Der Blutmord in Konitz/Warum nichts herausgekommen
« Prozesse | Der Blutmord in Konitz | Staatsrechtliche Stellung der Juden » | |||
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
Warum ist nichts herausgekommen?
––
Weil gleich nach der Entdeckung der Mordthat, also in den ersten Tagen, als die nicht in dem See gefundenen Körperteile des Ermordeten noch in Häusern der Stadt Konitz versteckt waren, keine zweckentsprechenden Schritte von Seiten der dazu berufenen
[Eingefügtes Bild:]
Konitz [Ansicht der Stadt]
[Siehe: Scan: Der Blutmord in Konitz, S. 63]
Behörden unternommen worden sind. Heute weiß man sehr genau, daß bei Vornahme wirklich sachgemäßer Haussuchungen die einzelnen Körperteile, namentlich der Kopf, der doch noch über einen Monat vom 11. März bis zum 15. April in der Stadt verborgen gewesen ist, hätten gefunden werden müssen. Damit wären dann auch die Mörder oder ihre Helfer ans Tageslicht gebracht worden.
Die Stadt Konitz kann nach ihrer ganzen Bauart (alte Stadtmauer usw.) mit verhältnismäßig geringem Aufgebot an Mannschaften leicht völlig abgesperrt werden. Die freiwillige Feuerwehr, der Kriegerverein, die Schützengilde, oder besonders in Eid und Pflicht genommene Bürger, die sich dem Herrn Bürgermeister zu diesem Zwecke zur Verfügung stellten, hätten diese Aufgabe ohne weiteres erfüllen können. Traute man es den Bürgern nicht zu, [64] so wäre hier die Heranziehung einer Kompagnie Infanterie sehr zweckmäßig gewesen.
Die Einleitung zur Entdeckung von Verbrechen liegt den örtlichen Polizei-Behörden ob, die selbstständig vorzugehen befugt sind und außerdem nach den Anweisungen der Kgl. Staatsanwaltschaft zu handeln haben. Inhaber der Polizei-Gewalt in Konitz ist der Bürgermeister Deditius, früher Bürgermeister in der schlesischen Stadt Strehlen. Er hat, wie Erkundigungen ergaben, dort als ein eifriger Judenfreund gegolten. Seine Frau entstammt einer jüdischen Familie. Herr Deditius ist ein gewandter, in seinem Dienste sehr erfahrener Beamter; in seinen Händen lag zum großen Teil das Schicksal der Untersuchung! In ganz Konitz ist man nun der Ansicht, daß der Herr Bürgermeister wirklich zweckentsprechende Maßregeln nicht getroffen, sondern die praktischen Vorschläge, die ihm aus den Reihen der christlichen Bewohner unterbreitet wurden, sogar zurückgewiesen hat. Die in der Stadt abgehaltenen Haussuchungen, abgesehen von der bei dem Fleischermeister Hoffmann, wurden sehr oberflächlich ausgeführt, sodaß sie meist wiederholt werden mußten. Bei der Haussuchung im Lewyschen Hause gestattete man der Frau Lewy sogar, ruhig im Bett liegen zu bleiben. Das Bett wurde nicht durchsucht, obschon es durchaus möglich war, daß gerade in diesem Bett der angeblich erkrankten Frau Lewy sich Körperteile des Ermordeten befinden konnten. Man wird dabei unwillkürlich daran erinnert, wie Rahel einst die gestohlenen Hausgötzen ihres Vaters verbarg.[1]
Bei den nochmaligen Haussuchungen wurde aus naheliegenden Gründen natürlicherweise nie mehr etwas gefunden. – Die Beamten, mit denen Herr Deditius die sogenannten Haussuchungen vornahm, waren unerfahrene Polizeidiener von erst kurzer Dienstzeit. Der alte, äußerst erfahrene Polizeibeamte P., der in Diebstahls-Sachen oft große Gewandtheit und Findigkeit bei Haussuchungen bewiesen hatte, wurde nicht zugezogen.
Viel Aufhebens machte die Judenpresse davon, daß sogar der Judentempel auf das peinliche untersucht worden sei, wobei aber immer vergessen wurde hinzuzufügen, daß das erste Mal eine sehr oberflächliche Besichtigung stattgefunden hatte. Wenn sich wirklich etwas Verdächtiges in der Synagoge befunden hätte, so hätte diese erste Besichtigung den Juden als Warnungssignal dienen müssen, und sie hätten sicher alles bei Seite geschafft. Wir halten es aber durchaus nicht für wahrscheinlich, daß derartiges in der Synagoge vorhanden gewesen ist.
