Zum Inhalt springen

Das rutschende Dorf Tschappina

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Dr. S. M.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das rutschende Dorf Tschappina
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 21-23
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[21]
Das rutschende Dorf Tschappina.

Das Gebiet der Tschappiner Erdrutsche.

Vor einiger Zeit brachten mehrere Zeitungen folgende Nachricht: „Das Dorf Tschappina ob Thusis ist in Zeit von sechs Jahren mit Boden und den darauf stehenden Gebäulichkeiten eine halbe Stunde weit fortgerutscht und dennoch fortwährend benutzt und bewohnt geblieben.

In dieser Mittheilung sind zwar Wirklichkeit und Uebertreibung so stark gemischt, daß ein mit der eigentlichen Sachlage Vertrauter ungewiß bleibt, ob es sich dabei um Scherz oder Ernst handle, und er beinahe in Versuchung geräth einen berichtigenden Artikel zu schreiben.

Die geehrten Leser sollen jedoch nicht mit einer Polemik behelligt werden, welche eben so trocken als langweilig ausfallen könnte. Dagegen mögen dieselben gestatten, daß jene Nachricht Anlaß zu einer Wanderung an Ort und Stelle gibt, welche wir der Feder eines dortigen, mit den Verhältnissen vertrauten Predigers verdanken.

Von Chur kommend, gelangen wir nach dem freundlichen, von der schönsten Burgruine Graubündens überragten, aber auch durch Feuer und Wasser schwer heimgesuchten Marktflecken Thusis, von welchem Tschappina nur zwei Stunden entfernt liegt und zwar 3000 Fuß höher als jener. Der Anstieg des Berges wird dem Fuße schon beim Ausgange aus Thusis fühlbar, und indem wir mit jeder Viertelstunde um etwa 375 Fuß über das Meer uns erheben, befinden wir uns bei der Kirche von Tschappina schon 5075 Fuß über demselben. Auf unserer Wanderung dahin überschreiten wir die Grenze der Obstregion, wo den nackten Häusern mit ihren steinbeschwerten Schindeldächern die trauliche Bekleidung und Umgebung der belaubten Fruchtträger gänzlich fehlt, und haben die Grenze der Waldregion vor uns, auf welcher noch einzelne Zwergtannen von ungewisser Heimathsangehörigkeit umherirren. Wir gehen weiter und ergötzen uns noch einmal an den Getreidefeldern des römischen Urmein oder Romain, nicht als ob diese besonders üppig und den Augen eine Weide wären, sondern weil wir hier im Begriff stehen, auch über die Getreideregion uns zu erheben. Wir werfen noch einen Blick auf die zahlreichen Alphütten und Ställe des Heinzenberges, hören noch einmal auf die Jodler der Hirten und die Glocken der grasenden Kühe, und gelangen nach Tschappina!

Aus dem Unterdorfe führt uns der Weg nach der höher [22] gelegenen Kirche über mastige, elastische Wiesen, deren Torfboden unter unsern Füßen sich senkt und hebt und über eine Menge von Bäche und Wassergräben, die wir jedoch mit leichter Mühe alle überschreiten. Es tönt uns hier kein romanischer bunu di und keine bunna saira[1] mehr entgegen, sondern die Bevölkerung grüßt mit dem wohlbekannten „Guten Tag“ und „Guten Abend;“ denn sie ist rein deutsch.[2]

An der Kirche, welche gleich den übrigen 7 Kirchen des Heinzenberges dem protestantischen Cultus gewidmet ist, lassen wir uns nieder und schauen nach Süden. Wir haben an dieser Stelle einen lohnenden und für unsern Zweck ziemlich bequemen Prospekt. Es präsentirt sich die ganze Jamskette und zugleich jener Felsriese, den wir vorhin näher zu betrachten hofften. Er schließt auf eine gravitätische Weise den Jams ab; denn bei seiner Höhe von beiläufig 10,000 Fuß überschaut er denselben noch bedeutend, mit seinem obersten, jäh hervorstehenden Horne ragt er in den Himmel, auf seinem Rücken trägt er einen kleinen Gletscher, seine ganze nördliche, uns zugekehrte, weit ausgedehnte und von vielen Rinnsalen durchfurchte Breitseite fällt in eine tiefe Schlucht nieder, deren Grund uns jedoch durch die Masügger Halde verdeckt wird. Das ist der Piz Beverin.

