Der Dichter der „Kinderheimat“
In der Nähe Münchens liegt idyllisch das Dörfchen Krailing. Herrliche Waldungen ziehen das anmuthige Würmthal entlang. Waldesgrün, Waldesluft und Waldesfrieden begrüßen hier den Besucher. Alljährlich, sobald der Frühherbst in das Land zog, durchstreifte diese Gegend ein Gast, der von Alt und Jung gekannt und geliebt war. Derselbe war eine imposante, äußerst gewinnende Erscheinung. Das wohlgeformte Antlitz, durch das ein Zug von Wohlwollen ging, war von einem sorgfältig gepflegten Bart umrahmt. Das freundliche Auge strahlte ein seltenes Feuer des Geistes.
Dieser regelmäßige Besucher war Friedrich Güll, der Dichter der „Kinderheimath“. Wie der Lerche das Saatfeld und die Bläue des Himmels, so war seinem poetischen Gemüthe der Wald ein Bedürfniß. Inmitten der heitern Landschaft suchte und fand er Erholung und geistige Frische. Die von Arbeit und Sorgen gelähmten Schwingen des Geistes sammelten hier neue Flugkraft. Seine in Krailing empfangenen Eindrücke legte Güll in Sprüchen, Versen, Stammbuchblättern etc. nieder und brachte diese als werthvolle Ausbeute mit in die Heimath.
Der Herbst des vergangenen Jahres war der letzte, der ihn in sein geliebtes Walddörfchen führen sollte. Kurz vor Jahresschluß ist er in München aus dem Leben geschieden.
Güll gehört nicht zu jenen Berühmtheiten, deren Name auf Aller Lippen ist; selbst unter den literarisch Gebildeten wird eine ganze Anzahl seinem Namen zuerst an dieser Stelle zu begegnen meinen. Sie irren sich – sie haben es nur vergessen, daß dieser Name unter so manchem Liedchen in den Fibeln und Lesebüchern ihrer Kindheit gestanden, vielleicht gerade unter solchen, die ihnen einst die liebsten waren und die sie heute noch nicht vergessen haben. Und daß ihnen diese Erinnerung nicht wieder aufgefrischt wurde, daran ist jener unbegreifliche, kaum zu bezwingende Wahn schuld, als könne es gar keine Jugenddichtung geben, welche wirklichen Kunstwerth habe, welche in die Literaturgeschichten gehöre. Sie wird in Bausch und Bogen wie das Spielzeug der Kinder behandelt, das man kauft, um es zerreißen und zerbrechen zu lassen.
Aber Güll war ein wirklicher Dichter, und einer, der ein Gedenkblatt an dieser Stelle verdient. Das Leben hat ihn, den unermüdlich ringenden, zur Höhe des Schaffens strebenden Mann, leider immer mit so kurzem Zügel geführt, daß er nie zu rechter [277] Freiheit der Bewegung gekommen ist. So soll ihm wenigstens die alte gut deutsche Gerechtigkeit werden, daß die Nachwelt ihn würdigt und – beklagt.
Friedrich Güll wurde am 1. April in der fränkischen Kreishauptstadt Ansbach geboren. Seine Wiege stand in einem sehr bescheidenen Stübchen; der Vater war, wie der Großvater schon, ehrsamer Goldschmied und verdiente, soviel die Familie zum Leben brauchte. Aber der Vater starb, als Friedrich noch ein zartes Kind war, und dieser kam abwechselnd zu den beiden Großmüttern, von denen die eine ihn in kargender Zucht hielt, die andere grenzenlos verwöhnte. Um für den Sohn eine consequente, ernste Führung zu gewinnen, entschloß sich daher die Mutter zu einer zweiten Ehe. Der Stiefvater war wirklich ein treuer, rechter Vater. Er ließ sich die geistige Heranbildung Friedrich's sehr angelegen sein. Während er selbst des Schneiderhandwerks pflegte, mußte der Knabe die Vocabeln in der neuen Fibel entziffern und auf leichtfaßliche Weise an den Schneiderutensilien das Rechnen lernen.
Der talentvolle Junge machte rasche Fortschritte, und bald ward er der Lector des Vaters, dem er seine Leibblätter vorlesen mußte. Das Herumtummeln im Freien, die so sehnlichst gewünschten häufigen Ausflüge in Feld und Wald blieben ihm durch eine Schrulle des Alten lange ganz versagt, und als die Mutter sie endlich in beschränktem Maße erwirkt, kostete sie der Knabe mit wahrer Leidenschaft, selbst auf die Gefahr empfindlicher Strafen hin. Und diese seltene Liebe zur Natur hat ihn, wie bereits eingangs bemerkt, durch das ganze Leben begleitet.