Wir erwähnten schon, daß gleich nach dem Auffinden des Rumpfes sich die Konitzer freiwillige uniformierte Feuerwehr und der Kriegerverein dem Herrn Bürgermeister Deditius zur Verfügung gestellt hatten, um die Stadt abzusperren und Haus für Haus nach den Winterschen Körperteilen abzusuchen. Der Herr Polizei-Chef lehnte aber diesen praktischen Vorschlag ab.
Einige Herren boten ihre guten Jagdhunde zur Hüfle bei den Durchsuchungen an. Der Herr Polizei-Chef lehnte ab und bemerkte, die Herren könnten ja selbst mit ihren Hunden in die [65] Häuser gehen und nachsuchen. Die Bestimmungen über das Hausrecht waren dem Herrn Bürgermeister bei seiner Antwort wohl nicht ganz gegenwärtig. Die Auffindung einiger Körperteile ist aber thatsächlich dem freiwilligen Eingreifen der Hundebesitzer zu verdanken. Daß wir Herrn Deditius, den Gerichtsbehörden und den Berliner Kriminalbeamten nicht Unrecht thun, wenn wir die Art und Weise, wie sie die Haussuchungen angeordnet und durchgeführt haben, als ganz unpraktisch und zweckwidrig bezeichnen, wird unwiderleglich durch die Kleiderfunde im Januar 1901 beweisen. – Zehn Monate lang haben die Mörder und ihre Helfershelfer die Kleider des Opfers, die sie wohl aus abergläubischen Beweggründen nicht vernichten oder fortschaffen durften, in den Mauern der kleinen Stadt verborgen gehalten und schleudern sie dann plötzlich binnen sechs Tagen den Untersuchungs-Behörden förmlich ins Gesicht. - Kann man sich einen blutigeren Hohn denken?
Und nun, nachdem die Wahrscheinlichkeit, noch etwas zu finden außerordentlich vermindert war, werden noch einmal Haussuchungen unter Aufbietung eines großen Apparates von Kriminalbeamten aus Berlin und Danzig abgehalten, bei Juden und Christen ohne Ansehen der Personen, bei evangelischen Schulschwestern, Lehrern, Geschäfts- und Privatleuten. Man durchsuchte aus Genaueste die Straßen in der Nähe des Mönchsees, wo in kleinen Häusern fünf bis sechs arme Familien zusammengedrängt wohnen und wo jeder Hausbewohner genau jedes Stück des beweglichen Eigentums der anderen Bewohner kennt. – Man suchte und suchte – und fand nichts, denn man hatte sich wieder von vorneherein jeder Wahrscheinlichkeit beraubt, etwas zu finden.
Nicht an einem Tage unter Absperrung der Stadt durch das Wachtkommando und gleichzeitig an verschiedenen Enden der Stadt beginnend, fanden die Durchsuchungen statt – jeder ehrliche Konitzer Bürger würde mit Freuden die daraus entstandenen Unbequemlichkeiten auf sich genommen haben –, sondern man suchte tagelang, bei völlig ungehemmtem Verkehr, und aus den Bierstuben- und Straßengesprächen konnte jedermann erfahren, wo am nächsten Tage gesucht werden würde. Wenn wirklich noch Beweisstücke für den Mord sich in der Stadt befunden haben sollten, so hätten die Mordgesellen damit verfahren können wie in dem Gesellschaftsspiele: Dieser Thaler der muß wandern, von dem Einem zu dem Anderen.
