Der Besuch (Goethe)
Meine Liebste wollt ich heut beschleichen,
Aber ihre Thüre war verschlossen.
Hab ich doch den Schlüssel in der Tasche!
Oeffn’ ich leise die geliebte Thüre!
Fand das Mädchen nicht in ihrer Stube,
Endlich da ich leis die Kammer öfne,
Find ich sie, gar zierlich eingeschlafen,
Angekleidet auf dem Bette liegen.
Das Gestrickte mit den Nadeln ruhte
Zwischen den gefaltnen zarten Händen.
Und ich setzte mich an ihre Seite,
Gieng bey mir zu Rath’, ob ich sie weckte?
Der auf ihren Augenliedern ruhte;
Auf den Lippen war die stille Treue,
Auf den Wangen Lieblichkeit zu Hause,
Und die Unschuld eines guten Herzens
Jedes ihrer Glieder lag gefällig,
Aufgelöst von süßem Götterbalsam.
Freudig saß ich da, und die Betrachtung
Hielte die Begierde sie zu wecken
O du Liebe, dacht ich, kann der Schlummer,
Der Verräther jedes falschen Zuges,
Kann er dir nicht schaden, nichts entdecken,
Was des Freundes zarte Meynung störte?
Die mich offen schon allein bezaubern;
Es bewegen deine süßen Lippen
Weder sich zur Rede noch zum Kusse;
Aufgelöst sind diese Zauberbande
Und die Hand, die reizende Gefährtin
Süßer Schmeicheleien, unbeweglich.
Wärs ein Irrthum, wie ich von dir denke,
Wär’ es Selbstbetrug, wie ich dich liebe,
Ohne Binde neben mich gestellet.
Lange saß ich so, und freute herzlich
Ihres Werths mich und meiner Liebe,
Schlafend hatte sie mir so gefallen,
Leise leg’ ich ihr zwei Pomeranzen
Und zwei Rosen auf das Tischgen nieder,
Sachte, sachte schleich’ ich meiner Wege.
Oefnet sie die Augen, meine Gute,
Staunt, wie immer bey verschloßnen Thüren
Dieses freundliche Geschenk sich finde.
Seh ich diese Nacht den Engel wieder.
O! wie freut sie sich, vergilt mir doppelt