Genügend vorbereitet, trat er in die Volksschule ein. Auch dort machte er rasche Fortschritte. Privatim schöpfte er viel geistige Nahrung aus einer kleinen, aber ausgewählten Bibliothek, die er eines Tages in einem entlegenen Theile des Hauses in einer Kiste entdeckte. Während der freien Zeit wurde stundenlang gelesen und memorirt.
Mit zehn Jahren trat Güll in die Realschule seiner Vaterstadt ein; der Stiefvater that es nicht anders, trotzdem die Verhältnisse des gichtisch gewordenen Schneidermeisters bedenklich zurückgegangen waren. Hier erst thaute der Knabe recht auf, hier lernte er für die Gedichte von Goethe, Schiller und Uhland, vermittelt durch das Lesebuch, schwärmen; aber ein geschickter Unterricht fesselte sein Interesse auf allen Gebieten.
Da starb auch der zweite Vater, und vorbei war es mit allen Träumen von Gymnasium und Hochschule. Mit blutendem Herzen stand der reichbegabte Schüler vor jenem verhängnißvollen Scheideweg des Lebens, an welchen das harte Geschick so manchen strebsamen Jüngling stellt. Bei den unzulänglichen Mitteln mußte er jedem höhern Studium entsagen; zu einem ehrsamen Handwerke konnte er sich nicht entschließen, und so wurde er Volksschullehrer.
Die Zeit der Vorbildung zu diesem Berufe, welche im Seminar zu Altdorf abschloß, war in wenigen Jahren mit sehr gutem Erfolge zurückgelegt; sie hatte Güll, außer anderem, eine gute musikalische Ausbildung eingetragen, die er mit ganz besonderer Vorliebe umfaßte. Eine übervölkerte Landschule, zu Flachslanden, wurde ihm jetzt als Arbeitsfeld angewiesen. Das kam dem spätern Jugenddichter sehr zu statten. Das Kinderlied ist ein Sprößling der lyrischen Volkspoesie. Die elementare Form, der einfache Gedanke, der klare bündige Ausdruck, die plastischen Bilder sind beiden gemeinsam. Die geistigen Wurzeln des Jugenddichters müssen ihre Nahrung aus den verschiedenen Gattungen der Volkspoesie schöpfen.
Der Volks- und Kindeston schlug dem Landschullehrer stündlich an's Ohr. Das große, lehrreiche Buch des Volks- und Kinderlebens lag vor ihm aufgeschlagen. Es gehörte nur ein empfänglicher Sinn, ein verständnißvolles Gemüth und ein redliches Streben dazu, um die unbeachteten Sprachschätze zu heben und sich nutzbar zu machen. Daß Güll dies that, bezeugen die reichen Früchte seines Schaffens. Auch für sein späteres großes Reimgeschick legte er hier den Grund: er ging, um den Entwurf einer Lesefibel auszuarbeiten, ein ganzes Wörterbuch durch und prägte sich damit einen seltenen Wortschatz ein.
Nach längerem treuem Wirken brach Güll sein Zelt ab und siedelte in seine Geburtsstadt Ansbach über. Daselbst wirkte er sieben Jahre, theils an der Armenschule, theils am Theresianum, einem städtischen Institute. Er war ein geborener Lehrer, ausgerüstet mit freudiger Lebensanschauung, einem kindlichen Sinne, Liebe und Verständniß für die Kleinen, Treue für den Beruf. Ein ganzer Kreis von Schülern, denen es vergönnt war, einen Blick in sein reiches Gemüthsleben zu thun, blickte mit Dank und Verehrung zu ihm auf. Es kam Güll schwer an, sich loszureißen von einer Wirkungsstätte, mit der er durch tausend Wurzeln des Seins verwachsen war. Doch in der Landeshauptstadt sprangen so reiche geistige Quellen. Das muß einen wissensdurstigen Mann mächtig anziehen. Er ergriff daher abermals den Wanderstab, um eine städtische Schulstelle in München anzutreten. Leider waren auch hier die Verhältnisse stärker als ein strebsamer Wille. Güll hatte bereits eine Familie gegründet und diese, mehrere Köpfe zählend, war auf das bescheidene Jahreseinkommen von – dreihundert Gulden angewiesen.
Der sorgsame Vater mühte sich im Erwerbe. Doch der Dichter ging nicht im Ernährer unter. Des Tages war Pegasus im Joche, des Abends wurde er für kurze Zeit frei.
