Zum Inhalt springen

Der Herr Referendarius

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Herr Referendarius
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–31, S. 365–369, 381–384, 393–396, 409–412, 421–428
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[365]
Der Herr Referendarius.
Erzählung vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“




I.

Es war im Frühling des Jahres 1843 oder 1844 – genau weiß ich die Jahreszahl nicht mehr – als eines Nachmittags in der Kaffeestube der Cranzler’schen Conditorei unter den Linden zu Berlin ein fremder junger Mann die Aufmerksamkeit der Habitués des Kaffee auf sich zog. Er war ein hübscher Mensch, mit einem offenen Gesichte, lebhaften Augen, raschem und entschlossenem Wesen und feinen Manieren. Seine Kleidung war nach der neuesten Mode. An seinen Fingern glänzten ein paar Brillanten von seltener Größe und von dem reinsten Wasser. Er fiel schon gleich bei seinem Eintreten in das Zimmer auf. Die Linden „unter den Linden“ zu Berlin blüheten zwar schon in ihrer grauen und verkümmerten Berliner Weise; aber es war den paar warmen Tagen, welche diese Blüthen aus den schon vor dem Aufknospen ergrauten Knospen hervorgetrieben hatten, ein kalter, regnigter Tag gefolgt; die Gardelieutenants hatten deshalb auf ihr Privilegium, vor dem Cranzler’schen Hause auf dem Trottoir ihren Kaffee zu verzehren und dabei mit der nur ihnen eigenthümlichen Grazie ihre Füße über Stuhllehnen baumeln zu lassen, für heute verzichten müssen und dadurch ihren Tanten, Schwestern und Cousinen manche Freude geraubt, dem Berliner Philister aber auch manchen Aerger erspart. Sie saßen in dem Hause, in dem abgeschlossenen Zimmer, und weil dort kein Mensch die Heldenthat des Baumelns der Füße sah und bewunderte, so saßen sie beinahe so ordentlich, wie andere ordentliche Leute. Sie lärmten und lachten auch nicht laut; manche von ihnen gähnten aber darum desto lauter. Da trat der junge Fremde in das Zimmer. Sie hatten, wie gewöhnlich, den Eingang schon gleich vorn an der Thüre dicht besetzt. Jeder Andere, der eintrat, mußte einen Umweg nehmen und hinter ihren Stühlen her an der Wand sich vorbeidrängen. Der Fremde that nicht so. Er sah sich, während er die Thür noch in der Hand hielt, die Gruppe der Herren mit den bunten Röcken, langen Schnurrbärten und langen Schleppsäbeln, zwar nicht verwundert, im Gegentheile so an, als wenn er sagen wollte: er finde Alles gerade so, wie er es sich gedacht, dabei aber mit einem fein und herausfordernd lächelnden Blicke. Dann machte er ruhig die Thür hinter sich zu, und schob darauf ohne Weiteres, mit einer Leichtigkeit, als wenn er einen Hut aufnehme, den ersten Stuhl, der ihm im Wege stand, mit dem darauf sitzenden Dragonerlieutenant, sammt dessen langem Schnurrbarte und langem Schleppsäbel auf die Seite.

„Erlauben Sie, mein Herr,“ sagte er kurz, in einem etwas fremd klingenden Dialekt.

Die Officiere waren es jetzt, die verwundert aufsahen.

„Unverschämt! Verdammt!“ glitt über einige Lippen.

Der Fremde bekümmerte sich nicht darum. Er schritt, ohne sich umzusehen, an den Tisch, hinter welchem die hübschen Aufwärterinnen des Cranzler’schen Kaffeehauses standen. – Damals herrschte in den Kaffeehäusern, Restaurants und Wein- und Bierstuben Berlins noch soviel Sitte, daß weibliche Aufwartung darin keine Gefahr brachte und keine Gefahr lief; seit einigen Jahren soll es anders geworden sein, und die Regierung deshalb für ausschließlich männliche Aufwartung haben sorgen müssen.

„Kaffee,“ rief der junge Mann leicht einer der Aufwärterinnen zu.

Mit schnellem Blick hatte er die hübscheste von ihnen getroffen. Er setzte sich an einen der kleinen Marmortische, die zunächst bei der Gruppe der Officiere standen. Und, was diese in dem Zimmer nicht thaten, das that er jetzt. Er zog einen zweiten Stuhl heran und hing über dessen Lehne seine Beine, mit vollkommen so viel Leichtigkeit und Gewandtheit, als wenn er seit Jahren Officier in der Garde gewesen und seinen Kaffee bei Cranzler unter den Linden getrunken habe. Die Officiere sahen sich nicht mehr verwundert, aber etwas verdutzt an; einige strichen ingrimmig die Schnurrbärte.

„Teufel! Camerad! – Was meint Ihr! Es ist arg!“

„Es amüsirt mich.“

„Aber, zum Teufel –!“

Eine Aufwärterin brachte dem Fremden den Kaffee. Aber es war nicht die, bei der er ihn bestellt hatte.

„Habe ich bei Ihnen bestellt?“ fragte der Fremde.

„Nein, mein Herr, aber –“

„Ich will meinen Kaffee von der, bei der ich ihn bestellt habe.“

Das Mädchen mußte zurückkehren. Jene hübsche, der er zugerufen, brachte ihm den Kaffee. Er legte ihr einen ungarischen Ducaten auf die Platte. Sie nahm Geld aus ihrer Tasche, zählte drei Thaler und zwei Groschen ab, um sie ihm herauszugeben. Jetzt sah auch er verwundert auf.

„Was soll das?“

„Der Kaffee kostet drei Groschen.“

„Nun ja!“

„Sie haben mir einen Ducaten gegeben.“

„Nun ja!“

„Sie bekommen also drei Thaler zwei Groschen zurück.“

„Ich bekomme nichts zurück; es ist für Sie.“

Das hübsche Mädchen wurde feuerroth. Sie wollte noch etwas sagen; aber er hatte rasch seinen Kaffee ausgetrunken, [366] stand auf und entfernte sich, wieder mitten durch die Gruppe der Officiere. Sie hatten seinen so schnellen Aufbruch wohl nicht erwartet; Keiner hielt ihn auf; sie sahen ihm nur überrascht nach.

„Was ist das für ein Kerl?“

„Gott weiß es.“

„Hat ihn noch Keiner gesehen?“

„Keiner.“

„Ein frecher Bursch.“

„Er weiß vielleicht, daß er es hier sein darf.“

„Was soll das heißen?“

„Daß er hier nur hinausgeworfen werden kann, und das mag ihm schon oft passirt sein.“

De basse extraction, meinen Sie, Graf?“

„Irgend ein entlaufener Kellner oder Croupier.“

„Der Mensch hatte Manieren.“

„Die hat er den Leuten abgesehen, von denen er Trinkgeld erhielt.“

„Habt Ihr die kostbaren Brillanten gesehen, die er an den Fingern trug?“

„Böhmische Steine.“

„Und,“ versicherte wichtig ein Lieutenant, der kürzlich von einer Reise aus Frankreich zurückgekehrt war, „seine Kleidung kommt direct aus Paris; ich kenne den Schnitt.“

„Aus Paris kann mancher Narr mit einem neuen Rock kommen,“ sagte ein nicht mehr ganz junger Rittmeister von den Kürassieren.

„Aber, meine Herren, ein Abenteurer, ein Industrieritter schenkt keinen Ducaten fort.“

„Jeannette, hat er Ihnen wirklich einen Ducaten gegeben?“

„Einen ganz nagelneuen, Herr Lieutenant,“ rief die hocherfreute Aufwärterin; „von diesem Jahre. Sehen Sie nur, wie er glänzt!“

„In der That. Auf Ehre!“

„Pah, auch Rechenpfennige glänzen.“

„Lassen Sie einmal sehen, Camerad; in Paris habe ich gelernt –“

„Ei, zum Teufel,“ entschied grob der Rittmeister, „man braucht nicht nach Paris zu reisen, um einen falschen Ducaten von einem echten zu unterscheiden. Der Ducaten ist echt.“

Der Rittmeister verstand sich darauf; er war ein guter Haushalter; Niemand widersprach ihm. Dagegen erhob sich jetzt ein anderes Bedenken.

„Es wäre ärgerlich, wenn er kein Aventurier wäre. Er war keck, herausfordernd; man hätte ihm das nicht dürfen hingehen lassen.“

„Es kann ja ein reicher Kaufmannssohn sein.“

„Die haben keine Manieren.“

„Und sind geizig in Kleinigkeiten.“

Der Rittmeister von den Kürassieren entschied auch hier.

„Ist etwas an ihm, so wird er morgen schon wiederkommen. Ihr könnt ihm dann auf den Zahn fühlen.“

Der Fremde kam wirklich am folgenden Tage wieder. Es war wieder schlechtes Wetter; die Herren saßen im Zimmer und warteten auf ihn. Einige sahen sogar erwartend durch das Fenster auf die Straße hinaus.

„Da kommt er! Aber, pah, in einer Droschke!“

„In einer alten, ordinären Straßendroschke? Ich sagte es ja, ein entlaufener Kellner oder ein Croupier, der falsch spielen kann.“

„Aber, zum Teufel, seht, er gibt dem Kutscher einen Thaler; der Kerl will ihm herausgeben. Er stößt beinahe mit Abscheu die Hand zurück, als wenn sie ihm zu schmierig sei oder nach Pferdemist röche. Ein verdammter Kerl!“

„So fühlt ihm auf den Zahn,“ sagte der Rittmeister.

Der Officier, der am gestrigen Tage von dem Fremden wie eine Feder auf die Seite geschoben worden war, setzte sich unmittelbar vor die Thür. Diese, mit einem Glasfenster versehen, durch das man von außen in das Zimmer sehen kann, flog rasch und kräftig auf; der Officier lag mit seinem Stuhle und seinem langen Säbel am Boden. In der Thür stand der Fremde. Der Officier sprang auf.

„Mein Herr –!“

„Was beliebt?“

„Werden Sie mir Satisfaclion geben?“

„Gewiß.“

Können Sie mir Satisfaction geben?“ sagte der Officier, das erste Wort mißtrauisch betonend.

Der Fremde zog statt der Antwort eine Karte hervor, die er dem Officier überreichte.

„Graf Zilly?“

„Wie Sie sehen.“

„Aus Tyrol?“

„Aus dem italienischen Tyrol.“

„Sie wohnen?“

„Ich stehe Ihnen sogleich hier zu Befehl, wenn Sie mir nur erlauben wollen –“

„Ha, eine Bedingung –“

„Vorher meinen Kaffee zu trinken.“

„Kaffee,“ rief er der hübschen Aufwärterin von gestern zu, die etwas verlegen nicht gewußt hatte, ob sie sich vordrängen oder zurückziehen solle. Dann setzte er sich wieder an den kleinen Marmortisch, und die hübsche Aufwärterin, keine andere brachte ihm den Kaffee. Er legte wiederum einen Ducaten auf die Platte.

Das Mädchen sah ihn erröthend fragend an.

„Für Sie, mein Kind.“

„Aber, mein Herr –“

„Für Sie.“

Er trank seinen Kaffee aus und trat zu dem Officier, dem er seine Karte gegeben hatte.

„Ich bin zu Ihren Befehlen, mein Herr!“ Zugleich wandte er sich an die übrigen Officiere. „Ich bin hier fremd, meine Herren, und erst seit gestern hier. Wäre Einer von Ihnen so gütig, mein Secundant zu sein?“

Die jüngeren Officiere blickten unentschlossen ihren Cameraden an.

„Ich werde mir ein Vergnügen daraus machen,“ sagte der Rittmeister von den Kürassieren.

„Ich bin Ihnen dankbar, mein Herr. Sie werden Alles arrangiren?“

„Hätten Sie hinsichtlich der Waffen einen Wunsch?“ fragte der Rittmeister.

„Mir ist jede Waffe gleich.“

Die Officiere beriethen sich ein paar Minuten miteinander; darauf trat der Rittmeister zu dem Grafen Zilly zurück.

„Sie nehmen Pistolen an?“

„Gewiß.“

„Zehn Schritt Barriere?“

„Einverstanden.“

„Wir können sogleich hinausfahren?“

„Auf der Stelle.“

Ein Fähndrich mußte bei dem Fuhrherrn Schultze in Nr. 15. unter den Linden die erforderlichen Wagen bestellen. In einer Viertelstunde waren diese da, und man fuhr – zur Hasenheide.

Die Hasenheide bei Berlin, jene unendliche Heide, bestehend aus dem reinsten märkischen Sande und den verkrüppeltesten preußischen Fichten, zu der man aus der großen Friedrichsstraße, an der Victoria auf dem Belleallianceplatze vorbei, hingelangt, jene Heide mit dem ominösen Namen ist der Schauplatz der Revuen, Manöver und anderen militärischen Uebungen der preußischen Garden, der Selbstmorde der Berliner Bummler und der Duelle der Officiere.

Dorthin fuhren die Herren. Hinter einem Haufen grauer Fichten, nicht weit von dem Schießstande der Artillerie, wurde der Kampfplatz ausgewählt und abgemessen. Die Pistolen, von den Officieren mitgebracht, wurden geladen und den Duellanten übergeben. Die Duellanten stellten sich auf die Mensur. Die Secundanten commandirten: Los! Sie schossen ein Tempo, fast mit Hand und Auge, und standen Beide noch fest, nachdem sie geschossen hatten. Wie hätten sie auch wanken sollen? Dem Grafen Zilly war nur der Brustlatz seines Rockes durchgeschossen, und dem Officier war nur die Mütze durchbohrt und eine Handvoll Haare auf dem Kopfe versengt.

„Teufel, das waren ein paar magnifique Schüsse!“

„Ich denke, damit könnten die Herren zufrieden sein,“ erklärte der Rittmeister.

„Ich meinerseits gern,“ sagte der Graf.

„Dann auch Du, Bruder!“ riefen dem Officier seine Cameraden zu.

„Wenn Ihr meint, daß ich darf.“

„Du darfst, Du mußt; reicht Euch die Hände.“

Alle reichten einander die Hände.

„Ah, meine Herren, und nun eine Bitte,“ sagte der Graf [367] Zilly. „Der heutige Zug darf uns nicht mehr getrennt sehen. Ihr bester Traiteur ist ja wohl Jagor unter den Linden. Er hat auch den besten Lafitte und den feinsten Champagner. Erzeigen Sie mir das Vergnügen?“

„Zu Jagor! zu Jagor!“ riefen Alle.

Man fuhr zu Jagor unter den Linden. Erst lange nach Mitternacht trennten sie sich.

„Ein capitaler Kerl, dieser Graf Zilly!“

„Delicate Weine!“

„Alles deliciös, Herr Bruder! Weine, Essen, Alles. Und großartig, verschwenderisch!“

„Der Kerl muß Geld wie Heu haben.“

„Und er hat sich brav geschossen,“ setzte der Rittmeister noch hinzu.

„Ja, ja, die Zilly’s müssen von einem guten, alten Hause sein,“ bemerkte ein Lieutenant, der selbst aus einem guten, alten westphälischen Hause war, und manchmal mit souveräner Verachtung auf seine Cameraden von dem jungen und zweifelhaften preußischen Officiersadel herabsah.

Der Graf Zilly kam von nun an alle Tage zu Cranzler, bezahlte seine Droschke mit einem Thaler und seinen Kaffee an die hübsche Kellnerin mit einem Ducaten, und verkehrte mit den Gardeofficieren, also mit der Crême der guten jüngeren Gesellschaft Berlins, die sich immer mehr überzeugten, daß er nicht nur sehr reich, sondern auch von gutem, altem Adel sei, denn er that es ihnen fast Allen zuvor im Fechten, Reiten, Fahren, Trinken und ähnlichen Dingen, und er konnte auch, indem es unterdeß besseres Wetter geworden war, auf dem Trottoir unter der Marquise vor dem Cranzler’schen Hause seine Beine über der Stuhllehne eben so graziös hin- und herbaumeln, wie nur je ein Officier von der Garde.




II.

Auf der Polizei in Berlin schien man jedoch über den Grafen Zilly aus dem welschen Tyrol nicht ganz dieselben Ansichten zu haben, wie die jungen Gardeofficiere bei Cranzler sie hatten. Zu dem Polizeidirector von Berlin, dem Chef der dortigen Criminal- und dahin einschlagenden Sicherheitspolizei, kam eines Tages ein Kammergerichtsreferendarius, ein junger Mann, welcher hoffte, im Polizeifache eine bessere Carriere zu machen, als in der Justizpartie, und der sich daher zu seiner Ausbildung an das Polizeipräsidium in Berlin hatte versetzen lassen. Der junge Mann hatte, wie jeder Referendarius, der eine Carrière machen will, einen großen Diensteifer.

„Herr Polizeidirector, haben Sie schon von einem Individuum Notiz genommen, das sich Graf Zilly aus Tyrol nennt?“

„Ja, mein lieber Referendarius.“

„Kein Mensch weiß, wovon er lebt.“

„Ich denke, von seinem Gelde.“

„Gewiß! aber woher hat er es? das ist die Frage.“

„Ich denke, von seinen Gütern.“

„Wissen Sie das gewiß?“

„Ich habe mich nicht darum bekümmert. So lange die Leute hier nicht morden, stehlen oder betrügen, gehen sie mich nichts an.“

„Aber er gibt viel Geld aus.“

„Ein Zeichen, daß er viel hat.“

„Und dabei logirt er nicht einmal in einem Hotel, sondern wohnt obscur chambre garnie da hinten in der Jüdenstraße.“

„Er hat die Freiheit, zu wohnen, wo er will.“

„Und dann thut er hier nichts.“

„Sie sagen ja selbst, daß er viel Geld ausgibt?“

„Dagegen drängt er sich an die jungen Officiere von der Garde, und verleitet sie zu Ausgaben –“

„Die er meist selbst bestreitet.“

„Und das Auffallendste ist, daß er jeden Tag bei Cranzler in einer Droschke vorfährt und dem Kutscher einen Thaler gibt, und dann seinen Kaffee mit einem Ducaten bezahlt. Sie müssen zugeben, daß das sehr verdächtig erscheint.“

„Finden Sie das?“

„Gewiß, und wenn Sie nichts dagegen hätten, so möchte ich ihm wohl strenge aufpassen.“

„Ich habe nichts dagegen.“

„Ich habe vollkommene Vollmacht?“

„Vollkommen, jedoch nur, vergessen Sie das nicht, lieber Referendarius, nur sich selber, nicht aber die Polizei zu compromittiren. Ich erhalte wohl Nachricht von Ihnen.“

Der junge Referendarius ging zufrieden. Er erkundigte sich bei der österreichischen Gesandtschaft, ob man einen Grafen Zilly aus dem welschen Tyrol kenne. Die Familie war bekannt, angesehen und weitverzweigt; aber persönlich kannte man die einzelnen Mitglieder nicht. Auch den in Berlin weilenden angeblichen Grafen Zilly nicht; er hatte sich nicht präsentirt, nicht einmal seinen Paß vorzeigen lassen. Das war allerdings bedenklich. Der Referendarius erkundigte sich auf der Post. Er ließ alle Register der angekommenen Briefe und Pakete nachschlagen. Kein Brief, kein Paket, also auch kein Geld war für einen Grafen Zilly angekommen; das war nicht minder bedenklich. Er erkundigte sich nun auch in dem Hause, in welchem der Graf wohnte. Er bewohnte dort, hinten in der dunklen, schmutzigen Jüdenstraße eine Stube mit Alkoven, nichts mehr und Beide klein und bescheiden möblirt, und daher für einen bescheidenen Miethzins, den er vorausbezahlt hatte. Dabei hatte er keinen Bedienten, die Magd im Hause besorgte ihm die Aufwartung. Auch das war Alles sehr auffallend, gegenüber seinen großen Ausgaben außer dem Hause. Freilich war er andererseits nie bei Tage und auch nicht einmal immer des Nachts zu Hause, und niemals hatte man einen Fremden oder sonst Besuch bei ihm gesehen; aber auch diese Umstände schien der nachforschende Referendarius bei der ganzen zwecklosen herumtreiberischen Lebensweise des angeblichen jungen Grafen als eben so viele Verdachtsgründe ansehen zu müssen. Indeß reichte Alles, war er erfahren hatte, zu einem weiteren, unmittelbaren Verfahren gegen den Fremden nicht aus. Gleichwohl hatte der Referendarius eine nicht zu beseitigende Ahnung – er meinte manchmal: Ueberzeugung –, daß er es mit einem Industrieritter zu thun habe. Er setzte deshalb seine Nachforschungen unverdrossen und nur mit vermehrtem Eifer fort. Dieser sollte nicht ohne Erfolg bleiben.

Bei Tage konnte er dem Fremden nicht folgen. Dieser war dann nur in der Gesellschaft von Gardeofficieren und von anderen mit diesen verkehrenden jungen Leuten aus der ersten Gesellschaft. Die aber waren überall, wo es, und auf Wegen, die viel Geld kosteten, mehr als der arme Referendarius besaß; er riskirte also, wenn er ihnen folgen und aufpassen wollte, einen leeren Beutel und gar Ohrfeigen. Er hielt sich daher des Nachts in der Nähe der Wohnung des fremden Grafen auf. Nicht lange vergeblich. Schon in der vierten oder fünften Nacht sah er aus seinem Versteck einen Menschen, der von dem Jüdenhofe her leise bis in die Gegend des Hauses schlich, sorgfältig den Schein der Gaslaternen vermied, vor dem Hause stehen blieb, nach den Fenstern des Grafen hinaufblickte und sich dann hinter dem Kellerhalse des gegenüberliegenden Hauses versteckte. Der Mann wartete lange; der Referendarius wartete ebenfalls lange. Endlich, gegen ein Uhr, ließen sich Schritte von der Königsstraße her vernehmen. Es waren gleichfalls leise Schritte; der Referendarius dachte schon an einen Dieb, der in der Geisterstunde seine neuen Nachschlüssel probiren wollte; aber er erkannte den Grafen Zilly.

Was schleicht der Mensch heute? er tritt doch sonst laut und brüsk genug auf, wenn er des Nachts durch die Straße geht; das hat etwas zu bedeuten.

Vor seiner Wohnung blieb der Graf auf der Straße stehen. Er sah sich, wie der Referendarius im Scheine der Gaslaternen gewahren konnte, sorgsam nach allen Seiten um. Gleich darauf kam der Mann, der sich drüben hinter dem Kellerhalse verborgen hatte, aus seinem Versteck hervor. Der Referendarius erkannte jetzt in dem Lichte der Laternen eine kleine gedrungene Gestalt.

