Das historische Festspiel in Rothenburg ob der Tauber
Das historische Festspiel in Rothenburg ob der Tauber.
Rothenburg ob (nicht an) der Tauber ist erst seit Kurzem den Deutschen bekannt.
Noch in dem „Bädeker von 1862“ findet man Rothenburg am Neckar, aber nicht Rothenburg ob der Tauber. Im Laufe der letzten zehn Jahre aber hat das baierische Rothenburg dem württembergischen vollständig den Rang abgelaufen. Und mit Recht; denn die Tauberstadt ist der Neckarstadt in ihrem monumentalen Charakter und in ihrer denkwürdigen Geschichte weit überlegen. Unter denen, welche der größeren Menge der deutschen Reichsbürger Kenntniß von diesem „Kleinod aus deutscher Vergangenheit“ brachten, nimmt die „Gartenlaube“ (Nr. 47 von 1868) die erste Stelle ein, und indem ich auf diesen Artikel und dessen Illustrationen verweise, will ich mich hier darauf beschränken, über das historische Festspiel zu berichten, welches am zweiten Pfingsttag in Rothenburg aufgeführt wurde und dessen Ruhm, von den zahlreichen Besuchern aus allen vier Gegenden der Windrose (auch Amerikaner waren darunter) inzwischen schon in der weiten Welt herumgetragen wurde.
Das Festspiel heißt „Der Meistertrunk oder Tilly in Rothenburg“, und wurde zur zweihundertfünfzigjährigen Jubelfeier des 28. bis 30. October 1631 von A. Hörber, Magistratsrath und Glasermeister daselbst, gedichtet. Das Stück wurde aufgeführt von Rothenburger Bürgern, deren Frauen und Töchtern.
Die Bühne im Rathhaus ist das obere Ende eines langen und ziemlich schmalen Saales, in welchem etwa 800 Zuhörer aus der Heimath und der Fremde Platz fanden und dem Stücke mit lautloser Aufmerksamkeit folgten, welche nur zuweilen von stürmischen und endlosen Beifallssalven unterbrochen wurde.
Die Schaubühne und deren Zubehör waren von einer wahrhaft primitiven Einfachheit. An dem Stück und der Aufführung hätte vielleicht ein Kritikaster Mancherlei zu bemängeln, aber die Wirkung der Aufführung war geradezu hinreißend, überwältigend, rührend.
Daß die Vorstellung einen ganz außerordentlichen Eindruck machte, daß ihr das Publicum mit athemloser Spannung folgte, obgleich sie zwei Stunden dauerte, daß viele Thränen vergossen, steht außer Zweifel. Nun könnte man sagen, es sei ganz natürlich, daß auf die Rothenburger ein solches Stück aus der Geschichte ihrer Stadt, auf welche stolz zu sein sie alle Ursache haben, gespielt von ihren Mitbürgern und deren Frauen und Töchtern, den Eindruck nicht verfehlen könne. Allein das trifft nicht zu. Die Rührung war nicht minder groß bei den Fremden, welche an und für sich an den Schicksalen der Stadt, an den Personen der Darstellenden und an den Personen, welche dargestellt wurden, kein Interesse hatten, – auf sie paßten die Worte: „Was ist ihm Hekuba?“ Ein alter Herr, der mir offen gestand, er habe vor kaum vierzehn Tagen zum ersten Mal von Rothenburg ob der Tauber Etwas vernommen, weinte Thränen, die er vergeblich zu unterdrücken versuchte. Und er war nicht der Einzige der Art unter den Fremden.
Abgesehen von dem Inhalt und der Form der Dichtung, hat dazu noch Mancherlei beigetragen.
Zunächst das Bewußtsein, daß wir uns in der Stadt befanden, um die es sich in dem Stücke handelt, und in dem Rathhause, in welchem vor dritthalb Jahrhunderten jene Scenen wirklich gespielt haben. Dann aber auch der Eindruck, welchen die Stadt während der paar Tage, die wir vorher in derselben verbracht, auf uns gemacht hatte.
