Mark beitreten kann, ist: schulpflichtige Knaben unbemittelter Eltern während eines Theiles der schulfreien Zeit durch geeignete Personen in bestimmten Localen zu beaufsichtigen, nützlich zu beschäftigen oder in Verstand und Gemüth [32] anregender Weise zu unterhalten. Die Knaben sollen hierdurch an Gehorsam, Ordnung, Thätigkeit, gute Sitten und Reinlichkeit gewöhnt und vor den Einflüssen nachtheiliger Gesellschaft bewahrt werden.
Und in der That ist das gemüthliche Asyl vollkommen dazu gemacht, allen diesen Zwecken zu entsprechen. An den Schultagen um 4 Uhr, Mittwoch und Samstag um 2 Uhr haben sich die Knaben auf dem kürzesten Wege einzustellen. Unser Besuch fand an einem Montag nach 4 Uhr statt, die großen Hängelampen waren bereits angezündet und zwei Brotschneidemaschinen in voller Thätigkeit, Jedem sein Stück „rund um den Laib herum“ zu liefern. Ein Knabe von jedem Tische hat das Quantum für denselben zu schneiden und zu vertheilen. An der Wand steht ein blanker Wassereimer mit kleinen Schöpfgefäßen – das einfache Vieruhrbrod soll nur Hunger und Durst stillen, keine Ueppigkeit erwecken. Es ist immer noch mehr, als Viele im Hause finden würden.
Ist das letzte Stück Brod verschwunden, so kommen die Aufgaben an die Reihe. Die Knaben müssen hier also in derselben Weise handeln, wie es ordentliche Kinder zu Hause zu machen pflegen. Der Lehrer oder vielmehr Erzieher hält Ruhe und Stille aufrecht und enthält sich jeder Nachhülfe. So, wie der Junge zu Hause arbeiten würde, schnell oder langsam, gut oder schlecht, arbeitet er hier, und die nachfolgenden Schulnoten in den einzelnen [33] Fächern üben keinen Einfluß auf die Behandlung, die er im Knabenhorte erfährt. Eine schlechte Note im Fleiße oder Betragen dagegen zieht ernste Rüge oder Strafe von Seiten des Erziehers nach sich. Es ist ein schönes Resultat der Anstalt, daß die schlimme „Drei“ im Betragen nur noch ausnahmsweise vorkommt und die meisten der Kinder sich der Note „Eins“ erfreuen.
Einige gute Köpfe haben ihre Aufgaben schnell beendigt, während die langsameren Lerner noch über dem Einmaleins brüten; die Ersteren müssen also vor der Hand geräuschloser Beschäftigung, Lesen und Zeichnen nachgehen, bis endlich das letzte Punktum gemacht, die letzte Schiefertafel eingepackt ist und nun über das weitere Spiel abgestimmt wird. Die Minorität hat sich der Majorität zu fügen, die Tische werden bei Seite gerückt, wenn es Laufspiele gilt, und der Erzieher bevorzugt solche, um den angestrengten Augen Ruhe zu verschaffen. Außerdem enthält aber ein großer Schrank eine stattliche Auswahl von Baukästen, Legspielen und Beschäftigungsmitteln aller Art, welche von den betreffenden Handlungen dem Knabenhorte geschenkt wurden, daneben liegen Stöße von Zeichenheften, in denen die freie Phantasie ihrer Besitzer höchst wunderbare Pferde und Soldaten hervorgebracht hat. Auch hier kein Zwang, keine Vorlagen, außer selbstgewählten, die in zweckmäßiger Beschaffenheit vorhanden sind.
