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Der Hypnotismus, sein Nutzen und seine Gefahren

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Titel: Der Hypnotismus, sein Nutzen und seine Gefahren
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27–30, S. 458–460, 472–474, 492–494, 504–508
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[458]
Der Hypnotismus, sein Nutzen und seine Gefahren.
1. Die wissenschaftliche Forschung.

Professor J. N. von Nußbaum erzählt in seinem jüngst erschienenen Vortrage „Neue Heilmittel für die Nerven“[1], daß er vor 30 Jahren in Paris Sitzungen beiwohnte, in welchen Experimente mit dem sogenannten thierischen Magnetismus angestellt wurden. „Wir deutschen Mediziner,“ sagt der Verfasser, „hätten natürlich das höchste Interesse daran gehabt, eingeschläfert zu werden, um alles dabei Vorkommende möglichst selbst durchzumachen; allein es ist bei keinem einzigen von uns gelungen, ihn einzuschläfern, so daß die französischen Aerzte, die sich damit beschäftigten, immer ungehalten wurden, wenn wieder einer von uns hypnotisirt werden wollte. ‚Les Allemands passen nicht hierfür,‘ meinten sie. Von den anwesenden Parisern ist es dagegen stets gelungen, mindestens die Hälfte einzuschläfern.“ Professor von Nußbaum hat auch später auf seiner Klinik in München ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Deutschen paßten nicht für hypnotische Experimente, sie waren dazu weniger veranlagt als die Franzosen.

Dies mag wohl mit der Grund gewesen sein, warum der Hypnotismus in Deutschland so geringe Fortschritte gemacht hat und bis vor wenigen Jahren von den wissenschaftlichen Autoritäten die sonderbaren Erscheinungen desselben in das Gebiet der Fabel oder des Schwindels verwiesen wurden. Dazu kam ja noch, daß die gelehrigen Schüler Anton Mesmers, der am Ende des vorigen Jahrhunderts als der größte Apostel des „thierischen Magnetismus“ aufgetreten war, durch ihre Schwindeleien die ganze Lehre in den ärgsten Mißkredit gebracht hatten, so daß schon eine einfache Beschäftigung mit derartigen Experimenten als etwas Ungeheuerliches und Unreelles betrachtet wurde. Das Vorurtheil in den fachwissenschaftlichen Kreisen war so festgewurzelt, daß selbst die schlagendsten Forschungen eines ernst die Wahrheit suchenden Arztes, wie die von James Braid in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts, unberücksichtigt geblieben sind und bis auf die neueste Zeit fast gänzlich vergessen wurden.

Heute ist es aber anders geworden. Es fanden sich Meister, welche auch die Deutschen in der Kunst des Hypnotisirens unterrichteten, und wenn wir an die Schaustellungen Hansens und [459] seiner Nachfolger denken, so müssen wir zugeben, daß nunmehr auch die Deutschen für den Hypnotismus sich eignen. Ja, wer die Tageslitteratur und die Fachzeitschriften nach dieser Richtung hin prüft, der wird finden , daß wir trotz unserer geringeren Veranlagung zum Hypnotismus an Auswüchsen desselben zu leiden haben, beinahe ebenso wie die leichter empfänglichen Nachbarn jenseit der Vogesen. Selbst die Behörden mußten gegen den hypnotischen Unfug bei uns einschreiten, und auch die volksthümliche Presse hat die Pflicht, weitere Volkskreise auf die Gefahren des Hypnotismus aufmerksam zu machen. Gleichzeitig darf man die überraschenden Thatsachen, welche eine durchaus vorurtheilsfreie Forschung zu Tage gefördert hat, nicht einfach leugnen. Man muß sozusagen streng zwischen wissenschaftlicher Forschung auf diesem Gebiete der Nervenerscheinungen und einer laienhaften Experimentirsucht unterscheiden. Von der ersten können wir neue Aufschlüsse über ein noch sehr dunkles Gebiet erwarten; letztere kann nur Verwirrung bringen und Schaden stiften.

Was ist nun Hypnotismus? wird zunächst der Laie fragen und eine genaue Definition desselben haben wollen. Leider ist es dem größten Gelehrten nicht möglich, nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft diesen Wunsch zu erfüllen. Wir können nur sagen, daß der Hypnotisirte sich in einem eigenartigen Zustand befindet, der dem gewöhnlichen Schlaf in mancher Beziehung nicht unähnlich, in vieler Hinsicht aber von diesem durchaus verschieden ist und darum wohl in früheren Zeiten „magnetischer Schlaf“ genannt wurde.

Am leichtesten können wir durch Anführen einiger Beispiele dem Laien einen Begriff von dem Wesen des Hypnotismus ermöglichen.

Früher glaubte man, daß nur einige wenige Menschen die besondere Eigenschaft hätten, bei andern den hypnotischen Zustand hervorzurufen, nannte sie „Magnetiseure“ und behauptete, sie besäßen ein besonderes „magnetisches Fluidum“. Jetzt wissen wir, daß jedermann, der die nötigen Vorkenntnisse sich erworben hat, andere hypnotisiren kann, und daß es eine ganze Reihe von Mitteln giebt, durch welche dieses Ziel erreicht wird.

Der bekannte Magnetiseur Abbé Faria, der zu Anfang dieses Jahrhunderts in Frankreich wirkte, pflegte seine Patienten zu überraschen, indem er ihnen plötzlich die Hände entgegenstreckte und befehlend rief. „Schlafe!“ Es gelang ihm, auf diese Weise viele zu hypnotisiren. Braid ließ die Patienten einen glänzenden Gegenstand (Glasknopf etc.) fixieren, und diese zuverlässigere Methode wird heute noch am häufigsten angewandt. Heidenhain versetzte seine Studenten dadurch in Schlaf, daß er sie mit geschlossenen Augen auf das Ticken einer Taschenuhr horchen ließ. Andere wieder wenden die sogenannten „Passes“ an, Striche, bei welchen die Handflächen in der Nähe des Körpers langsam und immer in der gleichen Richtung bewegt werden. Es sind dies alles Methoden, bei welchen länger andauernde, gleichmäßige Sinnesreize die Hauptsache bilden.

Früher glaubte man auch, daß nur ein geringer Bruchtheil der Menschen (namentlich Nervenschwache und Nervenkranke) hypnotisirt werden könne. Je mehr aber die Wissenschaft fortschritt, desto größer wurde jener Bruchtheil, und heute nehmen einige der Gelehrten an, daß wohl alle Menschen hypnotisirt werden können, sobald man die für jeden am besten geeignete Methode zur Anwendung bringe. Endlich kann man sich selbst, ohne Zuthun einer zweiten Person, in den Zustand der Hypnose versetzen, was schon Braid an sich selbst bewies.

Welches sind nun die Erscheinungen des magnetischen Schlafes oder der Hypnose? Auch auf diese Frage läßt sich keine eng begrenzte Antwort geben; denn die Erscheinungen sind so mannigfaltig, wechseln so stark je nach dem Grade des Schlafes und der Individualität des Hypnotisirten, daß es der Wissenschaft bis jetzt nicht gelungen ist, sie in ein unanfechtbares System zu ordnen. Je nach der Tiefe des Schlafes unterscheidet Charcot z. B. drei und Liégeois sechs Stufenleitern der Hypnose. In dieser Abhandlung, welche für Laien bestimmt ist, glauben wir, von einem näheren Eingehen auf den kataleptischen, lethargischen oder somnambulen Zustand absehen zu dürfen. Wie groß die Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen sein können, mag nur an einem Beispiel erläutert werden.

In der vollständigen Hypnose wird das Gefühl derart abgestumpft, daß der Hypnotisirte keine Schmerzen empfindet; man hat darum den Hypnotismus als Ersatz für das Chloroform anempfohlen, und in der That sind mit dessen Hilfe von vielen Aerzten zahlreiche schwere Operationen ganz schmerzlos ausgeführt worden. Bei leichteren Graden des hypnotischen Schlafes treten dagegen ganz entgegengesetzte Erscheinungen auf.

Das Gefühl ist in solchen Fällen nicht abgestumpft, im Gegentheil, es ist eine sehr auffällige Verfeinerung aller Sinne nachzuweisen. Die Hautnerven werden empfindlicher; der Gesichtssinn verschärft; in vielen Fällen konnten von den Hypnotisirten Worte und ganze Zeilen bei einer so schwachen Beleuchtung noch deutlich gelesen werden, daß weder dieselbe Person im wachen Zustande, noch die andern Anwesenden nur einen Buchstaben zu entziffern vermochten.[2] Auch der Geruchssinn erlangt eine eigenthümliche Schärfe, so daß Hypnotisirte die Eigenthümer der ihnen vorgehaltenen Gegenstände allein durch den Geruch zu finden in der Lage waren.

Die interessantesten und zugleich wichtigsten Erscheinungen, welche während der Hypnose überhaupt beobachtet worden, sind jedoch diejenigen, welche sich aus dem psychischen Gebiete vollziehen: die hochgradige Willensschwäche, welche bis zum gänzlichen Aufgeben des eigenen Willens gesteigert werden kann, die Beeinflussung des Gedächtnisses und die Suggestion.

Das Gedächtniß kann im hypnotischen Somnambulismus ungemein gesteigert werden. Schon in Braids Schriften ist von einer ehemaligen Haushälterin eines hebräischen Geistlichen die Rede, welche im hypnotischen Zustand ganze hebräische Predigten hersagte. Der Geistliche hatte die Gewohnheit, seine Predigten laut auswendig zu lernen, und die Laute hatten sich dem Gedächtniß der Haushälterin eingeprägt. Merkwürdig war es dabei, daß die Haushälterin sich im wachen Zustande keines Wortes der Predigten erinnerte und erst in der Hypnose die klarste Erinnerung des früher Gehörten zeigte.

Aus jüngster Zeit stammt der Versuch von Richet. Er hypnotisirte eine Dame und recitirte ihr einige Verse, von denen sie beim Erwachen nichts mehr wußte. Abermals eingeschläfert, sagte sie dieselben vollkommen richtig auf und hatte sie, erweckt, abermals vergessen. Bottey erzählt, daß ein junger Mensch im hypnotischen Zustande einen ganzen Text, den man ihm diktirt, von einem leeren Blatte richtig ablas, nachdem man ihm die beschriebenen Blätter weggenommen hatte.