Schon seit früheren Jahren machte Güll dichterische Versuche auf dem Gebiete der Kunstlyrik, und auf diesem Gebiete Vollendetes zu leisten, war und blieb die höchste Sehnsucht seines Lebens. Als er an dem berauschenden Kelche der Liebe geschlürft, da quollen seine Gefühle zum ersten Male in Versen hervor. Auch als Erzähler versuchte er sich. Sein eigentliches Feld fand er aber, als er auf das „Kinderlied“ kam.
Einst geriethen durch Zufall – so erzählte Güll dem Schreiber dieser Zeilen wiederholt – die Ammenreime in „des Knaben Wunderhorn“ in seine Hände. Diese regten ihn mächtig an. Er las sie, las sie wieder, legte das Buch aus der Hand und – der Jugenddichter war in ihm zum Bewußtsein gekommen. Rasch entstanden einige Lieder, unter ihnen auch das bekannte Recrutenlied „Wer will unter die Soldaten“, das bald auf den Kücken'schen Flügeln des Gesanges seinen Siegesflug durch alle deutschen Gauen antrat. Der Einzug eines Regiments zur Wachparade regte dieses Lied im Dichter an. Jetzt reihte sich Strophe an Strophe, Lied an Lied. Bald war es eine stattliche Sammlung.
Mit diesem poetischen Schatze eilte der Dichter zu Meister Gustav Schwab, um zuerst dessen gewiegtes Urtheil über seine Gedichte zu hören, ehe er sie durch den Druck einem größeren Kreise vorlege. Güll, ein seltener Meister im Vortrag, führte dem strengen Richter einige seiner poetischen Kinder vor. Wie sie diesem gefielen, beweist die Thatsache, daß er die Drucklegung (1837) selbst in die Hand nahm und den Gedichten in Form einer warmen Vorrede einen schönen Geleitsbrief mit auf den Weg gab. Darin sagt er unter Anderem: „Sie athmen so viel Unbefangenheit und verbergen ein besonnenes Dichtertalent. Die [278] Lehren, die darin verflochten, sind mit so wenig Lehrermiene und so viel Laune vorgetragen, daß mir ihr künstlerischer Werth ebensowohl als ihr pädagogischer unzweifelhaft däucht.“ Den illustrativen Theil zu der Ausgabe der Güll'schen Gedichte hatte der ebenfalls als Jugenddichter bekannte Graf Franz Pocci übernommen.
Die „Kinderheimath“ wurde bald zur Heimath der Kinder, bei der sie immer und immer wieder einkehrte. Sie erlebte mehrere Ausgaben; der Verfasser veranstaltete später auch eine Volksausgabe. Wir schließen uns freudig dem Wunsche der „Augsburger allgemeinen Zeitung“ an, daß es einem Meister wie Oscar Pletsch gefallen möge, diese Gedichtsammlung mit Bildern zu schmücken. Der Stift dieses Künstlers wäre der richtige Zauberstab, um den Klapperstorch, die Kätzchen und Mäuschen, den Nicolaus etc. lebensvoll und möglichst individuell ausgestattet vor die Augen der Kinder hinzustellen.
Der Jugendlehrer Güll hatte als Jugenddichter den Ton des Kinderliedes in der glücklichsten Weise getroffen. Der Lehrer, als Führer des Verstandes, ward als Dichter der Priester des Herzens. Güll kannte als Lehrer durch täglichen Umgang die Welt der Kleinen, verstand deren Thun, las ihre Wünsche, redete ihre Sprache, wußte, warum und wann das Kind lacht und weint; und nur einem so eifrigen Naturforscher der Kindesseele, wie er, der zugleich so innig vertraut mit der Volkspoesie und ein so gestaltungskräftiger Künstler war, konnte es gelingen, vereint dem kindlichen Bedürfniß und den Ansprüchen der Kunst gerecht zu werden.
Die Gedichte Güll's zeichnet – wenn auch nicht alle in gleicher Weise – eine wohlthuende Frische, eine packende, kindliche Darstellung aus. Dabei durchziehen dieselben die Silberfäden eines gesunden Humors. Die Sprache ist voll Melodie und Wohllaut, der Versbau schlicht, die Form rein. Die fabula docet springt leicht in die Augen, ohne daß sie sich je prätentiös aufdrängt, oder nur lose angefügt wäre, wie etwa bei Gellert und Anderen.
