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David Hilbert Gesammelte Abhandlungen Erster Band – Zahlentheorie/Kapitel 8

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7. Verzeichnis der Sätze und Hilfssätze David Hilbert Gesammelte Abhandlungen Erster Band – Zahlentheorie (1932) von David Hilbert
8. Über die Theorie der relativquadratischen Zahlkörper.
9. Über die Theorie des relativquadratischen Zahlkörpers.
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8. Über die Theorie der relativquadratischen Zahlkörper.
[Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Bd. 6. S. 88–94 (1899).]

In der Theorie der relativ Abelschen Zahlkörper nehmen zunächst die Körper vom zweiten Relativgrade unser Interesse in Anspruch.

Es sei ein beliebiger Zahlkörper vom Grade als Rationalitätsbereich zugrunde gelegt; unsere Aufgabe ist es dann, die Theorie der relativquadratischen Zahlkörper d. h. derjenigen Körper zu begründen, die durch die Quadratwurzel aus einer beliebigen ganzen Zahl des Körpers bestimmt sind. Die „disquisitiones arithmeticae“ von Gauss sind als der einfachste Fall in jenem Problem enthalten. Wir können unseren Gegenstand auch als die Theorie der quadratischen Gleichungen oder Formen bezeichnen, deren Koeffizienten Zahlen des vorgelegten Rationalitätsbereiches sind.

Für unsere Theorie ist vor allem die Erkenntnis notwendig, daß auch in dem beliebigen Zahlkörper ein Reziprozitätsgesetz für quadratische Reste besteht. Das quadratische Reziprozitätsgesetz im Bereiche der rationalen Zahlen lautet bekanntlich:

wo beliebige ungerade rationale positive Primzahlen bedeuten. Aber diese Form des Reziprozitätsgesetzes ist, sobald wir den Zweck der Verallgemeinerung desselben vor Augen haben, aus mannigfachen Gründen – ich hebe nur die unübersichtliche Form der auftretenden Exponenten, den Mangel an Einheitlichkeit und die Ausnahmestellung der Zahl hervor – eine unvollkommene. Nun spielt bekanntlich der Begriff der „primären“ Zahlen in der bisherigen Fassung der höheren Reziprozitätsgesetze eine sehr wichtige Rolle. Doch für unser allgemeineres Problem werden wir von der Benutzung dieses Begriffes eine Beseitigung der angedeuteten Mißstände nicht erwarten dürfen; denn wir müssen bedenken, daß im Körper die Zahl im allgemeinen als Produkt von gewissen Potenzen von Primidealen zerlegt werden kann, und daß demgemäß die Definition des Begriffes „primär“ eine Unterscheidung der verschiedenen Möglichkeiten dieser Zerlegung und die Einführung mannigfacher willkürlicher Annahmen nötig machen würde. Auch ist die Fassung, welche Kummer seinen allgemeinen Reziprozitätsgesetzen gegeben hat, schon deshalb für uns nicht verwendbar, weil wir bei ihrer Annahme dem Körper die beschränkende Bedingung auferlegen müßten, daß seine Klassenanzahl ungerade ist; es wird sich aber zeigen, daß uns der Fall einer durch teilbaren Klassenanzahl zu den schönsten und wertvollsten Resultaten führt.

Aus den angegebenen Gründen erscheint mir die Einführung eines neuen Symbols in die Zahlentheorie nötig, welches in unserem Falle der Theorie eines relativquadratischen Körpers, wie folgt, zu definieren ist. Sind ganze Zahlen in , dabei nicht Quadratzahl, und ist ein beliebiges Primideal in , so bezeichne jenes Symbol den Wert

,

(1)

sobald die Zahl mit der Relativnorm einer ganzen Zahl des durch bestimmten relativquadratischen Körpers nach dem Primideal kongruent ist, und sobald außerdem auch für jede höhere Potenz von eine ganze Zahl in existiert, deren Relativnorm der Zahl nach jener Potenz von kongruent ist; in jedem anderen Falle setzen wir

.