Im Gegensatz zu seiner Thätigkeit gleich nach dem Morde entwickelte aber Herr Deditius große Schneidigkeit bei Unterdrückung der Unruhen, die nach der vorläufigen Festnahme des Herrn Hoffmann in Konitz ausbrachen. Eigenhändig hat er sogar junge, wegen Beteiligung an den Unruhen verhaftete Leute im Polizeigebäude geschlagen. –
Ein weiterer Grund, daß nichts herausgekommen ist, liegt in der Behandlung der Zeugen, die sich gleich nach Entdeckung des Mordes freiwillig oder später infolge der öffentlichen Bekanntmachungen der Behörden meldeten. Auch hierbei fordert das Verhalten des Herrn Bürgermeisters Deditius und des inzwischen eingetroffenen Herrn Polizei-Kommissars Wehn die Kritik heraus. [66] Anstatt ruhig und rein objektiv das von den Zeugen Ausgesagte niederzuschreiben und die Beurteilung über die Erheblichkeit den gerichtlichen Behörden zu überlassen, trugen beide Herren ihre eigenen Anschauungen in die Vernehmungen und in die Protokollierung der Aussagen hinein. Da aber beide und mit ihnen so weit bekannt geworden ist, auch viele Ober-Behörden von vornherein die Ansicht hatten, daß die Mörder in den Reihen der Juden nicht zu suchen seien, erachteten sie alles gegen einen Juden Bekundete für unerheblich und bloß dazu angethan, den Behörden durch Verfolgung falscher Spuren unnütze Arbeit zu machen.
Daraus mag der Leser sich einen Begriff bilden, wie es bei den polizeilichen Zeugen-Vernehmungen – und die Polizei hat mindestens sieben Achtel aller Zeugen vernommen – hergegangen ist.
Wir wollen versuchen, die Erlebnisse eines gut situierten Gewerbetreibenden zu schildern, wobei wir einen thatsächlich vorgekommenen Fall im Auge haben. Der Herr, nennen wir ihn X, hatte am Mordtage und am Tage darauf sehr erhebliche Wahrnehmungen gemacht, die sowohl auf die Anwesenheit der polnischen Juden (Schächter oder Rabbiner) in der Stadt Konitz, als auch auf eine Mitwissenschaft mehrerer Konitzer Juden sich bezogen. Er erzählte seine Wahrnehmungen am Biertische, und ein Zuhörer meldete das Gehörte dem Gericht. Herr X, wird als Zeuge vorgeladen. Inzwischen haben die Juden, die jeden Zeugen mit Aufmerksamkeit verfolgten und entsprechend zu behandeln versuchten, davon erfahren, und mehrere jüdische Kaufleute drohen ihm, man werde ihn ruinieren, wenn er seine Wissenschaft wirklich aussage. Verschiedene Aufträge, die er vorher von jüdischer Seite erhalten hatte, werden ihm mit nicht mißzuverstehenden Anspielungen entzogen; alles wird versucht, um den Mann einzuschüchtern. Auf dem Polizei-Büro wird er von den Herren Deditius und Wehn gemeinschaftlich vernommen; zuerst befragt ihn der Herr Bürgermeister. In gemütlicher Weise versucht er es, durch eingestreute Bemerkungen dem Zeugen, der eingehend seine Wahrnehmungen schildert, die Unwahrscheinlichkeit klar zu machen, daß das von ihm Gehörte und Wahrgenommene mit dem Winterschen Mord in Verbindung gebracht werden könne. Der Zeuge wird stutzig, er kommt nicht einmal dazu, seine ganze Wissenschaft bis zu Ende vorzutragen, er glaubt zu merken, daß es nicht angebracht sei, etwas über einen Juden zu sagen. Aber sein Gewissen treibt ihn andererseits an, nicht nachzulassen. Die gemütliche Behandlung der Angelegenheit durch den gewandten Bürgermeister scheint ihm in diesem Fall doch nicht ganz angebracht, und er spricht weiter. Nun aber kommt Herr Wehn mit Zwischenbemerkungen in ziemlich lauter Weise: Dem Zeugen X. sei nicht zu glauben; denn er widerspreche sich mehrfach. Der Zeuge wird dadurch in seinem Glauben bestärkt, daß Aussagen gegen Juden die erwartete Würdigung bei dieser Behörde nicht finden. Er schweigt schließlich still, merkt kaum, was niedergeschrieben ist, und geht nach Hause mit dem festen, aber ganz natürlichen Vorsatze, nie wieder ein Wort seiner Wahrnehmungen von sich zu geben.
Dieser Fall ist typisch für die ganzen Zeugen-Vernehmungen der Polizei. Derartiges passierte einem besser ge- [67] stellten Manne. Der Leser versetzte sich nun aber in die Lage der Leute aus der Arbeiterbevölkerung, der die Mehrzahl der vernommenen Zeugen angehört.