Sind Sie mit einem scharfen Gesicht ausgerüstet, so mögen Sie wohl bemerken, wie auf einem der seltenen Rasenplätzchen da drüben einige Gemsen ruhig grasen, bis sie, wir wissen nicht wodurch gestört in kühnen luftigen Sprüngen die Flucht ergreifen. Auch kann es sich sehr leicht treffen, daß Sie Zeugen eines Lavinensturzes werden, deren schon unzählbare aus jener Höhe herabgedonnert sind, wie Sie selbst aus den abgeriebenen Furchen der Abhänge schließen; denn das sind die regelmäßigen Lavinenstraßen.

Zwischen uns und dem Piz Beverin zieht sich abwärts die Masügger Halde, ein steiler, graubläulicher Bergrücken, der nur noch an seinem östlichen Ende einige Tannenbäume trägt und hinter dessen scharfem Kamme Sie schwerlich etwas anderes als Schrecken und Grausen vermuthen. Und doch wohnen dort – im Hofe Masügg – noch Menschen und ich zweifle nicht, daß dieselben in ihrer Art sehr glücklich leben. Das Oertchen selbst sehen wir nicht, wohl aber einige dazu gehörige Ställe.

Wenden Sie nun Ihren Blick von dem östlichen Fuße dieser Halde an nach rechts hin aufwärts, so weit Sie sehen können d. h. bis zur Höhe des Heinzenberges, folgen Sie dann dem Höhenzuge abermals rechts und gleichfalls so weit Sie, ohne Ihren Platz zu verlassen, sehen können. Ziehen Sie endlich von da eine Linie zurück nach dem Ausgangspunkte unten an der Halde: und Sie haben hiermit das Gebiet der Tschappiner Erdrutsche und Schlüpfe seiner ganzen Ausdehnung nach eingegrenzt und in der Gestalt eines Amphitheaters vor sich liegen. Der erste Blick aufwärts durchläuft den Raum einer halben, der zweite horizontal den einer dreiviertel und der dritte abwärts den einer ganzen Stunde. Von diesem Terrain ist also zur Zeit noch ausgeschlossen das ganze Untertschappina und eben so das ganze, wirklich so genannte Oberdorf.

Sie haben jetzt dieses Gebiet mittelst eines Ueberblickes durchmustert und zu meinem Bedauern nehme ich wahr, daß der Befund Ihren gehegten Erwartungen nicht hinlänglich entspricht, obgleich ich dieselben schon vom Anfang an herabzustimmen versuchte.

Es würde freilich kurzweiliger sein, von einem sichern Posten aus zu sehen, daß da ein Stall und dort ein Haus, ja das ganze Dorf gleichsam Füße bekämen oder hier ein Trupp Menschen, dort eine Heerde Rinder, auch ohne die Füße zu bewegen, wie sonst in einem Zauberspiegel durch Täuschung, so jetzt in der Natur durch die Wirklichkeit an uns vorüberzögen und zwar der Art, daß die Rutschparthie für die betheiligten lebenden Wesen ganz ohne alle Störung und unbemerkt vor sich ginge, bis sie endlich selbst überrascht wären durch die auf verschobener Basis nöthig gewordene Orientirung. Aber wer einen Begriff von dem enormen Schaden hat, welchen die armen Tschappiner schon durch die bisherigen Vorgänge auf ihrem heimathlichen Boden erleiden mußten, der wird ihnen gewiß nicht, und am wenigsten der bloßen Kurzweil halber, noch größeres Unglück überbinden wollen.

Dort, unterhalb der Masügger Halde sehen Sie einen tiefen gährenden Abgrund. Das ist gleichsam der Trichter, durch welchen das Verderben seinen ursprünglichen Anfang genommen haben muß und durch welchen es noch fortwährend seine periodischen Ausgänge nimmt. Ihm rieselt von allen Seiten alles Wasser der benachbarten Höhen zu: ein Bach von den Masügger Ställen, mehrere andere aus den Alpen des Heinzenberges und vom Oberdorfe. Diese Bäche haben zwar gerade jetzt ein äußerst unschuldiges Aussehen, denn wie zarte Silberfäden schlängeln sie sich dahin, aber lassen dieselben ihre Wuth los, so sind sie schon hier oben furchtbare entsetzliche Mächte, schreckliche Vorbilder ihres schrecklichen Productes, des Nolla. Unmittelbar nach ihrem Zusammenflusse in der Tiefe bilden sie denselben, welcher im Ferneren alle Zuflüsse vom Jams und mehrere vom Piz Beverin aufnimmt.