Das Gedächtniß kann aber bei ähnlichen Versuchen auch völlig schwinden, namentlich wenn dem Hypnotisirten suggerirt wird, er soll alles das, was er in der Hypnose erlebt hat, vergessen.

Das Wort „suggeriren“ bedeutet so viel als jemand etwas einreden, ihn beeinflussen, daß er etwas thut, und für die Suggestion sind die Hypnotisirten besonders empfänglich.

„Bekanntlich,“ schreibt Professor Dr. H. Obersteiner,[3] „lassen sich willensschwache Menschen durch jedermann beeinflussen; man kann sie leicht dahin bringen, daß sie von Stunde zu Stunde ihre Anschauung wechseln. Wenn nun, wie wir gesehen haben, beim Hypnotisirten der eigene Wille auf ein Minimum reducirt ist, so muß es uns von vornherein begreiflich erscheinen, daß derselbe im höchsten Grade für Suggestionen empfänglich ist.“

In den hypnotischen Schaustellungen, die öffentlich veranstaltet wurden, bildeten die Suggestionserscheinungen die Glanzpunkte des Programms. Da verzehrten die Hypnotisirten rohe Kartoffeln, in der Meinung , es seien Aepfel, tranken ein Glas Wasser, das ihnen als Branntwein gereicht wurde, und taumelten darauf wie Betrunkene; hielten eine Flasche für eine Trompete und bliesen darauf; tanzten mit alten Herren in der Meinung, sie hätten junge Damen vor sich, etc.

Man kann der hypnotisirten Person einreden, daß sie anders heiße, jemand anders sei. So brachte Richet eine dreiundvierzigjährige Dame dahin, sich nach einander für eine Bäuerin, eine Schauspielerin, einen General, einen Prediger, eine Nonne, ein kleines Kind, einen jungen Mann etc. zu halten, und die Hypnotisirte gab sich alle erdenkliche Mühe, sich so zu gebärden, wie es die Rolle erheischte. Als kleines Mädchen will sie ihre Puppe und Süßigkeiten; als General verlangt sie Roß und Degen, kommandirt, beklagt sich über schlechtes Manövriren; als Schauspielerin erzählt sie ihre Erlebnisse etc.

Die Suggestion kann sich auch über die Zeit des hypnotischen Schlafes hinaus erstrecken. Man hat Beispiele, daß, wenn der [460] schlafenden Person der Auftrag ertheilt wird, nach dem Erwachen zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte That zu begehen, sie diesen Auftrag erfüllt, selbst wenn die That eine unsinnige ist.

Kurz gesagt, der Hypnotisirte kann zu einem blinden Werkzeug des mit ihm Operirenden werden, und es giebt Fälle, in welchen beinahe Unglaubliches erreicht wurde.

Noch merkwürdiger sind die „negativen Hallucinationen“. Es sind mehrere Personen im Zimmer zusammen. Dem Hypnotisirten wird gesagt, fünf Minuten nach seinem Erwachen werden alle weggehen bis auf den Arzt. Der Hypnotisirte erwacht; man spricht mit ihm über allerlei Gegenstände; aber nach fünf Minuten sind mit Ausnahme des Arztes alle Anwesenden für ihn verschwunden; er antwortet nicht auf ihre Fragen, hört nicht was sie sagen, bemerkt nicht, daß ihn der eine am Arme genommen hat, fragt vielmehr den Arzt: „Wohin sind denn die Herren plötzlich gegangen?“

Mit diesen Beispielen ist jedoch die wunderbare Welt hypnotischer Erscheinungen noch nicht erschöpft. Nicht nur der Geist, sondern auch die Funktionen des organischen Lebens, die wir sonst durch unsern Willen nicht beeinflussen können, sollen der Macht der Suggestion unterworfen sein.

Es ist in der That erwiesen, daß durch Anwendung der Hypnose bedeutsame und praktisch wichtige Thatsachen für die Heilkunde gewonnen werden.[4] Eine neue Entdeckung ist damit wohl schwerlich gemacht worden; denn sogenannte moralische Kuren, in denen der Glaube an ein Mittel oder den Arzt allein heilte, sind seit den ältesten Zeiten bekannt. Die Wissenschaft ist aber durch diese Versuche dem Wesen und den Ursachen jener Wunderkuren nähergetreten, und man darf wohl hoffen, daß die gründliche Untersuchung dieser Frage schließlich zum Wohl der leidenden Menschheit ausfallen wird.

Verhehlen darf man aber nicht, daß der Reihe der glücklichen Treffer auch eine Reihe mißlungener Versuche gegenübersteht, und dies mahnt zur Vorsicht in der Anwendung des neuen Heilmittels.

Man sollte trotzdem meinen, daß dieser Aufschwung der Forschung auf dem Gebiete des Hypnotismus mit Freuden begrüßt werden müßte. Erklärt uns doch derselbe, daß viele Thatsachen die Jahrhunderte hindurch bald als Wunder, bald als Zauber, bald als Schwindel aufgefaßt und gedeutet wurden, natürliche Vorgänge sind, die im Bereich unserer Forschung liegen. Verspricht er uns doch, daß diese sonderbaren, staunenerregenden Versuche mit der Zeit in der Hand eines tüchtigen Arztes zu Heilmitteln werden können, die der leidenden Menschheit zu gute kommen werden!

Aber die Fortschritte des Hypnotismus werden keineswegs überall mit enthusiastischer Freude begrüßt. Man spricht weniger von dessen Nutzen als von den Gefahren, die er mit sich bringt. Wir müssen zugeben, daß diese Befürchtungen durchaus berechtigt sind. Inwiefern die Hypnose zu verbrecherischen Zwecken mißbraucht werden kann, darüber hat die „ Gartenlaube“ schon im vorigen Jahre ihren Lesern berichtet. Heute müssen wir noch auf die G efahren aufmerksam machen, welche aus ihm der Gesundheit und der öffentlichen Moral erwachsen können und zum Theil leider schon erwachsen sind.

Das Suchen nach neuen Heilmitteln ist in der Natur des Menschen begründet. Wenn aber in fernen Welttheilen irgend ein Pflanzenstoff gefunden wird, der ein starkes Gift und zugleich ein Heilmittel ist, so wird niemand von den über das Land verstreuten praktischen Aerzten verlangen, daß sie in ihrer Praxis Versuche mit dem neuen Pflanzenstoff anstellen. Man weiß es wohl, daß dadurch viele nur an ihrer Gesundheit geschädigt werden könnten. Das neue Heilmittel muß zunächst von Specialärzten, die über Kliniken und Hospitäler verfügen, von Professoren, die mit Hilfe ihrer Assistenten den Kranken unausgesetzt beobachten können, in vorsichtigster Weise geprüft werden, und erst wenn die zur Forschung berufenen Mediziner ihr Urtheil abgegeben haben, wird das Heilmittel zum Gemeingut aller Aerzte und aller Kranken.

Ein Heilmittel und Gift zugleich, ein zweischneidiges Schwert ist aber auch die Hypnose, und Aerzte, die über die obenerwähnten Hilfsmittel nicht verfügen und keine Gelegenheit hatten, besondere praktische Studien über den Hypnotismus anzustellen, verzichten zunächst im Interesse ihrer Kranken auf die Anwendung derselben.

Was die Wissenschaft bis jetzt auf diesem Gebiete erlangt hat, das ist im großen und ganzen nur die Feststellung einiger Thatsachen: sie müssen noch ergründet und geprüft werden, bevor wir aus ihnen allgemeine Schlüsse ziehen können, und darum gehört das hypnotische Experiment entschieden und ausschließlich in das Laboratorium des Fachgelehrten.

Die Lage der Dinge ist so einfach, daß man eigentlich weder Papier noch Tinte zu verschwenden brauchen sollte, um sie klar zu legen. In Wirklichkeit aber sieht es ganz anders aus. Die sachverständigen Aerzte schreiten mit der größten Vorsicht vorwärts; dagegen haben wir eine ganze Legion von Heilmagnetiseuren, welche die Menschheit kuriren wollen, ohne irgend welche ärztliche Vorbildung zu besitzen; dagegen werden aus reiner Neugierde und Unterhaltungslust von Laien Experimente angestellt, welche geeignet sind, die Gesundheit der Theilnehmer zu schädigen und die öffentliche Moral zu untergraben. Darum muß der Laie gewarnt werden, und diesem Zweck sollen die in nächsten Nummern folgenden Artikel dienen.

[472]
2. Schädigung der Gesundheit durch Mißbrauch der Hypnose.

Als im Beginn der achtziger Jahre der Magnetiseur Hansen die europäischen Großstädte durchzog und die Demonstrationen hypnotischer Erscheinungen die Gemüther der gelehrten und ungelehrten Welt erhitzten, waren es nur einige wenige, welche in den Schaustellungen des abenteuernden Dänen nicht den mit bezahlten Subjekten getriebenen unheimlichen Unfug, sondern höchst reale Vorgänge sahen, deren Wesen und Tragweite der englische Chirurg James Braid bereits vor vier Decennien in einer Reihe trefflicher Schilderungen beschrieben hatte. Es konnte dann auch bei der Unkenntniß der Braidschen Werke geschehen, daß Physiker und Physiologen ausgedehnte hypnotische Versuche anstellten, deren Resultate als Neuentdeckungen gepriesen wurden; es konnte geschehen, daß die deutschen Polizeibehörden dem gefährlichen Treiben Hansens und seiner Nachahmer geduldig zusahen.

Je mehr sich aber dann die Berufenen mit dem Studium der hypnotischen Phänomene beschäftigten, je eifriger die Publikationen der älteren ärztlichen Hypnotiseure aus dem Dunkel der Bibliotheken herausgesucht wurden; um so mehr stellte sich die Gefährlichkeit der hypnotischen Laienexperimente heraus, erwiesen sich die öffentlichen Vorstellungen als nicht nur die Gesundheit gefährdend, sondern in gleicher Weise das Rechtsbewußtsein, die Moral und die Sittlichkeit aufs allerempfindlichste verletzend.