„Hast Du mitgebracht?“ fragte hastig der junge Graf.

„Wieder so spät! Jede Nacht solche Wirthschaft!“ erwiderte der Mensch.

„Zum Teufel, antworte, oder besser, gib her.“

„Hier, aber es ist das letzte.“

„Du bist ein Narr.“

Der Referendarius sah, wie der Kleine dem Grafen etwas übergab. Er konnte es für eine große schwere Börse halten. Er glaubte auch einen feinen, leisen Klang, wie von Gold oder Silber zu hören.

„Gute Nacht!“ sagte darauf der Graf.

„Ich habe noch etwas beizufügen.“

„Viel? Ich bin schläfrig.“

[368] „Ich sprach eben in vollem Ernst. Bei Gott, dies war das Letzte. Der Alte macht Schwierigkeiten.“

„Das thut er immer. Hast Du sonst etwas?“

„Er ist wüthend, und sprach von der Polizei. Er wollte der Geschichte endlich ein Ende machen.“

„Er ist ein Narr, wie Du. In drei Tagen erwarte ich Dich wieder. Gute Nacht!“

Er ging zu seiner Wohnung. Den Hausschlüssel mußte er bei sich führen. Er hatte schon die HausthÜr aufgeschlossen, und war in dem Innern des Hauses verschwunden.

Der Referendarius hatte seinen Plan gemacht. Dem Grafen hatte er nicht zu folgen. In dessen Wohnung durfte er auf nichts Verdächtigendes oder Ueberführendes rechnen; an dessen Körper konnte er nur das an sich unverdächtige Geld finden. Aber der kleine, fremde Mensch, warum schlich er um Mitternacht, warum verbarg er sich, warum verkehrte er heimlich auf der Straße mit dem jungen Manne? Wer war er nur? In welcher Verbindung stand er mit dem Grafen? Bei ihm mußte er verdächtige und auffallende Sachen finden, und wenn er nichts fand, schon die Person des Menschen war eine Aufklärung für den Referendarius.

Der Mensch war langsam und dem Anscheine nach unbefangen in der Richtung zum Jüdenhofe fortgegangen. Wie ein Blitz, eben so schnell und eben so unhörbar, fuhr der Referendarius aus seinem Verstecke hervor, hinter ihm her. Er hatte ihn schon beinahe erreicht; aber auch die Polizei kann fallen. Der Referendarius fiel, und als er wieder aufstand, war der Mensch mit unglaublicher Schnelligkeit verschwunden. Constabler gab es zu jener Zeit in Berlin noch nicht, und die Nachtwächter schliefen gern. Indessen hatten die Polizeibeamten in Berlin damals desto bessere Augen und desto mehr Glück. Von dem Polizeidirector waren Thatsachen bekannt, die an das Unglaubliche grenzten, wie er Personen, die er kaum mit einem halben Blicke gesehen, nach Jahren wieder erkannt hatte, und wie andererseits Verbrecher, deren Ergreifung man in das Reich der Unmöglichkeit versetzt, ihm plötzlich, manchmal schon in der nächsten Stunde, wie durch ein Wunder in die Arme gelaufen waren. Auch der Referendarius wußte das, und indem er Carriere machen wollte, durfte er seinem Vorgesetzten nicht nachstehen. Während er fiel, hatte sich der Verfolgte nach ihm umgesehen, kaum mit einem halben Blicke. Eben so flüchtig nur hatte der Referendarius das sich umwendende, gerade von einem Laternenstrahl getroffene Gesicht gesehen. Allein das war ihm genug. Am folgenden Morgen stellte der Referendarius sich am Ende der Mulaksgasse auf, welche Gasse täglich von einigen Tausend bestrafter und unbestrafter Diebe, entlassener oder entwichener Sträflinge, Polizeiobservaten, liederlicher Dirnen und ähnlicher Individuen betreten wird. Er musterte Alles, was die Straße passirte. Er hatte noch nicht lange gestanden, als aus einem verdächtig genug aussehenden Hause ein kleiner, gedrungener Kerl mit einem vollständig listigen Spitzbubengesichte heraustrat, vorsichtig in der Straße umherspähete, sichtlich erschrak, als er den Referendarius erblickte, und schnell in das Haus zurücktreten wollte. Aber er war dem scharfen Auge des Polizeibeamten nicht entgangen.

„Halt da!“ donnerte ihm der Referendarius zu.

Der Mensch stand zitternd. Der Referendarius trat an ihn heran und musterte ihn.

„Bei Gott, dasselbe Gesicht! – Wie heißt Du?“

„Lude Stähler, Herr Referendarius,“ antwortete eine heisere Zuchthausstimme.

„Auch die Stimme! – Mensch, woher kennst Du mich?“

„Der Herr Referendarius sind ja bei der Criminalpolizei.“

„Wo bist Du heute Nacht gewesen?“

„Heute Nacht, mein Herr Referendarius? Sprechen Sie von heute Nacht?“

„Ja, Bursch, und ich verlange schnelle Antwort; Du willst Zeit gewinnen, um mich zu belügen.“

Der Mensch war ängstlich geworden; er schien in der That sich auf Lügen vorzubereiten.

„Gott bewahre mich, Herr Referendarius, ich belüge meine hohe Obrigkeit nie. Ich weiß wohl, daß das dem beschränkten Unterthanenverstande verboten ist; ich kenne die Gesetze.“

„Schurke, wirst Du antworten!“

„Mein Herr Referendarius, ich bin ein ehrlicher Mensch, und mit Ihrer Erlaubniß war ich heute Nacht ruhig in meiner Schlafstelle hier in dem Hause, vor welchem wir stehen, auf dem Hofe rechts, drei Treppen nach hinten; Sie können dort fragen.“

„Und um welche Stunde bist Du nach Hause gekommen?“

„Das kann so nach Mitternacht gewesen sein.“

„Ha, und wo warst Du so lange gewesen?“

„Wo ich gewesen war, mein hochgeehrter Herr Referendarius, das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Ich war spazieren gegangen vor dem Landsberger und Prenzlauer Thor, in dem Friedrichshain, Sie wissen, der noch erst ein Hain werden soll. Der Abend war schön, und man hört dort Nachtigallen –.“

„Erzähle ordentlich, Mensch. Auf welchem Wege kehrtest Du in die Stadt und zu Deiner Wohnung zurück?“

„Wohnung, Herr Referendarius? Diesen Artikel führe ich nicht. Ich erfreue mich nur einer Schlafstelle. In diese kehrte ich zurück, indem ich durch das Prenzlauer Thor wieder in die Stadt ging, die Prenzlauer Straße durchschritt, in die Alexanderstraße kam, dann auf den Alexanderplatz, dann in die Königsstraße –“

„Mensch, Du belügst mich. Um in Deine Schlafstelle zu gelangen, müßtest Du gerade die entgegengesetzte Richtung von dem Alexanderplatz einschlagen, und in die Königsstraße konntest Du gar nicht kommen.“

„Sehr wahr bemerkt, Herr Referendarius, aber die Nacht war warm, und am Alexanderplatz und in der Königsstraße halten die reichen Herrschaften in Prachtkäfigen Nachtigallen, und ich wollte vergleichen, welche besser schlügen, diese in den goldenen Käfigen oder jene in dem nackten Friedrichshain.“

„Schon gut. Wohin gingst Du aus der Königsstraße.?“

„In die Jüdenstraße, geehrter Herr Referendarius.“

„Ha, in die Jüdenstraße!“

Die Augen des Referendarius leuchteten. Die listigen Augen des Menschen sahen es; seine Aengstlichkeit verlor sich.

„Wie ich die Ehre habe, Ihnen zu sagen.“

„Was wolltest Du da?“

„Nach Hause, nach meiner Schlafstelle gehen.“

„Durch die Jüdenstraße?“

„Allerdings, von da durch die Spandauerstraßr, über den Haakschen Markt –“

„Hast Du Dich in der Jüdenstraße aufgehalten?“

„Ich habe bloß nach Nachtigallen gehorcht.“

„Hast Du dort Jemanden gesprochen?“

„Keinen Menschen.“

„Bursch, Du lügst. Ich sah Dich dort.“

„Ich erinnere mich der Ehre nicht.“

„Du hieltest Dich eine Zeit lang versteckt, dann sprachest Du mit einem jungen Menschen.“

„Es muß ein erhabener Irrthum von Ihnen sein.“

„Kein Irrthum; ich habe Dich gesehen, erkannt. Du gabst ihm Geld –“

„Herr Refendarius, ich, Geld? Ich bitte, beleidigen Sie mich nicht.“

„Es wird sich finden. Du mußt mit mir zum Aufbewahrungsarrest; dort werde ich die Wahrheit schon von Dir herausbekommen.“

„Herr Referendarius, wenn ich denn nun wirklich einem jungen Menschen Geld gegeben hätte?“

„Du willst also eingestehen?“

„Wäre es denn ein Verbrechen?“

„Gestehst Du?“

„Wenn ich wüßte, daß Sie mich gleich in den Criminalarrest bringen wollten! In dem Aufbewahrungsarrest wird man von den Herren Polizeicommissarien manchmal vergessen; selbst von dem Hausvater, der Einem kein Essen hineinschickt, und was die Reinlichkeit betrifft, Herr Referendarius – ich bin ein sehr reinlicher Mensch. Kurz, man ist dort nicht Fisch und nicht Fleisch –“

„Genug des Redens. Du kommst mit mir.“

Der Referendarius glaubte in der That, es sei des Redens und auch des Beweises genug. Der Mensch, ein oft bestrafter Dieb, war von ihm wieder erkannt worden; er hatte geradehin zugestanden, daß er in der Jüdenstraße gewesen; er hatte halb und halb zugestanden, daß er dort Jemandem Geld gegeben; er hatte dabei so viele Verwirrung gezeigt; das reichte aus. Nach Näherem, direct nach dem angeblichen Grafen Zilly zu fragen, wäre gegen alle Vorsicht des Criminalpolizeibeamten gewesen.

[381] Der Referendarius nahm den Menschen mit sich zum Molkenmarkte Nr. 2., wo bekanntlich neben dem Criminalgerichte das Berliner Polizeipräsidium sich befindet, und machte dort einen Bericht, mit welchem er „den Ludwig Stähler, ein mehrmals bestraftes Subject, welches er unter beschwerenden Umständen um Mitternacht auf der Straße angetroffen, als eines noch näher zu ermittelnden Verbrechens verdächtig.“ zum „Aufbewahrungsarrest“ in die Stadtvogtei ablieferte. Dann wartete er, bis Nachmittags die Thürme von Berlin vier Uhr schlugen, und begab sich nun zu Cranzler unter den Linden. Vor dem Hause des Letzteren saßen um diese Stunde an den kleinen Marmortischen unter der weiß- und rothgestreiften Marquise die Gardeofficiere und tranken in ihrer Weise Kaffee. In ihrer Mitte befand sich, wie gewöhnlich, der Graf Zilly; er allein hatte seine Beine nicht in der Höhe hängen; er schien überhaupt nachdenklich zu sein, selbst seine Gefährten hatten dies bemerkt.

„Zum Teufel, Zilly, was fehlt Dir? Du bist so pensiv!“

„Mir fehlt nichts.“

„Geld wenigstens kann Dir nicht fehlen; Du wirfst es mit Händen fort; sonst, Herr Bruder, Du weißt, ständen unsere Börsen zu Dienst.“

„Ich bin überzeugt,“ lächelte der Graf.

„Ich weiß, was ihm fehlt,“ rief ein Zweiter, „er ist verliebt, in die kleine Jeannette, die jeden Tag so hold verschämt erröthend den Ducaten für ihren Kaffee von ihm annimmt.“

Die kleine Jeannette, die gerade im offenen Fenster stand, erröthete mit einem hold verschämten Blicke nach dem schönen, reichen und vornehmen jungen Manne. Aber der Graf lächelte auch diesmal nur.

„Er hat lange kein Abenteuer gehabt und langweilt sich,“ sagte ein Dritter. „Aber beruhige Dich, Graf, heute ist Concert im Hofjäger, das erste große Frühlingsconcert; da wirst Du die Elite der Berliner Bürgertöchter sehen, hübsche Personen, und verliebt in jede Uniform bis über die Ohren, von der Geheimerathstochter an bis zur Wäscherin; jene am meisten, denn sie bildet sich ein, sie könne doch noch einmal gnädige Frau werden.“

Ein Vierter rief: „Alle Teufel, Ihr Herren, es ist schon vier; wir müssen aufbrechen, denn das Concert hat bereits seinen Anfang genommen.“

Die Gardeofficiere und der Graf Zilly brachen auf. Letzterer zog seine Börse hervor, nahm einen Ducaten heraus, reichte ihn der erröthenden hübschen Jeannette durch das Fenster, und wollte dann seinen Arm in den eines Officiers legen. In diesem Augenblicke trat der Referendarius an ihn heran, der eine Weile seitab gesessen hatte. Er war sehr höflich.

„Mein Herr, darf ich um Ihren Namen bitten?“

„Graf Zilly,“ antwortete der Graf verwundert, aber ruhig.

„Können Sie sich legitimiren?“

Der junge Mann sah verwunderter auf; dann sagte er kalt: „Herr, Sie sind ein Unverschämter.“

Der Referendarius war, wie gewöhnlich die Criminalpolizeicommissarien zu Berlin, in bürgerlicher Kleidung. Aber er war auch mit der bekannten und gefürchteten Criminalpolizeimarke versehen und zog diese hervor. Auch der Graf schien sie zu fürchten; denn er wechselte die Farbe und warf einen eigenthümlich fragenden Blick auf den Beamten der Criminalpolizei. Doch schnell, wie diese Zeichen eines plötzlichen Erschreckens entstanden waren, verschwanden sie wieder.

„Was verlangen Sie von mir, mein Herr?“

„Ich muß Sie bitten, sich hier sofort als Graf Zilly zu legitimiren, oder –“

„Hier? Auf der Stelle?“

„Oder mir zur Stadtvogtei zu folgen.“

„Gäbe es nicht ein Drittes? Sie begleiteten mich zum österreichischen Gesandten? Die Wilhelmsstraße ist näher als der Molkenmarkt.“

„Ich bedauere; ohne ausdrücklichen Befehl des Herrn Polizeipräsidenten dürfen wir anderen Beamten mit den Gesandtschaften nicht unmittelbar communiciren.“

„So erlauben Sie mir, drei Zeilen an den Gesandten zu schreiben.“

„An den Herrn Gesandten selbst?“

„Sie können sie zum Ueberfluß durch einen ihrer Unterbeamten besorgen lassen.“

„Schreiben Sie.“

„Sie geben mir wohl Papier und Feder und so weiter, liebe Jeannette.“

Die hübsche Jeannette brachte blaß und zitternd das Verlangte und empfing dafür einen Ducaten, den der Graf ihr mit einem so ruhigen, freundlichen Lächeln in die Hand drückte, daß sie wieder hold verschämt erröthete. Darauf setzte er sich an einen der kleinen Marmortische und schrieb.

Die Officiere standen umher, einige mit verdutzten Gesichtenn, alle unentschlossen; unentschlossen, ob sie den jungen Mann, der [382] seit drei Wochen ihr täglicher, stets heiterer, liebenswürdiger und freigebiger Gefährte gewesen war, jetzt verlassen sollten oder nicht. An etwas Anderes konnten sie nicht wohl denken; denn damals existirte noch kein Gesetz, das den Criminalbeamten verbot, einen Officier zu verhaften. Der Graf bemerkte ihre Unentschlossenheit.

„Ah, meine Herren, Sie warten auf mich? Zu viele Güte! Ich bitte, gehen Sie voraus; verwahren Sie mir nur einen Platz; in einer Stunde bin ich bei Ihnen.“

Sie gingen; die meisten gewiß leichten Herzens.

Der Graf hatte sein Billet beendet: er siegelte es mit dem Wappen seines Siegelringes und übergab es dem Referendarius.

Es war wirklich an den österreichischen Gesandten gerichtet; der Graf halte es so leicht geschrieben, als wenn er sich zu einer Gesellschaft bei dem Gesandten zusage; er war überhaupt vollkommen ruhig und sicher geblieben. Der Beamte der Criminalpolizei wurde desto unruhiger und unsicherer; doch er konnte nicht mehr zurück. Er übergab das Billet zur Bestellung einem Gensd’armen, den er schon vorher in die Nähe postirt hatte, und fuhr mit seinem Gefangenen in einer Droschke nach dem Molkenmarkte Nr. 2.

Aber kaum eine Stunde später ließ den armen Referendarius, der in der Polizei seine Carriere machen wollte, der Polizeidirector zu sich kommen.

„Was haben Sie gemacht, mein lieber Referendarius?“

„Sie meinen den Abenteurer, den ich verhaftet habe?“

„Der österreichische Gesandte reclamirt ihn als den ihm sehr angelegentlich empfohlenen Grafen Zilly.“

„Der Herr Gesandte ist nicht unterrichtet; ich hoffe, den Menschen noch heute als einen gefährlichen Verbrecher zu entlarven.“

„Wohl durch Lude Stähler?“

„Sie wissen schon?“

„Gewiß. Lude Stähler ist der durchtriebenste Schuft des Berliner Pflasters.“

„Mir,“ sagte der Referendarius selbstzufrieden, „hat er schon halb und halb ein Geständniß ablegen müssen.“

„Er hat Sie ganz und gar belogen. Aber ich bin Ihnen dankbar, lieber Referendarius, daß Sie ihn arretirt haben: ich suchte ihn den ganzen Morgen.“

„Sie suchten ihn?“

„Er hat heute Nacht in Moabit einen schweren Einbruch verübt, heute Nacht um ein Uhr.“

„Mein Gott, um ein Uhr war er ja in der Jüdenstraße; er hat es mir selbst gestanden.“

„Mein lieber Referendarius, Sie müssen noch viel lernen, besonders von den Spitzbuben. Um Sie abzulenken von dem, was er gethan hatte, ging der Mensch desto bereitwilliger auf das ein, was Sie von ihm wissen wollten.“

„Aber, ich hatte ihn selbst gesehen.“

„Phantasie, lieber Freund.“

Dem Referendarius brach der Angstschweiß aus. „Der Schurke,“ rief er.

„Hielten Sie den zehn Mal bestraften Dieb für einen ehrlichen Menschen?“

„Aber, ich habe noch mehr gesehen.“

Er theilte dem Polizeidirector mit, wie der Graf von dem kleinen, entsprungenen Menschen Geld erhalten habe. Der Vorgesetzte hörte ihm sehr aufmerksam zu.

„Aber,“ erwiderte er, „junge Menschen haben ihre Abenteuer; das rechtfertigte seine Verhaftung nicht.“

„So werde ich ihn wieder in Freiheit setzen müssen.“

„Ich bin Ihnen zuvorgekommen, und Sie können ihn bereits im Hofjäger finden; ich habe ihm versprochen, Sie würden in einer halben Stunde dort bei ihm sein, um ihn um Verzeihung zu bitten.“

„Ich sollte mich so compromittiren?“

„Sie müssen schon; Sie haben das Versehen begangen.“

„Aber es werden täglich Hunderte solcher Versehen begangen und niemals bittet man um Verzeihung, im Gegentheile, der unschuldig Verhaftete bekommt einen Verweis, daß er sich verdächtig gezeigt und dadurch der Behörde unnütze Mühe und Kosten gemacht habe.“

Der Polizeidirector lächelte.

„Den gewöhnlichen Leuten gegenüber muß allerdings die Ehre der Behörde gewahrt werden; aber hier –. Zudem hatte ich Sie vorher gewarnt, sich nicht zu compromittiren. Jedenfalls verlangt es der Gesandte. Der junge Graf selbst wollte freilich nichts davon wissen, Sie möchten denn eine Flasche Champagner mit ihm trinken wollen. –“

Der Referendarius ging sehr kleinlaut und niedergeschlagen. Allein schon nach drei Tagen konnte er desto triumphirender zu seinem Vorgesetzten zurückkehren, der seinerseits, wenn auch gerade kein langes, doch ein sehr nachdenkliches Gesicht machte.

„Der Graf Zilly ist fort, Herr Polizeidirector?“

„Ja, Herr Referendarius.“

„Verschwunden? Plötzlich?“

„Hatten Sie vielleicht vorher Kenntniß von seinem Verschwinden gehabt?“

„Nicht die geringste.“

„Was halten Sie von der Sache?“

„Ich habe dem Menschen nie getraut, Herr Director. Dieses plötzliche Erscheinen, dieses Renommiren mit dem stehenden Thaler für die Droschke und dem Ducaten für eine Tasse Kaffee, dieses Herandrängen an die Gardeofficiere, unseren besten Adel – das Alles war mir von Anfang an verdächtig. Dazu jene nächtliche Begegnung und Unterredung in der Jüdenstraße! Und diesen Menschen habe ich, hat ein Beamter um Verzeihung bitten müssen! Ich hatte eine Ahnung seines plötzlichen Verschwindens. Aber ich habe auch eine Ahnung, daß ich ihn noch einmal wiederfinden werde.“

„Sie stimmen also mit den Vermuthungen des österreichischen Gesandten überein?“

„Darf ich fragen, was dieser vermuthet?“

„Daß der Graf Zilly noch in Berlin sein müsse.“

„Der Graf? Man hält ihn noch für einen Grafen?“

„Der Gesandte hat sich nicht darüber ausgesprochen; er hat nur beantragt, sehr genau und sorgfältig auf ihn zu vigiliren, ihn im Betretungsfalle zu verhaften und sofort ihm, dem Gesandten, Nachricht davon zu geben. Uebrigens soll die ganze Angelegenheit geheim bleiben; nur die vertrauteren Polizeibeamten sind deshalb davon in Kenntniß gesetzt, und indem ich auch Ihnen diese amtliche Mittheilung mache, muß ich um die strengste Verschwiegenheit bitten.“

„Was mag diese ungewöhnliche Discretion zu bedeuten haben?“

„Ich denke, ein ungewöhnliches Verhältniß.“

„Ah, diese Gardeofficiere haben mit ihm verkehrt, manche Flasche Champagner auf seine Gesundheit mit ihm getrunken, vielleicht auch mit ihm gespielt; das könnte compromittirend werden.“

„Gespielt nicht,“ versicherte mit Entschiedenheit der Polizeidirector.

Der Polizeireferendarius lächelte fein, als wenn er, obgleich Neuling in dem Fache, doch schon mehr wisse, als er nur wissen sollte.