Wie ist es diesen Leuten ergangen?
,,Was Sie da sagen, das ist Quatsch," war eine Redensart, die mancher Zeuge sich gefallen lassen mußte.
Wie es der Zeugin Frau Borchardt ergangen ist, kann auf Seite 16 nachgelesen werden.
Durch diese Form der Zeugen-Vernehmungen, von der die Kunde bald wie ein Lauffeuer unter der Bevölkerung sich verbreitete, ist wahrscheinlich mancher wichtige Zeuge abgehalten worden, sich zu melden. – – Ein Beispiel dafür bietet die im Masloff-Prozesse auf Antrag der Verteidigung geladene Zeugin St., die eine wichtige Wahrnehmung über das Verschleppen des Armes bekundete. Auf die Frage des Vorsitzenden, weshalb sie sich nicht früher gemeldet habe, erklärte sie: ,,Es sei in Konitz allgemein verbreitet, daß jeder Zeuge, der etwas gegen die Juden aussage, auf der Polizei und vor Gericht schlecht behandelt werde." Welchen Wert haben denn überhaupt Zeugen-Vernehmungen, wobei der Beamte nur das von dem Gesagten aufzunehmen sich für verflichtet hält, was er allein von seinem Standpunkte aus für erheblich erachtet?
In offiziellen Artikeln des anfänglich sehr judenfreundlichen Konitzer Lokalblattes wurde sogar dem Publikum in geschickter Weise zu verstehen gegeben, daß die vielen Meldungen und Anzeigen nur der Behörde die Arbeit erschwerten und die Hauptschuld daran trügen, daß noch nichts entdeckt worden sei.
Sobald ein Christ über einen Juden etwas Nachteiliges aussagte, wurde meistens auch der betreffende Jude als Zeuge vorgeladen. Natürlich erklärte dieser dann, daß das von dem Christen Gesagte unwahr sei, und mußte seine Aussage auch beschwören. Dann war der Konflikt da und eine Anklage auf Meineid gegen den Christen oft die Folge.
Wie schon eingangs dieser Schrift erwähnt wurde, hat der Herr Kommissar Wehn sehr emsig in sog. ,,Aufklärungen" gearbeitet. Dieser eifrige Beamte verfolgte wohl jede Spur, die sich zeigte. Es ist aber bei fast jedem auf einen Juden hindeutenden Verdachtsgrunde seinem Scharfsinn auch gelungen, die Unerheblichkeit oder Unrichtigkeit desselben nachzuweisen. Bald waren es Widersprüche in den Aussagen, bald war der Zeuge vorbestraft, bald war er ein Trunkenbold, bald wenigstens zur Zeit der Wahrnehmung betrunken gewesen, bald hatte er früher einmal Drohungen gegen Juden ausgestoßen. [2]
Als gar noch die hohe Belohnung von 20000 Mark auf die Entdeckung der Mörder vom Staate ausgesetzt war, da galt jeder christliche Zeuge an sich als verdächtig, da es ihm bloß um die Erlangung der hohen Summe zu thun sei.
Bis zum Zeitpunkte der Einreichung der Hoffmannschen Verteidigungsschrift (Anfang Juni 1900) befand sich der Schwerpunkt [68] der ganzen Ermittelungen in den Händen der Polizei-Organe namentlich der Kommissare aus Berlin. Wir wünschen, daß sich noch eine Feder finden möge, die im einzelnen die Amtshandlungen der Herren Deditius, Wehn und Braun an der Hand der täglichen Geschehnisse während der Untersuchungszeit der Oeffentlichkeit zugänglich macht. Aufgabe dieser Schrift konnte es nur sein, in großen Umrissen die allgemeinen Gesichtspunkte hervorzuheben, die dazu geführt haben, in der Bevölkerung die Meinung hervorzubringen:
Es soll nichts herauskommen!