Auch sagt man, daß der eine Stunde oberhalb gelegene Lüscher Alpsee, welcher keinen sichtbaren Abfluß hat und bis in dessen Nähe das Rutschgebiet sich erstreckt, sein Wasser auf unterirdischem Wege nach eben demselben Abgrund sende.

Und diesem Kessel treiben alle Rutsche zu, um, wenn das Fundament gehörig ausgewaschen und untergraben ist, nach dem Gesetze der Schwere in einem letzten Schlupfe sich aufzulösen und der Wuth des Nolla zu verfallen.

Dahin stürzte auch vor etwa 40 Jahren und in Zeit von nur ein paar Stunden der schöne dichte Wald, welcher ehemals die nunmehrige Masügger Halde bedeckte. Waren erst die untersten Bäume zum Falle gebracht, so folgten ihnen mit Nothwendigkeit je die nächsten. Endlich aber wurde die Katastrophe eine so allgemeine, daß nebst dem Holzbestande auch zugleich schichtweise der Boden mit abwärts fuhr, während noch überdies von weiter oben Schutt und Geschiebe nachfolgten, welche der Bäume viele aufhielten und überdeckten. Noch jetzt sehen Sie da und dort Stämme, Aeste und Wurzeln aus jenem Geschiebe hervorragen.

Vor Alters war es hier anders. Da sah man keinen gähnenden Abgrund, keine Rüfen, kein Gerölle, keine Schutthalden, keine bloßgelegten Wüsten: über üppige Wiesen und freundliche Maiensässe[3] schweifte der Blick. Zahlreiche Heerden suchten und fanden hier auf bequemen Triften ihre wohlbekannten Ställe. Friedlich dampften die Kamine einer hübschen Anzahl Häuser in die reine Gebirgsluft hinaus, die glücklichen Bewohner lebten in Sicherheit und einfachem Wohlstande und ein überaus nützlicher Wald schloß das ländliche Gemälde mit einem dunkelgrünen Saume ab.

Ueberblicken Sie mit einiger Aufmerksamkeit jetzt das Gebiet, so sehen Sie zwar auch noch mehrere Ställe und auch sogar etliche bewohnte Häuser; aber alle stehen sie schief, stark nach Abend hin geneigt und sie scheinen dem Einsturze entgegen zu wanken. Sie erblicken ferner zwar noch etwas Graswuchs; aber er ist unterbrochen durch zahllose und lange klaffenden Risse des Humus, durch nutzloses Gestäude und Gesträuch und so weit Ihr Auge reicht durch eine endlose Menge graublauer Sättel und Halden, welche jedesmal über einer Einsenkung sich bilden und darüber hervorbäumen. Nur unsre immerhin noch große Entfernung macht, daß Sie die Ausdehnung und Höhe dieser Terrassen unterschätzen. Sie meinen vielleicht, es sei eine Kleinigkeit, über dies Alles, von unten an bis oben hinaus in Zeit von einer Stunde hinwegzuschreiten? – Aber ich versichere Ihnen, Sie kommen nicht in zwei Stunden, auch nicht in zwei Tagen, nein, geradenwegs kommen Sie gar nicht durch und würden auch auf jeden Fall gar bald die Lust dazu verlieren.