„Wir dürfen nicht alle Spielhöllen in Berlin kennen, Herr Director.“

„Sie wissen Bescheid. Dem Gesandten ist sehr viel an der Habhaftwerdung des Menschen gelegen.“

„Ich werde mir alle Mühe geben.“

Dieses Gespräch fand in dem Polizeipräsidium in dem Geschäftsbureau des Polizeidirectors statt.


III.

Fast just zu derselben Zeit ereignete sich auf dem Spittelmarkte zu Berlin, der bekanntlich von dem Polizeipräsidium nur durch den Petriplatz, die Gertraudenstraße, den Cölnischen Fischmarkt und den Mühlendamm getrennt ist, Folgendes:

Aus der Leipziger Straße kam in eiligem Schritt ein junges Mädchen. Sie war noch sehr jung, etwa sechszehn bis siebzehn Jahre alt, aber schon von einer hervorstechenden Schönheit; wer die hohe, schlanke Gestalt mit dem feinen, sanften Gesichte und den frommen, demüthigen Augen so leicht und anmuthig daher schweben sah, meinte, daß er nie eine schönere, herzigere Blondine sehen könne. Sie war nicht elegant, aber auch nicht ärmlich gekleidet; man konnte sie für eine Arbeiterin in einem Putz- oder ähnlichen Geschäft halten. Sie bog, als sie das Ende der Leipziger Straße erreicht hatte, hinüber auf das Trottoir an der Spittelkirche, als wenn sie in die Wallstraße wolle. Es war dort ein großes Gedränge von Menschen allerlei Standes und Alters, die um diese Zeit – es war zwölf Uhr Mittags – aus den Fabriken, Comptoirs, Läden und anderen Arbeitslocalen der nahen und fernen [383] Straßen und Plätze hin und her kamen, um sich zu dem Mittagessen und zu der kurzen Mittagsruhe zu begeben.

Mitten in dem Gedränge, gleich hinter der Spittelkirche, dort wo der Eingang zu der sogenannten Sparwaldsbrücke sich befindet, stand ein hübscher junger Mann, schwarz gekleidet, mit einem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen und großen lebhaften schwarzen Augen; man konnte ihn für einen Maler halten. Er stand einige Schritte seitwärts von dem Trottoir und blickte nach der Leipziger Straße hin, als wenn er dort Jemanden erwarte. Hatte er wirklich Jemanden erwartet, so konnte es nur die schöne Blondine sein; denn als er diese sah, trat er näher an das Trottoir heran, als wenn er ihr dort begegnen wolle.

Das Alles hatte man schon seit vierzehn Tagen bis drei Wochen sehen können. Jeden Mittag um zwölf Uhr kam das junge Mädchen aus der Leipziger Straße und ging in die Wallstraße hinein. Jeden Mittag stand hinter der Spittelkirche an der Sparwaldsbrücke schon wartend der junge Mann mit den großen schwarzen Augen und dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen. An den Tagen vorher hatte man aber auch noch mehr sehen können. Wenn der junge Mann und das schöne Mädchen einander sahen, dann lächelten ihre Augen unwillkürlich sich Seligkeit entgegen, und still nahm er ihren Arm und legte ihn in den seinigen, sie stützte sich still, aber recht innig und fest auf ihn und so gingen sie in dem Gedränge neben einander, bis man sie tief hinten in der Wallstraße aus den Augen verlor.

Ich selbst, der Schreiber dieser Zeilen, habe das schöne Paar manchen Mittag so gesehen, liebend, geliebt, glücklich, selig. Ich wußte nicht, wer sie waren; ein Maler oder Lithograph er, dachte ich, eine Putz- oder Schneidermamsell sie. Aber, mochten sie sein, wer sie wollten, mein Herz mußte ihnen jedesmal einen stillen Segen voll langen Liebesglückes zurufen. Sie sah ja so fromm, so unschuldig und demüthig aus, so kindlich demüthig und doch wieder so kindlich stolz in ihrem Glücke, an dem Arme des jungen Mannes. Und er – aus dem jugendlichen, frischen Mannesgesichte leuchtete Geist, Muth und Edelsinn hervor, und doch manchmal mußte mich, wenn ich sie sah, plötzlich eine heiße Angst überfallen. Sie war ein so durch und durch unschuldiges, unbefangenes und unerfahrenes Kind. War aber er nicht ein junger Mann, vielleicht ein Sohn der großen Residenz, aufgewachsen in und vertraut mit allen ihren Lastern, mit ihrer ganzen Verderbtheit und Gewissenlosigkeit? Allein, wenn er auch ebenfalls unverdorben und von bravem Charakter war, sie waren Beide ohne Vermögen, das sah man ihnen leicht an; wie lange konnte es dauern, ehe sie an das Heirathen denken durften; sie waren nicht einmal öffentlich, vor Verwandten und Freunden erklärte Brautleute; wie hätten sie sonst flüchtig in dem Gedränge der Mittagsstunde in einer Gegend der großen Stadt sich aufgesucht, wo sie darauf rechnen konnten, nur von Unbekannten gesehen zu werden? Sie waren nur Liebende, die vor den Ihrigen ihre Liebe verbergen mußten. Konnten sie nicht auch einmal zu anderer Zeit, in einsamer, menschenleerer Gegend sich zusammenfinden? Heimlich, süß, gefährlich? Mußte nicht ein Verlangen, ein heißes und immer heißeres Sehnen danach in den liebenden, feurigen, jugendlichen Herzen erwachen? Und dann? Was ist die Tugend der Jugend?

Heute sollte ein Unfall das jugendliche Zusammentreffen der beiden Liebenden stören. Als sie sich gewahrten, verklärten sich die schönen Gesichter wie sonst. Der junge Mann reichte ihr seinen Arm; sie legte den ihrigen hinein; ihre Hände drückten sich; ihre Augen lächelten sich voll Seligkeit an. So gingen sie, ein liebliches, reizendes Bild, die alte, häßliche Wallstraße hinunter.

„Guten Morgen, meine liebe Emma,“ hatte er sie gegrüßt.

„Du hast schon auf mich gewartet, Rudolf?“

„Du bist länger geblieben, als sonst.“

„Sei nicht böse. Die Directrice hatte wieder den Doppellouisd’or vergessen, den sie mir schon gestern mitgeben wollte, um die Rechnung zu bezahlen; ich erzählte es Dir.“

Der junge Mann hatte diese unbedeutende Mittheilung mit einem gewissen Interesse angehört.

„Du hast das Geld?“ fragte er mit demselben Interesse, das er freilich unter einem gleichgültigen Tone der Frage zu verbergen suchte.

„Ich habe es. Sie rief mich zurück, um es mir zu geben, als ich schon auf der Straße war. Darum hast Du auf mich warten müssen.“

„Um so größer war meine Freude, als ich Dich sah.“

„Ich fürchtete schon, Dich nicht mehr zu finden, und eilte deshalb.“

„Wie konntest Du fürchten?“

„Ach, Du hast ja nur diese eine Stunde zum Mittagessen, und da mußt Du noch den weiten Weg bis hinten in die Königsstadt machen.“

„Und Du meintest, ich hätte nicht einmal auf mein Mittagessen verzichten können, um Dich zu sehen?“

„Vergib mir, Du hast Recht. Mir würde ja kein Bissen geschmeckt haben, wenn ich Dich nicht gefunden hätte.“

Der junge Mann schien noch etwas Anderes auf dem Herzen zu haben, als seine Liebe zu dem schönen Mädchen und sein Interesse für den Doppellouisd’or.

„Ist der Fremde bei Deiner Mutter eingezogen?“ fragte er seine Begleiterin.

„Ja,“ erwiderte sie lebhaft, und die unbedeutenden Thatsachen, die sie nun erzählte, schienen für sie nicht minder wichtig zu sein, wie für den jungen Mann; der Grund ihrer Theilnahme mochte freilich ein völlig verschiedener sein. – „Ja, schon gestern Abend. Und denke Dir, er hat drei Zimmer gemiethet, und gleich auf einen ganzen Monat.“

„Drei Zimmer?“

„Drei. Er sagte, er werde manchmal Besuche bekommen, und dafür müsse er ein besonderes Zimmer haben; das zweite hat er zum Arbeiten und das dritte zum Schlafen. Alle drei Stuben gehen in einander. Es sind die drei am Korridor links; ich habe Dir ja unsere Wohnung beschrieben.“

„Ja, ja,“ sagte der junge Mann, wie mechanisch. Er schien angelegentlich über etwas nachzusinnen.

Das Mädchen fuhr fröhlich plaudernd fort: „Ein eigner Kauz scheint er zu sein, dieser kleine, runde, alte Herr. Und in einer großen Stadt ist er wohl noch nie gewesen. Zu Fuße, sagte er, habe er in den geraden breiten Straßen, wo einem immer die Sonne auf den Kopf scheine, und auf den platten und glatten Steinen beinahe gar nicht gehen können; und die Droschken führen ja so langsam und schwer und knarrend, wie alte Mistwagen.“

„Er ist wohl vom Lande?“ fragte der junge Mann.

„Er hat nicht sagen wollen, woher er sei; er ist überhaupt sehr geheimnißvoll, und wollte nicht einmal seinen Namen nennen, wir sollten ihn nur Herr Ehrenreich rufen, und als meine Mutter ihm bemerkte, daß sie ihn bei schwerer Strafe auf der Polizei anmelden müsse, meinte er, er stehe für Alles ein, und habe die Sache mit der Polizei schon abgemacht.“

Die Oberlippe des jungen Mannes zuckte etwas sonderbar unter dem schwarzen Schnurrbärtchen, bei dieser Mittheilung der plaudernden schönen Blondine. Sie sah es nicht und fuhr unbefangen fort: „Und auch reich, sehr reich muß er sein. Er hatte, als er angekommen war, ein kleines, aber schweres Kästchen bei sich, das er wie seinen Augapfel hütete. Die neugierige kleine Anna hat es aufheben wollen. Es ist ihr beinahe zu schwer gewesen; sie meinte, es müsse lauter Gold darin sein. Er hat es bald sehr sorgfältig in dem Kleiderschranke neben seinem Bette verschlossen, und den Schlüssel zu sich gesteckt.“

Der junge Mann hörte Alles mit fortwährender gespannter Aufmerksamkeit an.

„Hat er nicht gesagt, welche Geschäfte er hier habe?“

„Er hat nicht davon gesprochen.“

Das Gedränge in der Wallstraße um die Mittagszeit zieht sich bis tief in die Straße hinein. Die Arbeiter kommen von beiden Enden der Straße; von dem Spittelmarkte her die eleganteren aus den eleganten Quartieren der Stadt; von der Waisenbrücke her die gröberen aus den Zuckersiedereien, aus den Färbereien, von den Holzplätzen u. s. w. Die beiden Liebenden waren in dem Gedränge weiter gegangen, nur mit einander und mit ihrem Geplauder beschäftigt. Straße, Menschen und Gedränge um sie her waren für sie nicht da; für das Mädchen gewiß nicht, für den jungen Mann schien es so, wenn man das gespannte und doch so nachsinnende Auge ansah, während er seiner Begleiterin zuhörte.

So gewahrte sie nicht, und er schien es nicht zu gewahren, wie auf einmal ein kleiner, gedrungener Mensch, gekleidet wie ein Arbeiter, der aus der Fabrik kommt, rasch an ihnen vorüberging, und in dem Augenblicke, als er neben ihnen war, dem Mädchen [384] ein weißes Taschentuch, das sie in der Hand hielt, leicht und gewandt entriß. Bevor sie ihren Verlust nur ahnen konnte, war er in dem Gedränge verschwunden. Mit dem Tuche war der Armen noch mehr entrissen.

Sie hatte nur eine leise Berührung gefühlt, daß Jemand in dem Gewühle der Straße an ihr vorbeigestreift sei. Sie sah nach dem Tuche, vermißte es und wurde leichenblaß.

„Um Gotteswillen!“ rief sie entsetzt.

„Was ist Dir, Emma?“

„Mein Tuch! Es ist fort. In diesem Augenblick. Ich hatte meine Börse hineingewickelt.“

„Sie ist mit fort?“

„Sie ist gestohlen. Vor einer halben Minute hatte ich noch Tuch und Börse.“

„Gestohlen? Sahest Du Jemanden?“

„Ich fühlte nur einen leichten Ruck, ich achtete kaum darauf.“

„Kann Dir das Tuch nicht auch entfallen sein?“

„Es wäre möglich.“

„Wir wollen suchen.“

Sie suchten an der Stelle, wo sie standen, wo das Mädchen den Stoß gefühlt hatte; sie fanden nichts; sie kehrten in der Straße zurück; ihr Suchen blieb vergebens.

„Es ist Dir gestohlen, Emma. Sahest Du keinen verdächtigen Menschen?“

„Ich hatte auf Niemanden geachtet.“

„Der Dieb ist längst fort. Unter den Tausenden von Menschen wäre er ohnehin nicht aufzufinden.“

„Ich Unglückliche! Was fange ich an?“

„Wie viel hattest Du in der Börse?“

„Den Doppellouisd’or der Directrice. Ich bin verloren. Sie ist so mißtrauisch; sie wird mich fortjagen; sie wird mich gar der Polizei übergeben.“

„Laß uns überlegen, liebe Emma. Das Geld wird sich ersetzen lassen.“

„Ich habe nicht so viel, auch meine arme Mutter nicht. Und ich muß noch heute der Directrice die Quittung bringen.“

Heiße Thränen erstickten fast die Worte des unglücklichen Mädchens.

„Laß uns nachrechnen, Einige Thaler habe ich noch –“

„Nein, nein, Rudolph, nicht Du, nicht Dein mühsam Erspartes; ich werde das Geld schon zusammenbringen. Drei Thaler habe ich noch in meiner Sparcasse. Meine kleine Schwester Anna hat gar noch vier Thaler in ihrer Sparbüchse. Das macht zusammen schon sieben Thaler. Es fehlen nur noch vier Thaler und zehn Silbergroschen. So viel wird meine Mutter noch haben.“

„Aber wird es nicht ihr letztes Geld sein, Emma?“

„Es ist es,“ weinte das Mädchen.

„Und dann, wenn Ihr Alles zusammengelegt habt, und wenn Du damit die Rechnung der Directrice bezahlt hast, dann habt Ihr nichts mehr im Hause?“

„Nichts, Nichts!“

Sie konnte kaum antworten; sie mußte laut und lauter schluchzen.

„Emma, die Leute sehen uns an; fasse Dich. Laß uns hinter das Holz dort treten.“

Sie gingen hinter das Bauholz, das an der Straße auf einem Bauplatze lag. Dort waren sie unbemerkt.

„Emma, ich habe noch drei Thaler baar. Das Fehlende borgt mir ein Freund. Um halb zwei Uhr wirst Du mich hier mit dem Gelde treffen. Du nimmst es von mir?“

„Ich kann nicht, Rudolph.“

„Liebst Du mich, Emma?“

„Gewiß, gewiß; eben darum kann ich nicht.“

„Aber Deine Mutter könntest Du betrüben? Sie und Deine kleinen Brüder und Schwestern könntest Du darben lassen?“

Das Mädchen weinte heftiger. Sie warf sich an seine Brust und schlang ihren Arm um ihn.

„Wirst Du mich lieb behalten, Rudolph, wenn ich das Geld von Dir nehme?“

„Um desto mehr, mein Engel, wenn ich Dich noch mehr lieben könnte.“

„Dann wollen wir theilen. Ich nehme meine drei Thaler aus der Sparcasse und drei Thaler von meiner Schwester Anna. Den Rest gibst Du mir?“

„So sei es,“ sagte der junge Mann nach kurzem Nachsinnen.

„Und nun geh, mein Mädchen, damit wir uns zur rechten Zeit hier wieder treffen können. Um halb zwei.“

Sie trennten sich. Das Mädchen ging mit schwerem Herzen, und die Augen trocknend, die nicht trocken werden wollten, die Wallstraße hinunter. Der junge Mann kehrte zum Spittelmarkte zurück, anfangs ebenfalls tief nachdenklich und wie mit sich unzufrieden; nach einiger Zeit aber lächelte er vergnügt in sich hinein.

Emma Rohrdorf war die Tochter einer armen Wittwe, deren Mann Registrator bei irgend einer der vielen Behörden Berlins gewesen und vor etwa einem Jahr gestorben war. Ein preußischer Subalternbeamter, zumal in Berlin, bekommt in der Regel gerade nur so viel Gehalt, daß er die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens davon bestreiten kann. Die Beamtenwelt, und auch die Subalternbeamtenwelt, kostet darum doch dem Lande Geld genug, weit mehr als genug. Wie das? – Ach, der preußische Staat braucht viele Schreibmaschinen. Bei dem Stadtgerichte zu Berlin arbeiteten und schrieben zu der Zeit, in welche diese Geschichte fällt, über fünfhundert Subalternbeamten; jetzt werden deren wahrscheinlich über sieben- bis achthundert sein und schreiben.

In anderen Ländern gewinnt der arme Beamte das, was ihm zum Leben fehlt, durch irgend ein Nebengeschäft, das er selbst oder seine Frau oder seine Kinder führen. Wie würde der Büreaukratismus das in Preußen leiden? Dem Beamten selbst verbietet es sogar geradezu das Gesetz, seinen Angehörigen dieser hochmüthige, hohle Kastengeist.

Der Registrator Rohrdorf hatte mit seiner Familie nur sehr kümmerlich leben können. Als er starb, war seine Wittwe mit vier Kindern, von denen die damals sechszehnjährige Emma die älteste war, auf die städtische Armencasse oder das Verhungern angewiesen. Indeß ein Verwandter, ein Schlossermeister, gegen den die Frau „Geheimeregistrator“ sich nie überhoben hatte, nahm sich der braven Frau an, streckte ihr ein kleines Capital vor und half ihr, in der Dresdener Straße ein kleines und bescheidenes Hotel garni einzurichten. Die Dresdener Straße ist der Mittelpunkt des kleinen Landhandelsverkehrs in Berlin. Die Wittwe Rohrdorf hatte daher immer ihre paar Zimmer an Landleute, kleine Gutsbesitzer, Krämer und Handwerker aus der Nachbarschaft von Berlin, vortheilhaft vermiethet. Außerdem ließ jener Verwandte die Tochter Emma das Putzmachen erlernen, so daß sie schon nach drei bis vier Monaten bei einer Putzmacherin in der Leipziger Straße eintreten und monatlich sechs bis sieben Thaler verdienen konnte, die sie ihrer Mutter in die Wirthschaft gab. Die Familie konnte in solcher Weise leben, wenngleich nothdürftig, und es blieb selbst noch soviel übrig, daß die jüngeren Kinder eine bessere Schule besuchen konnten, als die Armenschule.

Der kleine Landmann hat das Capital, das ihm die Ernte gebracht hat, gewöhnlich bis zur nächsten Ernte völlig wieder verzehrt. Kurz vor der nächsten Ernte pflegt daher der Landverkehr auch in den Städten mehr und mehr abzunehmen, bis er zuletzt ganz stockt, um erst von dem Ertrage der neuen Ernte wieder belebt zu werden. In den Monaten April und Mai hatten sich auch bei der Wittwe Rohrdorf nur wenige Miether eingefunden, und sie hatten noch weniger verzehrt. Desto mehr hatte die arme Wittwe von ihren geringen Ersparnissen der vorhergegangenen Monate aufzehren müssen. Sie besaß nur noch wenige Thaler und sie hatte unter Thränen schon davon gesprochen, daß sie nächstens die Sparbüchsen ihrer Kinder werde angreifen müssen. Freilich tröstete sie sich damit, daß im Juni der Wollmarkt Alles ersetzen werde, und der alte, kleine Herr kam schon und nahm drei Zimmer.

[393] Kurz vorher hatte ihre Tochter Emma etwas Anderes gewonnen, wovon die Mutter allerdings nichts wußte und nichts wissen durfte, wenn zu ihren schweren Sorgen sich nicht auch noch schwere Angst gesellen sollte. Es war das die Liebe eines hübschen jungen Mannes, den sie jeden Mittag um zwölf Uhr, wenn sie von ihrer Arbeit in der Leipziger Straße nach Hause zurückkehrte, an der Spittelkirche traf, der bald mit ihr den nämlichen Weg ging, bald kürzer, bald länger, und ihr erzählte, daß er Rudolph Langenau heiße, aus einem kleinen Städtchen in Sachsen gebürtig sei, und in Berlin als Lithograph arbeite; daß er zwar jetzt nur noch ein geringes Wochenlohn verdiene, aber hoffentlich schon zu Ende des Jahres mit einem andern jungen Manne aus seiner Heimath, der ebenfalls Lithograph sei, etwas Vermögen besitze und sehr solid sei, sich selbst etabliren werde, worauf er dann eine Frau ernähren könne. Dabei hatte er ihr gesagt, wie er sie schon seit einiger Zeit gesehen, wenn er, gleichfalls um zwölf Uhr Mittags, von der Arbeit in der Winckelmannschen Lithographie komme, und wie er sie so gern und immer lieber gesehen. Endlich hatte er ihr auch gesagt, daß er sie liebe, und er hatte sie gefragt, ob sie ihn wohl so viel wieder lieb habe, daß sie, wenn er sich etablirt, seine Frau werden wolle. Sie aber hatte den schönen, gegen sie immer so braven und bescheidenen jungen Mann ebenfalls nicht ungern gesehen, und sie konnte mit dem süßen Glück und Schmerz der ersten Liebe des Mädchenherzens ihm sagen, wie sehr, wie unendlich sie ihn wieder liebe. Ihrer Mutter durfte sie nichts sagen; er hatte sie darum gebeten; er fürchte, die Mutter, die ihn nicht kenne, möge sie trennen wollen. –

Das Mittagsessen schmeckte dem armen Mädchen in der That nicht, obwohl sie ihren Geliebten gesehen hatte. Sie ging bald in ihr Schlafstübchen und weinte sich hier in der Einsamkeit noch einmal aus. Die meisten Thränen des Menschen sieht seine Schlafstube und sein Bett; freilich, wenn er Schlafstube und Bett hat. Die Armen die am meisten weinen müssen, haben Beides nicht.

Sie schloß eine alte Commode auf, nahm aus einer Schublade ein kleines Kästchen und aus dem Kästchen eine kleine gehäkelte Börse. Sie hatte sie selbst gehäkelt, als Kind, es war ihre erste Arbeit. Darin verwahrte sie ihr Geld, das sie von ihrem verstorbenen Vater erhalten hatte, ihr erstes Geld, an ihren Geburtstagen, an den Weihnachts-heiligen-Abenden. Es waren nur drei Thaler; nur jedesmal fünf Silbergroschen hatte die arme und doch so reiche Liebe des Vaters ihr spenden können. Sie hatte schon mehr gehabt, aber nach dem Tode des Vaters, als die Noth im Hause war, hatte sie die ganze Börse der Mutter gebracht, und die Noth hatte die Mutter gezwungen, mit ihr zu theilen.