[34] Rings in dem Saale hingen die Mützen und Ueberzieher in schönster Ordnung. Wer im Laufe des Tages einen Knopf an der Jacke eingebüßt hat, muß sich beim „Compagnieschneider“ melden, und dieser, ein geschickt und gescheidt aussehender kleiner Kerl, producirte uns mit vielem Stolze sein Nähkästchen, worin in musterhafter Ordnung Nadeln und Fäden, Fingerhut und eine imposante Knopfsammlung enthalten waren. Wir erfuhren, daß der ältere Bruder des Kleinen, der im vorigen Jahre dasselbe Amt ausübte, durch die Reize desselben veranlaßt wurde, sich die Schneiderei als Lebensberuf zu wählen, und heute schon bei einem Meister arbeitet. Ebenso wird mancher Andere durch die Laubsäge-Arbeiten und Zusammenstellung von Modellirbogen direct auf die betreffenden Gewerbe hingeführt, und die kleinen Gegenstände von der Hand der Knaben, welche die Wände zieren, die Prachtgallerie von pappdeckelnen Schlössern und Burgen, die auf dem großen Schranke steht, Alles dies ist mit einer bewunderungswürdigen Exactheit ausgeführt und oft mit erfinderischem Geiste behandelt. Gespannte Aufmerksamkeit begleitete unsere Bewegungen, und es war interessant, diese Sammlung von jungen Menschengesichtern, grob- und feingeschnittenen, aufgeweckten und trägen zu sehen, unter denen jetzt Herr Inspector Jung einen der kleinsten Sechsjährigen herausgriff und auf den Stuhl stellte, um ihn im Gesange zu produciren. Und wirklich haspelte der kleine Mann mit einer Gedächtnißkraft und musikalischen Sicherheit, die dem kleinen Lieblinge eines Salons Dutzende von Küssen eingetragen hätten, ein vielstrophiges Lied herunter, das er irgendwo auf der Gasse aufgelesen, „Die Schlacht von Wörth“, worin dem „schlauen Bonaparte“ gehörig heimgeleuchtet wurde. Urkomisch sah es dabei aus, das schwarzäugige kleine Menschlein mit dem Selbstständigkeitszuge um das bewegliche Mäulchen, welcher den Wortkämpfen der Gasse sein Dasein verdankt und an besser gehüteten Kindern nicht anzutreffen ist. Aber ein ganzer Kerl war der Kleine und sang ohne jede Menschenfurcht und Scheu sein langes Lied herunter.
Mitten unter seinem Recitiren wurde die Thür aufgerissen und herein trat hastig und mit glänzenden Augen ein Prachtjunge von fünfzehn Jahren, ein früherer Zögling, der, nun bei einem Decorationsmaler in der Lehre, nach Schluß der Werkstatt herübergerannt kam, um mit seinen alten Cameraden zu spielen. Er hatte ein leichtes Jäckchen über seinen fleckigen Arbeitskittel geknöpft, um anständig auszusehen, und reichte den beiden Vorgesetzten die Hand mit einem Blick der Dankbarkeit und Liebe, der mir unvergeßlich sein wird.
Die alte Erfahrung, die sich überall bewährt: daß Güte und Theilnahme auch trotzige Menschengemüther allmählich lindern und umbilden, sie zeigt sich auch hier auf’s Schlagendste. Ungezogene Kinder sind manierlich geworden, die Eltern, welche zu Berichterstattungen veranlaßt werden, bezeugen einstimmig, daß sich das Betragen der Jungen gegen die kleineren Geschwister daheim sehr zum Vortheil geändert habe (nur ein Vater macht die Bemerkung, daß sein Sohn sich immer noch „kaltblütig“ benehme), und vor allen Dingen spricht für die Anhänglichkeit der Kinder an ihr freundliches Asyl die Thatsache, daß sie die einzige dort verhängte Strafe, Verbot des Kommens für einige Tage, (körperliche Züchtigung ist ausgeschlossen) mehr als Alles fürchten. Sehr selten ist sie bis jetzt angewandt worden, kein davon Betroffener kam zum zweiten Mal in den Fall, und neuerdings erbot sich Einer, gegen den sie ausgesprochen war, mit vielem Stoicismus zu freiwilligem Fasten und zu einer Tracht Prügel, „wenn er nur dableiben dürfe.“
Solche Thatsachen sprechen lauter als alle Lobpreisungen für die Anhänglichkeit der armen Jungen an die Stätte, wo sie Licht, Wärme und familienhaftes Leben finden, an die Männer, deren freundliche und ernste Worte sie auf den rechten Weg für’s Leben weisen und die auch mit allen aus der Anstalt entlassenen Lehrlingen Fühlung behalten und ihr ferneres Benehmen controliren.
Nun legte uns der Erzieher die kleinen Sparbücher vor, welche mit einem Betrag von zehn Pfennigen begonnen werden können. Es ist wohl den Knaben streng verboten, zu betteln, und sie werden tüchtig gestraft, wenn es zur Anzeige kommt, aber auch ein armes Kind erhält ja da und dort Geld, das die meisten sofort vernaschen. Hier wird mit der Freude am kleinen Besitz die Gewohnheit des Sparens erweckt und nach zweijährigem Bestehen haben die beiden Anstalten schon 300 Mark bei der städtischen Sparcasse gut. Manchmal kommt wohl die arme Mutter, um das Spargeld des Kleinen für den Hauszins zu holen, aber auch dann kann dem Kinde das Bewußtsein nur wohlthätig sein, der Mutter, die so viel für dasselbe thut, die Sorgen zu erleichtern. Und wie viel werth ist für den künftigen Arbeiter eine solche Gewohnheit von Jugend an!