Der Unfug blühte trotzdem weiter; aller Orten thaten sich Hypnotiseure und Heilmagnetiseure auf, die bei dem Hange der Menschen zum Mysteriösen stets gläubige Seelen und offene Geldbeutel finden; ja das Unglaubliche geschah: der todtgesagte Hansen, den die Lorbeeren und die pekuniären Erfolge seines ehemaligen Unternehmers, des früheren Theaterdirektors „Theo“ Böckert nicht ruhen ließen, tauchte wieder auf, und Beide, welche sich ehedem in heftiger Fehde getrennt, weil sie sich von einander übervortheilt wähnten, hypnotisirten in kollegialer Eintracht die wundersüchtigen Einwohner der deutschen Metropole.

Die Behörde schritt auch im Jahre 1887 nicht ein, wie sie im Jahre 1880 geduldig abwartend bei Seite gestanden hatte; sie ließ es zu, daß Hansen öffentlich bekannt machte, er unterrichte jeden seine Vorstellungen Besuchenden, so daß der solcher Art Eingeweihte fortan als Hypnotiseur thätig sein könne, und erst erneute Skandale während der Hansen-Böllertschen Schaustellungen [474] zeitigten das Verbot der öffentlichen Demonstrationen, ein Verbot, welches seit Jahren in Oesterreich, Italien und Frankreich besteht.

Ebenso waren es Skandale schlimmster Art, welche einen Erlaß des Großherzoglich badischen Ministeriums nöthig machten, nach welchem jede öffentliche hypnotische Schaustellung, jedes Hypnotisiren in geschlossen Gesellschaften und an solchen Orten, die dem Publikum zugänglich sind, bei Strafandrohung untersagt ist. Diese Skandale sind für die Geschichte der hypnotischen Mißbräuche in Deutschland so charakteristisch, daß sie in einem nachfolgenden Artikel ausführlich geschildert werden sollen.

Für den badischen und den preußischen Erlaß waren vornehmlich der mit den Hypnotisirten getriebene Unfug, das öffentliche Aergerniß, maßgebend; man übersah oder verkannte die bei weitem größeren Gefahren, welche die Hypnose in civil- und strafrechtlicher Beziehung, vor allem aber für Leib und Leben der Versuchspersonen im Gefolge haben kann.

Ungleich wichtiger als die juristischen Beziehungen erscheint den Aerzten die Gesundheitsschädigung durch die laienhafte Anwendung der Hypnose. Hier bergen sich Gefahren, die uns in ihrer ganzen Größe bis jetzt noch unbekannt sind. Die Aerzte stehen von einer Durchführung der Hypnose ab, sobald Athmung und Pulsfrequenz unregelmäßiger werden, sobald irgend welche abweichenden Erscheinungen in den sog. Primär-Symptomen ein Bedenken wegen übler Folgen aufkommen lassen.

Anders die Laienhypnotiseure. Ohne Wahl werden die sich zu den Versuchen meldenden Individuen, deren Gesundheitszustand dem Experimentator völlig unbekannt, den Manipulationen unterworfen, allen möglichen Rohheiten ausgesetzt und in so jäher Weise dehypnotisirt, d. h. aus dem hypnotischen Schlaf geweckt, daß tagelang die übeln Nachwirkungen mit Kopfschmerz, Muskelzittern etc. zu verspüren sind. So in den günstigen Fällen. Schlimmer da, wo eine vorher verborgene Krankheit durch die Beeinflussung des Centralnervensystems, welches bekanntlich den Angriffspunkt für die den hypnotischen Zustand erzeugenden Reize abgiebt, zum jähen Ausbruch kommt, oder wo organische Fehler die Ursache eines tödlichen Ausganges abgeben können.

In einem berühmten deutschen Kurorte wirken seit einigen Jahren zwei „Magnetopathen“, der eine von ihnen war ehedem Feldwebel, der andere Volksschullehrer. Beide erfreuen sich eines großen Zulaufes, und da es an präcisen gesetzlichen Bestimmungen fehlt, kann, obwohl Amtmann und Bezirksarzt den besten Willen dazu haben, dem Schwindel nicht gesteuert werden, weil die Wunderdoktoren schlau genug sind, keinerlei Handhabe zum Einschreiten zu bieten. Skandalöserweise bediente sich der eine Magnetopath zu seinen Kuren eines kleinen Mädchens, welches er kataleptisch machte, als Medium für die auf den Patienten auszuströmenden Kräfte.

Wiederholt ist ärztlicherseits auf die nachtheiligen Folgen der Laienhypnose hingewiesen, aber die Warnungen verhallen nutzlos; die Herren Hypnotiseure und Heilmagnetiseure üben nach wie vor ihr strafwürdiges Handwerk ohne jede Einschränkung.

So trieb beispielsweise noch vor kurzem ein ehemaliger Barbier in einer norddeutschen Stadt als „Anti-Magnetiseur“ sein Unwesen, und nach einem vorliegenden Berichte „ist bei der Auswahl der geeigneten Medien der bedauernswerthe Fall eingetreten, daß einer der Herren, welche sich freiwillig gemeldet, in Krämpfe verfallen war und fortgetragen werden mußte.“

Ein französisches Tribunal verurtheilte im vorigen Jahre einen Laien, der einen Knaben hypnotisirt hatte, da infolge dessen Krämpfe bei demselben auftraten, zu einer Geldbuße von 1200 Franken. Auch die Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe verurtheilte einen Hypnotiseur zu 14 Tagen Gefängniß, weil er einen 19 Jahre alten Burschen, ohne dessen Einwilligung, in Hypnose versetzt hatte. Das Bezirksamt hatte den Hypnotiseur wegen „groben Unfugs“ zu 20 Mark verurteilt, wogegen der Angeklagte Berufung einlegte. Das Schöffengericht erblickte jedoch in dieser neuen Kunst eine Freiheitsberaubung und fahrlässige Körperverletzung, weswegen die Angelegenheit an die Strafkammer verwiesen und wie oben angegeben erkannt wurde.

Von einem andern Hypnotiseur, der, seines Zeichens Lithograph, im vorigen Sommer öffentliche Vorstellungen gab, schrieb unlängst eine hochangesehene Zeitung: „Er betreibt diesen neuen Sport als Liebhaberei!“

Ein sonderbarer Sport, bei dem die Gesundheit der Mitmenschen leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird!

Eine junge Künstlerin unterzog sich wiederholten Versuchen mit einem der reisenden Hypnotiseure, und auch hier blieben die Folgen nicht aus. Das beklagenswerthe Opfer kränkelte, wurde bleichsüchtig, und da von Stund an eine hochgradige Gedächtnisschwäche Platz gegriffen hatte, mußte die zu den schönsten Hoffnungen berechtigte junge Dame ihre fernere Bühnenthätigkeit aufgeben.

Eine fast konstante Erscheinung bestimmter Grade der Hypnose ist infolge der gesteigerten Reflexerregbarkeit aller quergestreiften Muskeln die totale Katalepsie, ein pathologischer Zustand, der in allen Fällen zur äußersten Vorsicht zwingt und zur schnellen Dehypnose nötigt, will man sich nicht der Leichtfertigkeit oder gar einer fahrlässigen Tödtung schuldig machen.

Der Kaufmann Fr. in R–burg ließ sich vor Jahren „des Ulkes wegen“ von einem Laien in Hypnose versetzen. Nach kaum vier Minuten war der Körper ganz steif, die bekannten Kunststückchen wurden demonstrirt, indem Fr., nur mit Fersen und Hinterhaupt auf zwei Stühlen aufliegend, die ganze auf Bauch und Oberschenkel ruhende Last seines Experimentators minutenlang ertrug etc., und als dieser nun sein „Medium“ dehypnotisiren wollte, ließen ihn seine Künste im Stich, Herr Fr. erwachte einfach nicht. Der hinzugerufene Arzt verbrachte das Medium in einen Nebenraum, leitete eine künstliche Respiration ein, während welcher der Kataleptische plötzlich und mit einem Tobsuchtsanfall erwachte. Am folgenden Tage berichtete Herr Fr., er sei erst vor kurzer Zeit aus dem Militärlazareth als untauglich zum Weiterdienen bei den schweren Reitern entlassen worden. Fr. war bei einer Uebung gestürzt, hatte einen Hufschlag auf die Brust erhalten und innere Verletzungen davongetragen, diese Umstände aber dem Hypnotiseur verschwiegen.[5]

Der Nachahmungstrieb und die Lust, für einen Wundermann gehalten zu werden, verführt die meisten Laien, ihren ehrlichen Beruf mit dem eines Heilmagnetiseurs oder Hypnotiseurs zu vertauschen, sofern nicht der lockende und leichte Gewinn den wesentlichen Trieb abgiebt, sich zum Retter der leidenden Menschheit aufzuwerfen.

Wie Hansen als achtjähriger Knabe zufällig Zeuge eines magnetischen Einschläferungsversuches war und er seit dieser Zeit, die Manipulationen, die er mitangesehen, nachahmend, die Goldgräber Australiens, die Zulukaffern wie die civilisirten Nationen in Hypnose versetzte, so wurde die Schuljugend Pforzheims, die Bauern im Dorfe Toloz, so wurden jene Kinder, die in der Charcotschen Klinik behandelt werden mußten, zum hypnotischen Unfug verleitet.

Im November 1886 hatte in Chaumont ein Magnetiseur Zaubervorstellungen gegeben, welche eine Art von aktiver hypnotischer Manie zur Folge hatten, die sogar bis in die Schule der Stadt eindrang. Mehrere Schüler hypnotisirten ihre Kameraden, trieben allerhand Albernheiten, und es traten bei den Burschen verschiedene Nervenleiden auf, die eine ärztliche Behandlung nothwendig machten. So bei einem zwölfjährigen Knaben, der, ohne erblich belastet zu sein und obwohl er auch niemals vordem irgend welche nervöse Störungen erkennen ließ, in das Hospital gebracht werden mußte, da er jetzt plötzlich streng formulirten hypnotischen Anfällen, die sich täglich wiederholten, unterworfen war. Auch bei dem jüngeren vierjährigen Bruder desselben traten die gleichen Erscheinungen mit Kopfschmerz, Hämmern in den Schläfen, Ohrensausen, Verdrehungen und Verkrümmungen auf, und die Sorge der armen Eltern nahm erst ein Ende, als am letzten April des vorigen Jahres beide Kinder genesen aus der Charcotschen Behandlung entlassen wurden.