Emma schüttete die Börse aus; nein, sie schüttete sie nicht aus, sie nahm Stück für Stück jedes einzelne Geldstück hervor. Jedes war in ein Papier gewickelt; auf jedem Papier stand geschrieben, wann sie es erhalten. Es waren noch die ersten fünf Silbergroschen darunter, die der Vater ihr geschenkt hatte, als sie fünf Jahre alt geworden war; die Aufschrift war von dem Vater. Es war das Stück darunter, das sie an dem Tage ihrer Einsegnung bekommen, und das letzte, das die beinahe schon sterbende Hand des Vaters ihr gereicht hatte. Die Aufschriften waren von ihr. Das Alles hatte die Noth nach dem Tode des Vaters nicht anzugreifen gewagt. Heute mußte es angegriffen werden. Heute mußte er fort, der Schatz, von dem sie in ihrem Leben sich nicht zu trennen gehofft hatte; ihre bitteren Thränen fielen auf die Aufschriften, auf die Geldstücke.

„Und auch der armen Anna soll ich ihren Schatz rauben?“ rief sie.

Anna, die jüngere Schwester, kam herzu. Beide theilten das enge Schlafstübchen.

„Emma, was weinst Du?“

Sie mußte damit heraus.

„Ich hatte eine Rechnung für die Directrice zu bezahlen; das Geld ist mir unterwegs gestohlen.“

Das Kind war schon zu seiner Sparbüchse gesprungen.

„Hier, Emma, nimm Alles; wird es reichen?“

„Dein Geld, Dein Heiligthum, Anna? Kann ich?“

„Emma, liebst Du mich?“

Der Schwester durfte die Unglückliche mit vollem Herzen in die Arme fallen. Sie weinten sich aus. Dann warfen sie ihr Geld zusammen, und als alle die Stücke durcheinander lagen, und Keine von ihnen mehr wußte, wem das eine und wem das andere gehört habe, da durchzuckte es sie wohl noch einmal, aber nur noch einmal, dann lächelten sie sich einander zu, und sie fühlten sich glücklich in ihrer gegenseitigen innigen, herzlichen, kindlichen Schwesterliebe. Und in ihrem Lächeln, in ihrer Liebe stritten sie um den einen Thaler, der nach der Abrede Emma’s mit ihrem Geliebten zu viel da war. Anna wollte ihn nicht zurücknehmen und Emma wollte ihn nicht behalten. Zuletzt mußten sie ihn theilen.

Um halb zwei Uhr war war das Mädchen wieder auf dem Bauplatze in der Wallstraße. Rudolph Langenau wartete schon auf sie hinter dem Holze. Unterwegs war ihr das Herz wieder schwer [394] geworden. Aus ihrer Sparbüchse und von der Schwester hatte sie das Geld unter Thränen und unter Lächeln genommen. Als sie den jungen Mann auf sich warten sah, schnürte bei dem Gedanken, daß sie von ihm Geld annehmen sollte, das Herz sich ihr zu, und ihre noch feuchten Augen wurden trocken. Woher das? Sie hatten sich beide hundertmal gesagt, daß sie in ihrer Liebe einander ganz und gar angehörten, für das ganze Leben, bis in den Tod, bis über den Tod hinaus.

Aber er kam ihr so liebevoll entgegen; er erröthete, und war verlegen, als er ihr, in ein Papier eingewickelt, das Geld überreichte.

„Hier, Emma; hast Du auch das Andere wirklich vollständig? Ich habe sonst für das Ganze gesorgt.“

Er sagte das so einfach, so herzlich. Das Auge wurde ihr wieder feucht, das Herz öffnete sich ihr wieder, in Liebe, in stiller Bitte um Verzeihung, daß es sich auf einen Augenblick habe verschließen können. Sie nahm das Geld, und drückte die Hand, die es ihr reichte. Sie hätte ihm um den Hals fallen mögen, wenn nicht Arbeiter auf dem Platze gewesen wären.

„Und nun eine Bitte, Emma. Deine Directrice hat morgen Nachmittag eine Landpartie, hast Du mir gesagt.“

„Ja.“

„Sie hat Euch den Nachmittag frei gegeben, ohne von dem Arbeitslohn Abzug zu machen.“

„So hat sie versprochen.“

„Der Nachmittag gehört also Dir. Schenke mir ihn. Wir fahren nach Französisch-Buchholz; Du warst noch nicht da. In dem gräflichen Garten ist es so schön.“

„Mit Dir allein?“ fragte das Mädchen in ihrer Unschuld und Verlegenheit.

„Du fürchtest Dich allein mit mir?“

„Es würde sich nicht schicken, Rudolph.“

Der junge Mann mußte unwillkürlich lachen.

„Und wir waren so oft allein, und sind es in diesem Augenblicke noch.“

„Das ist etwas Anderes.“

„Und warum?“

Sie konnte es nicht sagen; sie fühlte es vielleicht deutlich genug, wie die offene Straße, das helle Tageslicht, die Nähe auch der fremdesten Menschen – und so war sie bisher nur mit ihm allein gewesen – selbst in der großen verdorbenen Stadt ein Schirm für sie sei, dessen sie draußen auf der Landstraße, wie in dem kleinen Dorfe, im engen Wagen, in dem Schatten der dichten Bosquets des gräflichen Parks, in dem Dunkel des Abends, entbehre. Aber sie konnte das Gefühl wohl in keinen klaren Gedanken und daher nicht in Worte bringen. Oder wollte sie den Geliebten nicht verletzen? Der junge Mann schien ihr Gefühl zu ahnen, jedenfalls ihr Bedenken zu ehren.

„Wir werden nicht allein fahren, Emma. Mein Freund Erhard, von dem ich sprach, derselbe, mit dem ich mich etabliren werde, und seine Mutter, die hier in Berlin lebt, werden uns begleiten.“

„Kennst Du die Frau?“ fragte das Mädchen in ihrer Vorsicht, vielleicht auch in einer dunklen Ahnung.

„Sie ist eine der vortrefflichsten Frauen, die ich kenne.“

Das Mädchen schwankte noch immer.

„Und meine Mutter? Sie soll auch davon nichts wissen?“

Das war wohl ihr hauptsächlichstes Bedenken, das sie nur früher nicht auszusprechen gewagt hatte. Der junge Mann schien wirklich verletzt zu sein.

„Du mißtraust mir, Emma. Lassen wir es. Ich wollte Dir eine Freude machen; verzichte aber darauf.“

„Ich habe Dich beleidigt, Rudolph?“

„O nein.“

„O doch. Ich fahre mit Dir. Sei nicht böse, mein guter Rudolph, ich bitte Dich jetzt darum. Laß uns hinfahren.“

Wie mächtig und zugleich wie schwach ist die Liebe!

In das Auge des jungen Mannes schoß ein Freudenstrahl.

War in seinem Herzen jene unwiderstehliche Sehnsucht nach einem andern, einsameren Begegnen schon erwacht? Oder war seine Freude gar –? Doch – Quilibet praesumitur bonus, donec probetur contratium – sagt der alte Justinian.

„Morgen Mittag um zwei Uhr, Emma. Ich werde an der Waisenbrücke auf Dich warten.“

„Ich werde da sein.“

Sie trennten sich wieder. Er ging nach der Winckelmann’schen Lithographie zu. Sie begab sich zuerst in die Grünstraße, um die Rechnung der Directrice zu bezahlen, und dann zu ihrem Putzladen in der Leipzigerstraße.




IV.

Der neue Miether der Frau Rohrdorf schien wirklich, wie Emma Rohrdorf ihrem Geliebten gesagt hatte, ein etwas eigenthümlicher Kauz zu sein. Er hatte sich in folgender Weise bei der Frau eingeführt. An der Klingel der Wohnung ward zuerst sehr leise gezogen; die Glocke hatte kaum angeschlagen. Die Frau Rohrdorf war mit einer Arbeit beschäftigt, von der sie nicht sofort aufstehen konnte. Unmittelbar darauf wurde zum zweiten Male stark geläutet, daß die Fenster zitterten. „Der ist eilig,“ dachte die Frau. Sie sprang auf und öffnete schnell die Thür. Ein fremdes, kleines, rundes Männchen in den fünfziger Jahren stand vor ihr.

„Gehört Ihnen diese Wohnung, Madame?“

„Ja, mein Herr.“

„Dieser ganze Stock?“

„Ja“

„Draußen am Fenster bei Ihnen hängt ein Papier, darauf steht: Zimmer zu vermiethen.“

„Ich habe Zimmer zu vermiethen.“

„Wie viele?“

„Wie viele wünschen Sie?“

„Drei, und zwar zusammenhängend.“

„Sie können sie bekommen. Ist es Ihnen gefällig?“

Der Fremde war in der Thür stehen geblieben. Er trat ein.

Die Wohnung war – es kommt für die weiteren Begebenheiten darauf an, und ich bitte daher meine Leser, darauf zu achten – in folgender Weise eingerichtet. Sie war im ersten Stock gelegen. Man trat zuerst in einen Eingang; rechts von diesem lag die Küche, hinter der Küche befanden sich drei kleine Stübchen, welche von der Frau Rohrdorf und ihren Kindern bewohnt wurden. Zur Linken gelangte man aus dem kleinen Eingange in einen seitwärts gehenden längeren Gang. An diesen zu seinen beiden Seiten befanden sich die Stuben, welche die Frau Rohrdorf zu vermiethen hatte. An jeder Seite waren drei Thüren, die je zu einer Stube führten. Am Ende des Ganges lag quer vor diesem noch ein siebentes Zimmer. Neben der Thür desselben war ein Fenster, durch welches der Gang von dieser Seite her sein Licht erhielt. Das Fenster war deshalb in seiner obern Hälfte ganz frei, und nur unten mit einer dichten grünen Gardine verhängt, so daß man von dem Gange aus nicht in die Stube blicken konnte. Inwendig war diese übrigens mit zwei, einander gegenüberliegenden Thüren versehen, welche in die beiden nebenan liegenden Zimmer führten.

Die Frau Rohrdorf begleitete den Fremden durch sämmtliche Zimmer. Er hatte schon gleich anfangs mit sichtlichem Behagen sein Augenmerk auf die am Ende des Corridors gelegenen Stuben gerichtet. Als er in diese eintrat, war sein Erstes, die Gardinen jenes in den Corridor führenden Fensters an der Seite ein wenig zurückzuschieben und in den Gang hineinzusehen. Er übersah den ganzen Gang und war sicher, wenn er sich nur ein wenig in Acht nehme, seinerseits von dem Gange aus nicht bemerkt zu werden. Er schien vollkommen zufrieden zu sein.

„Madame, wieviel beträgt die Miethe für dieses Zimmer und die beiden nebenan?“

„Täglich?“ fragte die Frau.

„Wöchentlich, oder besser, gleich für einen ganzen Monat.“

„Zwanzig Thaler, mein Herr.“

„Und täglich, Madame?“

„Auf den Tag bekomme ich für das Zimmer zehn Silbergroschen.“

„Das würde auf den Monat für alle drei dreißig Thaler machen?“

„Ja, mein Herr, aber –“

„Ich gebe Ihnen die dreißig Thaler, wenn Sie folgende Bedingungen eingehen. Sie richten mir diese Stube hier zu meinem Arbeitszimmer ein, die links dort zu meiner Schlafstube und die rechts zu einem Besuchszimmer. Einverstanden?“

[395] „Gewiß, mein Herr.“

„Das war erstens. Zweitens, wenn Jemand das Zimmer miethen will, das dort an das Besuchzimmer anstößt, so sagen Sie es mir, ich miethe es Ihnen dann, zu diesen dreien hinzu, für denselben Preis ab, den Sie von dem Andern bekommen hätten. Einverstanden?“

„Ich habe nur Vortheil dabei, mein Herr.“

„Drittens, Sie bekümmern –. Aber halt, haben Sie Kinder, Madame?“

„Vier.“

„In welchem Alter?“

„Meine älteste Tochter zählt siebenzehn Jahre; die anderen sind zwölf bis fünf Jahre alt.“

„Gehört noch sonst Jemand zu Ihrer Familie?“

„Niemand.“

„Nun wohl, Madame, drittens also, weder Sie noch Ihre Kinder bekümmern sich um Jemanden, der zu mir kommt oder zu mir will, sei es bei Tage oder bei Nacht. Wer nach mir fragt, dem zeigen Sie meine Thür, dort rechts, die des Besuchszimmers, und kümmern sich weiter nicht um ihn und fragen nicht, wer er sei und was er wolle, und wenn er fragt, ob ich zu Hause sei, so antworten Sie ihm, Sie wüßten es nicht, er solle anklopfen; und wenn er dann von mir keinen Bescheid erhält und wieder zu Ihnen kommt, so sagen Sie ihm, ich müsse also wohl nicht zu Hause sein, und weiter nichts. Sind Sie auch damit einverstanden, und wollen Sie danach streng Ihre Kinder instruiren?“

„Wir werden uns Alle pünktlich danach richten, mein Herr.“

„Schön, Madame, so wären wir fertig. Wann kann ich einziehen?“

„Wenn Sie wollen.“

„Heute Abend, wenn es dunkel ist.“

„Ihr Name, mein Herr?“

„Sie nennen mich Herr Ehrenreich.“

Als es dunkel geworden war, kam der Herr Ehrenreich in einer Droschke zurück. Er hatte nur wenige Sachen bei sich, einen Reisekoffer und ein kleines, schweres Kästchen, das er selbst und sehr vorsichtig aus dem Wagen trug und sofort in seiner Schlafstube verschloß. Er bestellte sich ein einfaches Abendbrod: Brod, Butter und Käse, ein paar gekochte Eier und eine Flasche frisches Wasser, und zum folgenden Morgen zwei Tassen Kaffee mit einem Brödchen. Weiter sollte sich Niemand um ihn bekümmern. Am anderen Morgen war er früh auf, und als ihm die Frau seinen Kaffee brachte, fand sie ihn völlig angekleidet, so daß er jeden Augenblick Besuch empfangen konnte, in seiner Arbeitsstube sitzen, dem Anscheine nach mit Papieren beschäftigt, die auf seinem Tische ausgebreitet lagen. Den Tisch hatte er unmittelbar an das auf den Corridor führende Fenster gerückt, und er saß so, daß er nur die Hand aufzuheben brauchte, um die Gardine an der Seite des Fensters zu verschieben und so in den Corridor zu blicken, ohne daß er selbst in diesem sichtbar wurde.

„Ein sonderbarer Mensch,“ dachte auch die Frau Rohrdorf. „Ich soll nicht wissen, wer zu ihm kommt; er will die Leute, die ihn besuchen, vorher desto genauer beobachten. Was für Menschen mag er erwarten? Und welche wichtige und geheimnißvolle Sachen mag er mit ihnen zu verhandeln haben, daß er sogar, blos um nicht behorcht werden zu können, die Stube nebenan miethen will?“

Bei der Polizei ihn anzumelden, hatte er gar geradezu verboten; er stehe für jede, auch noch so hohe Strafe ein; übrigens habe er sich schon selbst angemeldet. Er hatte indeß bei seinem raschen, kurzen Benehmen ein ehrliches Aeußeres[WS 1]. Die Frau Rohrdorf machte sich daher keine Sorgen um ihn. Den ganzen Morgen blieb er zu Hause; erhielt auch keinen Besuch. Sein Mittagessen verzehrte er in seiner Stube; er hatte es sich sehr einfach bestellt, Suppe, Gemüse, Fleisch. Gleich nach Tische wurde es lebendiger bei ihm, zum Theil zu seiner nicht angenehmen Ueberraschung. Zuerst brachte der Briefträger einen Brief an ihn: Herrn Ehrenreich bei Madame Rohrdorf, Wallstraße Nr. 72. Er wurde roth vor Zorn, als er den Brief gelesen hatte.

„Madame, haben Sie Jemandem gesagt, daß ich bei Ihnen wohne?“

„Niemandem, mein Herr.“

„Beim Teufel, woher weiß dieser Mensch denn meinen Namen und meine Wohnung? Wer ist dieser Herr Louis Drucker? – Was lachen Sie, Madame?“

„Louis Drucker hat Ihnen geschrieben?“

„Ja, und hören Sie den Unsinn.“ Der Herr Ehrenreich las:

„Hochgeehrtester Herr!

 Der Ruf eines liberalen Freundes und Beschützers der Künste und Wissenschaften ist Ihnen in diese Residenz, den Sitz der Künste und Wissenschaften, des Lichts und der Aufklärung, vorausgegangen. Daher darf denn auch der gehorsamst Unterzeichnete Sie zu einer seiner, der feinsten geistigen Unterhaltung gewidmeten Soiréen, in welchen Sie mehr als gewöhnlichen Berliner Theeaufguß finden werden, auf heute Abend sechs Uhr bei sich einladen. Herr Nudelmüller wird sich heute besonders auszeichnen. Ihr ergebener und vergnügter Weinwirth

Louis Drucker, Poststraße, Nr. 3.“ 

„Was sagen Sie dazu, Madame? Woher kennt der Mann meinen Namen? Was weiß er von meiner Liebe zu den Künsten und Wissenschaften?“

„Woher er Ihren Namen und Ihre Wohnung kennt, Herr Ehrenreich, das kann ich Ihnen in der That nicht sagen; im Uebrigen erhält jeder Fremde, der nach Berlin kommt, sich einige Tage hier aufhält und dessen Name durch irgend ein Fremdenblatt bekannt wird, eine völlig gleiche Zuschrift von diesem Industrieritter neuer und etwas besonderer Art.“

„Und was will er von mir?“

„Nichts, als daß Sie seine Weinstube besuchen und darin für theures Geld eine Flasche schlechten Wein bezahlen. Austrinken werden Sie sie schwerlich.“

„Eine sonderbare Stadt, dieses Berlin, das auch durch andere Leute, als den Herrn Drucker, sich den Sitz der Künste und Wissenschaften, des Lichts und der Aufklärung zu nennen beliebt.“

Die Unterredung wurde unterbrochen. Die Klingel der Wohnung wurde gezogen und die Frau Rohrdorf eilte, zu öffnen. Ein Herr in schwarzem Frack, weißer Halsbinde und hohem Cylinder hatte geklingelt. Der Frack war etwas abgetragen, der Hut zerknickt, die weiße Halsbinde hatte dunkle Streifen. Der Mann sah würdevoll und feierlich aus, trotzdem daß seine lauernden Augen schnell und lebhaft genug alle Räume, Winkel und Ecken durchflogen.

„Ist der Herr Ehrenreich zu Hause?“ fragte er mit einer sanften, aber sehr würdig gehaltenen Stimme.

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte der eingegangenen Bedingung gemäß die Frau. „Dort ist sein Zimmer.“

Der Herr ging zu der bezeichneten Thür und klopfte an. Die Frau konnte beim raschen Umblicken noch gewahren, wie der Herr Ehrenreich seine Fenstergardine etwas gelüftet, sich den Fremden mithin besehen hatte. Sie kehrte in ihre Wohnung zurück. Der Herr Ehrenreich aber öffnete dem Fremden die Thür.

„Ich habe die Ehre, den Herrn Ehrenreich zu sehen?“

„So ist mein Name. Was ist Ihnen gefällig, mein Herr? – Doch vor allen Dingen, mein Herr, darf ich fragen, woher Sie meinen Namen und meine Wohnung erfahren haben?“

„Ein so ausgezeichneter Beförderer der Künste und Wissenschaften, wie Sie, Herr Ehrenreich –“

„Donnerwetter, Herr, wer hat Ihnen das gesagt?“

„Was alle Welt weiß, wie sollte das –“

„Alle Welt weiß nichts von mir,“ rief eifriger der Herr Ehrenreich.

Aber der Fremde ließ sich nicht irre machen.

„Wie sollte das,“ fuhr er in seinem würdigen, sanften Tone fort, „in dieser Residenz, dem Sitze der Aufklärung und der Künste und Wissenschaften ein Geheimniß bleiben können?“

Dem Herrn Ehrenreich schien auf einmal ein Licht aufzugehen.

„Sind Sie der Herr Nudelmüller?“ fragte er.

Der würdige Herr entsetzte sich. „Mein Herr, ich bin kein elender Possenreißer. Aber ich verzeihe Ihnen; Sie sind fremd in dieser großen Stadt.“

Das brachte den Herrn Ehrenreich auf seine erste Frage zurück. „Zum Teufel, ja, Herr, und ich möchte im Ernst und ohne alle Possenreißerei, verstehen Sie, ohne alle, von Ihnen erfahren, wie Sie mich hier haben auskundschaften können?“

Der würdige Herr war nicht aus seiner Fassung zu bringen.

„Ich hatte bereits die Ehre, es Ihnen zu sagen; Berlin ist der Sitz der Künste und Wissen–“

„Himmeldonnerwetter, Herr, dieser verdammte Sitz! Was wollen Sie von mir? Aber machen Sie es kurz.“

[396] „Mein Herr, ich heiße Pfaffenhorst. Ich bin zwar selbst kein Künstler, aber ich bin der Vater eines Künstlers, eines berühmten Künstlers.“

Der würdige Herr war noch sehr jung; er konnte kaum ein angehender Dreißiger sein. Der Herr Ehrenreich sah ihn verwundert an.

