Der Fels der Mutter
Der Leser möge dem Verfasser, ehe derselbe seine kurze Erzählung beginnt, wenige Worte zur Einleitung gestatten. In einer Zeit, in welcher der durch die Jesuiten geschürte Kampf ganz Deutschland bewegt, in welcher die Jesuiten und Ultramontanen unter dem Schleier der Religion die politische Fahne aufpflanzen, in der sie zu den schärfsten Waffen greifen, um ihre erschütterte Macht wiederzuerlangen und die Reste derselben aufrecht zu erhalten, in der sie alle ihnen zu Gebote stehenden Hülfstruppen in’s Feld führen, um gegen die Freiheit des Glaubens und des Geistes zu kämpfen – in einer solchen Zeit ist es auch Pflicht des Erzählers, sich offen auf die Seite der guten Sache zu stellen und diese selbst durch die Unterhaltung, welche er bietet, zu vertheidigen.
Dieser kleinen Erzählung liegt eine entschiedene Tendenz zu Grunde, der Verfasser fügt aber sogleich hinzu, daß durch die Tendenz die Wahrheit in keiner Weise beeinträchtigt wird. Er will den Lesern eine Episode aus dem Treiben der Jesuiten vorführen, die auf das Deutlichste zeigt, wie diese Jünger des so gefährlichen Ordens vor keinem Mittel zurückschrecken, wie sie unter der Maske der Frömmigkeit und des frommen Strebens zu jeder Handlung fähig sind.
Im vorigen Jahrhundert schickten die Jesuiten zahlreiche Ordensbrüder als Missionäre nach Südamerika, um das Christenthum unter den Ureinwohnern jenes Landes zu verbreiten, vor Allem aber auch, um dem Orden dort neue Hülfsquellen zu eröffnen und seine Macht zu verstärken. Diesen letzten Zweck haben die Missionäre ganz besonders vor Augen gehabt, denn sie zogen den Handel in jenen Gegenden an sich und erwarben ihrem Orden dadurch große Reichthümer. Während sie, was sich nicht leugnen läßt, ein Stück europäischer Cultur in jene unwirthbaren Gegenden trugen, brachten sie zugleich viel Unheil mit sich. Ganze Stämme der Wilden wurden durch den Haß, den sie unter denselben entflammten, vernichtet; sie impften den Wilden Laster und Leidenschaften ein, die denselben bis dahin unbekannt gewesen waren. Während die Missionäre die Wilden zu taufen suchten, um sie für die Religion zu gewinnen, deren höchstes und edelstes Princip die Liebe ist, verfuhren sie oft in so grausamer Weise, daß man mit Abscheu sich von ihnen wenden muß. Der Zweck heiligt bei ihnen ja das Mittel.
Einen solchen Fall wollen wir erzählen.
Am westlichen Ufer des Atabapo, eines Nebenflusses des Orinoco in Venezuela, erhebt sich eine Granitkuppe, welche einst den Namen „Der Fels der Guahiba-Indianerin“ oder „Der Fels der Mutter“, „Piedra de la madre“ führte, weil er Zeuge gewesen war der rührenden Mutterliebe einer Wilden und zugleich einer herzlosen, teuflischen Grausamkeit eines Missionärs, des Präsidenten der Missionscolonie San Fernando am Ufer des Orinoco, wo der Guiwara sich in denselben ergießt.
Die Missionäre von San Fernando hatten Indianer von der kriegerischen Nation der Guaypunabis durch Geschenke an sich gelockt, theils um durch sie gegen die Indianer anderer Stämme geschützt zu werden, theils um sich derselben zu verschiedenen Unternehmungen zu bedienen, zu denen sie selbst weder den Muth, noch die Kraft, noch die Erfahrung besaßen. Die frommen Patres, welche die Religion der Liebe unter den Wilden verbreiten sollten, benutzten oft die ihnen ergebenen Indianer, um mit ihnen die Hütten von Indianern anderer Stämme zu überfallen und namentlich die Kinder zu rauben, die sie dann tauften und auf ihren Missionen als Sclaven benutzten.