Jenes Wieschen in der Tiefe, das nächstkünftige Opfer der völligen Zerstörung, ist von seinen Nachfolgern durch eine mindestens 200 Fuß hohe und ziemlich steile Halde getrennt, in deren verwitterten durchnäßten[4] und breiartigen, Thon- und Mergelschiefer man keinen festen Fuß fassen und nach Befinden spurlos versinken kann. Zwar ragen hie und da aus dieser und aus andern Halden große und scheinbar compacte Felsgruppen hervor, denen man eine schützende Kraft zutrauen möchte. Allein man kann dieselben zum großen Theil mit den Fingern zerreiben und zerbröckeln, und weil sie gleichfalls nur auf verwitterter Basis [23] ruhen, so muß ihre ganze Masse, wie alles Andere nolens volens vorwärts rücken und abwärts rutschen, wenn unten leerer Raum wird und gleichzeitig von oben die Wucht drückt. Und welch’ eine Wucht mag da drücken, wo aus dem ganzen Gebiete die Potenzen von Millionen Kubikklaftern und Milliarden Centnern sich auf einem verhältnißmäßig kleinen Raume concentriren!

Hat man nach vielen Umwegen, Mühen und Gefahren die nächstfolgende Wiese erreicht, so steht man abermals vor einer hohen Wand, aus welcher wiederum hie und da dickflüssige Schiefermaterie hervorquillt, und die geheimnißvoll-tückisch abwärts schleicht.

Hier findet sich der erste Stall, welchen zunächst die Reihe treffen möchte. Aber dennoch wird er kein Raub des Nolla werden, eben so wenig als seine vielen von ihrer Stelle verschwundenen Vorgänger. Denn obgleich die ganze Gegend, Grund und Oberfläche, ohne Unterlaß in abschüssiger Bewegung ist, so geht doch die letztere so langsam und allmälig, so allerwärts in stetigen und gleichmäßigen Proportionen von Statten, daß sie eben wegen dieser Continuität am allerwenigsten von der An- und Bewohnerschaft wahrgenommen wird. Hat also ein Gebäude sein letztes und als solches nun freilich in die Augen springendes Stadium erreicht, so bleibt den Tschappinern allemal noch Zeit genug, um das Material zu retten: sie gehen hin, nehmen die Hölzer auseinander, tragen sie fort und fügen sie an einem andern Orte nach Bedürfniß und Bequemlichkeit wieder zusammen.

Die nun folgende auch nur auf Umwegen zu gewinnende Parthie bietet uns einen Stall und ein bewohntes Haus dar, welche gegen 250 Fuß tiefer als die Kirche liegen mögen, so daß die Bewohner zu sagen haben: „Wir gehen auf zur Kirche.“ Gleichwohl hat man bestimmte Nachricht, daß diese nämlichen Gebäude vor etwa einem Jahrhundert um beinahe eine Viertelstunde höher oben standen und man von dort aus gesagt hat: „Wir gehen ab zur Kirche.“ Ungeachtet ihrer verhängnißvollen Reise und sehr geneigten Stellung werden diese Gebäude von den gesunkenen Enkeln noch eben so benutzt, wie vormals von den erhabenen Urahnen und es zeigen auch die Stockmauern des Hauses keine erheblichen Risse.

So geht es weiter fort, von Terrasse zu Terrasse, nur daß die Zahl derselben nach rechts und links sich fortwährend vermehrt und sie selbst, je höher den Berg hinauf, desto niedriger werden.

Trauriger gestalten sich bei dieser Sachlage von Jahr zu Jahr die Aussichten dieser Berggemeinde; denn die Verwüstung kennt hier keinen Stillstand, und die Befürchtung, daß im Laufe der Jahrhunderte mindestens das ganze Oberdorf in die Peripherie der unheilvollen Bewegung hineingezogen werde, drängt sich an Ort und Stelle unwillkürlich jedem Beschauer auf. Da sollte wohl ein Versuch der Abhülfe gemacht werden, zumal in Anbetracht der weiteren hieran sich knüpfenden Schädigungen, deren wir zuvor gedachten. Aber weil selbst die Kräfte des Kantons hierzu zu schwach waren, so könnte einzig die Eidgenossenschaft helfen, wozu in der That auch nicht jede Hoffnung abgeschnitten ist.
Dr. S. M.


  1. bonus dies, bona sera.
  2. Wahrscheinlich eine Abzweigung der schwäbischen Kolonien die Friedrich I. zum Schutze seiner Bergpässe nach Italien in den Rheinwald geführt haben soll.
  3. Ein Mittelding zwischen Wiesen und Alpen.
  4. Die Bauern nennen solchen Boden sehr bezeichnend „wassersüchtig.“