Die „Gartenlaube“ wird in dem nächsten Artikel ein Bild hypnotischen Unfugs in einer deutschen Stadt aufrollen, wie es lehrreicher wohl nicht zu finden wäre und aus welchem unsere Leser noch deutlicher als aus den vorhergegangenen Artikeln die Unzulässigkeit der von Laien betriebenen hypnotischen Versuche und Spielereien erkennen werden.

[492]
3. Der Hypnotismus in Pforzheim, ein Beitrag zur Geschichte des hypnotischen Unfugs in Deutschland.

Keine zweite Stadt in Deutschland mag wohl in Sachen des Hypnotismus so zahlreiche und so eigenartige Erfahrungen aufzuweisen haben als Pforzheim, die weltberühmte Stadt der Goldwaarenindustrie. Man muß diesen am Ausgangspunkt dreier reizender Thäler des nördlichen Schwarzwaldes gelegenen, ungefähr 28 000 Einwohner zählenden Ort mit seinem in mannigfacher Hinsicht originellen Getreibe kennen, um verschiedene Episoden zu verstehen, welche das hier zum Sport gewordene Hypnotisiren im Verlauf des Jahres 1886 zeitigte.

Schon dem flüchtig sich hier aufhaltenden Fremden fällt Verschiedenes auf. Pforzheim ist die erste Fabrikstadt Badens, und doch entbehrt sie fast ganz der rauchigen Schlote und des rußgeschwärzten kohligen Pflasters. Es bringt das der hier gepflegte Fabrikationszweig der Edelmetallwaaren mit sich, welcher die Stadt mit den unschönen Attributen anderer Fabrikorte verschonte. Von einem der umliegenden Höhenpunkte aus betrachtet, erscheint daher Pforzheim wie ein schmuckes, gutgepflegtes Landstädtchen mittleren Schlages. Wenn man dagegen an den Wochentagen den Marktplatz und einzelne Hauptstraßen während der mittäglichen Arbeitspause betritt, dann bringt einem das Gedränge des hier sich stauenden männlichen und weiblichen Arbeitervolkes, das der Hauptmasse nach unter der allgemeinen Gesammtbezeichnung „Bijoutiers“ und „Polisseusen“ begriffen wird, eine ungefähre Vorstellung bei von dem Arbeitsfleiß und der Betriebsamkeit Pforzheims und seiner Nachbarorte im zwei- bis dreimeiligen Umkreise. Alltäglich mit Ausnahme der Sonntage kommt früh mit dem Morgengrauen auf allen vom Lande hereinführenden Zufahrtsstraßen eine nach Hunderten zählende Schar von Arbeitern und Arbeiterinnen verschiedenen Alters der Stadt zugeschritten, von der Menge abgesehen, die in Pforzheim selbst wohnt oder mit verschiedenen Zügen von den Vororten hereinfährt. Diese Scharen sind es, die über Mittag auf Markt und Straßen unter lebhaftem Gedankenaustausch frische Luft schöpfen und abends wieder dem ländlichen Heim mit ebenso eiligen Schritten zupilgern, wie sie morgens ankamen.

Eine zweite Absonderlichkeit bietet Pforzheim in seinen „Tigern“. Kommt man morgens ziemlich früh an den größeren Gasthäusern vorbei, dann wundert man sich über die Schar hier wartender Herren, die als Zeichen ihres „Tigerthums“ einen zierlichen Musterkoffer bei sich führen. Diese Herren sind dazu bestimmt, den aus aller Welt eintreffenden Großhändlern von Schmuckwaren in den Gasthäusern, wo dieselben ihr Absteigequartier genommen haben, den verlockenden, blinkenden Inhalt der Musterkoffer vorzulegen und möglichst umfangreiche Bestellungen für die Herrn Prinzipale entgegenzunehmen. Dieses im Grunde genommen wenig blutdürstige Geschäft hat den aus dem Hinterhalt auf Bestellungen Jagd machenden, meist jüngeren Herren die geradezu offiziell gewordene Bezeichnung der „Tiger“ eingebracht. Nicht selten liest man wenigstens im Anzeigetheil hiesiger Blätter, daß von dieser oder jener Firma „ein gewandter Tiger“ gesucht werde. Mitunter „tigert“ übrigens der Herr Prinzipal selbst, namentlich, wenn er noch jung und Anfänger ist.

Doch ich wollte ja vom Hypnotismus erzählen und von den Wundern, die derselbe vorvergangenes Jahr hier gewirkt. Als Hansen im Anfang der achtziger Jahre Deutschland bereiste, kam er auch nach Pforzheim und gab hier eine Vorstellung, die zwar wie überall Aufsehen erregte, aber ohne weitere Folgen blieb. Da kam am 28. April 1886 ein neuer Apostel vom blinkenden Glasknopf, und diesem gelang es, halb Pforzheim auf den Kopf zu stellen. Es war ein Stuttgarter Friseur, ein Herr Georg Schmidt, der da bei irgend einer Gelegenheit die Erfahrung gemacht hatte, daß ihm die gleiche Fähigkeit innewohne wie weiland Herrn Hansen. Herr Schmidt, der auch in der That nicht ohne Gewandtheit und Eleganz experimentierte, reiste im Lande umher und gab außerordentlich besuchte Vorstellungen. Er kürzte nach berühmten Mustern[6] seinen Vornamen in „Geo“ ab, und als Geo Schmidt kam er auch nach Pforzheim, wo er in ziemlich schneller Folge 5 bis 6 öffentliche „magnetische Soireen“ abhielt. Es ging da alles wie bei Hansen zu, nur ließ Herr Schmidt seinen Versuchen einen von seinem Geschaftsführer verlesenen, ziemlich monotonen Vortrag vorausgehen, in welchem von dem „geheimnisvollen Fluidum“ die Rede war, das den Händen und Augen des Meisters entströme und so wunderbar auf empfängliche Personen einwirke. Mit einem Wort, Geo Schmidt vertrat den längst überwundenen Standpunkt des „thierischen Magnetismus“ und wirkte auf viele Köpfe nicht aufklärend, sondern verwirrend. Anfangs gab er auf eigene Faust sehr besuchte Vorstellungen bei ziemlich hohen Eintrittspreisen; später wurde er von verschiedenen Vereinen angeworben. Das Ganze bewegte sich nämlich damals noch in ziemlich harmlosen Bahnen und etwaige schädliche Folgen vermochte noch niemand vorauszusehen.

Jedenfalls erregten Schmidts Versuche allseitig das höchste Interesse. Wie erstaunte man aber, als gegen Ende Mai die Nachricht durch die hiesigen Blätter ging, daß ein jüngerer Pforzheimer Fabrikant, Herr W., jene Versuche mit zweifellosem Erfolge nachzuahmen versucht und schließlich Meister Geo vollständig übertroffen habe! Herr W. war in eigenthümlicher Weise zur Kenntniß seiner Kunstfertigkeit gelangt. An demselben Abend, da Geo Schmidt in einem geselligen Vereine Pforzheims eine Abendunterhaltung gab, befand sich Herr W. im Kreise verschiedener Bekannten im Wirthshause. Das Gespräch drehte sich ausschließlich um den Hypnotismus und die Frage, ob diese Versuche wohl auch von andern angestellt werden könnten. Man beschloß, das alsbald festzustellen, und begab sich zu dem Zweck in das Nebenzimmer, wo einige junge Arbeiter als Versuchspersonen dienen sollten.

Noch bevor es so weit kam, drängte sich die Kellnerin trotz wiederholter Abweisung heran und verlangte immer dringender, hypnotisirt zu werden, worauf schließlich Herr W. unmuthig die Zudringliche Platz nehmen hieß und einige Striche über deren Haupt mit den Händen beschrieb, wie er es bei Hansen und Schmidt gesehen hatte. Der Erfolg war ein ganz überraschender; denn das Medium verfiel alsbald in tiefsten Schlaf und theilweise kataleptische Starre, einen Zustand, den keiner der Anwesenden zu heben vermochte. Der um Hilfe ersuchte Geo Schmidt schickte zunächst seinen Geschäftsführer. Dieser verordnete, als die gewöhnlichen Belebungsmittel nicht anschlugen, Champagner, von welchem der Bewußtlosen eingeflößt wurde. Da sie aber wegen gänzlicher Starre unfähig war zu schlucken, so mußte man das prickelnde Naß einstweilen selbst trinken und auf den Meister warten. Als dieser endlich angekommen war, gelang es ihm nach längerer Zeit, das Medium zu erwecken, welches indeß nunmehr in sechsunddreißigstündigen, ununterbrochenen Schlaf verfiel, dem es sich im städtischen Krankenhause in aller Muße hingeben durfte. Nunmehr zu ihrem Brotherrn zurückgelangt, erblickte die Kellnerin Abends Herrn W. und verfiel ohne dessen Zuthun wieder alsbald in Hypnose, welche auch mit längerem Schlaf endete, ein Vorgang, der sich noch ein zweites Mal wiederholt haben soll, was die Dame veranlaßte, sich ein anderweitiges Feld für ihre bierspendende Thätigkeit auszusuchen. Herr W. aber, der nunmehr auch die Methoden des kunstgerechten Erweckens bei schwierigeren Fällen erlernt hatte, machte bald darauf alle Versuche des Meisters und noch zahlreiche andere, die sogar Geo in Erstaunen gesetzt haben würden. Da nun Herr W. seine schönen Versuche in Vereinen und Privatkreisen mit unerschöpflicher Bereitwilligkeit ohne Entgelt zum Besten gab, so wäre für Herrn Schmidt die schöne hiesige Einnahmequelle versiegt, selbst wenn ihm nicht ohnehin das Pforzheimer Bezirksamt in Rücksicht auf verschiedene Vorkommnisse die Genehmigung zu weiteren öffentlichen Vorstellungen verweigert hätte, ein sehr berechtigtes Einschreiten, dem sich bald ein Generalverbot ähnlicher Produktionen für ganz Baden anschloß. Es durfte von da ab nur noch in geschlossenen Gesellschaften hypnotisirt werden, von welcher Freiheit in Pforzheim in ungeahnt ausgiebiger Weise Gebrauch gemacht wurde. Sehr bald zeigte sich nämlich, daß Herr W. nicht der einzige Ausübende in dieser Kunst war, den Pforzheims Mauern bargen. Mindestens ein halb Dutzend verschiedener Herren arbeiteten, wenn auch mit weit weniger Glück [493] und Geschick, in ganz gleicher Weise. Das machte in der Stadt begreifliches Aufsehen und reizte Groß und Klein zu Versuchen, für welche namentlich das jüngere Volk der Bijoutiers und Lehrlinge ein überaus leicht zugängliches Material darbot. So kam es denn, daß man hier noch nicht ein volles Vierteljahr nach Geo Schmidts Auftreten die Hypnotiseure zu Hunderten zählte.