Wie traute Freunde blicken diese Gedichte jedem Kinde liebevoll in das Gesicht, schmeicheln sich in die Kindesseele ein und werden bald zu Lieblingen der Kleinen. Ja selbst auf die Erwachsenen machen die Gedichte vom „Steckenpferd“ „Schneemann“, „Kletterbüblein“ und wie sie alle heißen, einen äußerst anheimelnden Eindruck. Die ganze Jugendzeit mit all ihren Reizen kehrt wieder und steht mit frischen Farben in der Erinnerung bei diesen Liedchen, die wir als Kinder auch gelernt und gesungen.
Daß Güll ein gesuchter Mitarbeiter der deutschen Jugendzeitschriften war, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Mit Stolz zählten ihn diese zu ihrem Mitarbeiter; und in ganz Deutschland existirt kaum noch ein Schullesebuch, das nicht eine Anleihe bei der „Kinderheimath“ gemacht hätte.
Neben den eigentlichen Kinderliedern stehen eine große Zahl von vielfach in der Form äußerst pikanten Räthseln und eine noch größere von Sprüchen. Die letzteren sind vielleicht als die reifste Leistung Güll's zu betrachten. Graziös in der Form, bergen sie einen außerordentlichen Schatz von Lebensweisheit, eine Fülle von feinen Beobachtungen. Freilich läuft da mancher bekannte Gedanke unter, wenn auch immer eigenartig ausgesprochen; aber das ist kein Wunder bei ihrer Menge. In den Jahren von 1873 bis 1877 hat Güll allein nahezu 600 Sprüche, 300 Räthsel und 20 Gedichte geschaffen, nachdem das warmherzige Drängen seines neugewonnenen Freundes Julius Lohmeyer, des Begründers der „Deutschen Jugend“, den ermüdeten, mißmuthig und alt gewordenen Dichter noch einmal aufgestachelt hatte, und der umfangreiche literarische Nachlaß hat an Sprüchen und Räthseln noch mindestens eine ebenso große Zahl ergeben. Lohmeyer hat das Vermächtniß überkommen, diesen Nachlaß zusammen mit den sonstigen, bisher nur zerstreut veröffentlichten Schöpfungen Güll's herauszugeben. Eine kurze Selbstbiographie des Dichters hat er jüngst in seiner „Deutschen Jugend“ veröffentlicht.
Zu voller Lebensfreudigkeit ist Güll in München, obgleich er seinem arbeitsvollen Berufe gern oblag und manche Stunde anregenden Umganges genießen durfte, je länger, je weniger gekommen. Mochten seine Schüler musterhaft sein und besonders die Theilnehmerinnen an seinem privaten Fortbildungscursus schwärmerisch an ihm hängen, mochten ihn die Abende unter den „Zwanglosen“, im „Deutschen Hause“ mit Thäter, König, Schwind und Anderen, bei Schnorr, Kaulbach etc. mit der Ueberzeugung erfüllen, daß er den Besten werth war – zu vollem Genusse dessen blieb dem von der Brodarbeit abgematteten und gequälten Manne nur selten die Fähigkeit, und zum Schaffen eben nicht häufiger. Nur in den Ferienausflügen genoß er wirklich. Und als die Behörde ein Einsehen hatte und seit 1870 ihm die Last erleichterte, ja zwei Jahre Urlaub und 1876 die Versetzung in den Ruhestand gewährte, traf die Wohlthat einen Mann mit zerrütteten Nerven, den Nervenschmerzen, Ermattung und oft düstere Melancholie peinigten.
Besondere Lichtblicke waren für ihn die Zeichen der Anerkennung, welche ihm von Seiten der beiden kunstsinnigen Fürsten Maximilian's des Zweiten und Ludwig's des Zweiten zu Theil wurden, namentlich die Aussetzung einer jährlichen Subvention, die er vom Erscheinen der „Kinderheimath“ ab genoß; ferner die Ehrenbezeigungen, mit denen die Stadt München sowie die Collegenschaft ihn feierten, als er aus seiner öffentlichen Thätigkeit schied.
Wie beliebt und geachtet Güll war, zeigte sich erst recht bei seinem Begräbnisse am letztverflossenen zweiten Weihnachtstage. Die höchsten Schulbeamten des Staates, des Kreises und der Stadt gaben dem schlichten Schullehrer das letzte Geleite.
Während der Dichter in das Grab gebettet wurde, prangte in jedem Hause der Christbaum, den er wie kaum ein zweiter Jugenddichter besungen. Gar manches Kind erfreute sich an der Festgabe der „Kinderheimath“, als über deren Verfasser sich der Grabeshügel wölbte.