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Das vierte Buch Esra/Kapitel 10

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« Kapitel 9 Das vierte Buch Esra Kapitel 11 »
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[386] 1 Als aber mein Sohn die Kammer betrat, fiel er nieder und war tot[1]. 2 Da stießen wir alle die Lichter[2] um. Alle Nachbarn aber standen auf, mich zu trösten[3]; ich aber sagte kein Wort bis zur zweiten Nacht[4]. 3 Als sie sich nun alle zur Ruhe begeben [und abgelassen], mir zuzureden, ’im Glauben, ich sei beruhigt‘[5], da erhob ich mich bei Nacht, floh und kam, wie du siehst, auf dieses Feld. 4 Und nun denke ich, nicht mehr in die Stadt zurückzukehren, sondern hier zu bleiben und nicht ’zu essen‘ noch ’zu trinken‘[6], sondern ohn’ Unterlaß zu klagen und zu fasten, bis ich sterbe[7].

5 Da ließ ich die Reden, die mich bisher beschäftigt hatten, antwortete ihr im Zorn und sprach: 6 Du Thörichte vor allen Weibern, siehst du nicht unsere Trauer und unser Unglück? 7 Ist doch Zion, unser aller Mutter[8], selber [387]

in tiefer Trauer,
in schwerem Leid,
in bitterer Klage[9].

8 Jetzt ’ist es wohl Zeit, zu klagen‘[10] — wir sind ja alle ’im Elend‘[11] — und ’betrübt zu sein‘[12] — wir sind ja alle in Trübsal; du aber klagst allein um deinen Sohn! 9 Frage ’aber‘[13] die Erde, sie wird dir’s sagen, daß sie es ist, die über so viele klagen müßte, die auf ihr entsprossen sind. 10 Aus ihr haben wir alle den Anfang genommen, andere werden aus ihr kommen: fast alle aber gehen ins Verderben; ihre Menge wird vernichtet. 11 Wer sollte also mehr klagen: nicht sie, die solche Menge verloren hat? etwa du[14], die du nur um den Einen Leid trägst? — 12 Oder wirst du erwidern: Mein Jammer ist dem der Erde nicht gleich; ich habe meines Leibes Frucht verloren,

die ich in Mühen gekreißt
und mit Schmerzen geboren.

13 Der Erde aber ergeht es nur nach ihrer Natur[15]: die Menge, die auf ihr lebte, ist dahingegangen, wie sie gekommen ist. Aber ich entgegne dir: 14 Wie du mit Schmerzen gekreißt hast, ebenso[16] hat auch die Erde im Anfang ihrem Schöpfer ihre Frucht, den Menschen, hervorgebracht. —

15 So halte deinen Schmerz zurück
und ertrage standhaft dein Unglück.

16 Denn wenn du Gottes Beschlusse Recht giebst[17], wirst du deinen Sohn seiner Zeit wiederbekommen[18] und Ehre haben unter den Weibern. 17 Geh also in die Stadt zu deinem Manne zurück.

Sie sprach zu mir: 18 Das thue ich nicht; in die Stadt gehe ich nicht, sondern hier will ich sterben. 19 Da fuhr ich nochmals fort[19], zu ihr zu reden, und sprach: 20 ’Nein, Weib! nein, Weib!‘[20] so darfst du nicht thun;

sondern laß dich willig bereden um Zions Unglück,
laß dich trösten durch Jerusalems Schmerz.

21 Du siehst doch, wie

unser Heiligtum verwüstet ist,
unser Altar niedergerissen;
unser Tempel zerstört,
’unser Gottesdienst aufgehoben‘[21];
22 unsere Harfe in den Staub geworfen,
unser Jubellied verstummt,
unser Stolz gebeugt;
unseres Leuchters Licht erloschen,
unseres Bundes Lade geraubt;

[388]

unsere Heiligtümer verunehrt,
der Name, nach dem wir heißen[22], geschändet;
unsere Edlen[23] mit Schmach bedeckt,
unsere Priester verbrannt[24],
unsere Leviten gefangen;
unsere Jungfrauen befleckt,
unsere Weiber vergewaltigt;
’unsere Greise verunehrt‘[25],
unsere Gerechten fortgeführt;
unsere Kinder ’geraubt‘[26],
unsere Jünglinge zu Sklaven geworden[27]
und unsere Helden schwach.

23 Und schlimmer als alles dieses:

Dem Siegel[28] Zions ist jetzt seine Ehre versiegelt
und ist unseren Hassern in die Hand gegeben[29].
24 So schüttle deine tiefe Traurigkeit ab,
laß die Fülle der Schmerzen fahren,
daß der Allmächtige sich dir versöhne[30]
und der Höchste dir Ruhe schenke,
Trost von deinem Gram!
Zions Herrlichkeit.