„Sie, mein Herr?“

„Ja, ich. Uebermorgen Abend wird mein Sohn hier ein Concert geben. Ich gebe mir die Ehre, Ihnen hier den Subscriptionszettel vorzulegen. Das Billet kostet nur einen Thaler und funfzehn Silbergroschen.“

„Verdammt wenig.“

„Gewiß. Dieser geringe Preis gilt aber auch nur für die Herren Subscribenten, die sogleich bezahlen.“

„Gehorsamer Diener.“

„An der Casse tritt später ein erhöhter Preis ein.“

„Ich will Ihnen lieber diesen erhöhten Preis zahlen, wenn ich hinkomme.“

„Mein Herr, ein solcher Beschützer der Künste und Wissenschaften, wie Sie –. Sollte ich mich in Ihnen geirrt haben?“

„Meinetwegen.“

„Und wissen Sie, daß mein Sohn, dieser große Virtuos, hier unter der Protection einer hohen Person steht?“

„Meinetwegen.“

„Einer sehr hohen Protection.“

„Meinetwegen unter der des –. Aber wie alt ist denn Ihr Sohn, dieser ausgezeichnete Virtuos?“

„Er steht noch in dem zarten Kindesalter von sechs Jahren.“

„Na, der mag etwas Schönes können!“

„Mein Kind ist unter jener hohen Protection ausgebildet; seit zwei Jahren schon.“

„Herr, als Balg von vier Jahren? Oder bleibt Ihr Bursch vielleicht sein Lebenlang sechs Jahre alt?“

„Mein Herr, ich bin erhaben über jede Unwahrheit. Sie würden in dem, was ich sage, nichts Unbegreifliches finden, wenn Sie erwägen wollten, wie die Gnade einer so hohen Protection in ihrer wunderbaren und doch so natürlichen Weise gleich einem göttlichen Funken wirken und mein Kind früh zu einem so ausgezeichneten Künstler heranbilden mußte.“

[409] „Sie scheint Sie zu einem eingebildeten Narren gemacht zu haben.“

„Mein Herr, mich konnten Sie beleidigen; aber keine Beleidigung hoher Personen; das darf ich nicht dulden, weder in meiner Stellung als Vater, noch überhaupt in meinem Gewissen als Unterthan. Wollen Sie subscribiren?“

„Nein.“

„Sollte ich mich wirklich in Ihnen geirrt haben?“

„Zum Teufel, Herr –“

„Ich habe hohe Verbindungen hier, nicht blos in den Künsten und Wissenschaften –“

„Gehen Sie zum Teufel mit Ihren Künsten und Wissenschaften.“

„Auch bei der Polizei, mein Herr, und Sie haben vorhin gegen hohe Personen –“

„Kerl, ich schmeiße Dich zur Thüre hinaus.“

„Mein Herr, ich bin kein Bettler –“

„Aber ein unverschämter Lump!“

„Sie wollen also nicht subscribiren?“

„Den Rücken werde ich Ihnen bläuen!“

Der Herr Ehrenreich sprang zu einem spanischen Rohr, das in der Ecke stand. Das half. Mit einem behenden Satze war der würdige Herr aus der Stube und aus dem Gange hinaus.

„Madame!“ rief der Herr Ehrenreich, als er fort war. „Madame, kennen Sie einen Menschen, der Pfaffenhorst heißt?“

„Gewiß, mein Herr. Die Concerte seines sechsjährigen Kindes werden oft durch die Zeitungen angekündigt.“

„Also doch?“

„Sie werden aber in neuerer Zeit nicht mehr so fleißig besucht. Es gibt seit Kurzem zu viele solcher Wunderkinder hier in Berlin –“

„Dem Sitze der Künste und Wissenschaften!“

„Und sodann bleibt der Knabe nun schon seit drei Jahren immer sechs Jahre alt.“

„Ah, ich hatte es gedacht. Aber, der Bursche muß in die Höhe geschossen sein.“

„Ach, mein Herr, solche frühreife Kinder bleiben in ihrer körperlichen Ausbildung zurück.“

„Diese verdammte Geniefabrik!“

„Sie werden oft sogar absichtlich in ihrer äußeren Entwickelung zurückgehalten, durch Hunger, Kälte – damit man sie lange für sechs Jahre ausgeben kann.“

„Ei, dieses verdammte Berlin, dieser Höllenpfuhl der Künste und der Aufklärung! Laß den Kerl mir wieder vor die Augen kommen!“

Während dieses Gesprächs war die Thür zu der Wohnung wieder geöffnet worden, und zwar ohne daß geklingelt war. Eins von den Kindern der Frau Rohrdorf hatte zufällig an der Thür gestanden, draußen vor dieser Schritte gehört und geöffnet. Ein Mann hatte nach dem Herrn Ehrenreich gefragt, das Kind hatte ihm seine Stube gezeigt; er nahm seinen Weg dahin. Der Herr Ehrenreich hörte die Schritte im Corridor. Schnell lüftete er die Gardinen und blickte hinaus.

„Ah, ah, endlich!“ sagte er vergnügt.

Auch die Frau Rohrdorf hatte einen Blick durch die schmale Oeffnung der Gardine geworfen; zwar nur einen flüchtigen, aber sie schien damit genug gesehen zu haben. Sie fuhr beinahe erschrocken zurück.

„Der da!“ rief sie.

Der Herr Ehrenreich winkte ihr, ihn zu verlassen, und zwar durch seine Schlafstube, damit der Angekommene, den er in das Besuchzimmer einließ, sie nicht sehe. Sie ging.

Der Fremde war ein kleiner, schmächtiger, gewandter Mensch, mit einem blassen, aschgrauen Gesichte, glatt anliegenden schwarzen Haaren, grauen, verschleierten Augen, mit denen er in kein anderes Auge, aber desto schärfer, durchdringender und schneller überall sonst wohin sehen konnte. Wo man ihm auch begegnet sein mochte, man hätte gewiß zuerst an Uhr, Börse und Taschentuch gedacht und sich die Taschen zugehalten. Wäre man in einsamer Gegend auf ihn gestoßen, man würde sich eines plötzlichen Messerstiches von hinten oder einer Pistolenkugel in das Genick versehen haben. Der Herr Ehrenreich schien von dem Menschen gar nichts zu fürchten, den er vielmehr als einen Vertrauten behandelte.

„Was bringen Sie, Herr Henne?“ kam er ihm eilig und erwartungsvoll entgegen. „Haben Sie gefunden?“

„Leider noch nicht, Herr Ehrenreich.“

„Gar nichts? Keine Spur?“

„Auf einer Spur wäre ich schon –“

„Lassen Sie hören –“

„Vor allen Dingen Geduld, Herr Ehrenreich. Die Polizei darf immer nur leise und vorsichtig gehen, sonst drehet alle Welt ihr Nasen.“

„Mit Eurer verdammten langsamen Vorsicht. Ich denke, Räder, die gut geschmiert werden, fahren desto schneller.“

[410] „Wenn sie zu schnell fahren, wirft der Wagen um.“

Der Herr Henne hatte sich unterdeß angelegentlich, aber vorsichtig nach allen Seiten in dem Zimmer umgesehen; vorsichtig, als wenn der Herr Ehrenreich es nicht bemerken solle.

„Auf welcher Spur, Herr Ehrenreich? Sie wissen, er war ohne alle Spur verschwunden, nachdem er den großen Herrn genug gespielt und Geld genug durchgebracht hatte.“

„Gott verdamme den Burschen.“

„Ich meinte, Sie wollten ihn lieber mit heiler Haut wieder haben?“

„Erzählen Sie.“

„Die Polizei rannte sich vergebens die Beine nach ihm ab; selbst der Polizeidirector, der mit seiner feinen Nase Alles aufspürt.“

„Darum wandte ich mich an Sie; Sie waren mir besonders empfohlen.“

„Sie sollen sich in mir nicht geirrt haben. Also er war verschwunden. Kein Mensch sah oder hörte von ihm; in keinem Hôtel, in keinem Schauspiel, nicht auf der Straße, nicht in der Tabagie. Meine Freunde, die durch die ganze Stadt und überall hinkommen, hatten nichts von ihm gesehen. Auf einmal erfahre ich heute zufällig, daß schon seit vierzehn Tagen ein schmucker Bursch, mit einem verdammt vornehmen Gesicht, mit großen schwarzen Augen und einem kleinen schwarzen Schnurrbart –“

„Das ist er, das ist er! Wo treibt der Bursch sich herum?“

„Geduld, Geduld, Herr Ehrenreich. Er hat sich das Ansehen so eines jungen Künstlers gegeben.“

„Der Spitzbube! Aber, ja, ja, in der Residenz der Künste und Wissenschaften! – Weiter, weiter, Herr Henne.“

„Diesen Menschen nun hat man seit vierzehn Tagen, und vielleicht schon länger, tagtäglich um zwölf Uhr Mittags Arm in Arm mit einem jungen Mädchen –“

„Hol’ ihn der Teufel!“

„So einer Schneidermamsell –“

„Hol’ sie der Teufel!“

„Einer ganz hübschen Person, über den Spittelmarkt gehen sehen.“

„Wo ist Ihr Spittelmarkt?“ rief der hastige alte Herr, indem er schon nach Hut und Stock langen wollte.

„Geduld, Geduld, Herr Ehrenreich, es ist noch lange nicht Mittag, und Sie können es auch näher haben.“

„Näher? Was wollen Sie damit sagen?“

„Der junge Mensch hat zwar seine Sache recht listig angefangen. Auf dem Spittelmarkte war er nahe genug bei dem Molkenmarkte, dem Mittelpunkte unserer Polizei, und gerade um die Mittagszeit sind dort sämmtliche Polizeicommissarien von Berlin, Criminal- und Reviercommissarien zur Conferenz oder zum Rapport versammelt. Ach, mein Herr, Sie glauben nicht, was das für eine weise und wohlthätige Einrichtung unseres Herrn Polizeipräsidenten ist; alle Spitzbuben Berlins wissen jeden Tag genau, wo sie von halb zwölf bis ein Uhr die Berliner Polizei zu finden haben, und daß sie dann anderswo nirgends zu finden ist.“

„Herr,“ rief der ungeduldige Herr Ehrenreich, „was geht mich Ihre weise Polizei hier an?“

„Ich denke, viel. Indeß seit drei Tagen muß doch der junge Mensch sich auf dem Spittelmarkte nicht recht sicher mehr gefühlt haben; man hat weder ihn noch seine Blondine mehr gesehen. Auf einmal, heute Morgen um acht Uhr, hat man Beide wiedergefunden –“

„Beisammen?“

„Beisammen.“

„Und wo?“

„Hier, ganz in Ihrer Nähe.“

„In meiner Nähe?“

„Dieses ist nicht ihr einziges Zimmer, Herr Ehrenreich? Ich sehe kein Bette darin.“

„Was soll das?“

„Dieses Zimmer geht auf den Hof?“

„Sie sehen es ja.“

„Geht eins auf die Straße? Auf die Dresdener Straße?“

„Ja.“

„Kann man von da bis an die Ecke der neuen Dresdener Straße sehen?“

„Ich weiß den Teufel von Ihrer neuen Dresdener Straße.“

„Es kommt Alles darauf an. Darf ich Sie bitten, mich in das Zimmer zu führen?“

„Kommen Sie mit,“ sagte nach kurzem Besinnen der Herr Ehrenreich.

Der Herr Henne hatte mit einem gespannten Lauern seiner verschleierten Augen auf die Antwort gewartet. Seine Lippen zuckten wie triumphirend, als der Herr Ehrenreich die Thür zu seinem Arbeitszimmer öffnete, um ihn in dieses hineinzuführen; als er aber darin war, schien er nicht völlig befriedigt zu sein.

„Ah, man sieht hier ja nichts, als die Häuser gegenüber.“

„Was wollen Sie denn sehen?“

„Ich sagte es Ihnen schon, die Ecke der neuen Dresdener Straße. Wissen Sie, mein Herr, an dieser Ecke hat man heute den jungen Mann mit dem Mädchen gesehen; an dieser Ecke wird man ihn gewiß heute Mittag wiedersehen; denn um acht Uhr gehen die Schneidermamsells zur Arbeit und um zwölf Uhr kommen sie zurück.“

Der Herr Ehrenreich sah schnell nach seiner Uhr.

„Jetzt ist es halb zwölf.“

„Richtig, und wenn Sie noch ein anderes, drittes Zimmer haben, aus dem man weiter in die Straße hineinsehen kann –“

„Man kann.“

„So hätte ich folgenden Plan – Aber ich müßte vorher das Zimmer sehen.“

„Kommen Sie,“ sagte, ohne sich zu besinnen, der Herr Ehrenrenreich, und er führte den Mann mit dem lauernden verschleierten Blicke in seine Schlafstube.

„Ah, Herr Ehrenreich, vortrefflich, wie gemacht für meinen Plan. Sie wollen von dem Burschen nicht gesehen sein?“

„Nein! Darum gehe ich ja nicht einmal auf die Straße.“

„So haben Sie sich nur an dieses Fenster hier hinter die Gardine zu stellen. Jene Straßenecke dort links ist die der neuen Dresdener Straße; in diese geht er hinein und kann Ihren Augen nicht entgehen. Ich verfüge mich zu gleicher Zeit unten in die Straße selbst. Er kennt mich nicht, ich ihn freilich auch nicht; aber, so wie ein Bursch von der beschriebenen Gestalt vorbeigegangen ist, geben Sie mir einen Wink, daß es der Rechte ist; und ist er es, so haben wir ihn.“

„Um zwölf, Herr Henne?“

„Glocke zwölf. Haben Sie sich die Straßenecke genau gemerkt? Da unten, etwas links.“

Herr Ehrenreich sah scharf nach der bezeichneten Gegend, um sie sich recht genau zu merken. Ersterer sah sich unterdeß nicht minder scharf in der Schlafstube des alten kleinen Herrn um, und jetzt schien er völlig befriedigt zu sein.

„Ich gehe auf meinen Posten.“

„Ich werde auf dem meinigen sein.“

Der Herr Henne ging. Als er fort war, trat die Frau Rohrdorf zu dem alten Herrn in die Stube. Ihr Gesicht trug noch die Spuren, wenn auch nicht mehr des Schreckes, doch einer großen Aengstlichkeit.

„Wissen Sie, wer der Mensch ist, der bei Ihnen war?“

„Gewiß, Madame.“

„Sie kennen ihn?“

„Nun ja.“

Die Frau erschrak nochmals und sah den alten Herrn mit einem nicht zu verbergenden Mißtrauen an. Dieser bemerkte es.

„Was wissen Sie denn von ihm, Madame?“

„Mein Herr, der Mensch heißt Henne –“

„So heißt er.“

„Und ist einer der gefährlichsten Diebe von Berlin.“

„Potz Wetter, Madam, das muß ein Irrthum sein!“

„Leider nicht.“

„Er ist mir gerade von der Polizei empfohlen.“

„Ein um so gefährlicherer Spitzbube ist er.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Bis vor einem halben Jahre hat er nur gestohlen und in Zuchthäusern gesessen, und wenn daher die Polizei ihn jetzt empfiehlt, so ist er Polizeivigilant geworden.“

„Das heißt, Madame?“

„Ein Spitzbube, den die Polizei gebraucht, andere Spitzbuben einzufangen, und dem sie dafür seine eigenen Spitzbübereien nachsieht.“

„Madame, mit solchen Geschichten gibt sich die Polizei hier ab?“

[411] „Nicht blos hier, mein Herr, überall. Es heißt, solche Menschen seien nun einmal unentbehrlich; man müsse unter zwei Uebeln das kleinere wählen.“

„Und die empfiehlt man sogar Fremden?“

„Das weiß ich nicht. Aber der Herr Polizeipräsident wird ihn Ihnen nicht empfohlen haben.“

„Nein, Madame.“

„Auch der Herr Polizeidirector nicht.“

„Auch er nicht.“

„Könnten Sie mir vielleicht anvertrauen, wer? Mein seliger Mann hat mir manche Persönlichkeiten der hiesigen Polizei geschildert.“

Der alte Herr besann sich, ob er antworten solle. In dem Augenblicke schlug es zwölf Uhr.

„Nachher, nachher, Madame, jetzt habe ich keine Zeit!“ drängte er kurz und gut die Frau zur Stube hinaus.

Er begab sich auf den Posten, den ihm Herr Henne angewiesen hatte. Er sah scharf genug nach der bezeichneten Straßenecke; er sah lange und unverwandt hin; aber den gesuchten jungen Mann entdeckten seine Augen nicht, weder allein, noch am Arme eines hübschen Mädchens. Nach einiger Zeit kam auch Herr Henne wieder zurück.

„Das war für heute nichts, Herr Ehrenreich.“

„So scheint es.“

„Man muß morgen Mittag hier und zugleich am Spittelmarkte aufpassen; ich werde es besorgen.“

„Thun Sie das. – Herr Henne, was ist denn ein Polizeivigilant?“

„Ein Polizeivigilant, Herr Ehrenreich?“

„Ich fragte danach.“

„Der klügere Theil eines Polizeibeamten.“

„Und ein Spitzbube?“

„Ein vormaliger.“

„Gottes Wunder!“

„Der sich gebessert hat, der zur Einsicht gekommen, ein ordentlicher Mensch geworden ist –“

„Und nun hilft, auch andere Leute auf den Pfad der Tugend zurückzuführen?“

„Richtig, Herr Ehrenreich; Sie scheinen genau unterrichtet zu sein. – Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“

„Ich wüßte nicht.“

„So empfehle ich mich Ihnen.“

„Sie kommen doch morgen wieder?“

„Frühzeitig.“

Der Polizeivigilant entfernte sich.

„Frühzeitig!“ murmelte der Herr Ehrenreich hinter ihm her; „frühzeitig! Der Schuft sprach das Wort so sonderbar aus. – Pah, wenn er mir geholfen hat, kann er mir gestohlen werden; er weiß jetzt, daß ich ihn kenne.“ Er verzehrte darauf sein Mittagessen, das ihm die Frau Rohrdorf brachte.

„Madam, um vier Uhr bringen Sie mir zwei Tassen Kaffee; ich bin es so gewöhnt.“ Um vier bekam er zwei Tassen Kaffee.

„Madame, um sieben Uhr nehme ich mein Abendbrod, wie gestern, nichts mehr und nichts weniger, zu mir; dann brauchen Sie sich vor morgen früh sieben Uhr nicht weiter um mich zu bekümmern.“

Er erhielt zur bestimmten Zeit sein Abendbrod; die Frau mußte sich aber doch noch früher, als am andern Morgen sieben Uhr um ihn bekümmern.

Er hatte den Nachmittag mit Schreiben und Durchsehen seiner Papiere zugebracht. Mitunter war er in seine Schlafstube gegangen, um nach der von dem Polizeivigilanten ihm bezeichneten Straßenecke zu sehen; dies setzte er fort, bis es dunkel wurde. Nachdem er sein Abendbrod verzehrt hatte, arbeitete er noch eine Zeitlang, und um zehn Uhr legte er sich zu Bette. Vorher verschloß er vorsichtig die äußeren Thüren aller seiner drei Stuben; die Schlüssel aber ließ er inwendig in den Schlössern stecken, mit einer Art Genugthuung, als wenn er nun sicher sei, da die Thüren durch Nachschlüssel von außen nicht geöffnet werden könnten; die inneren Verbindungsthüren der Stuben legte er blos in ihr Schloß.

Besonders vorsichtig untersuchte er zuletzt den Verschluß des in der Schlafstube neben seinem Bette stehenden Kleiderschrankes, in welchem er bei seiner Ankunft das kleine, schwere Kästchen verschlossen hatte.

Der Schrank war fest zu; zum Ueberflusse überzeugte er sich noch, daß er den Schlüssel in seiner Westentasche führte. Die Weste hing über einer Stuhllehne unmittelbar vor seinem Bette.

Bald darauf schlief er ein, sollte aber auch bald wieder zu einem Abenteuer erwachen. Ein Geräusch weckte ihn und dauerte noch fort, als er plötzlich aus dem Schlafe auffuhr. Aber er gehörte zu den Menschen, die sofort im ersten Augenblicke des Erwachens noch keine klare Besinnung haben; diese kommt ihnen erst nach und nach; sie können sich deshalb auch von dem, was sie bis dahin gesehen oder gehört haben, keine Rechenschaft geben. So schien ihm nur das Geräusch, welches er hörte, in seiner Schlafstube zu sein, gar in der Nähe des Bettes. Weiter wurde ihm nichts klar, weder die Art des Geräusches, noch der Gegenstand, durch welchen oder an welchem es hervorgebracht wurde. Während er schnell seine Besinnung sammelte und im Bett sich aufrichtete, um zu horchen, wurde mit einem Male Alles still. Er hörte nicht das Geringste mehr, keinen Athemzug, kein Knistern eines Sandkörnchens, und konnte meinen, geträumt zu haben; er meinte das in der That. Es war in der Stube stockfinster; zu seinen „Gewohnheiten“ gehörte es auch, wie er sagte, in möglichst tiefer Dunkelheit zu schlafen. Er hatte daher nicht nur kein Nachtlicht brennen lassen, sondern auch die Vorhänge dicht vor die Fenster gezogen; so sah er auch in der Stube nichts. Nachdem er eine ziemliche Weile in die Stille hineingehorckt und in die Finsterniß hineingestarrt hatte, wollte er sich wieder hinlegen. Vorher nahm er seine Uhr, die auf dem Nachttische lag, dicht vor ihm an dem Kopfende des Bettes, und ließ sie repetiren; sie schlug zwölf Uhr und drei Viertel. Er dachte unwillkürlich an den Polizeivigilanten Henne, der mit so sonderbarem Ausdrucke ihm versprochen hatte, frühzeitig am Morgen wieder bei ihm zu sein. „Es wäre verteufelt früh!“ sagte er für sich. Indeß er hörte nichts weiter und legte sich wieder hin. Das „verdammte“ Wort: „frühzeitig“ ging ihm jedoch unaufhörlich im Kopfe herum, und er mußte immerfort horchen. Er hörte immer nichts und meinte doch immer, etwas hören zu müssen. Zuletzt, um seiner Sache ganz gewiß zu sein, kam er auf einen Einfall. Er stellte sich, als wenn er schlafe, und ahmte den schweren Athem eines Schlafenden nach, anfangs leise, dann nach und nach stärker, endlich schnarchte er. Auf einmal hörte er, mitten durch das Schnarchen, wieder ein Geräusch; es war am Fußende seines Bettes, dort wo der verschlossene Kleiderschrank stand. Er hörte eine Bewegung, als wenn Jemand leise auftrete; weiter hatte er nichts gehört; entweder hatte keine andere Bewegung stattgefunden, oder er hatte zu laut geschnarcht. Er beendigte nun seine schweren Athemzüge. In demselben Augenblicke hörte er auch gar nicht mehr. Rasch griff er nach seiner Weste, die auf dem Stuhle vor seinem Bette hing. Die Weste war noch da; er fühlte in die Tasche nach dem Schlüssel des Schrankes; der Schlüssel war fort.

„Donnerwetter!“ rief er laut.

Mit einem Satze sprang er zum Bette hinaus. Allein, wie muthig und unerschrocken der kleine, runde, alte Herr auch sein mochte, es war in der Stube stockfinster, und sein erster Sprung war daher – wohl nicht ohne Recht – zu dem Tische unter dem Spiegel, gegenüber dem Bette, wo das Licht stand, das er beim Schlafengehen ausgelöscht hatte, und neben dem Lichte eine Büchse mit Zündhölzern. Er griff nach den Zündhölzern, strich eins davon an der Wand und warf es weg, indem es nicht brannte. Er nahm darauf ein zweites und strich damit; es brannte aber eben so wenig, wie das erste.

„Verdammte Stadt des Lichts und der Aufklärung!“ rief er.