Gleichzeitig damit trat die Sache noch nach einer anderen Seite hin in eine neue Phase. In Lokalberichten der hiesigen Blätter war bei Besprechung der Schmidtschen Vorstellungen zur Aufklärung des Publikums auf das Irrige der Mesmerischen Lehre vom „thierischen Magnetismus“ hingewiesen und die richtige, auf den Arbeiten von Braid, Weinhold, Heidenhain und anderen fußende physiologische Deutung der Hypnoseerscheinungen erörtert worden. Das ließ nun einige Heißsporne vom „magnetischen Fluidum“ nicht ruhen, und es erschienen in der Lokalpresse mehr oder weniger geharnischte Verwahrungen, in denen Lanzen für den Lebensmagnetismus und gegen die ungläubige Wissenschaft gebrochen wurden, die schon oft neue Wahrheiten anfangs aufs heftigste befehdet habe. Die Folge war, daß zunächst alle weiteren Versuche unter dem Feldgeschrei „hie Braid“, „hie Mesmer“ unternommen wurden. Herr W., eifriges Mitglied des naturwissenschaftlichen Vereins zu Pforzheim, hielt die Streitfrage mit Recht für wichtig genug, um im Schoße des genannten Vereins behandelt zu werden. Er demonstrirte dem Verein in mehreren Sitzungen, teilweise vor zahlreichen geladenen Gästen, solche Versuche, die speciell geeignet sein sollten, über die Frage des Mesmerismus Licht zu verbreiten. Die interessante, lebhafte Debatte führte zu einer ganzen Reihe von Kontrollversuchen, aus denen mit immer größerer Klarheit die Nichtigkeit aller lebensmagnetischen Behauptungen hervorging. Das reizte indeß weitere Anhänger des Mesmerismus zu neuen Einwürfen.

Ein anderer Herr, gleichfalls Bijouteriefabrikant, hatte sein neun- bis zehnjähriges Söhnchen hypnotisirt und wollte dabei wunderbare, ganz räthselhafte Beobachtungen gemacht haben, die eine Uebertragbarkeit der „magnetischen Kraft“ auf leblose Dinge nachzuweisen im Stande seien. Das Bürschchen war von einem älteren Arbeiter der Fabrik und vom Vater so oft in Hypnose versetzt worden, hatte namentlich wiederholt zugesehen, wie Stühle, Thürklinken, Fußbodendielen durch Bestreichen mit den Fingern der Experimentatoren „magnetisch“ gemacht wurden, damit es bei der Berührung dieser Gegenstände mit Händen oder Füßen starr werde und dieselben nicht mehr loslassen könne, – daß schließlich der Gesammterfolg ein wunderbarer werden mußte. Der Kleine, der in Erfahrung gebracht hatte, daß ihm auch in seiner Abwesenheit durch Bestreichen einzelner Gegenstände Fallen gelegt wurden, witterte nun überall solche und blieb bald an einer Klinke mit der Hand hängen, bald konnte er von einem Stuhle nicht mehr aufstehen, bald endlich eine Zimmerdiele, auf die er getreten war, nicht mehr verlassen. Dabei kam es denn begreiflicherweise vor, daß ihn bald bestrichene, bald unbestrichene Gegenstände fesselten. Wenn das aber bei letzteren eintrat, wurde eben keine Notiz davon genommen. Der Vater erbot sich nun, dem ungläubigen naturwissenschaftlichen Verein und dessen noch ungläubigerem Vorsitzenden unwiderlegliche Beweise von der Existenz einer biomagnetischen Kraft beizubringen. In der hierzu anberaumten Sitzung wurden in Abwesenheit des Söhnchens ein Stuhl, ein irdener Bierseideluntersatz und eine Zimmerdiele mit großer Inbrunst und vielem Kraftaufwand vom Vater und Herrn W. gestrichen, auf dessen minimale Einwirkungen der Knabe sonst auch mit außerordentlicher Leichtigkeit reagirte. Nachdem sich nun beide Experimentatoren entfernt hatten, damit jegliches unbeabsichtigte Verrathen der „Fallen“ ausgeschlossen sei, rief man das jugendliche Medium herein. Dasselbe blieb alsbald an der nicht bestrichenen Thürklinke mit starrem Arm hängen. Von dieser frei gemacht und vom Vorsitzenden sowie einem anwesenden Arzt, dem zweiten Präsidenten, freundlich angeredet und ins Gespräch gezogen, durchschritt es das Zimmer und passirte glücklich die bestrichene Diele. Auf dem „magnetisch gemachten“ Stuhl nahm es ohne Gefährden Platz, wurde dagegen, nachdem es später den Sitz gewechselt hatte, auf einem anderen nicht bestrichenen hypnotisch mit starren Untergliedmaßen.

Wieder vom Banne befreit, vermochte es jenen Bierseideluntersatz anzufassen und weiterzugeben, bekam aber eine starre Hand, als ihm der Vorsitzende seinen eben hervorgezogenen Hausschlüssel überreichte. Kurz, alle Versuche bewiesen aufs zweifelloseste, daß von „Magnetisirung“ lebloser Dinge nicht die Rede sein könne, daß vielmehr die bisher in solchem Sinne gedeuteten Beobachtungen aus Täuschung durch ungeschickte Anstellung der Experimente zurückzuführen seien. Dem Vater wurde überdies zu Gemüthe geführt, wie wenig zuträglich seinem blassen, schwächlichen Söhnchen die unausgesetzten Aufregungen solcher Experimente sein dürften; am wenigsten sei es für den zukünftigen, aufs Bijouteriefach gerichteten Beruf des Kleinen eine angenehme, förderliche Beigabe, wenn derselbe von jedem ersten Besten durch einen scharfen Blick in Willenlosigkeit und Starre versetzt werden könne. Der Vater war denn auch einsichtsvoll genug, die Richtigkeit dieser Bemerkungen einzusehen, und verschonte von da ab seinen Sprößling mit biomagnetischen Versuchen, so daß der letztere zur Zeit von seiner Hypnomanie völlig geheilt ist. [494] In der Stadt nahm inzwischen das Magnetisiren seinen weiteren Verlauf in immer ausgedehnteren Kreisen. Jetzt hypnotisirten schon einzelne Bijouteriearbeiter diesen oder jenen ihrer Kameraden durch starre Blicke und Bestreichen mit den Händen, und verübten mit denselben den durch Geo Schmidt bekannt gewordenen Unfug, wo nur ein geeigneter Platz und ein paar freie Augenblicke aufzutreiben waren.

Natürlich wurden die Versuche auf solche Weise auch auf die umliegenden Dorfschaften verpflanzt. Doch es sollte noch weit besser und viel drastischer kommen!

Ein Sekundaner hypnotisirte den einen und anderen seiner Mitschüler mit bestem Erfolge, brachte auch einmal ein solches Medium in seine Wohnung und zeigte der staunenden Mama seine Künste. Wie sich Fama erzählt, wollte er bei dieser Gelegenheit in jugendlichem Eifer auch die eigene Mutter hinter deren Rücken durch Striche in Hypnose versetzen, ein Beginnen, das sich die Mama, als sie es zu ihrem Schrecken wahrnahm, nicht gefallen ließ, vielmehr durch kräftig geführten Gegenstrich an geeigneter Stelle ein für alle Mal nachdrücklichst abwehrte.

Sehr bald fanden sich unter den Schülern der beiden höheren Lehranstalten Pforzheims Scharen von Hypnotiseuren und empfänglichen Medien, denen sich bald ungezählte Haufen von Zöglingen der Volksschule in gleichem erfolgreichen Beginnen anschlossen. Im Juli 1886 wurde dieser kindlichen Hypnotiseure in der Lokalpresse zuerst Erwähnung gethan und festgestellt, daß man auf Straßen und in Hausgängen vielfach kleine Buben schon von 11 Jahren beobachtet habe, die durch starres Ansehen und streichende Handbewegungen über Kopf, Gesicht und Körper jüngere und selbst um mehrere Jahre ältere Spielkameraden in Schlaf, Willenlosigkeit und vollständige Starre versetzten. Damit war der neue Sport quantitativ auf seinen denkbar höchsten Höhepunkt gelangt, denn nunmehr hypnotisirten außer Greisen und Männern auch Jünglinge und halbreife Knaben, so daß in der Gesammtreihe allein das zarte Kindesalter unvertreten blieb. Nur noch qualitativ konnte die Sache überboten werden. Zunächst wurde in mehrfacher Weise ein neuer Ansturm im Sinne des Mesmerismus versucht. Vor allem wies man nämlich auf verschiedene mehr oder weniger verbürgte Heilerfolge hin, welche da und dort das bloße Bestreichen Kranker seitens dieses oder jenes Hypnotiseurs erzielt habe. Man wollte darin das heilsame Walten einer den Händen des Experimentirenden entströmenden räthselhaften Kraft erblicken. Auch Herr W., den sehr bald an verschiedenen Uebeln Krankende in Anspruch nahmen, machte dahin zielende Versuche, welche durch die Einwirkung der Suggestion zum Theil auch gelungen waren.

Uebrigens sollte man in Pforzheim sehr bald auch noch in anderer Weise Gelegenheit haben, wunderbare Wirkungen der Eingebung auf empfängliche Personen in reichem Maße kennen zu lernen.