25 Als ich noch so zu ihr sprach, siehe

da erglänzte ihr Angesicht plötzlich,
und ihr Aussehen[31] ward wie Blitzes Schein[32],

so daß ich vor großer Furcht nicht wagte, ’ihr nahe zu kommen, und sich mein Herz gewaltig entsetzte‘[33]. — ’Während ich noch‘[34] überlegte, was dies zu bedeuten habe, 26 schrie sie plötzlich mit lauter, furchtbarer Stimme, daß die Erde vor diesem Schrei erbebte. 27 Und als ich hinblickte, da war das Weib nicht mehr zu sehen, sondern eine ’erbaute‘[35] Stadt, und ein Platz zeigte sich mir auf[36] gewaltigen Fundamenten. Da erschrak ich[37] und schrie mit lauter Stimme und sprach: 28 Wo ist der Engel Uriel, der im Anfange zu mir gekommen war? Er selber hat mich ja in die Fülle dieser Schrecknisse gesandt;

nun ist meine Absicht vereitelt,
meine Bitte abgeschlagen[38]!
[389]
Die Deutung.

29 Als ich noch so sprach, siehe, da kam der Engel zu mir, der schon im Anfange zu mir gekommen war; und als er mich sah 30 wie einen Toten daliegen mit entschwundenen Sinnen, da faßte er mich an der Rechten, stärkte mich und stellte mich auf die Füße. Und er sprach zu mir:

31 Was fehlt dir?
was entsetzt dich so?
warum ist dein Gemüt so bestürzt
und deines Herzens Sinn?

Ich sprach: 32 Weil du mich im Stiche gelassen! Ich habe nach deinen Worten gehandelt und bin aufs Feld gegangen, und ach, hier sah ich und sehe, was ich nicht erklären kann. Er sprach zu mir: 33 Tritt hin wie ein Mann, so will ich dich belehren[39]. Ich sprach: 34 Rede, Herr; nur verlaß mich nicht, daß ich nicht schuldlos[40] sterbe.

35 Denn ich habe gesehen, was ich nicht verstand,
und gehört[41], was ich nicht begreife.
36 Oder täuschen sich meine Sinne?
und träumt meine Seele?

37 Nun flehe ich dich an: erkläre deinem Knechte dies Schrecknis!

Er antwortete mir und sprach:

38 Höre mir zu, so will ich dich belehren
und dir kundthun, wovor du erschrickst;

denn der Höchste hat dir große[42] Geheimnisse offenbart. 39 Denn er hat deinen treuen Sinn erkannt,

wie du ohn’ Unterlaß um dein Volk getrauert
und tiefes Leid um Zion getragen hast. —

40 Dies ist der Sinn des Gesichts: das Weib, das dir vor Kurzem erschienen ist, 41 das du trauern gesehen und zu trösten[43] begonnen hast[44], 42 das dir jetzt aber nicht mehr in Weibesgestalt erscheint, sondern als eine ’erbaute‘[45] Stadt, 43 und das dir vom Unfall ihres Sohnes erzählt hat, davon lautet die Deutung: 44 dies Weib, das du gesehen hast, ist Zion, das du jetzt als erbaute Stadt schaust. — 45 Wenn sie dir gesagt, sie sei dreißig Jahre unfruchtbar gewesen: weil[46] in der Welt drei Jahre[47] vergangen sind, ehe Opfer darinnen[48] geopfert worden sind; 46 erst nach drei Jahren hat Salomo die Stadt gebaut und Opfer geopfert: damals gebar die Unfruchtbare einen Sohn. — 47 Wenn sie dir erzählt hat, sie habe ihn mit Mühe aufgezogen: das war die Zeit, da Jerusalem bewohnt war. — 48 Und wenn sie dir erzählt hat, ’ihr‘[49] Sohn sei, als er die Brautkammer betreten, gestorben: ’dieser Unfall, der sich ihr ereignet hat‘[50], ist die Zerstörung Jerusalems, die du erlebt hast. - 49 Nun

[390] hast du sie im Bilde gesehen, wie sie um ihren Sohn trauert, und du selber hast schon begonnen, sie in ihrem Unglück zu trösten[51]. —

50 Nun hat der Höchste gesehen,

daß du im Innern betrübt bist
und aus ganzem Herzen um sie trauerst;
darum hat er dir ihren strahlenden Glanz gezeigt
und ihre wundervolle Herrlichkeit[52].