Im Laufe der Zeit haben auch eine Anzahl hoher Beamten Konitz besucht, und es sind lange Konferenzen im Beisein dieser Herren abgehalten worden. Die Herren Ministerial-Direktor Lucas, Geheimer Ober-Justizrat Przewlocka, Geheimrat Maubach, diese drei aus Berlin, ferner der Senats-Präsident Hasenstein und der Ober-Staatsanwalt Wulf aus Marienwerder (Westpreußen) sind zum Teil mehrmals in Konitz gewesen. Was von den Ansichten dieser Herren unter der Hand verlautete, deutet aber darauf hin, daß die Anschauungen und Urteile der Polizei-Organe Deditius, Wehn und Braun auch von ihnen geteilt wurden. Man hielt den in der jüdischen Presse höchst geschickt vertretenen Standpunkt fest, daß nur ganz ungebildete Leute an die Mähr vom ,,Ritual-Morde" glaubten, daß in Wirklichkeit derartige Morde nicht vorkämen, und daß deshalb bei der Ermordung des Winter eine jüdische Thäterschaft nicht vorausgesetzt werden könne. Dem unbefangenen Deutschen mag diese Schlußfolgerung zwar nicht ganz richtig vorkommen; wir haben aber auch hier nur einfache Thatsachen zu berichten.
Eins steht unbedingt fest, daß die vielen Besuche der Ober-Beamten in Konitz in keiner Weise die Wirkung hervorgebracht haben, daß auch gegen verdächtige Juden entsprechende Schritte bemerkbar wurden.
Im Gegenteil! Der gute Wille einiger Konitzer Beamten auch einmal das Judentum anzufassen, war nach solchen Besuchen fast stets merklich abgekühlt.
Die Tumulte und ihre Ursachen.
Eng im Zusammenhange mit der Haltung der Behörde stehen die Tumulte in Konitz und den Nachbarstädten, deren Einzelheiten durch die Zeitungen bekannt geworden sind. Die Tumulte sind nur nur dadurch entstanden, daß das Volk aus der Art und Weise, wie in der Winterschen Mordsache gearbeitet worden ist, in seinem guten Glauben an die Gerechtigkeit und Unparteilichkeit der staatlichen Organe sich erschüttert fühlte. Dieser Glaube ist nicht etwa durch Agitation in die Bevölkerung hineingetragen worden, sondern die Möglichkeit eines solchen Mordes an sich und die Erscheinung, daß sich die so auffallend gleichartigen Morde im Rechtsstaate Preußen wiederholen, unentdeckt und ungesühnt bleiben konnten, waren schon ganz allein geeignet, die Gemüter in breiten Volksschichten von Grund aus in Wallung zu versetzen. Die Sorge um [69] die eigenen Kinder ist eins der von der Natur dem Menschen am tiefsten eingepflanzten Gefühle, und gerade diese empflindlichste Saite des Menschenherzens wird durch die Ermordung des Ernst Winter zum schrillen Tönen gebracht.
Höchst bemerkenswert ist, was das Hauptorgan der deutschen Zentrumspartei mit seinem Verständnis hierfür äußert – Nr. 127 der „Germania“ vom 6. Juni 1900–:[3]
- „Bald ist ein Vierteljahr verflossen, seitdem der Rumpf des ermordeten Winter in dem Mönch-See gefunden worden ist, und noch immer ist der Mörder nicht entdeckt, und es hat den begründeten Anschein, als ob er auch nicht entdeckt werden wird. Die gegenwärtigen, höchst sonderbaren Umstände veranlassen uns, die Mordgeschichte einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Die Angst und Sorge für das Leben unserer Kinder drückt uns die Feder in die Hand.Wir wissen wohl, daß der Staat einen Mord nicht verhindern kann, wir wissen aber auch, daß er die Pflicht hat, den Mörder zu suchen und zu strafen und dadurch vorbeugend das Leben seiner Unterthanen, auch der Christenkinder, zu schützen. Können wir nach den vorliegenden Ergebnissen in Skurz und Xanten und nach dem heute mutmaßlich zu erwartenden Ergebnis noch das Vertrauen haben, daß Morde an Christenkindern bestraft und gesühnt werden? Von Anfang an hat die Untersuchung einen höchst merkwürdigen Verlauf genommen; nach allem, was bisher darüber bekannt und auch in der Presse unter ausdrücklicher Anführung von bis heute unwidersprochen gebliebenen Thatsachen berichtet worden ist, läßt das Untersuchungsverfahreneine merkwürdige Abneigung gegen energische Schritte erkennen, sobald diese sich gegen Juden richten."