Zunächst gaben abermals biomagnetische Anwandlungen einzelner den äußeren Anstoß zu den ersten bezüglichen Versuchen. Ein Herr A., gleichfalls geschickter Experimentator auf dem Gebiete des Hypnotismus, wollte die Beobachtung gemacht haben, daß er auch ohne jegliche Willensäußerung, das heißt lediglich durch innere Willenskraft bei empfänglichen Personen jede beliebige Einzelwirkung z. B. selbst dann hervorbringen könne, wenn er diesen Personen den Rücken kehre und durch kein Wort, durch keine Gebärde verrathe, welcher Art die von ihm beabsichtigte Wirkung sein solle. In der Lokalpresse wurde berichtet, Herr A. habe seine erstaunliche Kunst in Privatkreisen mit unfehlbarem, nie versagendem Erfolg ausgeübt. Auch dem naturwissenschaftlichen Verein erbot sich nunmehr A. durch die Vermittelung des Herrn W., seine beweisenden Versuche vorführen zu wollen. Ablehnen ließ sich das nicht, und so erschienen denn in der nächsten Sitzung Herr A. und drei bis vier seiner Medien, denen Herr W. eine ungefähr gleiche Anzahl der seinigen hinzugesellte. Die jungen Leute nahmen in einer Reihe neben einander auf Stühlen Platz, ebenso die beiden Ausübenden, jener Reihe den Rücken zukehrend. Es war vereinbart worden, daß der Vorsitzende auf einem Blatt Papier eine beliebige Hypnosewirkung und diejenigen Medien namhaft mache, bei denen sie eintreten solle. Das Blatt wurde dem Ansteller des jeweiligen Versuches übergeben, der davon still Kenntniß zu nehmen und sodann seinen Willen in Thätigkeit zu setzen hatte. Wenn er, den Medien unausgesetzt den Rücken kehrend, das Zeichen gegeben haben werde, fertig zu sein, sollte die Versammlung den Eintritt oder Nichteintritt der gewünschten Fernwirkung feststellen.

Wie vorauszusehen war, ergaben in der That alle in dieser Art angestellten Versuche ein durchaus verneinendes Ergebniß. Der durch nichts geäußerte Wille des Ausübenden vermag eben keine Wirkung aus die empfänglichen Personen auszuüben. Herrn A. wurde z. B. schriftlich aufgegeben, er solle die von Herrn W. herbeigeführten Versuchspersonen in Schlaf sinken, die eigenen aber im wachen, völlig unhypnotisirten Zustand verharren lassen. Gerade das Umgekehrte trat ein, als Herr A. bei lautloser Stille der Versammlung, selbst unbeweglich dasitzend, seinen Willen anstrengte. Ein Kontrollversuch, den Herr W. anstellte, ergab das gleiche Ergebniß. Herr W. sollte ohne Vorwissen der Versuchspersonen, um welche Wirkung es sich handele, die eigenen unbeeinflußt lassen, diejenigen des Herrn A. einschläfern. Es wurden indeß trotz des energischen Willens des Herrn W. dessen eigene Medien hypnotisch, während die fremden im wachen Zustand verharrten.

Dabei muß noch betont werden, daß beide Herren, wie durch mehrere Versuche festgestellt war, auf alle Medien ohne Ausnahme mit Leichtigkeit hypnotisirend einzuwirken vermochten, wenn sie nur ihre bezügliche Absicht durch Worte, Blicke oder irgend welche Gebärden, beziehungsweise Zeichen kundbar machten. Ohne solche Kundbarmachung des Willens trat die vorgeschriebene Wirkung nie ein.

Daß durch ungeschickte Anstellung des Versuchs auch einmal ein die Willensfernwirkung scheinbar beweisendes Ergebniß erzielt werden kann, zeigte sich, als ein anderer der anwesenden Herren vorschrieb, der linke Vorderarm einer speciell hierzu ausgewählten Versuchsperson solle in Muskelstarre versetzt werden. Nachdem Herr A. erklärt hatte, den Willensakt gefaßt zu haben, griff unvorsichtigerweise der Herr, der den Versuch veranlaßt hatte, nicht zunächst nach anderen Gliedmaßen des Mediums, sondern gleich nach dem linken Vorderarm und verrieth auf diese Weise unbeabsichtigt, daß es sich um diesen handele. Natürlich wurden die betreffenden Muskeln nunmehr alsbald starr. Es hatte sich nämlich bei anderen Versuchen herausgestellt , daß fast immer derjenige Körperteil in kataleptische Starre verfiel, der nach Ausführung des Willensversuches in erster Linie auf seinen Zustand untersucht wurde, selbst wenn er nicht der für das Eintreten der Wirkung vorgeschriebene war.

Bei Gelegenheit dieser lehrreichen, experimentell ausgefochtenen Streitfrage wurde nun auf ein schon bei anderen Anlässen stets wahrgenommenes merkwürdiges Einzelsymptom hingewiesen. Unter den Medien des Herrn A. befand sich nämlich ein junger Mann Namens E., ein eifriger Turner, wie angegeben wurde. So oft E. auf irgend eine Weise in leichtere oder tiefere Hypnose versetzt oder aus derselben zum normalen wachen Zustand zurückgerufen wurde, trat bei ihm fast wie auf Kommando eine Reihe taktvoll in wuchtigster Weise ausgeführter Arm- und Beinbewegungen ein. E. sprang nämlich mit gleichen Füßen auf der Stelle zwei- bis dreimal in die Höhe, hierbei jedoch mit einer solchen wilden Energie den Boden stampfend, daß das Zimmer erdröhnte und man nicht wußte, ob man mehr die Kraft des Mediums oder die Widerstandsfähigkeit von dessen Stiefelabsätzen bewundern sollte. Gleichzeitig drückte er die Brust heraus, hob den Kopf und stemmte wiederholt beide Arme im heftigen Ruck abwärts. Niemals wurde E. ohne Eintreten dieser sonderbaren Uebungen hypnotisch; nie erwachte er aus der Hypnose, ohne daß sich dieselben, wenn auch in etwas gelinderer Weise, wiederholten.

Bei anderen Medien wurde dergleichen nie gesehen. Dagegen zeigte sich bei diesen in allmählich wachsendem Maße theilweise eine andere Erscheinung, die sich im höchsten Grade bedeutsam erwies und die letzten Akte des Pforzheimer Hypnosedramas einleitete.

[504] Bevor wir in unserem Bericht fortfahren, müssen wir vorausschicken, daß die schon erwähnte außerordentliche Gewalt der Eingebung auf Hypnotisirte sich auch in Pforzheim durch zahlreiche Versuche des Herrn W., der die einschlagende Litteratur besonders studirt hatte, bewahrheitete. Es gelang Herrn W., seine wachen Medien zur Ausführung von Aufträgen zu bringen, die er ihnen während des Zustandes ihres hypnotischen Schlafes mündlich aufgegeben hatte. Wir wollen nur einzelnes aus diesen sehr reichhaltigen Versuchsreihen namhaft machen.

Von zwei schlafenden Medien, welche angeblich nie Klavier gespielt hatten, was schon die Betrachtung ihrer schwieligen, arbeitsgewohnten Hände sehr wahrscheinlich machte, erhielt das eine den Auftrag, das Lied „Heil dir im Siegerkranz“, das andere den Walzer des Coaksmannes auf dem Piano vorzutragen. Ohne das mindeste Zaudern setzte sich erst der eine, dann der andere nach dem Erwachen ans Klavier und leistete mit beiden Händen spielend seine Aufgabe. Klang zwar auch die Weise steinerweichend, so wurde sie doch auffallend flott zu Gehör gebracht und jedermann konnte unschwer die beabsichtigten Tonstücke erkennen. Auch zu einer vierhändigen Improvisation wurden beide neugebackene Pianisten veranlaßt, die trotz ihrer schauderhaften Klänge doch eine gewisse Gesetzmäßigkeit herauszuhören gestattete. Einem andern wurde während [506] des Schlafes versichert, er sei ein erst seit wenigen Tagen in Pforzheim wohnender geborener Norddeutscher. Nach dem Erwachen ins Gespräch gezogen, bediente er sich, der bis dahin sich nur in Pforzheimer Mundart hatte ausdrücken können, völlig dialektfreier Rede, was sich bei ihm komisch genug ausnahm. Das Nichtsehen anwesender Personen oder das vermeintliche Erblicken nicht anwesender konnte stets mit Leichtigkeit durch Eingebung während des hypnotischen Schlafes erzielt werden, ebenso positive und negative Täuschungen jedes anderen Sinnes.

Ein Medium, Herr J., glaubte nach dem Erwachen die ihm im Schlafe angekündigte junge Dame zu sehen, die Braut eines Bekannten, und stellte derselben einen der anwesenden Herren auf dessen Wunsch vor, reichte ihr auch schließlich galant den Arm, um sie, wie ihm vom Experimentator bedeutet worden war, auf den Bahnhof zu führen. Er würde sich zweifellos dorthin begeben haben, hätten ihn nicht Herr W. eilends von der Straße zurückgeholt und von seiner Sinnestäuschung befreit. War dem Schlafenden gesagt worden, dieser oder jener der anwesenden Herren sei nicht mehr zugegen, so konnte keine Frage des bezeichneten Herrn an das wiedererwachte Medium das letztere zu irgend einer Antwort bewegen, während es sich mit den anderen Anwesenden vernünftig unterhielt. Aufgefordert, die im Zimmer vorhandenen Personen zu zählen, brachte es in der That eine Person zu wenig heraus. Ganz wie man es verlangte, hörte der eine nach dem Erwachen eine schöne Musik, der andere innerhalb einer bestimmten vorhergesagten Frist einen heftigen Knall etc. Bemerkenswerth war ein Versuch, bei welchem dem schlafenden, gegen Nadelstiche empfindungslosen Medium gesagt wurde, es werde soeben mit einem glühenden Eisen berührt und die gebrannte Stelle werde nach dem Erwachen sich röthen, anschwellen und eine Blase erzeugen. Gleichzeitig berührte Herr W. die Wange der Versuchsperson mit seinem Finger. Nach dem Erwachen war das Medium anfangs gesprächig, klagte aber sehr bald über brennenden Schmerz auf der Wange; hierbei röthete sich die berührte Stelle zusehends und begann sich zu erheben. Zu einer Brandblase kam es indeß nicht.