51 Ebendeshalb hatte ich dir befohlen, auf dem Gefilde zu bleiben, wo noch kein Haus gebaut ist; 52 denn ich wußte wohl, der Höchste werde dir dies ’Alles‘[53] offenbaren. 53 Darum befahl ich dir, auf das Feld zu gehen, wo noch kein Grund zu einem Bau gelegt ist; 54 denn es darf kein menschliches Bauwerk da bestehen[54], wo die Stadt des Höchsten sich offenbaren soll. — 55 Du also fürchte dich nicht, dein Herz erschrecke nicht; sondern geh hinein und besieh dir die Pracht und Herrlichkeit[55] des Baus, so viel nur deine Augen fassen und schauen können! 56 Darnach wirst du hören, so viel deine Ohren fassen und hören können[56].

57 ’Denn‘[57] du bist selig vor vielen
und hast vor dem Höchsten einen Namen wie wenige! —

58 Bleibe aber noch morgen Nacht hier; 59 so wird dir der Höchste in Traumgesichten zeigen, was[58] der Höchste in den letzten Tagen den Erdenbewohnern thun will.

Fünftes Gesicht.
Der Adler aus dem Meere.
Das Gesicht.

60 So schlief ich jene Nacht und auch noch die folgende, so wie er mir geboten.


  1. Ein novellistischer, rührender Zug: am schönsten Tag, in der festlichsten Stunde das tiefste Leid.
  2. Die Lichter der Hochzeit, vgl. Matth. 25,7; auch dies ein poetisch empfundener Gegensatz: das Haus, strahlend vom Glanze der Hochzeitslichter, in tiefe Nacht versenkt durch den plötzlichen Tod des Bräutigams. Novellistisch.
  3. Das „Kondolieren“ ist nach israelitischer Sitte der Liebesdienst der Nachbarn.
  4. Sonst zeigt sich doch mütterlicher Schmerz in Jammern und Klagen; sie aber ist vor Schmerz stumm.
  5. Syr et putarent, quod etiam ego obdormirem = ὡς ἂν ἡσυχάσαιμι (Hilg.).
  6. Syr Aeth Ar¹.² Arm.
  7. So weit etwa die übernommene Novelle; vgl. die Einleitung S. 344.
  8. Gal. 4,26.
  9. Lat lugete = πενθεῖτε für πενθεῖ τε (Hilg.).
  10. Syr Ar¹ nunc autem lugere oportet.
  11. Der Wechsel des Ausdrucks im zweiten Gliede beim Lat tristes — contristati macht wahrscheinlich, daß im Urtext auch das erste Glied solchen Wechsel gehabt hat. Der Sinn ist: jetzt ist Trauer wohl am Platze, denn es ist ja eine Zeit der allgemeinen Not.
  12. Lat tristes estis = λυπεῖσθε verschrieben für λυπεῖσθαι (Hilg.).
  13. Vgl. zu 6,8.
  14. τίνα οὖν δεῖ πενθῆσαι μᾶλλον; ἢ οὐχὶ ταύτην ἣ τοιοῦτον πλῆθος ἀπώλεσεν; ἢ σὲ ἣ ὑπὲρ ἑνὸς λυπῇ; v. Wilamowitz.
  15. כְּדׅרֵך הָאָרֶץ, d. h. nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge.
  16. Das soll doch wohl heißen: mit ebensolchen Schmerzen. Worauf spielt der Verfasser an?
  17. D. h. dich ihm fügst; vgl. Ps. Sal. 8,7, auch Luk. 7,35.
  18. Das Weib wird das Wort so verstehen, daß Gott ihr einen neuen Sohn schenken würde, durch den sie (als Mutter eines Sohns) wieder zu Ehren kommt. Doch ist das Wort doppeldeutig, vielleicht mit Willen; vgl. die Einleitung S. 344.
  19. Vgl. zu 9,41.
  20. Syr nequaquam mulier, nequaquam mulier.
  21. Syr et ministerium nostrum abolitum.
  22. Wir heißen „Gottes“ Volk.
  23. Syr Aeth Arm Ar² nobiles.
  24. Anspielung an den Brand des Tempels beim Fall Jerusalems.
  25. Ar² contemptu senibus nostris exhibito. Auch Syr scheint einen ähnlichen Satz gelesen zu haben.
  26. Aeth abrepti sunt; vgl. Ar¹.
  27. ἐδούλευσαν Volkmar.
  28. Wohl das Staatssiegel, Esther 3,10. 8,2; modern: Wappen, Banner.