Weiter heißt es in dem Artikel:
- „Auffallend ist die Behandlung aller Personen, die sich zu Aussagen meldeten, die Juden zu belasten, auffallend die Denunziation oder versuchte Schädigung aller, die uneigennützig auf amtliche Aufforderung zur Aufklärung beizutragen suchten; auffallend die liebenswürdige Behandlung der schwerbelasteten Juden; auffallend das Entgegenkommen gegen fremde Sendlinge, die im Interesse der beklagten Juden der Sache eine andere Wendung zu geben suchen. Nun hat die Sache die Wendung bekommen, daß dem allgemein geachteten christlichen Fleischer Hoffmann unter Annahme unsinniger Motive der Mord zur Last gelegt wird. Auffallend ist das nun so energische Vorgehen gegen Hoffmann, auffallend die Gründlichkeit der bei ihm vorgenommenen Haussuchung, auffallend die Energie und Ausdauer, mit der Hoffmann
[70] und Tochter verhört worden sind. Sind die belasteten Juden und Judentöchter auch so angefaßt worden?"
Unter weiter sagt die ,,Germania":
,,Die vorgekommenen Ausschreitungen sind in erster Linie vielleicht auf das Konto der Juden, die Schlochauer Juden nannten Winter Begräbnis ,Tierschau', in zweiter Linie auf das Konto der Polizei zu setzen. Nun bemüht man sich, in Konitz eine antisemitische Agiation zu entdecken. Wenn dieselbe, die ja nicht unerlaubt ist, vorhanden ist, so sind Juden und Polizei ihre Förderer, die nicht imstande sind, die Früchte ihrer Thätigkeit zu erkennen und sie darum anderen in die Schuhe schieben wollen. Wir haben hier offen und klar die Situation zu zeichnen gesucht; das Resultat der ganzen Sache ist bisher leider objektiv eine Untergrabung des Rechtsbewußtseins und der Rechtssicherheit, sowie des Glaubens an die Unparteilichkeit der Justiz im Volke! Man gebe sich nicht der Hoffnung hin, daß die Sache sich totbluten könne, daß sich die Konitzer mit einer Erledigung a la Skurz zufrieden geben werden. Der Mord muß gesühnt werden. Und wenn die Staatsregierung darauf Wert legt, daß die Bevölkerung wieder vertrauen gewinnt, dann ist es notwendig, daß den bisher mit der Untersuchung betrauten Personen, alle insgesamt, dieselbe aus den Händen genommen wird, vor allem den Berliner Kommissaren."
Aus der Fülle des uns vorliegenden Materials sei noch ein Artikel der in München erscheinenden Zeitung ,,Deutsches Volksblatt" vom 17. Juni 1900 zitiert mit der Ueberschrift: ,,Der große Tote von Konitz." In dem Artikel wird die gesamte Situation in Konitz und das Begräbnis des Ermordeten geschildert, dann heißt es am Schlusse:
,,In Konitz ist ein Bataillon Soldaten eingetroffen, ,,das mit Kolben und Bajonetten das ,verdammte Nest' ,,wohl zur Ruhe bringen wird. Es herrscht Ruhe! Die ,,Ruhe des Kirchhofes! – Wer ist nun der große ,,Tote in Konitz? Ist es Winter? Nein, er nicht. ,,Der andere, ein ungleich Größerer, den sie dort begraben ,,haben: Es ist der Glaube an Recht und Gesetz im ,,Volke."
Der geneigte Leser sieht aus diesen Preßstimmen, wie sich im Süden unseres deutschen Vaterlandes gleichwie im Norden die Ueberzeugung Bahn gebrochen hat, daß in Konitz sich etwas zugetragen hat, was mit den bisherigen Begriffen von Recht und Gerechtigkeit nicht in Einklang zu bringen ist.Aus Anlaß der Tumult-Szenen am 29. Mai, dem Tage der Hoffmannschen Sistierung, die wir auf Seite 30 schon schilderten, riefen die Behörden eine Infanterie-Kompagnie herbei, die am 3. Juni wieder abrückte, weil inzwischen alles ruhig blieb. Am Sonntag, den 10. Juni, brach die Volksleidenschaft aber wieder stärker hervor. [71] Nach der zutreffenden Schilderung in der ,,Staatsbürger-Zeitung" waren an diesem Sonntag außer den üblichen Kirchgängern vom Lande noch eine Menge Landleute infolge der Aufhebung des Jahrmarkts am 7. Juni in Konitz zusammengeströmt, und als nach der Kirche die Organe der städtischen Polizei des Herrn Deditius in ungeschickter Weise vorgingen, brach ein zweiter Tumult aus. Am Abend desselben Tages kam dann ein ganzes Bataillon Infanterie an und richtete sich zum dauernden Aufenthalte ein.