Selten wurde ein solcher Ueberfall ohne Grausamkeit ausgeführt. Die Männer und Frauen, welche ihre Kinder vertheidigten, wurden meist erschlagen, denn sie waren nicht zu Sclavendiensten zu benutzen, und die Missionäre hinderten auch die größten Grausamkeiten nicht; sie reizten sogar die Indianer dazu, da die geraubten Kinder in ihrem Besitze viel sicherer waren, wenn ihre Eltern erschlagen waren und keinen Versuch zu ihrer Befreiung mehr machen konnten. Mochten die spanischen Gesetze auch einen solchen Menschenraub verbieten, die Jesuiten kümmerten sich nicht um das Gesetz, wie sie sich stets über die ihnen unbequemen Gesetze hinweggesetzt haben, zumal wenn die Macht des Staates nicht stark genug war, dieselben aufrecht zu erhalten und die Uebertretung zu bestrafen.
Zu einem solchen Raubzuge war auch der Präsident der Mission San Fernando, ein frommer Pater, mit seinen ihm ergebenen Indianern ausgezogen. Er bedurfte Sclaven in seiner Mission, und sein Ruf stieg, wenn er einige Kinder der Wilden mehr getauft hatte. Daß diese Taufe eine erzwungene war, daß die Kinder geraubt waren und daß sich vielleicht blutige und grausame Thaten an diese Taufe knüpften, das wurde natürlich in dem Berichte nicht erwähnt, den er über das Wachsen seiner Mission nach Europa sandte.
Er hatte sich mit den Indianern an den Guaviare begeben, und während er im sicheren Boote zurückblieb, durchsuchten die Indianer die Ufer. Bald hatten sie die Hütte eines Wilden vom Stamme der Guahibos entdeckt. Vorsichtig und geräuschlos wie Schlangen schlichen sie hinan, um die Bewohner der Hütte zu überraschen; sie mußten auf einen verzweifelten Kampf gefaßt sein, wenn ihr Ueberfall zu früh bemerkt wurde.
Als sie, zwischen Gebüsch und hohem Grase versteckt, sich der Hütte bis auf wenige Schritte genähert hatten, sprangen sie empor und stürzten auf die Hütte zu. In der Hütte befand sich jedoch nur eine Frau mit drei Kindern, von denen zwei noch nicht erwachsen waren. Sie bereiteten Maniocmehl.
An Widerstand war nicht zu denken, da der Vater am Flusse beim Fischfange beschäftigt war und von dem Ueberfalle der Seinen keine Ahnung hatte. Die Mutter suchte sich deshalb [87] mit ihren Kindern durch die Flucht zu retten. Die Indianer der Mission folgten ihnen jedoch gleich angelernten Bluthunden, und kaum hatten die Unglücklichen die Savane erreicht, so wurden sie von ihren Verfolgern eingeholt, nach kurzem Widerstande niedergeworfen, an Händen und Füßen gebunden und zu dem Boote geschleppt, in welchem der fromme Pater sie erwartete, erfreut über den glücklichen Erfolg der Menschenjagd. Drei junge Sclaven konnte er nun mehr in seiner Mission zählen, das Taufen der Geraubten machte ja ohnehin wenig Schwierigkeit.
In dem Boote wurde die Mutter mit den Kindern nach San Fernando gebracht, und der Präsident der Mission war der festen Ueberzeugung, daß es der Frau nicht gelingen werde, zu fliehen und zu Lande ihre Heimath wiederzufinden. Jene Gegenden, welche dichter Wald bedeckt, sind nämlich während eines großen Theiles des Jahres überschwemmt, und ein Durchdringen dieser überschwemmten Wälder ist in der Zeit fast nur in einem Boote möglich und mit den größten Beschwerden verbunden. Selbst die Indianer benutzen zu ihren Fahrten und Reisen nur die Flüsse und besuchen benachbarte Niederlassungen nie zu Lande, selbst wenn die Entfernung nur wenige Meilen beträgt. Der Pater hatte indessen die Liebe und den Muth einer Mutter nicht in Berechnung gezogen. Das unglückliche Weib hatte daheim noch mehrere Kinder, welche bei dem Ueberfalle mit ihrem Vater auf dem Fischfange gewesen waren. Zu ihnen und zu ihrem Gatten sehnte sie sich. Sie hatte nur den einen Gedanken, dem Vater die geraubten Kinder zurückzubringen, und mehrere Male entfloh sie mit den Kindern.
Der fromme Pater sandte ihr jedesmal seine zur Menschenjagd angelernten Indianer nach, welche die Unglückliche stets wieder ergriffen. Der Pater ließ sie auf das Unbarmherzigste peitschen, in der Hoffnung, daß sie nun ihr Verlangen aufgeben werde, allein die Mutterliebe war stärker. Mochte auch ihr Rücken wund und blutig geschlagen sein, die Sehnsucht nach ihrer stillen Hütte, nach ihren Kindern und ihrem Gatten wich nicht von ihr, und sie entfloh mit den Kindern auf’s Neue.