(2)

Diejenigen ganzen Zahlen , für welche die Gleichung gilt, sollen Normenreste [1] des Körpers nach , diejenigen Zahlen, für welche die Gleichung gilt, Normennichtreste des Körpers nach heißen. Wenn das Quadrat einer Zahl in ist, möge die Gleichung gelten. Der Bildung der Begriffe „Normenrest“ und „Normennichtrest“ entspricht in der Funktionentheorie gewissermaßen die Unterscheidung, ob eine algebraische Funktion einer Variablen an einer Stelle nach ganzen oder nach gebrochenen Potenzen der Variablen entwickelt werden kann.

Die ersten Sätze für das eben definierte Symbol sind in den Formeln enthalten:

,

,

;

die wichtigste Eigenschaft unseres Symbols spricht sich in dem folgenden Satze aus:

Wenn ein Primideal des Körpers ist, das nicht in der Relativdiskriminante des Körpers aufgeht, so ist jede zu prime Zahl in Normenrest des Körpers nach . Wenn dagegen ein Primideal des Körpers ist, das in der Relativdiskriminante des Körpers aufgeht, so sind bei genügend hohem Exponenten von allen vorhandenen zu primen und nach einander inkongruenten Zahlen in genau die Hälfte Normenreste nach .

Diese Tatsache entspricht dem bekannten Satze über die Verzweigungspunkte einer Riemannschen Fläche, wonach eine algebraische Funktion in der Umgebung eines einfachen Verzweigungspunktes den Vollwinkel auf die Hälfte desselben konform abbildet.

Mit Benutzung des eben definierten Symboles drückt sich das allgemeinste Reziprozitätsgesetz für quadratische Reste durch die Formel aus:

.

(3)

Hierin bedeuten zwei beliebige ganze Zahlen des Körpers . Das Produkt linker Hand ist über alle Primideale des Körpers zu erstrecken; da dem vorigen Satz zufolge das Symbol nur für eine endliche Anzahl von Primidealen den Wert haben kann, so kommt bei der Bestimmung des Wertes des Produktes nur eine endliche Anzahl von Faktoren in Betracht. Auf der rechten Seite der Formel bedeuten die zu konjugierten Zahlen bzw. in den zu konjugierten Körpern das Zeichen bedeutet den Wert , wenn der Körper reell und zugleich jede der beiden Zahlen negativ ist; in jedem anderen Falle bezeichnet den Wert . Entsprechend bedeutet den Wert , wenn reell und zugleich jede der beiden Zahlen negativ ausfällt, in jedem anderen Falle dagegen soll den Wert haben, usf.

Sind beispielsweise und alle zu konjugierten Körper imaginär, so lautet das Reziprozitätsgesetz

.

(4)

Im Falle, daß den Körper der rationalen Zahlen bedeutet, erhalten wir

,

(5)

wo zwei beliebige ganze rationale Zahlen sind, ferner alle rationalen Primzahlen durchläuft und den Wert oder bezeichnet, je nachdem wenigstens eine der Zahlen positiv ausfällt oder beide negativ sind[2].

Die einfachsten Fälle des quadratischen Reziprozitätsgesetzes erhalten wir aus unseren Formeln , , indem wir für Einheiten oder unzerlegbare Zahlen des Körpers einsetzen. Insbesondere folgen aus die bekannten Formeln des gewöhnlichen quadratischen Reziprozitätsgesetzes, indem wir für die Zahlen oder beliebige ungerade Primzahlen wählen[2].

Es sei insbesondere der Körper nebst seinen sämtlichen Konjugierten imaginär und habe überdies die Klassenanzahl . Bedeuten dann irgendwelche Primzahlen in , die zu prim sind und nach dem Modul den Kongruenzen

, , 

genügen, so gelten, wie wir aus leicht erkennen, folgende spezielle Gesetze:

,

und ferner wird, falls wenigstens eine der Primzahlen dem Quadrat einer ganzen Zahl in nach dem Modul kongruent ist:

.