  29. Das femininum resignata – tradita ist abhängig von σφραγίς (signaculum). — Im Hebräischen ein Wortspiel: הוֹתַם צׅיּוֹן כּי נֶחְתַּם מׅכְּבוֹדוֹ „es ist verschlossen, zurückgehalten, hinweg von ...“, d. h. es ist seiner Ehre beraubt.
  30. Denn aus dem Tode des Sohnes folgt, daß Gott zürnt.
  31. ὄψις (Hilg.).
  32. Diese Gestalt des verklärten „Weibes“ erinnert an die himmlische „Braut“, die das obere Jerusalem ist, Offenb. Joh. 21,9, und das „himmliche Weib“ Offenb. Joh. 12,1.
  33. Syr (Aeth Ar¹) et timui valde appropinquare ad eam et cor meum vehementer obstupefactum erat; vgl. Arm.
  34. Syr et cum cogitarem.
  35. Syr civitas aedificata; vgl. Aeth (Ar¹.² Arm); Lat participium verbo finito reddit (Hilg.).
  36. ἀπὸ θεμελίων μεγάλων (Hilg.).
  37. Die folgende Schilderung des großen Schreckens vor der wunderbaren Verwandelung und des leidenschaftlichen Verlangens nach Deutung dieses Gesichts stellt höchst getreu die Erfahrungen solcher Ekstatiker dar. Ähnlich Hermas.
  38. inproperium = ὄνειδος = בּשֶׁת Beschämung. — Die Absicht und das Gebet war, etwas zu erfahren über Israels noch immer nicht erschienene Herrlichkeit 9,29-37. Der Prophet glaubt in seiner menschlichen Kurzsichtigkeit, dies Gebet sei ihm abgeschlagen, weil er das Gesicht nicht versteht; in Wirklichkeit aber ist dies Gebet ihm gerade eben durch das Gesicht erfüllt. Wiederum ein feinsinniger Zug.
  39. Syr et demonstrabo tibi.
  40. הׅנָּם.
  41. ἀκούω.
  42. μυστήρια πολλά Nach Wellh. ist multus Hebraismus für magnus.
  43. consolo als Activum auch 10,49. 12,8; Bensly, Missing Fragment S. 17.
  44. Das ist der zarte Sinn der Trostrede Esras an das Weib: er ist gewürdigt worden, das trauernde Zion zu trösten: der schönste Beruf eines Propheten!
  45. Syr Aeth Ar¹ Arm civitas aedificta.
  46. Dies ist Stil der Deutung; vgl. Gen. 41,32.
  47. Diese drei Jahre sind die Jahre der Regierung Salomos bis zum Tempelbau 1 Kön. 6,1 und zugleich in mystischem Verstande die drei Weltjahre = 3000 Jahre von der Schöpfung der Welt bis zur Tempelgründung, Wellhausen.
  48. In Zion.
  49. Die Versionen haben hier sämtlich (Aeth Ar¹ auch schon V. 45.47; vgl. auch Arm) direkte Rede. Dies scheint überall das Ursprüngliche zu sein.
  50. Ar¹ quae magna ei (ihr) erat calamitas, haec est.
  51. Lat haec erant tibi aperienda, om. Syr Aeth Ar¹ Arm (auch Lat M); aber ähnlich Ar².
  52. D. h. die δόξα, die Zion als himmlischem Wesen zukommt. Diese Offenbarung der wahres Natur Zions als einer himmlischen Stadt ist die Hauptsache des Gesichts. Darin ist diese Vision vergleichbar der neutestam. Verklärungsgeschichte.
  53. Syr Aeth Ar¹ Arm ommia.
  54. ὑπομένω (Hilg.).
  55. μεγαλειότης (Hilg.).
  56. Der Prophet hat also damals noch vielerlei gehört und gesehen, was er nicht mitteilt! Das ist ein Zug, der deutlich zeigt, daß es sich hier um ein wirkliches Erlebnis handelt: zuletzt ist die Vision so herrlich, so überschwenglich geworden, daß jegliche Beschreibung aufhört; vgl. die ἄρρητα ῥήματα, die Paulus in der Verzückung gehört hat, 2 Kor. 12,4.

    „Was ich für Herrlichkeit geschaut
    Mit still anbetendem Erstaunen,
    Was ich gehört für sel’gen Laut,
    Als Orgel mehr und als Posaunen:
    Das steht nicht in der Worte Macht.“

    (Uhland, Die verlorene Kirche).
  57. Syr tu enim. Verwechselung von enim und autem.
  58. Wörtlich: diejenigen Gesichte von Träumen, die u. s. w.
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