Nun, diese durch hunderterlei Versuche festgestellte Macht der Eingebung ist es wohl jedenfalls gewesen, die zu anderen nicht unbedenklichen Erscheinungen, welche sich immer mehr steigerten, die erste Veranlassung gegeben haben mag. Ich meine nämlich die später für Pforzheim so charakteristisch gewordenen Tobsuchtsanfälle Hypnotisirter, deren allmähliche Entwickelung ich nunmehr schildern will. Der Anfang derselben reicht ziemlich weit zurück. In einer in der zweiten Junihälfte 1886 im Privatkreise angestellten Versuchsreihe ward nämlich in einem sehr brauchbaren Medium während des wachen Zustandes der Halbhypnose die Vorstellung erweckt, daß es in einem Walde in der Nähe Pforzheims von Strolchen angegriffen und verwundet worden sei und sein kostbares Dasein nunmehr mit Erfolg gegen dieselben vertheidige. Das Medium, ein kräftiger junger Arbeiter, spielte seine Rolle wunderschön. Mit wuthverzerrtem Gesicht ringend, gebärdete es sich, als ob es auf der Brust eines unsichtbaren Gegners kniee, denselben an der Gurgel packe und seinen Kopf wiederholt triumphirend gegen die Erde aufschlage. Die Scene sah so wildnatürlich aus, daß der Experimentirende ihr durch Erwecken des Mediums schnell ein Ende machte. Als Tags darauf mit dieser und noch einer andern Versuchsperson abermals vor größerem Zuschauerkreise experimentirt wurde, wiederholte sich die Wahnvorstellung und die Kampfscene ganz von selbst, mit allen ihren Einzelheiten ein getreues Spiegelbild des Vorganges am Tage vorher darstellend. Nur war diesmal der Ingrimm des um sich Schlagenden ein noch größerer und das Erwachen erschien etwas verzögert. Merkwürdigerweise zeigten sich nun bald auch bei anderen Medien ähnliche Erscheinungen. Die Fälle wurden verschieden besprochen. Namentlich hieß es, ein älterer Herr aus Freiburg, welcher, nebenbei bemerkt, viel in Spiritismus und ähnlichen Liebhabereien macht, habe sich dahin geäußert, daß solche Tobsuchtsanfälle immer dann eintreten, wenn ein bei den Versuchen Unbetheiligter mit seinem ungünstig wirkenden „magnetischen Fluidum“ den Hypnotisirten zu nahe trete oder sie gar berühre. Diese ganz unzutreffende Erklärung der oben erwähnten Fälle wurde nun allen Einwürfen zum Trotz so oft unvorsichtigerweise in Gegenwart wacher, hochgradig empfänglicher oder auch hypnotisirter Personen wiederholt, daß sie suggestiv wirken mußte. Thatsächlich traten von da ab dergleichen Anfälle immer häufiger ein; sie wirkten gewissermaßen ansteckend, weil ein Medium sie bei dem andern sah und unbewußt demselben nachahmte, namentlich da es viel zu viel von dieser Erscheinung während der Hypnose zu hören bekam.

Eine Zeit lang schien es in der That, als ob die Anfälle des tobenden, wilden Umherschlagens mit den Armen nur auf zufälliges, selbst ganz harmloses Eingreifen dritter Personen erfolgten, wiewohl umgekehrt in zahllosen Fällen trotz eines solchen Eingreifens keine Spur irgend welcher unangenehmen Wirkung bemerkbar wurde. Später trat sogar wiederholt das Symptom der Tobsucht während der Hypnose vollständig spontan ein, das heißt ohne jegliche Einwirkung anderer, so daß ein von vornherein bestehender ursächlicher Zusammenhang abgeschlossen sein dürfte. Am wahrscheinlichsten ist, wie gesagt, unbeabsichtigte Eingebung die Quelle der ganzen Manie gewesen. Ueberhaupt wurde die Erscheinung, daß die Medien allgemein anfingen wild zu werden, erst im Herbst wahrgenommen. Herrn W., der seine Versuchspersonen gut kannte und zu behandeln wußte, passirte sie höchst selten. Er ergriff in solchen Fällen den Uebelthäter, preßte ihn und seine Arme an sich oder gegen die Wand, machte ihn dadurch zunächst wehrlos und unschädlich und erweckte ihn sodann durch unbedeutende Bewegungen seiner eigenen freien Rechten vor dem Gesicht desselben. In zwei, drei Sekunden war auf diese Weise der ganze Anfall gedämpft und das erwachende Medium wußte nichts von seiner eben begangenen Unart. Außerordentlich wirksam und beruhigend erwies sich bei solchen Anlässen im Momente des Erwachens der Blick Herrn W.s, der das Medium stets noch durch Anrufen zwang, ihn selbst anzusehen. Etwas bedenklicher sah die Sache schon aus, wenn gleichzeitig mehrere Versuchspersonen zu toben und mit einander wüthend zu ringen begannen, wobei zunächst die im Wege stehenden Stühle, auf denen die Medien bis dahin gesessen hatten, mit Gepolter umgeworfen wurden und zur Seite flogen. Auch hier bewährte sich die Meisterschaft des Herrn W., der in allen vorgekommenen Fällen den wirren Menschenknäuel schnell trennte und in kürzester Frist Ruhe schaffte, bevor irgend jemand auch nur den mindesten Schaden hatte nehmen können. Weniger harmlos sollte sich die Erscheinung in der Folge bei anderen Experimentatoren gestalten.

Zunächst kam es in Brötzingen, dem nächsten Nachbardorfe Pforzheims, vor, daß Arbeiter abends im Wirthshause einen ihrer Genossen in Hypnose versetzten. Sehr bald wurde das Medium wild und tobsüchtig, woraus sich eine förmliche Keilerei entwickelte, da niemand den Rasenden zu bändigen und zu normalem Zustand zurückzuführen vermochte. Es mußte aus Pforzheim mitten in der Nacht ein Arzt herbeigeholt werden, der, am Orte der That angelangt, das Zimmer voller Menschen und die bewaffnete Macht des Dorfes in Person zweier Gendarmen und eines Wachtmeisters aufgeboten fand. Der hochgradig erregte Patient wurde alsbald kunstgerecht dem normalen menschlichen Bewußtsein wieder zurückgegeben. Während ihn aber der Arzt mit einigen kräftigen Worten auf das Unsinnige, sich zu solchen Versuchen herzugeben, aufmerksam machte, begannen bei jenem bereits wieder die Zeichen neuer Hypnose, aus der er abermals und zwar diesmal dauernd herausgerissen wurde.[7] Vielleicht mochte die hierbei eröffnete, wenig verlockende Aussicht, bei erneuertem Hypnoseanfall fünfundzwanzig geeigneten Orts aufgezählt zu erhalten, suggestiv gewirkt und den Mann munter erhalten haben.

In ein Pforzheimer Restaurant tritt eines Abends ein Experimentator, hinter ihm einige seiner Medien, die sich gerne da einstellten, wo Versuche zu erhoffen waren, weil da erfahrungsgemäß mit Freibier und fester Leibesstärkung nicht gekargt zu werden pflegte. Ein im Zimmer bereits anwesender junger Gast, ein ungläubiger Thomas, ruft dem Hypnotiseur, seinem Bekannten, höhnend zu, seine Experimente beruhten doch nur auf Schwindel.

„Was, Schwindel?“ entgegnet jener entrüstet, und, zu den Medien gewandt, ruft er die verhängnißvollen Worte: „Ihr seid keine Menschen! Ihr seid Hunde! Auf, packt mir den da!“

Der Erfolg war ein ganz überraschender, denn flugs ließ sich die ganze Schar aus alle Viere nieder und begann ein wüthendes Gebell und Geblaff, so gut sie es mit ihren hierin noch ganz ungeübten Kehlen zuwege bringen konnte. Gleichzeitig stürzte sich [507] die Meute auf den ungläubigen Thomas und begann, an diesem emporspringend, sich zum Theil auf die Hinterbeine zu erheben, worauf alsbald die bereits ortsüblich gewordene hypnotische Prügelei ihren Anfang nahm. Unser Thomas nahm Reißaus, so lange es heil davonzukommen noch möglich war, und der Experimentator beruhigte seine Schar und gab ihr die Erkenntniß ihrer Menschennatur und Menschenwürde wieder zurück.

Noch etwas besser ging es in einem geselligen Verein, wo gleichfalls Demonstrationen mit 7 bis 8 empfänglichen Personen angestellt wurden, die schon oft hypnotisirt worden waren. Eine Zeit lang ging alles gut und schön; als aber einer der anwesenden Herren eines der Medien vor einem besonderen Tische Platz nehmen und auf das Ticken einer auf diesem liegenden Taschenuhr achten ließ, um es durch den Eindruck dieses gleichmäßig wiederkehrenden Geräusches in Hypnose zu versetzen, da wurde unvorsichtigerweise vor diesem harmlosen Versuche gewarnt und hinzugesetzt, es könne dadurch Tobsucht entstehen. Diese Aeußerung wirkte suggestiv, denn in der That stellte sich bei der Versuchsperson Hypnose und bei der ganzen Mediengesellschaft Tobsucht ein, welche binnen kurzem den Schauplatz friedlicher, fröhlicher Unterhaltung in ein Schlachtfeld verwandelte, wo Kampfesrufe ertönten, Tische und Stühle krachend zur Seite flogen, Bier in Strömen auf den Fußboden floß, Püffe, Stöße sowie noch weit handgreiflichere Thätlichkeiten hinüber und herüber flogen und die Vernünftigsten in schleuniger Flucht ihr Heil suchten. Nicht ohne Mühe gelang es, aus dem wirren Knäuel der Recken die tollgewordenen Medien herauszubekommen, welche dann der Experimentator mit kundiger Hand bändigte, bis die hochgehenden Wogen ihrer Gemüthsstimmung sich beruhigten und wieder friedlicher Denkungsart Platz machten.

Doch das Beste, ein farbenreiches Schlußtableau, kam im Dezember, als Pforzheims vereinte Tiger dem berechtigten Drange nicht mehr widerstehen konnten, im Gasthofe „Zur Post“, dem Hauptschauplatz ihrer alltäglichen Frühthätigkeit, einmal ein friedliches abendliches Festmahl zu feiern. Dasselbe verlief ursprünglich, durch verschiedene künstlerische Veranstaltungen verschönt, aufs prächtigste. Herr S., ein ebenso gewandter Tiger wie Hypnotiseur, hatte dem zur Würze des Mahles dienenden Programm eine Vorführung seiner Kunst einverleibt, die ihm nur zu sehr gelingen sollte.