In den beiden letzten Formeln bedeutet allgemein das Symbol den Wert oder , je nachdem dem Quadrat einer ganzen Zahl in nach kongruent ist oder nicht. Die beiden letzteren Gesetze können leicht auf die mannigfaltigste Weise durch numerische Beispiele bestätigt werden.

Es ist überaus bemerkenswert, daß bei Anwendung unseres Symbols eine einzige Gleichung von so einfacher Bauart, wie es die Formel ist, das quadratische Reziprozitätsgesetz für einen beliebigen Zahlkörper in vollster Allgemeinheit zum Ausdruck bringt: die Formel gilt, gleichviel ob der zugrunde gelegte Körper ein Galoisscher ist oder irgendeinen oder gar keinen Affekt hat; die Formel nimmt Rücksicht auf die vielen möglichen Fälle, je nach der Realität des Körpers und seiner Konjugierten; sie gilt, wie auch immer die Zerlegung der Zahl im Körper ausfallen möge; sie enthält alle Ergänzungssätze; durch sie erscheint die exklusive Stellung der Zahl und der in aufgehenden Primideale beseitigt; vor allem endlich gilt die nämliche Formel unabhängig davon, ob die Klassenanzahl des Körpers ungerade oder durch irgendeine Potenz der Zahl teilbar ist.

Das Reziprozitätsgesetz in der Fassung erinnert an den Cauchyschen Integralsatz in der Funktionentheorie, demzufolge ein komplexes Integral, um alle einzelnen Singularitäten einer Funktion geführt, insgesamt stets den Wert ergibt. Einer der bekannten Beweise des gewöhnlichen quadratischen Reziprozitätsgesetzes weist auch auf einen inneren Zusammenhang zwischen jenem zahlentheoretischen Gesetze und Cauchys funktionentheoretischem Fundamentalsatz hin.

Doch das Reziprozitätsgesetz bildet nur den ersten wichtigen Schritt zur Begründung unserer Theorie der relativquadratischen Zahlkörper. Unsere weitere Aufgabe ist die Aufstellung aller relativquadratischen Körper und die Untersuchung ihrer Eigenschaften. Der Einfachheit halber sei fortan der zugrunde gelegte Rationalitätsbereich nebst sämtlichen Konjugierten imaginär. Da wir die Relativkörper durch ihre Relativdiskriminanten festlegen wollen, so ist offenbar die einfachste Frage diejenige nach den relativquadratischen Körpern mit der Relativdiskriminante . Nach einem in meinem Berichte über die Theorie der algebraischen Zahlkörper bewiesenen Satze[3] kann es einen solchen Relativkörper niemals geben, falls die Klassenanzahl des Köpers ungerade ist; wir wählen daher den Körper so, daß seine Klassenanzahl gerade, und zwar der Einfachheit halber gleich sei. In der Tat gelingt dann der Nachweis der Existenz eines Relativkörpers mit der Relativdiskriminante . Dieser Körper werde der Klassenkörper[4] von genannt. Der Klassenkörper besitzt folgende fundamentalen Eigenschaften:


1. Der Klassenkörper hat in bezug auf die Relativdiskriminante .

2. Die Klassenanzahl des Klassenkörpers ist ungerade.

3a) Diejenigen Primideale in , welche in Hauptideale sind, zerfallen in in das Produkt zweier Primideale.

3b) Diejenigen Primideale in , welche in nicht Hauptideale sind, bleiben in Primideale; sie werden jedoch in Hauptideale.