An jedem Tische fungirt ein kleiner Aufseher, aber nur für die Bücher, Hefte und Spielsachen, die er unbeschädigt wieder abzuliefern hat. Denunciationen über seine Cameraden darf er nicht machen und hat in keiner Weise eine bevorzugte Stellung, sein Amt wechselt jede Woche.
Der Erzieher ließ jetzt die Knaben einzeln vortreten und Sprüche hersagen, die in einem eigenen „Spruchbüchlein“ gedruckt sind. Außer diesem erhält jeder Junge beim Austritt aus der Anstalt eine ausgezeichnet geschriebene Broschüre des Herrn Inspektors Jung: „Aus der Schule in’s Leben“, die in kurzgehaltenen Abschnitten alle Hauptseiten des menschlichen Lebens behandelt und in wahrhaft goldenen Worten eindringlich zu religiöser Gesinnung, Selbstprüfung, Benutzung der Zeit, Arbeit und Fleiß, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Pünktlichkeit, Menschenliebe, Vaterlandsliebe, Bedachtsamkeit, Höflichkeit und Geduld, kurz, zu alledem ermahnt, was die gute Führung eines Menschenlebens in allen Stunden ausmacht. Hierin wie in allen Bestimmungen und Gewohnheiten der Anstalt zeigt sich eine liebevolle und weitblickende Fürsorge für die Kinder, deren einfach-glückliche Jugendjahre in Spiel und Erholung verstreichen.
Die Zimmerbeschäftigung ist indessen nur für die vier Nachmittage im Winter Regel, an welchen die Knaben erst gegen fünf Uhr in der Dunkelheit kommen. Mittwoch und Samstag machen sie bei nur einigermaßen leidlicher Witterung weite Gänge in die Umgegend oder auf die zwei städtischen Eisbahnen, wo sie freien Eintritt haben. Der Verein hat unermüdlich gesorgt und gespart, um ihnen warme Joppen anzuschaffen, in denen sie ohne Schaden stundenweit gehen können. Bei dem Local in der Türkenstraße (ein zweites ist kürzlich in der Ickstattstraße eröffnet worden) befindet sich ein geräumiger Hof und Garten. So ist auch die Bedenklichkeit gehoben, daß diese künftigen Handwerker, die später doch vielfach in der Kälte arbeiten sollen, hier durch zu viel Sitzen in der Wärme verhätschelt würden. Ich gestehe, daß ich selbst früher diesen Einwand gegen die Anstalt hatte, er ist mir aber durch den Einblick in dieselbe vollkommen gehoben worden. Freilich sollten es die Knaben hier so gut haben, wie in Darmstadt, wo ihnen ein großer Garten zur eigenen Bebauung und steten Freudenquelle übergeben ist – dergleichen läßt sich aber in unserer gartenarmen Hauptstadt nicht erreichen. Die zwei Miethen schmälern schon ohnehin die Vereinsmittel gehörig, und diese sind nichts weniger als reichlich. Aber sicherlich werden sie sich vermehren, denn in diesem bescheidenen Unternehmen liegt ein neues und lebenskräftiges Princip.
Wenn einmal alle Einsichtigen diesem segensreichen Verein beitreten, wenn, wie der Jahresbericht wünscht, aus jedem der 14,000 Münchener Häuser auch nur eine Mark jährlich ihm zufließt, so wird es möglich sein, in jedem Viertel der Stadt ein Knabenhort-Local zu eröffnen und somit Unzähligen eine unendliche Wohlthat zu bieten. Alle größeren Städte sollten das Beispiel nachahmen, und die segensreichen Folgen würden bald zu spüren sein.
Unsere Zeit, die vielverschrieene, materialistische, ist besser und barmherziger, als jemals eine war im ganzen Laufe der Weltgeschichte. Wir weinen nicht mehr Matthisson’sche Empfindsamkeitsthränen in das Bächlein, das ohnedem schon Wasser genug hat, aber wir greifen an, um die allgemeine Menschennoth zu lindern, die man in jener Zeit empfindender Selbstsüchtelei auch nicht einmal sah oder doch ganz ruhig als nothwendige Institution hinnahm.
Deshalb dürfen wir auch mit gutem Bewußtsein auf die gemeinnützigen Anstalten hinweisen, die allerorten Zeugniß von der thätigen Menschenliebe des neunzehnten Jahrhunderts ablegen. Der Münchener „Knabenhort“ ist eine der erfreulichsten darunter.