„Nicht einmal ordentliche Zündhölzer haben sie hier. Wie wird dieses Nest noch obscur werden!“

Mit einem vierten Hölzchen erst zündete er die Stearinkerze an. Dann sah er rasch in den ganzen Stube umher, bemerkte aber nichts Verdächtiges.

„Zum Teufel, wo steckt der Kerl?“

Waffen schien der alte Herr nicht bei sich zu führen; aber sein gutes, derbes spanisches Rohr stand an dem Tische. Er nahm es und begab sich damit auf die Wanderung zum näheren Nachsuchen; eilte dann zuerst an den Schrank, fand ihn aber verschlossen; blickte in jede Ecke der Stube, fand aber nichts darin; hinter jede Gardine vor den Fenstern, und fand nichts dahinter; leuchtete endlich auch unter die Bettstelle, es war ebenfalls leer darunter. „Der Kerl wird sich doch unterdeß nicht in mein Bett gelegt haben!“ Er hob, nicht ohne Vorsicht, die Bettstücke auf, unter und auf denen er gelegen hatte; das Bett war leer. „Gehört habe ich etwas, darauf schwöre ich!“ Er untersuchte die Thüren der Stube; [412] sie waren verschlossen, wie er sie gelassen hatte, als er zu Bette ging. „Der Kerl ist fort, wenn auch in unbegreiflicher Weise. – Aber mein Kästchen! Der Schrank ist verschlossen und der Schlüssel steckt nicht mehr darin. Wie überzeuge ich mich nur?“ Während er darüber nachsann, faßte er mechanisch nach der Weste, in deren Tasche der Schlüssel zum Schranke sich befunden hatte. „Alle Wetter, was ist denn das?“ Der Schlüssel war in der Tasche; wieder oder noch? „Habe ich geträumt oder war der Kerl ein Hexenmeister?“ Jetzt schloß er den Schrank auf. Das Kästchen war noch darin, an demselben Platze, auf den er es gestellt hatte, verschlossen, unversehrt. „Ich glaube wahrhaftig, ich habe nur geträumt; aber ich hörte doch das Geräusch deutlich, besonders das zweite Mal.“ Er durchsuchte zur Vorsicht die beiden andern Stuben; auch hier fand er nichts. Keine Spur zeigte, daß Jemand da gewesen war. Thüren und Fenster waren verschlossen und ohne Verletzung. Nur eins der Fenster in seiner Arbeitsstube war blos angelehnt, und die Klinken, mit denen es versehen war, hingen nicht in ihren Ringen; er erschrak darüber. „Sollte Jemand durch das Fenster gestiegen und wieder zurückgekehrt sein?“ Er untersuchte es genauer. Es schloß nicht ganz fest in den Rahmen ein; durch eine Ritze konnte man mit einem schmalen Instrumente, z. B. einem Messer, von außen hineinlangen und die Klinke aufheben, worauf das Fenster sich von selbst öffnete. „Möglich wäre es!“ Aber das Fenster führte auf die Straße, auf die auch bei Nacht nie völlig unbelebte und von den Gaslaternen erhellte Dresdener Straße. Es war im oberen Stock, wenigstens zwanzig Fuß über der Erde; ohne eine Leiter konnte man nicht hinaufsteigen. Er bückte hinaus und sah weder eine Leiter, noch einen Menschen.

„Es ist nicht wahrscheinlich, es ist nicht möglich,“ sagte er.

„Aber ein leichtsinniger Bursche war ich doch wohl, daß ich das Fenster unverschlossen gelassen habe. Und im Uebrigen habe ich geträumt, es ist kein Zweifel mehr.“

Er verschloß sorgfältig das Fenster, kehrte in sein Schlafzimmer zurück, löschte das Licht aus und legte sich wieder zu Bett.

Nach kurzer Zeit war er zum zweiten Male eingeschlafen.

Aber er erwachte auch zum zweiten Male durch ein Geräusch in seiner Stube. Diesmal war es stärker, als das erste Mal, er vernahm es deutlicher, und kam zur schnelleren Besinnung. Es war am Fußende seines Bettes, an dem Schranke, vielleicht sogar in demselben; ein harter Gegenstand schien laut hingefallen zu sein.

„Holla, Höh,“ rief im Bette aufspringend der kleine alte Herr.

„Wer ist da?“

Es war stockdunkel in der Stube, wie früher. Auf seinen Ruf erhielt er keine Antwort; er hörte auch nicht das geringste Geräusch mehr; eine Todtenstille herrschte in dem Zimmer.

„Da soll das Donnerwetter drein schlagen!“

Er sprang aus dem Bette, wieder zu dem Tische, auf dem das Licht und die Zündhölzer standen. Aber er konnte den Tisch nicht erreichen. Mitten auf dem Wege dahin umfaßten ihn zwei starke Arme von hinten, und suchten ihn niederzuwerfen. Aber der kleine alte Herr war trotz seines Alters und seines runden Bäuchleins ein stämmiger Gesell.

„Du kommst mir recht, Spitzbube!“

Er rang mit seinem Angreifer. Dieser hatte sich verrechnet.

Der alte Herr war ihm überlegen und anstatt zu Boden geworfen und dann wahrscheinlich geknebelt zu werden, warf nach kurzem Ringen der Herr Ehrenreich den Räuber zu Boden, und hielt ihm die Arme, daß der Mensch sich kaum rühren konnte.

In dem Kampfe war er mit dem Kerl bis an das Fenster gerathen; er hatte ihn auf die Fenstergardine geworfen, die durch den Fall mit niedergerissen wurde. Durch das freigewordene Fenster drang das Laternenlicht von der Straße in die Stube. Der Hcrr Ehrenreich sah, wie er einen jungen Menschen mit einem feinen, etwas blassen Gesichte, mit großen Augen in diesem Gesichte, und die kecke Oberlippe mit einem feinen schwarzen Schnurrbärtchen geziert, unter seinen Fäusten hielt. Daß der Mensch eher groß als klein war, hatte er schon während des Ringens mit ihm bemerkt.

„Verdammter Spitzbube,“ sagte Herr Ehrenreich. „Ich werde Dich lehren, in dieser Stadt der Aufklärung und des Lichtes die Leute in der Finsterniß und von hinten zu überfallen!“

„Spitzbuben, Räuber!“ wollte er sich nun durch das Fenster Succurs herbeirufen.

Aber in demselben Augenblicke fühlte er sich noch einmal von hinten gepackt, und zwar diesmal fester und von kräftigeren Armen, als das erste Mal, und ehe er sich besinnen konnte, bekam er zugleich einen furchtbaren Faustschlag auf den Kopf, daß ihm Hören und Sehen verging.

Es mußte ihm auf lange Zeit vergangen sein, wahrscheinlich von mehreren Schlägen, die er hinter dem ersten noch in den Kauf erhalten hatte. Denn als er wieder zur Besinnung kam, war der helle Tag längst angebrochen. Er war allein in seiner Stube, und lag an der Erde unter dem Fenster. Er wollte aufstehen, der Kopf war ihm zu schwer, er fiel wieder um. Jetzt erst besann er sich auf sein Nachtabenteuer. Er versuchte nochmals aufzustehen; es gelang ihm, schwer genug. Er ging zuerst an den Nachttisch, um zu sehen, wie viel Uhr es sei; seine goldene Repetiruhr war fort. Er ging an den Kleiderschrank, der Schrank stand offen, aber –

„Donnerwetter, was ist denn das? Sind denn auch die Spitzbuben hier anders, als anderswo? Will hier Jedermann etwas Besonderes, ein Genie sein?“

Er hatte das Kästchen, als er es in den Schrank brachte, unten auf den Boden gestellt, so daß die darüber hängenden Kleider es bedeckten. Als er nun in dem Schranke nachsah, fand er das Querholz, an welchem die Kleidungsstücke gehangen hatten, abgerissen; die sämmtlichen Kleider lagen bunt in dem Schranke umher, und er mußte lange umherwühlen und aufräumen, um unten auf den Boden zu gelangen. Und hier fand er sein Kästchen, verschlossen und unversehrt, wie er es auch in der Nacht gefunden hatte. Er öffnere es, indem er an einer geheimen Springfeder drückte. Es mußte auch an dem Inhalte nichts fehlen, denn er verschloß es sehr vergnügt wieder und stellte es an seinen Platz zurück. Dann warf er als ordentlicher Mann – er hatte seinen nächtlichen Kampf in bloßem Hemde bestanden – sich rasch in einige Bekleidung, und öffnete darauf die Stubenthür.

„Madame! Madame!“

Die Frau Rohrdorf schien schon lange auf den Ruf gewartet zu haben. Sie war sofort bei ihm.

„Wie sehen Sie aus, Herr Ehrenreich? Das ganze Gesicht ist Ihnen aufgeschwollen, Sie haben dicke Beulen auf dem Kopfe.“

„Ich glaube es, Madame, denn der Kopf ist mir verdammt schwer.“

„Was ist Ihnen begegnet, was für ein Geräusch war heute Nacht bei Ihnen?“

„Haben Sie etwas gehört?“

„Es kam mir vor, als wenn ich ein Schlagen und Fallen bei Ihnen hörte. Es war zwischen eins und zwei Uhr. Ich stand auf und lauschte hier an Ihrer Thür. Ich hörte darin gehen und flüstern. Nun hatten Sie mir zwar befohlen, ich sollte mich vor sieben Uhr nicht um Sie bekümmern, dennoch klopfte ich an, bekam jedoch keine Antwort. Gleich darauf hörte ich aber ein Fenster zumachen. Ich dachte mir, Sie hätten mit Jemanden auf der Straße durch das Fenster gesprochen, und als ich nichts weiter vernahm, ging ich zurück und legte mich wieder zu Bette.“

„Sahen Sie nicht auf die Straße, Madame?“

„Sie bewohnen alle meine Stuben, die nach der Straße liegen.“

„Hm, hm, Madame, sein Sie so gut, zur Polizei zu schicken. Ich hatte heute Nacht Besuch von Räubern.“

„Sie sind bestohlen?“

„Schicken Sie zur Polizei, Madame.“

Die Frau Rohrdorf sandte ihre Tochter Anna zu dem Polizeicomnnssarius des Reviers. Dieser traf schnell ein, mit ihm der Referendarius, der bei der Polizei seine Carriere machen wollte. Er wohnte in der Nähe. Als Criminalpolizeibeamter war er die Hauptperson. Er inquirirte. Ihm erzählte Herr Ehrenreich sein Abenteuer. Dem alten Herrn war der Kopf noch immer schwer; er konnte die Sache nicht recht begreifen. Auch der Referendarius und Reviercommissarius schüttelten über Manches bedenklich die Köpfe, gaben sich aber zuletzt zufrieden mit der genauen Beschreibung, die ihnen der Beraubte von dem jungen Menschen mit dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen machen konnte.

[421] „Der Kerl muß zu finden sein, Herr Referendarius,“ sagte der Reviercommissarius. „Heute Mittag „geben wir ihn in der Conferenz auf,“ Einer wird ihn schon kennen.“

Die Versammlung der sämmtlichen Polizeicommissarien Berlins des Mittags auf dem Polizeipräsidium hatte namentlich auch solche gegenseitige Mittheilungen zum Zweck.

Der Referendarius hatte indeß seine eigenen Gedanken.

Kurze Zeit nach der Entfernung der beiden Beamten erschien der Polizeidirector, den ein besonderer Zufall, oder war es Instinct bei ihm? fast immer in die Nähe führte, wenn in Berlin ein ungewöhnliches Verbrechen verübt war. Er war durch die Dresdner Straße gekommen, hatte daselbst von dem Raubanfalle gehört und stieg nun zu dem Herrn Ehrenreich hinauf. Dieser mußte auch ihm erzählen.

Er hatte gleichfalls seine eigenen Gedanken.

„Begreifen Sie die Geschichte, Herr Director?“ fragte der Herr Ehrenreich.

„Sehr gut und einfach, mein Herr? Was wäre Ihnen unbegreiflich daran?“

„Was? Alles. Wie zum Beispiel ist der Schlüssel zum Schranke wieder in meine Westentasche gekommen? Er war fort, als ich aufstand, das Licht anzuzünden; er war wieder da, als ich das Lichts angezündet hatte.“

„Der Dieb hat ihn, während Sie das Licht anzündeten, wieder hineingesteckt.“

„Aber warum, zu welchem Zweck?“

„Er war damals wahrscheinlich noch allein, oder, wenn auch beide Schurken drinnen waren, so scheuten sie einen Kampf mit Ihnen. Sie steckten daher den Schlüssel wieder in die Westentasche und machten sich leise und eilig wieder aus dem Staube, damit Sie, wenn Sie mit dem Lichte nachsuchten und Alles in Ordnung fanden, glauben sollten, geträumt oder sich sonst geirrt zu haben. Sie müssen gestehen, der Zweck ist erreicht.“

„Aber, ich hörte nichts.“

„Solche Bursche sind gewandt und leichtfüßig.“

„Und wo waren sie geblieben, als ich sie suchte?“

„Wieder zu dem Fenster hinaus, durch welches sie gekommen waren.“

„Hm, hm, und warum haben Sie nur meine Uhr mitgenommen und nicht auch dieses Kästchen, in dem ich mehrere tausend Thaler Gold verwahre und nach dem sie offenbar hauptsächlich gesucht haben?“

„Sie hörten einen Fall, als sie später zum zweiten Male aufwachten?“

„Ich wachte davon auf.“

„Das war die Stange, an welcher im Schranke die Kleider hingen. In der Eile, in der Dunkelheit sind die Kerle ungeschickt gewesen; sie haben die Stange heruntergerissen; nun lagen alle Kleider auf dem Kästchen, zu dem sie sich erst mühsam hindurcharbeiten mußten. Wahrscheinlich hat dies der eine Spitzbube versucht, während Sie mit dem anderen rangen. Sie wurden mit diesem eher fertig, als jener mit seinem Versuche. Er mußte dieses aufgeben, um seinem Cameraden zu Hülfe zu springen. Als man Sie niedergeschlagen hatte und Sie betäubt da lagen, klopfte die Frau Rohrdorf. Jetzt konnten sie nur noch an ihre Rettung denken und begnügten sich damit, auf der Flucht die Uhr zu ergreifen, die auf dem Tische lag.“

„Ja, ja, Herr Polizeidirector, Sie haben mir zwar noch kein Wort von der Berliner Aufklärung vorgesprochen, aber ich sehe doch, Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Nur eins klären Sie mir noch auf, wie sind die Kerls in meine Stube gekommen? Daß sie das nicht fest anliegende Fenster, das erste wie das zweite Mal, mit einem dazwischen gesteckten Messer öffnen konnten, ist mir leicht erklärlich. Aber wie kamen sie zu dem Fenster hinauf? Es liegt offen an der Straße; zwanzig Schritte davon brennen zu beiden Seiten die Gaslaternen, zwar schlecht genug, denn der Magistrat hat das Geschäft selber übernommen; hinter jedem Kellerhalse steckt ein Nachtwächter. Teufel, Herr, und Sie haben sehr vigilante Nachtwächter in Ihrem Berlin. Am Abend meiner Ankunft hier kehrte ich etwas spät in meinen Gasthof zurück. Ich hatte mir eine Cigarre angezündet und schlenderte ganz arglos durch die Straße. Auf einmal springt hinter dem ersten Kellerhalse, an dem ich vorbeikomme, ein Kerl auf mich los, schwarz wie die Nacht, das Gesicht in eine alte Sturmhaube gesteckt, einen langen Speer, um zehn Menschen daran aufzuspießen, in der Hand, einen Sarras an der Seite und im Gürtel ein Ding, wie ein ungeheurer, krummer Türkendolch. Ich springe erschrocken zurück und denke, ein Räuber will mich überfallen: ich rief: Polizei, Nachtwächter, zu Hülfe! Da erklärt mir der Mensch, der Nachtwächter sei er selbst, und er hält mir das Ding vor, das ich für den Türkendolch gehalten hatte, und zeigt mir, daß es sein Nachtwächterhorn ist, mit dem er seine „Collegen,“ nicht Cameraden, sagte der Mann in der Stadt der bureaukratischen Intelligenz, zusammenrufen werde, wenn ich nicht auf der Stelle still stehe und das Rufen aufgebe. Und [422] nun erklärt er mir, daß das Rauchen auf der Straße bei zwei Thaler Strafe verboten sei, und daß er mich, weil ich das Verbot übertreten, arretiren und zur Polizei bringen müsse, wo ich die Nacht in der Stadtvogtei zubringen werde. Zum Glück war dieser Nachtwächter ein intelligenter Mensch. Zwei Thaler beträgt die Strafe? fragte ich ihn. – Ja, sagte er. – Und aus Ihrem Diensteifer kann ich schließen, daß Sie von der Strafe einen Theil abbekommen? – Der „Denunciantenantheil“ macht die Hälfte. – Also einen Thaler. Hier haben Sie drei Thaler; nun lassen Sie mich ruhig weiter rauchen und gehen. – Er nahm das Geld und ließ mich ruhig weiter rauchen und gehen. Aber am nächsten Kellerhalse springt mir wieder ein solcher Beamter der nächtlichen Sicherheit entgegen, hält mir seinen Spieß und sein Horn vor, will mich zur Stadtvogtei bringen, und ist in seinem Diensteifer erst zu beruhigen, als auch er seine drei Thaler hat. Hinter jedem Kellerhalse ein Nachtwächter für drei Thaler! das war mir doch etwas zu theuer, und ich warf meine Cigarre von mir. Aber, nun frage ich Sie, mein Herr, hinter jedem Kellerhalse ein Nachtwächter, wie konnten da die Spitzbuben in mein Fenster hier einsteigen?“

Der Polizeidirector lächelte.

„Auch das ist sehr leicht und einfach zu erklären, mein lieber Herr. Unsere Polizei hier ist gut, aber nicht der gute Homer allein, auch selbst eine gute Polizei kann manchmal schlafen. So scheint es in der That hier seit einigen Monaten zu sein. Daher haben wir auch jene verzweifelt treffende Carrikatur, die vor wenigen Wochen erschien, sehr still zu unterdrücken gesucht; sie wird auch das Einsteigen bei Ihnen erklären. Ein Gensd’arm, der bei hellem Tage über die Straße geht, sieht einen bekannten Dieb im Begriff, durch ein offenes Fenster in ein fremdes Haus einzusteigen, dabei aber gemüthlich eine Cigarre rauchen. Der Gensd’arm gewahrt aber nur das letztere. Er gehört zugleich zu den gutmüthigen Gensd’armen, und er ruft daher dem Menschen warnend zu: „Du, Du, das kostet zwei Thaler!“ – Begreifen Sie, guter Herr?“

„Ich fange an,“ sagte etwas kleinlaut Herr Ehrenreich.

„Aber nun, lieber Herr, ein paar Fragen an Sie. Zwei Kerls waren hier bei Ihnen?“

„Zwei.“

„Und der Eine war ein ziemlich großer Bursche, mit einem feinen Gesichte und einem kleinen schwarzen Schnurrbarte?“

„Genau so sah er aus.“

„So, so. Und der andere?“

„Ich habe ihn mit keinem Blicke gesehen.“

„Und gefühlt haben Sie nur seine Fäuste?“

„Die waren derb genug.“

„Sie wohnen seit vorgestern hier?“

„Seit vorgestern Abend.“

„Haben Sie hier Besuch bei sich gehabt?“

„Nur zwei Personen.“

„Können Sie sie mir nennen?“

„Der erste war der Vater eines Künstlers, ich glaube, Pfaffenhorst hieß er.“

„Der hat sein gutes Geschäft. Der zweite?“

„Ein Herr Henne –“

„Wo jener Bursche mit dem kleinen schwarzen Schnurrbarte ist, da darf man auch den Herrn Henne nicht weit suchen.“

„Aber, er gehört ja zur Polizei.“

„Teufel, Herr, decken Sie heute nicht alle schwachen Seiten unserer Polizei auf. Wer hat den Burschen zu Ihnen geführt? – Doch, ich will es nicht wissen; leben Sie wohl! Heute Abend bringe ich Ihnen hoffentlich den kleinen Schnurrbart, und morgen, so Gott will, Ihre Uhr. Den Herrn Henne kann ich direct zur Stadtvogtei liefern, um ihm endlich ein Handwerk zu legen, über das ich mich schon lange geärgert habe.“




V.

Wenn man von der Wallstraße her die, in der Nähe des großen Berliner Waisenhauses, über die Spree führende sogenannte Waisenbrücke überschritten hat, so kommt man auf einen kleinen Platz, der durch das Zusammenstoßen mehrerer Straßen gebildet wird. Von ihm aus gelangt man weiter links in die zum Molkenmarkte führende Stralauerstraße, und rechts über die Stralauerbrücke in die Alexanderstraße, und sodann über den Alexanderplatz in die Prenzlauerstraße und darauf aus dem Prenzlauerthore auf die Chaussee, welche nach dem, zwei Meilen von Berlin entfernten, anmuthig gelegenen Dorfe Französisch-Buchholz führt.

Es war des Nachmittags etwa um drei Viertel auf zwei Uhr, als aus her Stralauerstraße langsam eine gewöhnliche, bedeckte, mit zwei Pferden bespannte Lohnkutsche auf den kleinen Platz an der Waisenbrücke fuhr und dort anhielt, als wenn sie auf Jemanden warte. Die Seitenfenster des Wagens waren offen und man sah durch sie, wie eine Frau allein das Innere des Wagens einnahm. Es war eine wohlbeleibte Frau von einigen funfzig Jahren, der Kleidung nach dem Berliner Handwerkerstande angehörig. Der Kutscher, als er anhielt, blieb steif auf seinem Bocke sitzen, ohne sich nur umzublicken; man sah, daß es ihm einfach befohlen war, hier zu halten. Die Frau bog sich aus dem Wagenfenster nach der Waisenbrücke zu hinaus, als wenn sie von dorther Jemanden erwarte. Sie mußte aber den Erwarteten nicht gewahren und legte sich in das Innere des Wagens zurück. Der Wagen hielt ruhig weiter.

Nach einer Weile kam von der Stralauerbrücke her ein Mann von etwa dreißig Jahren, klein und gedrungen von Gestalt, mit einem klugen, wenn gleich nicht eben feinen oder den Stempel einer höheren geistigen Bildung tragenden Gesichte; gekleidet etwa wie ein ehrbarer Bürger. Er sah sich vorsichtig nach allen Seiten auf dem Platze um; dann ging er an den Wagen.