Von diesen vier Eigenschaften definiert bei unserer Annahme über den Körper jede für sich in eindeutiger Weise den Klassenkörper ; wir haben somit die Sätze:

1. Es gibt außer keinen anderen relativquadratischen Körper mit der Relativdiskriminante in bezug auf .

2. Wenn ein zu relativquadratischer Körper eine ungerade Klassenanzahl hat, so stimmt derselbe mit dem Klassenkörper überein.

3. Wenn alle Primideale in , die in Hauptideale sind, in einem relativquadratischen Körper zerfallen, oder wenn alle Primideale in , die in nicht Hauptideale sind, in einem relativquadratischen Körper Primideale bleiben, so folgt jedesmal, daß dieser relativquadratische Körper kein anderer als der Klassenkörper ist.

Diese Gesetze für den Klassenkörper sind einer weiten Verallgemeinerung fähig; sie lassen eine wunderbare Harmonie erkennen und erschließen, wie mir scheint, ein an neuen arithmetischen Wahrheiten reiches Gebiet.

Auch eine Theorie der Geschlechter läßt sich in unserem relativquadratischen Körper aufstellen; aus dieser fließen dann die Bedingungen für die Auflösbarkeit ternärer diophantischer Gleichungen, deren Koeffizienten Zahlen des beliebigen Rationalitätsbereiches sind.

Wir haben uns in diesem Vortrage auf die Untersuchung relativ Abelscher Körper vom zweiten Grad beschränkt. Diese Beschränkung ist jedoch nur eine vorläufige, und da die von mir bei den Beweisen der Sätze angewandten Schlüsse sämtlich der Verallgemeinerung fähig sind, so steht zu hoffen, daß die Schwierigkeiten nicht unüberwindliche sein werden, die die Begründung einer allgemeinen Theorie der relativ Abelschen Körper bietet. Die oben in der Theorie des relativquadratischen Körpers auftretenden, in der Unterscheidung zwischen reellen und imaginären Körpern beruhenden Schwierigkeiten fallen in der Theorie der Abelschen Körper von ungeradem Relativgrade sogar gänzlich fort, und die höheren Reziprozitätsgesetze erhalten deshalb einen noch einfacheren Ausdruck als das quadratische Reziprozitätsgesetz , indem dann in dieser Formel an Stelle der rechten Seite stets die Zahl tritt.

Die Theorie der relativ Abelschen Körper enthält als besonders einfachen Fall die Theorie derjenigen Zahlkörper, die die komplexe Multiplikation der elliptischen Funktionen liefert. Da H. Weber[5] für diese Körper die Eigenschaften und bewiesen hat, so werden wir hieraus schließen, daß den nämlichen Zahlkörpern das volle System der oben angedeuteten arithmetischen Eigenschaften zukommt; es ist dann nicht schwer, den Nachweis dafür zu erbringen, daß die Abelschen Gleichungen im Bereiche eines quadratischen imaginären Körpers durch die Transformationsgleichungen elliptischer Funktionen mit singulären Moduln erschöpft werden – und dies hieße, den „liebsten Jugendtraum“ Kroneckers verwirklichen, der diesen Gelehrten noch bis an seinen Lebensabend lebhaft beschäftigt hat.


  1. Vgl. meinen Bericht über die Theorie der Zahlkörper. (Dieser Band, Abh. 7, S. 161/162 und 257).
  2. a b Vgl. 1. c. § 64 und § 69. (Dieser Band S. 161 und 169.)
  3. Satz 94 (dieser Band S. 155).
  4. Vgl. H. Weber: Über Zahlengruppen in algebraischen Körpern. Drei Abhandlungen. Math, Ann. 48, 48, 50. (1897, 1897, 1898).
  5. Vgl. Elliptische Funktionen und algebraische Zahlen (Braunschweig 1891), sowie die zweite und dritte der vorhin genannten Abhandlungen über Zahlengruppen.
7. Verzeichnis der Sätze und Hilfssätze Nach oben 9. Über die Theorie des relativquadratischen Zahlkörpers.
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