Als nämlich die Herren Tiger sich genugsam durch Speise und Trank auf die ihnen noch bevorstehenden Aufregungen und Anstrengungen vorbereitet und gekräftigt hatten, ließ Herr S. seine Medien aufmarschiren und zeigte deren vielseitige Fähigkeiten und Künste. Eine geraume Weile ging alles ausgezeichnet, bis durch irgend welche jetzt schwer festzustellende Zufälligkeiten der Funke ins Pulverfaß flog und die Tobsuchtsleidenschaft entfesselte. Mit einem der Medien soll, wie gesagt wird, ein Theilnehmer des Mahles, ein holländischer Geschäftsreisender, im Vorzimmer auf eigene Faust experimentirt haben, was schon zu einer beginnenden kleinen Balgerei führte, die von Herrn S. gedämpft wurde. Das war der Vorbote des Sturmes, der sehr bald im Saale selbst mit der medialen Hauptperson zum Ausbruch kam und in seiner Ausdehnung alle bisherigen derartigen Erfahrungen weit übertraf. Da wurden die Medien zu Tigern und manche Tiger sehr bald zu flüchtenden Lämmern, was übrigens unter den obwaltenden Umständen für die meisten das Beste war. So begann denn die große Schlacht, reich an wechselvollen Episoden, das schönste, was Pforzheim der Sport des Hypnotismus an packenden dramatischen Situationen gebracht hat. Im Handumdrehen veränderte sich der Anblick des Schauplatzes. Geballte Fäuste, blutige Nasen, Beulen – das alles war das Werk eines Augenblicks. Stühle krachten und splitterten im Getümmel, Tische flogen zur Seite und wurden umgestoßen. Ungezählte Teller, Flaschen und Gläser sollen da ein unrühmliches Ende gefunden haben und unter der Wucht der die Luft durchsausenden Wurfgeschosse der Kronleuchter bös mitgenommen worden sein. Einen großem schönen Spiegel wollte man retten, nahm ihn herab, versäumte es aber, ihn fortzuschaffen und ließ ihn an die Wand gelehnt stehen. Das Hauptmedium K. ergriff ihn mit beiden Händen und schlug die Vorderfläche dem ihm in den Wurf kommenden Herrn R. auf den Kopf, daß alsbald die Scherben zum Glück nicht des Kopfes, sondern des Glases davon flogen.

Was der Thür zunächst war, ergriff die Flucht. Einer der Herren Tiger soll mit beiden Armen einen Tisch ergriffen und sich mit ihm gegen den Ansturm des Mediums gewehrt haben, das Möbel wie einen Schild benutzend. Unter andern Tischen hatte gleich anfangs hier und da ein weniger wehrhafter Tiger einen zeitweiligen Zufluchtsort gefunden. Bald war der Saal geräumt und K. im alleinigen Besitz des Kampfplatzes. Er durchschritt denselben im Gefühl des Sieges, ergriff da und dort einen Stuhl, hob ihn empor und stauchte mit kräftigem Rucke die Vorderbeine desselben gegen den Boden, daß nur die splitternd abkrachende Lehne in den Händen des Tobenden zurückblieb, welche er alsbald mit Ingrimm wegschleuderte. Auch warf er nach allen, die Miene machten einzudringen, mit Stühlen und anderen schweren Geschossen. Ungehindert durchmaß er, vor dessen riesig gewachsenen Kräften alles scheu zur Seite wich, den Flur und gelangte hinab auf die Straße, fand es aber sehr bald wieder gerathener, den Saal aufzusuchen, von wo er der Küche einen Besuch abstattete. Da Herr S. die Geister, die er gerufen, weder bannen noch meistern konnte, so blieb als letzter Rettungsanker in der Noth nur noch der eiligst herbeigerufene Herr W. übrig. Dieser erschien nachts gegen 1 Uhr auf der Wahlstatt. Er fand K., der indeß schon einmal kurz vorher von einem anderen Herrn erweckt, aber später nochmals in Hypnose und Tobsucht verfallen war, ein großes Küchenmesser schwingend, allein in der Küche vor, wo er bereits zum Zeitvertreib verschiedenes Geschirr umhergeworfen und zerschlagen hatte. Herr W. ging dem Rasenden kühn zu Leibe, packte mit einem Griffe beide Handgelenke desselben und versenkte ihn, nachdem er selbst eine Hand freibekommen hatte, in tiefsten hypnotischen Schlaf. Nunmehr entzog er dem still Daliegenden das Messer und weckte ihn kunstgerecht. Leider kam es jedoch bald darauf durch irgend welche Störung zu nochmaligem Toben und zum Austausch von abermaligen handgreifliche Liebenswürdigkeiten, bis man von anderer Seite den Thäter schließlich beim Rockkragen packte und seinen Kopf dem Strahle der Wasserleitung aussetzte. Das führte denn zur Abkühlung seiner Leidenschaftlichkeit und zu endgültigem Erwachen. Zwar erklärte K. zunächst, noch nicht sehen zu können, da offenbar der hypnotische Zustand noch nicht vollkommen gewichen war. Herr W. hob nunmehr in regelrechter Weise auch das letzte Uebel, und so schloß die berühmte Tigerschlacht in der „Post“. Zu bedauern war ein anderer Festtheilnehmer, den man im Getümmel für ein rasendes Medium angesehen hatte, während doch nur die Geister des Weines aus ihm in allzu lebhafter Sprache redeten: da er sich wiederholt unnütz machte, wurde er nach kurzem Handgemenge vom Kellner unsanft an die frische Luft befördert, bei welcher Gelegenheit auch sein Trommelfell zeitweilig benachtheiligt worden sein soll. Ein anderer Tiger hatte in der Eile der Flucht auf dem Flur ein Fenster eingeschlagen, um sich nach einem andern Raum hin retten zu können. Viel Heftpflaster und Bleiwasser zu kühlenden Umschlägen soll noch in jener Nacht verbraucht worden sein, und wer in den nächsten Tagen mit Beulen, dicker, blauer Nase und schönen Kratzwunden im Gesicht betroffen wurde, der konnte mit Sicherheit darauf rechnen, ohne weiteres nach seinen Erlebnissen aus dem Tigeressen gefragt zu werden. Der angerichtete Schaden wurde auf alle Theilnehmer als eine Kriegssteuer umgelegt, der sich jedermann willig unterwarf; „denn schön war’s doch gewesen,“ sagte mir erst kürzlich einer der Augenzeugen. Vielleicht wäre damals die Tigerschlacht, wenn auch nur in engerem Rahmen, auch noch ins „ewig Weibliche“ übertragen worden, denn auf einem Damenkränzchen sollte, nachdem bereits mit Erfolg das Gedankenlesen geübt worden war, zum Hypnotisiren übergegangen werden. Die schöne, kühne Unternehmerin wurde aber von einer Genossin, welche die Greuel des Tigeressens in der „Post“ mit eigenen Augen hatte schauen müssen, von ihrem sträflichen Beginnen zurückgehalten, so daß der manches Interessante in Aussicht stellende Plan nicht zur Ausführung kommen konnte. Uebrigens wurde nunmehr jedes nicht von beruflicher Seite und nicht zu rein wissenschaftlichen Zwecken ausgeübte Hypnotisiren mit Recht seitens der Behörde unter Strafandrohung gestellt. Jetzt ist’s in Pforzheim von der Sache still geworden, oder es wird höchstens noch in der Erinnerung an die vergossenen schönen Ereignisse geschwelgt.

Unser Bild von Pforzheims Erfahrungen auf diesem Gebiete würde indeß ein unvollständiges sein, wenn wir nicht auch des wiederholten strafenden Einschreitens der Behörde gedenken wollten. Das Bezirksamt erließ von Anfang an gegen solche, die in [508] Wirthshäusern durch hypnotische Versuche Störung verursacht hatten, „wegen groben Unfuges“ Strafverfügungen in Höhe von je 20 Mark. Es mag sich das von Anfang Juni bis Ende Dezember 1886 wohl 6–8 mal verschiedenen Anstiftern gegenüber wiederholt haben. In dem hervorragendsten Falle dieser Art erkannte das Schöffengericht gegen zwei Ausübende auf eine Strafe von 40 beziehungsweise 20 Mark. Am theuersten kam der in Brötzingen erlebte Fall seinem Anstifter, einem jungen Metzger, zu stehen, nachdem derselbe noch im Mai 1887 das Opfer des bereits erzählten Tobsuchtsanfalles abermals hypnotisirt hatte. Dasselbe wollte gerade ein Glas Wein zum Munde führen, als den Thäter Lust zu neuen Streichen überkam. Durch Anstarren und Streichen machte er jenen starr und hypnotisirt, welcher Zustand mit achtzehnstündigem Schlaf des Opfers endete. Einen ihm zuerkannten Strafauftrag in Höhe von 20 Mark nahm der Schuldige nicht an. Das Schöffengericht in Pforzheim erkannte auf das Vorhandensein von Freiheitsberaubung und fahrlässiger Körperverletzung und verwies den Fall vor die Strafkammer zu Karlsruhe. Hier wurde gegen den Thäter auf eine Gefängnisstrafe von 14 Tagen erkannt. – Soweit unser Berichterstatter!

Mögen diese Zeilen dazu beitragen, unsere Leser über die Gefahren der Laienhypnose zu belehren und sie zur Selbsthilfe gegen dieselben dort zu veranlassen, wo gesetzliche Bestimmungen dem gefährlichen Treiben keinen Einhalt gebieten können.

  1. Eduard Trewendt, Breslau 1888.
  2. Vergl. auch den Artikel „Der Gesichtssinn eines Hypnotisirten“, Jahrg. 1888, S. 35.
  3. „Der Hypnotismus mit besonderer Berücksichtigung seiner klinischen und forensischen Bedeutung“. Wien, 1887.
  4. Diese Meinung vertritt auch der berühmte Irrenarzt Prof. Dr. von Krafft-Ebbing in seiner soeben erschienenen Schrift „Eine experimentelle Studie auf dem Gebiete des Hypnotismus“ (Stuttgart, Ferdinand Enke.)
  5. Sallis, „Der thierische Magnetismus und seine Genese“. Darwinische Schriften. Band XVI. 1887.
  6. Sein Hauptnebenbuhler war damals der Magnetiseur „Theo“ Böllert.
  7. Im Sommer des Jahres 1887 hatte dieser Fall noch ein gerichtliches Nachspiel, wovon weiter unten die Rede sein soll.