„Ist er noch nicht hier gewesen, Madame Beier?“

„Ich habe noch Niemanden gesehen, Herr Erhard.“

„Warten Sie schon lange hier?“

„Seit fünf Minuten.“

„Sie vergessen doch unsere Rollen nicht, Madame Beier?“

„Ich werde nicht; ich bin Ihre Mutter. Theodor heißen Sie doch mit Vornamen?“

„Theodor, Madame Beier, für heute Theodor Beier; und ihn können Sie Herr Rudolf oder auch blos Rudolf nennen.“

„Und warum nicht Herr Langenau?“

„Jenes zeigt mehr Vertraulichkeit an.“

„Was soll nur eigentlich die ganze Geschichte bedeuten, Herr Erhard?“

„Eine kleine Vergnügungsfahrt. Madame Beier. Sie sollen nur die Ehrendame des jungen Mädchens sein.“

„Dem Mädchen soll doch kein Leid geschehen?“

„Sind Sie toll, Madame Beier?“

„Sie stehen mir dafür ein?“

„Gewiß. – Ah, der Rudolf kommt da; aber sie läßt sich noch nicht sehen.“

Aus der Stralauerstraße kam ein großer, hübscher, junger Mann, Rudolf Langenau mit seinem schwarzen Schnurrbärtchen. Er trat ebenfalls an den Wagen. Dem ehrbaren Bürger Theodor Erhard oder Beier hatte er schon von Weitem einen verstandenen Wink gegeben.

„Sie ist noch nicht da?“

„Nein, wie Du siehst.“

„Ich werde ihr entgegengehen.“

Rudolf Langenau ging nach der Waisenbrücke zu; nach wenigen Schritten kehrte er plötzlich und sehr eilig um.

„Der langweilige Polizeireferendarius!“

„Wo?“ rief erschrocken der ehrbare Bürger.

„Dort hinten auf der Waisenbrücke. Er kommt hierher.“

„Ich wollte, der Teufel holte ihn.“

„Glaubst Du, daß er Dich wiedererkennen wird?“

„Ich fürchte es.“

„Fatal. Sie kann, sie muß jeden Augenblick kommen. Sie kennt weder Dich, noch die Frau, sondern nur mich. Ich darf nicht bleiben; ich weiß aber nur ein Mittel. Du steigst in den Wagen und hälst Dich zurück, daß er Dich nicht sieht; hoffentlich geht er vorüber, wo nicht, so fährst Du langsam, ganz langsam, schon um nichts zu verrathen, über die Stralauerbrücke[WS 2] nach dem Prenzlauerthore zu; ich verberge mich in dem Hause dort und folge Euch mit ihr, wenn die Luft rein ist. Weißt Du einen andern Ausweg?“

„Nein!“

„Also schnell in den Wagen.“

Der ehrbare Bürger sprang in den Wagen und legte sich [423] zurück, daß er von Vorübergehenden nicht gesehen werden konnte. Rudolf Langenau eilte in ein gegenüberliegendes Haus, dessen Thür offen stand. Eine halbe Minute darauf kam um die Ecke von der Waisenbrücke her der Polizeireferendarius. Er schien etwas scharf gegangen zu sein; sein Gesicht war geröthet und sein Athem keuchte. Vorn auf dem Platze machte er Halt. Sein Gesicht blieb auf dem wartenden Wagen haften, und er war unschlüssig, ob er auf ihn zugehen sollte. Auf einmal klopfte ihm von hinten Jemand auf die Schulter. Er fuhr heftig erschrocken zusammen.

„He! he! – Ah, was haben Sie mich erschreckt!“

„Die Polizei erschrickt?“

Der Polizeidirector war unbemerkt hinter ihm hergekommen und hatte dem in seinen Gedanken Versunkenen den kleinen Streich gespielt.

„Die Polizei erschrickt? Ei, ei, das ist ein Beweis von großem Mangel an Vor- und Umsicht.“

Der Referendarius ging auf die Ermahnung nicht ein. Der Anblick des Polizeidirectors hatte lebhaft einen andern Gedanken in ihm angeregt.

„Sie waren heute Mittag nicht auf der Conferenz, Herr Director. Wissen Sie schon von dem Raubanfalle, der heute Nacht in der Dresdener Straße passirt ist?“

„Ich habe davon gehört,“ lächelte das listige Gesicht des Directors. „Und Sie?“

„Ha, ich bin den Räubern auf der Spur.“

„Schon?“

„Erinnern Sie sich jenes Abenteurers, des Grafen Zilly, der seit einigen Tagen räthselhaft verschwunden ist?“

Der Polizeidirector wurde etwas betreten.

„Was soll der?“

„Er ist noch hier, trotzdem daß sein früherer Gönner, der österreichische Gesandte, nichts mehr von ihm weiß.“

„Und Sie wissen von ihm?“

„Ich suche ihn wenigstens, und hoffe, ihn zu finden. Es ist ein Ehrenpunkt für mich, den Schurken an das Tageslicht zu ziehen. Jedenfalls ist sein Camerad, der kleine, gedrungene Spitzbube aus der Jüdenstraße, noch hier; ich bin ihm jetzt eben auf der Spur.“

„In diesem Augenblicke?“ fragte aufmerksamer der Polizeidirector.

„Wie ich Ihnen sage. Vor einer halben Stunde wird mir die Anzeige, daß in der Landsbergerstraße ein kurzer, gedrungener Kerl einen Wagen habe miethen wollen; der Fuhrmann hatte aber kein Fuhrwerk mehr gehabt. Der Mensch war nach der Ecke des Alexanderplatzes gegangen und hatte dort mit einem jungen Manne gesprochen, der wie ein Maler ausgesehen hatte, einen kleinen schwarzen Schnurrbart trug, kurz, kein anderer gewesen sein kann, als der Monsieur Zilly. Beide hatten sich getrennt. Der Maler war plötzlich verschwunden gewesen, der Andere aber die Alexanderstraße hinuntergegangen. Dies wurde mir mitgetheilt in der Conditorei des königsstädtischen Theaters.“

„Darf ich fragen, von wem?“ unterbrach den eifrigen Erzähler der Polizeidirector.“

„Von meinem Vigilanten.“

„Und der heißt?“

„Henne.“

„Ah –!“

„Was fällt Ihnen auf, Herr Director?“

„Nichts, nichts. Fahren Sie fort.“

„Ich trug dem Henne auf, den Maler wieder aufzusuchen, dem Andern setzte ich selber nach; ich mußte mich überzeugen, ob es derselbe war, den ich in der Jüdenstraße gesehen hatte. Bis zur Jannowitzbrücke fand ich seine Spur; dort verlor ich sie, und jenseits der Brücke hatte ihn Niemand mehr gesehen. Ich ging dennoch weiter bis in die Köpenikerstraße, und bin dann durch die Wallstraße hierher zurückgekehrt.“

„Und haben noch immer nichts gefunden?“

„Leider nichts!“

„Auch keine Nachricht von Ihrem Henne erhalten.“

„Auch nicht.“

„Und warten hier auf –“

„Sehen Sie den Wagen dort, Herr Director?“

„Eine gewöhnliche Lohnkutsche, in der wohl eine Spazierfahrt gemacht werden soll.“

„Warum hält sie hier?“

„Sie wartet wohl auf Jemanden.“

„Und warum sieht Niemand heraus?“

„Es mag Niemand darin sein.“

„O doch. Ich sah ein Frauenkleid, und meinte auch, eine Manneskleidung darin gesehen zu haben.“

„Lassen Sie sie. Darf ich fragen, wo Sie Ihren Henne erwarten?“

„Auf dem Molkenmarkte; dorthin sollte er mir wieder Bescheid bringen.“

„Bis wann spätestens?“

„Wollen Sie etwas von ihm, Herr Director?“

„Er ist ja Ihr Vigilant. Bis wann also?“

„Ha, da fährt der Wagen fort!“

„Lassen Sie ihn fahren; wir wollen jetzt Ihren Vigilanten aufsuchen.“

„Was wollen Sie von ihm?“

„Ein paar Worte mit ihm allein sprechen.“

„Aber der Wagen – er ist schon über die Stralauerbrücke.“

„Lassen Sie ihn; wenn er verdächtig wäre, führe er schneller. Begleiten Sie mich zum Molkenmarkte.“

Der Referendarius hätte weinen mögen vor Aerger, daß er dem Wagen nicht folgen durfte.

„Wie diese Vorgesetzten sich doch immer klüger dünken, Alles besser wissen, nie wollen fehlen können. Mit dem Grafen wollte er aucht Recht haben, und heute verdirbt er mir wieder Alles.“

So räsonnirte der Referendarius, aber sehr leise, unhörbar in sich hinein, denn er war der Untergebene und räsonnirte über seinen Vorgesetzten. Er mußte mit diesem zum Molkenmarkte gehen; aber er ballte seine entschlossene Faust in die Tasche hinein, daß er ihm bei der ersten Gelegenheit „echappiren“ wollte. „Wie ein Dieb? – Wenn es nicht anders sein kann, wie ein Dieb!“ rief er wüthend in sich hinein.

Als die Beiden ein paar Minuten fort waren, sprang Rudolf Langenau aus seinem Verstecke hervor; es war hohe Zeit. Seine schöne Blondine Emma Rohrdorf, hatte schon das Ende der Waisenbrücke erreicht, ängstlich umhersehend, da sie den Platz vor der Brücke leer fand; mit einen glücklichen Lächeln dem Geliebten entgegeneilend, als sie diesen plötzlich auf sich zukommen sah.

„Hast Du schon lange auf mich gewartet, Rudolf?“

„Nicht lange, mein Mädchen. Der Wagen ist langsam vorausgefahren, wir werden ihn bald einholen.“

„Also doch. Verzeihe mir, ich konnte nicht eher abkommen; das Criminalgericht ist bei uns und auch ich wurde vernommen.“

„Das Criminalgericht?“ fuhr der junge Mann zusammen. „Und Du?“

„Bei uns ist vergangene Nacht ein abscheulicher Raub verübt worden.“

„In Eurer Wohnung?“

„Der alte Herr, von dem ich Dir erzählte, ist überfallen, in seiner Schlafstube, und mißhandelt und beraubt.“

Rudolf Langenau war heftig erschrocken darüber.

„Erzähle, Emma.“

Das Mädchen erzählte mit allen Zeichen des Abscheu’s und der Furcht vor dem verwegenen Verbrechen und den frechen Verbrechern. Unterdeß hatten sie den Wagen erreicht.

„Der alte Herr Ehrenreich ist doch nicht erkrankt?“ fragte der junge Mann.

„Er ist wieder ganz wohl.“

„Sprich im Wagen nicht von der Sache, Emma; wir wollen heute nur dem Glücke unseres Beisammenseins leben.“

Er hielt den Wagen an und stieg mit der Geliebten ein.

„Mein Freund Theodor Beier und seine brave Mutter, Madame Beier, Sie wird bei uns Deine Mutter sein, Emma.“

Die dicke Dame reichte dem tief erröthenden, etwas verlegenen und ängstlichen Mädchen treuherzig die Hand.“

„Wir wollen recht vergnügt sein, Mamsell Emma.“

Der Wagen war weiter gefahren. Er fuhr ohne Aufenthalt durch die Alexander- und Prenzlauerstraße zum Thore hinaus. Er erreichte ohne Hinderniß Französisch-Buchholz und das bescheidene Wirthshaus des Dorfes. Eine schattige Laube in dem Garten des Wirthshauses nahm sie auf.

Rudolf Langenau war mit der Madame Beier allein gegangen.

„Madame, hier im Garten weichen Sie nicht von der Seite des jungen Mädchens.“

[424] „Ich werde nicht, Herr Langenau.“

„Machen Sie auch nicht die geringste leichtfertige oder zweideutige Anspielung.“

„Herr Langenau, ich bin eine ehrbare Wittwe, und mein Mann war Friseur und Berliner Bürger.“

„Sehr wohl, Madame Beier. Dieser Garten stößt an den gräflichen Garten?“

„Hinten an das Bosquet im Park. Man kann durch ein offenes Pförtchen hinein.“

„Richtig. Wenn es dunkel wird, werden wir zusammen dorthin eine Promenade machen. Sie verlassen mich dann mit Theodor; er weiß Bescheid.“

„Sie wollen dort mit dem Mädchen allein bleiben?“

„So ist es. Sie ist ja meine Braut.“

„Ach, Herr Langenau, solch’ eine Brautschaft –“

„Was wünschen Sie?“

„Das Mädchen ist so brav und unschuldig!“

„Gewiß.“

„Sie konnte im Wagen so schön von ihrer guten Mutter, ihren Geschwistern und ihrem verstorben Vater erzählen; das Herz schnürte sich mir zusammen.“

„Mir auch, Madame.“

„Und von ihrer Armuth, Herr Langenau. Die Leute sind so arm und doch so brav.“

„Das sind sie.“

„Und noch vor drei Tagen hat sie einen frischen Rosenstock auf das Grab ihres Vaters gepflanzt; das gab mir erst recht einen Stich in’s Herz.“

„Ich war mit ihr da, Madame Beier.“

„Herr Langenau, und Sie könnten das arme Mädchen verführen?“

„Madame Beier, hier haben Sie zwei Friedrichsd’or, und nun kümmern Sie sich um nichts weiter.“

„Ach, Herr Langenau!“

„Was wollen Sie noch?“

„Ist es kein Sündengeld? Kein Blutgeld?“

„Nein.“

„Ich kann es also mit gutem Gewissen nehmen?“

„Das müssen Sie wissen.“

„Sie wollen also das Mädchen nicht verführen?“

„Habe ich gesagt, daß ich sie verführen will?“

„Ich kann also?“

Die ehrbare Wittwe steckte mit gutem Gewissen das Geld ein und kehrte mit dem Herrn Langenau zur Laube zurück.

Der Kaffee war aufgetragen. Rudolf Langenau gab der Madame Beier einen Wink.

„Mamsellchen, Sie müssen uns heute einmal die Wirthin machen.“

„Dazu werde ich mich schlecht schicken,“ meinte das erröthende Mädchen.

„Sie müssen es gewohnt werden. Ein junges Mädchen wird Braut, eine Braut wird Frau, und eine Frau muß den Kaffee einschenken können; er schmeckt dem Manne noch einmal so gut.“

Emma sah unwillkürlich und darüber tiefer erröthend ihren Geliebten an.

„Es ist so,“ bestätigte er.

Sie schenkte den Kaffee ein, mit einer unnachahmlichen, natürlichen, einfachen Anmuth. Das Auge des jungen Mannes an ihrer Seite konnte sich nicht wegwenden von den Bewegungen ihrer Arme, ihrer feinen Hände, des zarten Körpers, wenn sie sich über den Tisch bog, um Tassen herumzureichen oder anzunehmen. Er schlürfte, wie mit einem noch nie gefühlten Wohlbehagen, den Kaffee, den sie ihm eingeschenkt hatte. Das Mädchen sah es; auch ihr Gesicht glänzte wie von einem noch nie gefühlten Glücke.

Nach dem Kaffee wurde eine Promenade gemacht, durch üppig emporschießende Kornfelder in ein benachbartes Buchwäldchen. Emma selbst suchte mit dem Geliebten hinter den Anderen zurückzubleiben.

„Rudolf, Du liebst mich?“

„Hast Du daran gezweifelt, mein Mädchen?“

„Heute habe ich es so recht gesehen.“

„An dem Kaffee?“ lächelte er.

„An dem Kaffee; Du trankst ihn lieber, weil meine Hand ihn Dir reichte.“

Sie drückte ihr erröthendes Gesicht an seine Schulter. Er küßte die Hand, die ihm den Kaffee gereicht hatte. Sie waren stehen geblieben und ihre glücklichen Augen leuchteten einander an. Es war ein reizendes Bild der Liebe mitten in dem wogenden Kornfelde. Die Madame Beier hatte sich umgesehen.

„Der verführt das Mädchen nicht,“ sagte sie laut, halb zu ihrem Gewissen, halb zu ihrem Begleiter.

Theodor Erhard lachte.

Nach Beendigung des Spazierganges war in der Laube Wein und Kuchen aufgetragen. Der Weg, der warme Nachmittag, die Luft des Feldes und des Waldes, Alles hatte sie hungrig und durstig gemacht. Die beiden Männer sprachen der Flasche fleißig zu; die korpulente ehrbare Wittwe folgte ihrem Beispiele; das junge Mädchen nippte nicht minder fleißig. Der Abend dämmerte.

„Kehren wir bald zurück, Rudolf?“ flüsterte Emma ihrem Geliebten zu. „Meine Mutter, die mich bei einer Freundin glaubt, hat mir nur bis halb neun Uhr Urlaub gegeben.“

„Gleich, mein Mädchen, Deine Mutter soll Dir nicht zürnen. – Aber, siehe da! – Madame Beier, was fällt Ihnen denn heute ein? Auf Champagner tractiren Sie uns!“

Ein Aufwärter brachte zwei Flaschen Champagner mit vier langen, spitzen Gläsern.

„Ja,“ sagte mit schon etwas schwerer Zunge die ehrbare Wittwe. „Ja, Kinder, ich bin heute fidel, so gewaltig fidel.“

Die Flaschen wurden entkorkt; die Propfen flogen in die Decke der Laube, beinahe so gewaltig, wie die Fidelität der Madame Beier war. Die langen, spitzen Glaser wurden gefüllt. Rudolf Langenau that es:

„Emma, mir mundete der Kaffee, den Du mir eingeschenkt hattest, wie nichts Anderes in der Welt. Du mußt dieses Glas leeren.“

Sie leerte es mit einem dankbaren Blicke auf den glücklichen jungen Mann. Er füllte ihr Glas zum zweiten Male.

„Und nun, Emma, dieses zweite Glas müssen wir zusammen austrinken, auf unseren geheimsten, unsern süßesten Wunsch, auf unser Glück! Stoß an!“

Der Champagner ist für Frauen immer die schlimmste Todsünde; sie können ihm nicht widerstehen. Wie hätte das liebende, das dankbare, das schon halb berauschte, das glühende Mädchen, das schon den ersten Schritt jener Sünde gemacht hatte, dem zweiten widerstehen können? Sie stieß mit ihm an, und trank ihr Glas aus.

Er stand auf, erhob sie mit sich und umfaßte sie; sie lehnte mit ihrem ganzen Körper sich an ihn. Sie mußte so, denn ihr schwindelte von dem rasch genossenen, schäumenden, schon durch seinen Schaum so rasch berauschenden Weine. Er warf einen befehlenden Blick auf die Madame Beier und auf Theodor Erhard.

Des Blickes auf die ehrbare Wittwe bedurfte es nicht mehr, denn sie konnte nur noch mit gläsernen Augen in ihr Champagnerglas starren. Der kleine gedrungene Mann an der Seite der Frau sah mit einem eigenthümlich lauernden Blick bald auf seine corpulente Nachbarin, bald auf das liebende Paar vor ihm.

Das Paar verließ die Laube, an einander geschmiegt, so dicht und fest, als wenn es eine einzige Gestalt wäre.

Es war dunkler Abend geworden. Sie gingen tiefer in den Garten hinein, in die Gegend, wo das Pförtchen in das Bosquet des gräflichen Parks führte. Der junge Mann führte das Mädchen so, denn dies kannte keinen Weg und keine Richtung mehr. Sie durchschritten das Pförtchen, und traten in das dunkle, stille, einsame, verschwiegene Bosquet. Weiches Moos empfing sie auf feinem duftenden Lager.

Welch eine leichte, eben so leichte als elende Kunst ist es, ein Mädchen zu verführen!

„Emma, Du liebst mich?“

„Wie mein Leben.“

„Du bist mein!“

„Ganz Dein!“

„Meine Braut, mein Weib!“

„Dein Weib, mein Geliebter!“

Glühende Küsse erstickten weitere Worte.

Aber nein, wo der rechte Engel der Unschuld ist, da zerschellen alle Künste der Verführung.

Auf einmal sprang das Mädchen empor, heftig, mit einem lauten Aufschrei, mit einer Kraft, die einen Riesen würde zurückgeworfen haben.

[425] „Wo bin ich?“ rief sie. „Wo sind wir?“

Sie sah sich erschrocken um. Es war, als wenn sie bisher geträumt hätte, als wenn ihre Augen geschlossen gewesen wären.

„Wir sind allein? Ganz allein? Laß uns zu den Andern zurückkehren.“

„Du hast Angst bei mir, meine Geliebte?“

„Ja!“

Sie sagte das Ja hoch aufgerichtet, stolz, befehlend.

„Und Du willst mich lieben, Emma? Du willst mein Weib werden? Kann das Weib Angst haben vor dem Manne, den sie liebt?“

Sie liebte ihn, das arme Kind. Die Macht jener berauschenden [426] Todsünde zerbrach noch einmal die schwache Kraft der zarten Frauennerven. Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten, und fiel in seine Arme, an seine Seite in das Moos zurück. „Ich liebe Dich, Rudolf. Ich vertraue Dir. Ich bin Dein Weib.“

Aber auf einmal brach ein Strom von Thränen aus ihren Augen hervor.

„Ich bin in Deiner Gewalt, Rudolf. Ich kann Dir nicht widerstehen. O, ich bin so schwach; der Kopf schwindelt mir; mein Sinn verwirrt sich. Rudolf, Rudolf, mach mich nicht unglücklich. Wenn Du eine Mutter, wenn Du eine Schwester hast, denke an sie.“

Sie umschlang ihn fest. Ihre Brust lag an seinem Herzen. Ihre Augen schlossen sich; sie öffneten sich wieder, und sahen ihn mit einem bittenden Blicke an, aber auch mit einem Blicke der vollsten Liebe. Sie umschlang ihn fester.

„Sei brav, Rudolf,“ hauchte sie.

„Mädchen, Du bist ein Engel der Liebe und der Unschuld!“ rief entzückt der junge Mann. „Jetzt bist Du ganz mein!“

Er erhob sich, und zog sie mit sich auf. Er drückte mit einer Art Ehrerbietung einen Kuß auf ihre schöne, reine Stirn.

„Komm, meine Braut!“

Seine klare, erhobene, feierliche Stimmung gab auch ihr das volle, reine Bewußtsein wieder. Sie legte sich mit dankbarem Vertrauen an seine Brust. So gingen sie langsam, still, selig zu der Laube zurück.

Theodor Erhards Augen sahen ihnen unruhig forschend entgegen. Die Madame Beier schlummerte in ihrem Rausche.

Rudolf Langenau schien auf einmal ein anderer Mensch geworden zu sein, als er in die erleuchtete Laube trat. Das war nicht mehr ein Arbeiter, der in dem Winckelmann’schen Atelier sich seinen kümmerlichen Wochenlohn verdienen mußte, nicht mehr ein armer Lithograph, der bald mit einem andern armen Lithographen ein bescheidenes Geschäft etabliren wollte. Er stand stolz da, hoch aufrecht, in einer befehlenden Stellung.