Und wieder wurde sie von den Indianern eingeholt, zurückgeschleppt und auf den Befehl des Vaters auf’s Neue und Heftigste gepeitscht. Kein Mitleid mit der unglücklichen Mutter erfaßte ihn; er beschloß sogar, sie von ihren Kindern zu trennen und zu den Missionen am Rio Negro zu bringen. Von seinen Indianern begleitet, führte er sie den Atabapo hinauf. Sie war von den Mißhandlungen noch geschwächt. Deshalb nur leicht gebunden, saß sie auf dem Vordertheile des Fahrzeuges. Hinter ihr befanden sich ihre grausamen Peiniger. Niemand hatte ihr gesagt, welches Geschick ihrer wartete; es war ihr nicht mitgetheilt worden, daß sie von ihre Kindern getrennt werden sollte, allein ihr Auge war auf die Sonne gerichtet und aus dem Stande derselben erkannte sie, daß das Boot sie immer weiter von ihren Kindern und ihrer Heimath forttrug. Sie errieth den teuflischen Plan des frommen Paters, und Verzweiflung erfaßte sie. Langsam lockerte ihre Hand die Bande, welche sie fesselten – endlich gelang es ihr, dieselben abzustreifen; sie sprang empor, stürzte sich in den Fluß und schwamm dem linken Ufer zu. Die Strömung trug sie an eine Felsbank, welche später ihren Namen trug. Von dort aus gelang es ihr, das Land und den nahen Wald zu erreichen.
Erbittert, daß seine Beute ihm auf’s Neue entkommen war, ließ der Präsident der Mission das Fahrzeug an’s Ufer fahren und befahl den Indianern, der Spur der Unglücklichen zu folgen. Die Menschenjagd begann auf’s Neue. Die abgerichteten Bluthunde erkannten nur zu sicher jede Spur, welche der Fuß der Flüchtigen zurückgelassen hatte. Wieder wurde die unglückliche Mutter eingeholt und am Abende zurückgebracht. Der fromme Pater ließ sie auf dem Felsen, dem Piedra de la madre, niederlegen und mit einem Seekuhriemen, der dort als Peitsche benutzt wurde, schlagen. Ruhig stand er dabei, und sein Auge weidete sich an der grausamen Scene. Als die Indianer endlich erschöpft inne hielten, rief der Unmensch: „Peitscht sie!“ und auf’s Neue wurde die bereits mit Blut Bedeckte gemißhandelt.
Dann ließ der Präsident der Unglücklichen mit starken Mavacureranken die Hände auf den Rücken binden. Sie wurde in das Boot geschleppt, zu der Mission Javita gebracht und dort in eines der Caravanserais gesperrt.
Es war in der Regenzeit und finstere Nacht. Wälder lagen, fünfundzwanzig Meilen in gerader Linie breit, zwischen Javita und der Mission San Fernando. Man kannte keinen andern Weg als die Flüsse; niemals hatte ein Mensch versucht, zu Lande von einem Dorfe zum andern zu gehen. Hier war an eine Flucht und Rückkehr des unglücklichen Weibes zu ihren Kindern nicht zu denken, denn ein Boot hatte sie nicht, und den Weg zu Lande zurückzulegen hielt man für eine Unmöglichkeit. Aber das Mutterherz kannte keine Schwierigkeit und würde selbst vor Größerem nicht zurückgeschreckt sein. Ihre Kinder befanden sich in San Fernando in den Händen des grausamen Christen, und in ihr lebte nur der eine Gedanke, dieselben zu befreien und zu ihrem Vater am Guaviare zurückzubringen. Sie fragte nicht, ob ihre Kräfte zu dem schweren Werke ausreichten – sie wollte und konnte nicht ohne ihre Kinder leben. Ihr trauriger Zustand, ihre blutenden Arme, ihr geschlagener Rücken hatten selbst das Mitleid der Indianer von Javita erregt; ohne Wissen des Missionärs und des Alcaden hatten diese ihre drückenden und einschneidenden Fesseln gelockert; mit den Zähnen zernagte sie dieselben; es gelang ihr, dieselben abzustreifen, und während der Nacht entfloh sie. Auch jetzt wieder wurde den Indianern befohlen, sie zu verfolgen, aber in den überschwemmten Wäldern war ihre Spur nicht aufzufinden.