Unbefangene Beobachter wollen bemerkt haben, daß inmitten der Volksmenge von Juden bezahlte Aufwiegler thätig waren, um den Tumult zu vergrößern. Die Juden allein haben ein Interesse an solchen Tumulten. Sie sind für sie das beste Mittel, die Aufmerksamkeit von dem Winterschen Morde selbst abzulenken und bei den höchsten Behörden unrichtige Vorstellungen über die Zustände in Konitz zu erregen. Mit der Thätigkeit des Militärs waren die Juden übrigens durchaus nicht zufrieden, weil die Soldaten nicht zwischen das Volk geschossen haben. Mit bekannter Unbefangenheit haben Juden derartiges ausgesprochen.
Unter den Tumultanten in Konitz befanden sich recht viele Frauen aus dem Volke, aus deren Aeußerungen zu entnehmen war, daß die instinktive Angst und Besorgnis um das Leben ihrer Kinder sie auf die Straßen und Plätze getrieben hatte. Das Volk fühlt es, daß die Kinder, die doch auch der Geringste lieb hat, nicht mehr vor dem Abschlachten sicher sind, wenn die Mörder des Gymnasiasten Winter straflos blieben. Dazu kommt, daß das Verhalten der Behörden mündlich ganz anders besprochen und kritisiert werden kann, als die Zeitungen es wagen dürfen. Ein jeder Zeuge erzählt, wie es ihm bei seiner Vernehmung ergangen ist; die Behandlung, die einzelne erlitten habe, pflanzt sich von Mund zu Mund fort; das Volk besitzt noch ein recht feines Gefühl dafür, ob seine Interessen bei einer Behörde die richtige Würdigung und Wahrnehmung findet. Man braucht durchaus nicht irgendeine antisemitische Agiation als Erklärung für die Tumulte heranzuziehen. Zur Erklärung genügt ganz allein die leicht mißzuverstehende Thätigkeit der Behörden bei Untersuchung des Winterschen Mordes, besonders diejenige der Herren Kommissare Wehn und Braun.
Als im Januar 1901 plötzlich die Kleider des Ermordeten an drei verschiedenen Stellen im Zeitraum von wenigen Tagen von den Mördern oder deren in Konitz wohnhaften Helfershelfern umhergestreut wurden, fragte sich jedermann nach Gründen und Ursache dieser offenbaren Verhöhnung der Behörden und der christlichen Bevölkerung.– Viele Leute in Konitz glauben nun, und auch wir neigen zu dieser Ansicht, daß die Hauptabsicht der Juden bei diesem Vorgehen war, neue Unruhen zu erregen, neue Tumulte anzuzetteln, um sich dann unter lautem Wehgeschrei an die höchsten Stellen zu wenden und um Schutz für die unschuldig verfolgten und bedrohten ,,Staatsbürger jüdischer Konfession" zu flehen. Das unaufhörliche Jammern über angebliche Verfolgungen und Unterdrückungen ist ja ein von Alters her beliebter Judenkniff, ebenso [72] wie die Erregung von Tumulten ihre alte Spezialitäten ist. (Vergl. Mommsen, ,,Römische Geschichte über die Juden im alten Rom.") Glücklicherweise scheint das ,,Konitzer Tageblatt" diesen Teil des Programmes mit Erfolg durchkreuzt zu haben, indem es fortgesetzt in eindringlichen Artikeln die Bevölkerung von Stadt und Umgegend zur Ruhe mahnte und auf die schädlichen Folgen neuer Unruhen für die christliche Bevölkerung hinwies.
Bisher ist denn auch, trotz der nachhaltigen innerlichen Erregung der Bevölkerung, die Haltung eine geradezu musterhafte gewesen und wir hoffen, daß das so bleiben wird.
Wir unsererseits möchten den nichtjüdischen Bewohnern der Stadt Konitz außerdem noch den dringenden Rat geben, scharf aufzupassen, und wenn sie jüdische Leute bei Anstiftung von Unruhen ertappen, sofort bei den Behörden Anzeige zu erstatten.
– –
Anmerkungen