„Theodor!“

Und Theodor Erhard sprang auf und stellte sich vor ihn, nicht wie sein Gefährte, sondern wie ein Diener, der einen Befehl von seinem Herrn erwartet.

„Herr –“ Er stockte mit einem Blicke auf das Mädchen.

Rudolf Langenau erwiderte den Blick mit einem gewährenden Neigen des Kopfes.

„Was befehlen Sie, Herr Graf?“

Emma Rohrdorf glaubte zu träumen. Sie sah den unterwürfigen Diener an, und warf einen Blick auf den Geliebten, sie sah den stolzen, befehlenden, an Befehl gewohnten jungen Mann. Sie zitterte heftig an seinem Arme.

„Theodor, bestelle den Wagen. Vorher wecke die Frau da.“

Theodor rüttelte die Madame Beier auf.

„Madame, wir fahren.“

Die Frau fuhr aus ihrem Schlummer empor.

„Madame?“ rief sie. „Keine Mutter mehr?“

Sie sah das Paar vor sich.

„Ah, ah,“ grinste die ehrbare Wittwe. „Alles vorüber? Und das Püppchen ist ja auch zufrieden! Ja, ja, der Champagner und ein hübscher Junge! – Gebt mir auch noch ein Glas!“

„Was ist das Alles?“ rief das erbleichende Mädchen.

„Du sollst es erfahren, mein Kind! Verzeihe mir nur.“

Der junge Mann nahm die Hand des Mädchens, und trat mit ihr vor die Frau.

„Madame, sind Sie nüchtern genug, um ein paar Worte zu verstehen? Sie sehen hier an meiner Seite meine wirkliche, vor Gott und bald auch vor der Welt mir verlobte Braut, die Braut des Grafen Rudolf Zilly.“

Die Frau wurde nüchtern, so nüchtern, daß sie aufspringen und gerade stehen und, wenn auch sprachlos, erstaunt und verwundert das Paar anblicken konnte.

Emma Rohrdorf aber drohete umzusinken. Ihr Verlobter mußte sie halten, aufrichten.

„Ich sprach die Wahrheit, mein Mädchen, mein Engel. Du verzeihest mir?“

Damit richtete er sie auf, und hob sie an sein Herz empor.

Theodor kam zurück und meldete, daß der Wagen angespannt sei.

„Zu Deiner Mutter, Emma?“ fragte der junge Mann.

Ein dankbarer, seliger Blick antwortete ihm.

„Teufel!“ wurde unmittelbar vor der Laube eine Stimme laut, und es war die laute, überraschte, fröhliche Stimme des Referendarius, der bei der Polizei seine Carriere machen wollte. „Teufel, da haben wir ja die ganze Gesellschaft beisammen. – Henne, Du bist ein capitaler Kerl. – Gensd’arm Hahn, greifen Sie den großen Burschen, den sauberen Herrn Grafen. Und Sie, Gensd’arm Daum, fassen Sie den kleinen, vierschrötigen Spitzbuben. – Laß Dich einmal besehen, Du kleiner Lump! Richtig, das Gesicht an der Jüdenstraße. Und Du da – ei, wie der Kerl so stolz und vornehm da steht! Nun, nun, bei Cranzler unter den Linden geht es nicht mehr, aber in der Stadtvogtei und nachher im Zuchthause zu Spandau, da kannst Du den Grafen weiter spielen. – Und was für eine Kleine ist denn das? Ei, ei, Sie, Mamsell Rohrdorf? Sie sind schon so angelehrt? Das wirft ein neues Licht auf die Sache; jetzt ist es kein Räthsel mehr, wie die Räuber in das Haus gekommen sind. Mir thut nur Ihre brave Mutter leid. Aber fort, fort nach Berlin. – Henne, noch einmal, Du hast Deine Sachen gut gemacht. Laß Dir ein Glas Bier geben.“




VI.

Es war beinahe zehn Uhr Abends. Der Herr Ehrenreich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb und durchsah seine Papiere. Er schien eifrig mit Rechnen beschäftigt zu sein, und kaum für etwas Anderes Sinn zu haben. Es klingelte draußen; er achtete nicht darauf. Die Thür der Wohnung wurde geöffnet; die Frau Rohrdorf sprach mit Jemandem; die Stimme dessen, mit dem sie sprach, mußte dem Herrn Ehrenreich bekannt sein; er achtete[WS 3] aber nicht auf sie. Es wurde an die Thür des Arbeitszimmers geklopft, in dem er saß. Er empfing sonst seine Besuche nur in dem Zimmer nebenan; er war in seine Arbeit so vertieft, daß er, ohne daran zu denken, herein rief.

Der Polizeidirector trat herein.

„Entschuldigen Sie, Herr Ehrenreich, daß ich Sie noch so spät störe. Ist dies Ihre Uhr?“

Er hielt dem Herrn Ehrenreich eine goldene Taschenuhr hin.

„Alle Wetter ja, Herr; das ist meine Uhr.“

„Die Ihnen hier in der vorigen Nacht gestohlen ist?“

„Dieselbe. Wie kommen Sie zu ihr?“

„Wie die Polizei zu gestohlenen Sachen kommt.“

„Und wo war sie?“

„Im Leihhause.“

„Da hatte der Dieb sie schon versetzt?“

„Schon? Welch ein sichereres Geschäft konnte er machen, als so schnell wie möglich das gestohlene Gut zum Leihhause zu bringen? Beim Verkauf, beim Versetzen an eine Privatperson, hätte er entweder sich nur an Diebesgenossen, an Hehler wenden können, von denen er so viel wie nichts erhalten hätte, oder er wäre als verdächtig angehalten worden.“

„Und in dem Leihhause, einer öffentlich concessionirten, vielleicht privilegirten Anstalt, lief er keine Gefahr, als verdächtig angehalten zu werden? Sonderbare Zustände in Ihrer Stadt der Intelligenz und Aufklärung!“

„Sie fassen diese Zustände da unrichtig auf, Herr Ehrenreich.“

„Ich wäre begierig, zu erfahren, worin meine Auffassung falsch wäre.“

„Erlauben Sie mir einige Fragen; es sind zugleich polizeiliche Fragen über Sie selbst.“

„Sie haben also ein Recht zu ihnen, und ich muß Ihnen antworten.“

„Sie kommen aus Tyrol?“

„Sie können das schon so ziemlich an meiner Sprache hören.“

„Ihr eigentlicher Name ist nicht Ehrenreich?“

„Doch, doch.“

„Nur Ihr Taufname. Ihr Familienname ist Siehuber?“

„Alle Wetter, Herr –. Da Sie es einmal wissen, ja denn.“

„Sie suchen hier einen jungen Menschen?“

„Ja.“

„Einen Taugenichts?“

„Leider.“

„Der aber von guter Familie ist?“

„Von sehr guter, Herr.“

„Und der deshalb geschont werden muß?“

[427] „Es ist so. Aber woher wissen Sie das Alles?“

„Einzelnes habe ich erfahren; das andere habe ich combinirt. Darf ich fragen, in welchem Verhältnisse Sie zu dem jungen Manne stehen?“

„Wissen Sie das nicht auch?“

„Nein.“

„Sie können es auch nicht combiniren?“

„Ich könnte es vielleicht.“

„So thun Sie es.“

„Ich denke mir, der junge Mensch hat keinen Vater mehr.“

Der Herr Ehrenreich Siehuber nickte zum Zeichen der Bestätigung mit dem Kopfe.

„Er ist aber noch minderjährig und steht unter Vormundschaft.“

„Er wird bald großjährig.“

„Das sieht man ihm schon an. Seinen Streichen freilich nicht. Sein Vormund hat seine Streiche erfahren.“

Herr Siehuber nickte wieder.

„Und will sie nicht länger dulden.“

„Natürlich.“

„Er ist aber vielleicht ein alter steifer Herr, der nicht mehr hinter dem lustigen Burschen in der Welt herumlaufen kann.“

„So ist es.“

„Der Sie deshalb schickt, seinen oder des jungen Mannes Verwalter, Rentmeister oder so etwas, der sein volles Vertrauen hat.“

„Herr,“ konnte der Herr Siehuber nicht mehr an sich halten. „Ich hatte viel von Ihnen gehört; zu viel, deshalb wandte ich mich nicht an Sie. Und doch nun zu wenig. Sie sind der Satan. Woher wissen Sie das Alles? Das weiß kein Mensch hier.“

„Lassen Sie uns ruhig bleiben, mein Lieber. Sie haben das volle Vertrauen Ihres Herrn. Sie mögen auch ein vortrefflicher, fleißiger, gewissenhafter Rentmeister sein, der, wie ich da sehe, seine Rechnungen sogar mit hierher gebracht hat. Aber zu seiner Mission hat Ihr Herr den Unrechten ausgesucht.“

„Wie so, mein Herr?“

„Sie haben wenigstens sich Überall hier an die unrechten Leute gewandt.“

„Zum Beispiel?“

„Ihre Gesandtschaft haben Sie übergangen.“

„Ich hatte meine Gründe dazu.“

„Freilich, Sie wollten den Eclat vermeiden.“

„Das war es.“

„Aber anstatt sich nun direct an die Polizeibehörde, oder mindestens an einen höhern Beamten zu wenden –“

„Ah, mein Herr, im Auslande wissen wir nur zu gut, welche unermüdliche, nach Jahren erst zum Ziele gelangende Schreibmaschinen Ihre Behörden und höhern Beamten sind.“

„Suchten Sie einen Unterbeamten, einen Polizeisergeanten auf.“

„Ich traf einen in meinem Gasthofe.“

„Einer obscuren Kneipe.“

„Ich mußte hier unbekannt bleiben, wenn ich meinen Zweck erreichen wollte.“

„Dieser Polizeisergeant nun machte Sie weiter bekannt mit –. Doch davon nachher. Er ist finanziell schlecht gestellt, wie alle Unterbeamte. Das trägt dann Früchte, nämlich indirect; direct trägt sie irgend ein Nebengeschäft; freilich ein unerlaubtes, denn zu einem erlaubten bekommt er keine Erlaubniß. Bei ihm macht es seine Frau. Die Frau eines Polizeisergeanten ist eine ehrbare Frau; sie kann ohne Verdacht im Leihhause versetzen.“

„Sie hat meine Uhr versetzt?“

„Sie haben es getroffen. Ich hatte bisher nur Vermuthungen gegen die Frau; heute habe ich Gewißheit erhalten. Ich bin Ihnen dankbar dafür. Zum Dank werde ich Ihnen auch noch heute Abend die Räuber vorstellen, von denen Sie in der vorigen Nacht überfallen wurden; Einen von Ihnen sicher, hoffentlich Beide.“

„Ah, gehorsamer Diener.“

„Ich werde Ihnen noch mehr meinen Dank beweisen. Auch in Ihrer Mission werde ich Ihnen behülflich sein.“

„Sie wollten wirklich?“

„Wenn Sie es wünschen –“

„Gewiß, gewiß.“

„Auch das schon heute Abend noch.“

„Sie werden den alten Herrn Grafen und mich zu großem Danke verpflichten.“ Es wurde heftig an der Hausthür geschellt.

„Ha, die sind sehr eilig,“ sagte der Polizeidirector.

„Sie wissen, wer da kommt?“

„Lassen Sie uns warten.“

Die Frau Rohrdorf hatte schnell die Thür geöffnet. Mehrere Menschen waren eingetreten. Es mußten Bewaffnete darunter sein; man hörte Säbelklirren; es waren aber auch Frauen darunter, man hörte weibliche Stimmen, andere, als die der Frau Rohrdorf.

Gleich darauf hörte man aber auch die Stimme der Frau Rohrdorf. Es war ein lauter, fürchterlicher Schrei, der tief aus der Brust der Frau kam, mit dem ihr Herz zerrissen zu sein schien.

„Mein Kind! Meine Tochter!“

Ein wildes Weinen und Schluchzen folgte, und es war nicht allein das herzzerreißende Weinen und Schluchzen der armen Mutter.

„Sollten es die Andern sein?“ sagte der Polizeidirector.

Er öffnete die Thür, und rief in den Gang hinein, der von der Lampe der Hauswirthin nicht hell genug erleuchtet war, daß man mehr als eine Gruppe von Menschen hätte unterscheiden können.

„Gensd’arm Schmidt, sind Sie da?“ rief der Polizeidirector.

Eine bekannte Stimme antwortete ihm, aber es war nicht die Stimme des Gensd’armen Schmidt.

„Ah, Sie hier, Herr Polizeidirector? Vortrefflich, daß ich Sie treffe.“

„Sie kommen zu früh, Herr Referendarius.“

„Zu früh? Ich bringe die Räuber! Ich bringe noch mehr, eine ganze saubere Gesellschaft. Sie werden erstaunen.“

„Ich möchte es bezweifeln.“

Der Referendarius sprach einige leise Worte zu den Personen, die bei ihm waren, wohl zu den Gensd’armen. Dann trat er voll Würde in das Zimmer. Er kam allein.

„Herr Director, ich habe die ganze Bande eingefangen, die zu dem gegen diesen Herrn verübten Raube gehört. Ich habe zugleich eine alte Bekanntschaft erneuert. Ich hatte gleich anfangs Recht gehabt. Ich kenne meine Leute.“

„Darf ich bitten, zur Sache zu kommen, mein Herr Referendarius ?“

„Ich hatte Nachricht, ich hatte die Spur von den Räubern –“

„Durch Ihren Herrn Henne? A propos, warum lief der Mensch so eilig von dannen, als er heute Nachmittag mich mit Ihnen auf dem Molkenmarkte ankommen sah?“

„Er durfte die Spur der Verbrecher nicht verlieren.“

„Ah so!“ fahren Sie fort.

„Er fand sie, zwar mühsam, aber gewandt, durch Nachfragen bei den Kutschern, bei denen die Schufte gewesen waren, um einen Wagen zu bestellen. Ha, in jenem Wagen an der Waisenbrücke waren sie wirklich gewesen; auch darin hatte ich Recht. Doch weiter. Wir verfolgten ihre Spur nach Französisch-Buchholz, und fanden sie dort in einer wilden Orgie. Die diesem Herrn geraubte Uhr war schon umgesetzt, sogar in Champagner.“

„Hm, in der Stadt der Aufklärung!“ murmelte der Herr Ehrenreich Siehuber.

„Wir fanden erstens – Gensd’arm Hahn!“ rief er zur Thüre hinaus. Der Gensd’arm ließ den kleinen, gedrungenen Theodor Erhard eintreten. „Erstens diesen da, den Burschen aus der Jüdenstraße, Sie wissen schon, Herr Director. Erkennen auch Sie ihn wieder, Herr Ehrenreich?“

„Ich habe den Menschen nie gesehen.“

„Ich glaube es, er war von hinten über Sie hergefallen. – Aber weiter, – Zweitens – Gensd’arm Hahn!“ Gensd’arm Hahn ließ Emma Rohrdorf eintreten. „Kennen Sie diese da, Herr Ehrenreich?“

„Die Tochter der Wirthin.“

„Richtig; die Person, welche die Räuber eingelassen hat.“

Emma Rohrdorf hatte das Gesicht mit beiden Händen verhüllt; sie war unfähig ein Wort zu sprechen, und fiel auf einem[WS 4] Stuhle nieder. Der Referendarius fuhr triumphirend fort: „Auch den, welchen ich Ihnen jetzt vorstelle, werden Sie wieder erkennen, Herr Ehrenreich. – Gensd’arm Hahn!“

Der Gensd’arm Hahn führte den jungen Mann mit dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen herein; hieß er Rudolf Langenau oder Graf Zilly, oder wie sonst? – Es mußte sich in dem nächsten Augenblicke entscheiden.

„Nun, mein Herr Ehrenreich,“ rief der Referendarius, „erkennen Sie ihn!“

Der Herr Ehrenreich Siehuber sah den jungen Mann und erschrak so, daß er am ganzen Leibe zitterte.

„Großer Gott, großer Gott!“ rief er.

[428] „Nicht wahr, Sie erkennen ihn? Das ist er! Das ist der Räuber?“

Der Herr Siehuber hatte sich gesammelt.

„Herr, Sie sind ein Narr!“ sagte er zu dem Referendarius.

Der Referendarius wurde wüthend.

„Eine Beleidigung im Amte! Eine Beschimpfung im königlichen Dienste! Ich arretire Sie.“

Der alte Herr kümmerte sich nicht um ihn. Er schritt auf den jungen Mann zu, der ihn beraubt haben sollte.

„Um des Himmelswillen, in welcher unglücklichen Lage –“

In diesem Augenblicke wurde wieder an der Klingel der Vorsaalthür gezogen.

„Einen Augenblick Geduld,“ unterbrach der Polizeidirector den Herr Siehuber, „da kommen meine Leute. Ich hatte auch den Herrn Referendarius mit den seinigen erwartet, nur nicht so früh.“

„Sie wußten, Herr Director –?“

„Alles. Gensd’arm Schmidt!“ rief der Polizeidirector in den Gang hinein, sind Sie da?“

„Zu Befehl, Herr Director.“

Der lange Gensd’arm Schmidt führte wohlgefesselt zwei Menschen in das Zimmer. Der Eine war ein großer, hübscher, etwas blasser junger Mensch, mit einem kleinen schwarzen Schnurrbarte; der Zweite war der Herr Henne.

„Kennen Sie diese, Herr Ehrenreich Siehuber?“ fragte der Polizeidirector.

„Alle Wetter, wie werde ich nicht? Dieser hier ist mein sauberer Herr Agent, der klügere Theil eines Polizeibeamten. Und dieser hier – Ha, Bursch, Du bist ein eben so verwegener wie gewandter, großer und langer Spitzbube. Aber Meister wurde ich alter Kerl Deiner doch, und wäre der Andere nicht gewesen –“

„Bedanken Sie sich bei Herrn Henne.“

„I, Du verdammter Schuft von einem Polizeivigilanten.“

„Herr Referendarius,“ sagte der Polizeidirector zu seinem verblüfften Untergebenen, „Sie sind wohl so gütig, die Gensd’armen mit meinen beiden Spitzbuben zur Stadtvogtei zu begleiten; ich habe unterdeß mit Ihren Arrestanten noch einige Worte zu sprechen.“

Der Referendarius ergriff schnell die Gelegenheit, sich zu entfernen, gefolgt von den Gensd’armen mit den beiden Räubern.

Der Polizeidirector wandte sich an den Herrn Siehuber.

„Ich hatte versprochen, Ihnen noch heute Abend zu dem Ziele Ihrer Mission zu verhelfen.“

„Wie wußten Sie nur – ?“

„Es würde zu weitläufig und zu langweilig sein, wenn ich Ihnen das auseinandersetzen wollte. – Ich bitte Sie um die Vergünstigung, einen Gegenstand mit dem jungen Herrn da verhandeln zu dürfen, der für ihn vielleicht eine Kleinigkeit, mir aber von großer Wichtigkeit ist.“

Der alte Herr verbeugte sich stumm.

„Herr Graf Zilly,“ fuhr der Polizeidirector zu dem jungen Manne gewedet fort, „ich habe Sie von Anfang an nicht verkannt, obgleich Sie alles Mögliche thaten, daß man Sie für einen vagirenden Industrieritter halten mußte, ich hielt Sie nur ein wenig für einen Narren; darum duldete ich auch Ihre Promenade mit diesem jungen Mädchen, deren Vater ich achtete, und deren Mutter eine sehr brave Frau ist. Sie selbst ist unverdorben, und die Promenaden mit Ihnen konnten in den Straßen Berlins bei hellem Tage nicht gefährlich werden. Sie sollte im Gegentheile, so dachte ich, recht bald einsehen, daß sie es eben mit einem Thoren zu thun habe, der vergeblich den Versuch mache, sie zu verführen; aber ich habe mich getäuscht. Sie sind heute einen gefährlichen, einen schlechten Schritt mit dem arglosen Kinde weiter gegangen, und ich hoffe, vergebens. Der alte Herr hier, der Bevollmächtigte Ihres Vormundes, wird Sie vielleicht noch einige Zeit hier lassen wollen. Aber, Herr Graf, sehe ich Sie noch einmal mit dem Mädchen, so bekommen Sie es mit mir zu thun. Haben Sie gehört?“

Er wollte gehen, aber der junge Graf Zilly hielt ihn zurück.

„Halt, mein Herr, nun noch ein paar Worte meinerseits mit Ihnen. Aber vorher erlauben Sie, daß ich noch Jemanden herbeihole.“

Er verließ das Zimmer und kam nach einer Minute mit der Frau Rohrdorf zurück.

„Alter, ehrlicher Siehuber, ich habe nie schlechte Streiche gemacht?“

„Nur wilde.“

„Und dumme,“ setzte der Polizeidirector hinzu.

„Ich bin kein armer Teufel?“

„Gott weiß, wie reich Ew. Gnaden sind.“

„Ich kann, nach dem Testamente meines Vaters, wie nach dem Ausspruche meines Onkels und Vormundes, frei mir eine Frau wählen?“

So sagt das Testament, und der Herr Onkel würde schon lange sich gefreut haben, wenn Sie ihm eine brave junge Gräfin zuführten.“

„Auch eine Bürgerliche?“

„Wenn sie nur brav wäre.“

„Wohlan, ich habe das bravste und liebenswürdigste Wesen gefunden. Ich habe ihre Liebe und die Reinheit und den Adel ihres Herzens geprüft. Sie hat die Probe bestanden, wie selten eine sie besteht. – Emma!“

Er hob das weinende Mädchen auf, befreite das schöne Gesicht von den Händen, die es noch immer, die es von Neuem bedeckt hielten, und führte sie zu der Mutter.

„Ihren Segen, theure Frau!“

Mutter und Tochter umschlangen sich weinend. Der Graf umfaßte Beide.

„Hier ist die Polizei überflüssig,“ sagte der Polizeidirector.

Der Herr Ehrenreich Siehuber war noch zu überrascht, als daß er etwas Anderes sagen konnte, als:

„Das ist ja nichts als Verwirrung in dieser verdammten Stadt der Aufklärung!“


Graf Zilly, keine erdichtete Person, ist dann ruhig noch einige Wochen in Berlin geblieben, und hat später sein braves Mädchen nach seinen heimathlichen Bergen geführt. Der Herr Referendarius hat keine große Carriere gemacht.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Aeußere
  2. Vorlage: Straulauerbrücke
  3. Vorlage: achte
  4. Vorlage: meine