Inzwischen war der fromme Pater, der die Unglückliche von ihren Kindern getrennt und nach Javita gebracht hatte, nach San Fernando zurückgekehrt und endlich glaubte er die Mutter, welche von ihren Kindern nicht lassen wollte, in sicherm Gewahrsam. Eine Entfernung von fünfundzwanzig Meilen trennte sie von ihm, und kein menschlicher Fuß schien den Raum, der zwischen ihr und ihm lag, durchschreiten zu können.
Als die Sonne zum vierten Male aufging, sah man die unglückliche Mutter um die Mission von San Fernando, in welcher ihre Kinder eingeschlossen waren, schleichen. Als dies dem Präsidenten gemeldet wurde, hielt er es für unmöglich. Wie konnte Jemand in dieser Jahreszeit durch die Wälder dringen, wo der Boden überschwemmt war, wo düstere Wolken den Himmel bedeckten und Nachts kein Stern die einzuschlagende Richtung zeigte, wo die Sonne tagelang nur für einige Minuten zum Vorschein kam! Wie war es möglich, durch den Wald zu dringen, in welchem stachlige Lianen jeden Schritt hemmten, den zahlreiche tiefe Bäche durchströmten!
Er sandte seine Indianer aus, um die unglückliche Mutter aufzugreifen, für welche kein Hinderniß zu groß war, die Das ausgeführt hatte, wovor der kräftigste und unerschrockenste Indianer, der mit der Gegend vertraut war, zurückgebebt wäre – und diese erfaßten das arme Weib. Gefragt, schilderte sie die unsagbaren Beschwerden ihrer Wanderung, wie sie völlig erschöpft sich stets auf’s Neue aufgerafft, weil das Verlangen nach ihren Kindern ihre Kräfte belebt, wie sie während der vier Tage keine andere Nahrung zu sich genommen als Vachacos, große schwarze Ameisen, welche in langen Zügen an den Bäumen emporkrochen, um ihre harzigen Nester an denselben aufzuhängen, wie ihre nackten Füße von den Dornen der Lianen wundgerissen seien, wie sie alle Erschöpfung, Hunger und Schmerzen überwunden habe, um zu ihren Kindern zu gelangen.
Die Leser werden jetzt erleichtert aufathmen; der Gedanke, daß es der unglücklichen Mutter nun endlich gegönnt war, wieder mit ihren Kindern und ihrem Gatten vereint zu werden, wird sie beruhigen. Wenn ein Mensch, nur durch die Liebe geleitet, so Unsagbares erduldet und so Unglaubliches ausführt, muß er ja selbst das härteste Herz erweichen, der erbittertste Feind muß dadurch versöhnt werden – es kann kein Gemüth so grausam, so sehr entmenscht sein, um solchen Thatsachen gegenüber unbewegt zu bleiben.
Und der Präsident der Mision – der fromme Pater, der Jesuit, der Missionär, der ausgezogen war, um dem Christenthume, der Religion der Liebe, neue Jünger zu gewinnen? Der fromme Pater ließ der unglücklichen Guahiba nicht Zeit, um von ihren Wunden zu genesen und sich von ihren unsagbaren Beschwerden zu erholen; die Indianer mußten sie auf’s Neue blutig peitschen, dann wurde sie in ein Boot geschleppt und in eine Mission am oberen Orinoco gebracht, um dort besser bewacht zu werden. Am Orte ihrer neuen Gefangenschaft angekommen, wies die unglückliche Mutter, welche die Trennung [88] von den Ihrigen nicht überleben mochte, alle Nahrung von sich und starb nach wenigen Tagen.
Lange Zeit führte die Granitkuppe am Ufer des Atabapo zur Erinnerung an diese rührende Mutterliebe einer Wilden den Namen „Fels der Guahiba-Indianerin“ oder „Piedra de la madre“ – sie hätte noch eine zweite Inschrift tragen müssen: „Der Fels eines Jesuiten“. –
Die Leser werden sicherlich glauben, daß diese erschütternde Skizze übertrieben sei, daß die Tendenz sie gefärbt habe; sie werden sich nicht vorstellen können, daß ein Mensch so sehr entarten könne. Der Verfasser nennt als Bürgschaft der Wahrheit seine Quelle: er hat diese Skizze aus den Reisen Alexander’s von Humboldt geschöpft und ist bemüht gewesen, die Darstellung des großen Mannes möglichst getreu wiederzugeben. Chamisso hat denselben Stoff bekanntlich einem seiner schönsten Gedichte zu Grunde gelegt.