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[494] Das ist in der That noch die Stadt des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts: die Ringmauer mit ihren Thürmen ist fast noch vollständig unversehrt geblieben, und sogar die Bresche, welche Tilly in die Mauer geschossen, wurde durch eine schwere Arbeit wieder ausgefüllt. Alles zeugt dafür, was die Stadt gelitten, aber zugleich auch dafür, daß sie, gleich dem göttlichen Dulder Odysseus, niemals den Muth hat sinken lassen. Da stehen noch das Rathhaus, die Kirchen und die Klöster, das Deutschordenshaus und die weit ausgedehnten Spitalgebäude „Zum heiligen Geist“, letztere mit großer eigener Meierei; dort ragt noch der Thurm empor, in welchen man den Verräther der Stadt eingemauert, und da unten liegt auch noch das „Schlößchen“ des Bürgermeisters Töppler, mitten in einem Ueberschwemmungsgebiet, über welches jetzt eine steinerne Brücke führt, während früher nur eine Zugbrücke da war, um den Zutritt den Feinden zu wehren, welche man heutzutage nicht mehr zu fürchten hat. Vormals hat in diesem Taubenschlage der deutsche Kaiser Wenzel „residirt“ oder gar einen üppigen Hofhalt geführt. Heute würde jeder wohlsituirte Bürger sich besinnen, ob er in den paar engen Stübchen hinter den kleinen achteckigen Fensterscheiben, die durch schweres Blei mit einander verbunden sind, auch nur eine vierwöchige Sommerfrische abhalten möchte. Die Treppe, welche aus dem massiven steinernen Untersatz nach den beiden oberen, gleichsam in der Luft balancirenden Stockwerken führt, ist so schmal, daß ich sie nicht passiren könnte, wenn ich auch nur zwanzig Centimeter mehr im Umfang hätte.
Man fragt sich fast zweifelnd: Ist das Alles denn auch zur Zeit des Kaisers Wenzel schon so enge gewesen? Und man muß diese Frage mit „Ja“ beantworten.
Ja, man konnte damals sich wenig um Behäbigkeit, Wohnlichkeit, Schönheit und Luxus bekümmern, weil man vor Allem und beinahe ausschließlich auf Sicherheit sehen mußte. Es ging damals, wie es in unseren Tagen, laut des schönen Liedes in dem „Exilium Melancholiae“, dem Dorfschulzen Röhrle und seiner Frau erging, welche Alles in Hülle und Fülle hatten, in jenem tropischen Lande, wohin sie ausgewandert waren; als ihnen aber eines Tages die Löwen ihre Dienerschaft auffraßen, da wurden sie von dem Gefühle der Unsicherheit so sehr ergriffen, daß sie sich zu einem schwermüthigen Duett, zu singen nach der Melodie „Guter Mond, du gehst so stille“, vereinigten, welches lautet wie folgt:
„O, ihr rauhen Thiergemüther,
Die ihr in der Wildniß irrt,
Was sind alle Erdengüter,
Wenn man aufgefressen wird?“
Das also ist anders geworden. Man erfreut sich in dem mauer- und thurmumgürteten Rothenburg, das so stolz von seiner unnahbaren Höhe in das tief eingeschnittene Thal der rasch strömenden Tauber herabsieht – so stolz, daß man es vormals hinsichtlich seiner Lage, wie mir indeß scheint, nicht ganz zutreffend, mit der heiligen Stadt Jerusalem verglichen – man erfreut sich hier einer Sicherheit und Behaglichkeit, wie nur irgend wo im deutschen Reiche, und in dem „Gasthaus zum Hirsch“ wohnt heutzutage Unsereiner hundertmal besser, als vormals der Kaiser Wenceslaus in dem Schlößchen des weiland regierenden Bürgermeisters Töppler oder Doppler (das ist auf deutsch: Würfelspieler).
Sonst aber ist hier Alles geblieben, wie es vor dreihundert Jahren gewesen, wenigstens was die Physiognomie der Stadt anlangt. Ich muß dies näher erläutern; denn erstens steht es im engsten Zusammenhange mit dem „historischen Festspiel“, über das ich berichte, zweitens aber — und das scheint mir die Hauptsache zu sein – ist es an sich sehr interessant und so viel ich gelesen, noch nirgends mit der nöthigen Deutlichkeit hervorgehoben worden.
Bekanntlich giebt es der Städte noch mehr, welche uns heute noch ein deutliches Bild längst vergangener Zeiten gewähren. Allein allen diesen Städten fehlt die Fülle einer reichen und belebten Gegenwart ganz, oder zwischen ihrer glorreichen Vergangenheit und ihrer bescheidenen Gegenwart klafft ein nicht überbrückbarer Abgrund. Sie haben ganz oder theilweise nur auf Kosten der Gegenwart das Bild ihrer Vergangenheit herüber zu uns gerettet, und obgleich dieses Bild einen großen Werth hat, so ist der Preis, der dafür bezahlt wurde, doch etwas theuer. Ich will Beispiele zum Zweck der Erläuterung anführen:
Herculanum mußte mit einer Lavaschicht, Pompeji mit einem Aschenregen, Olympia mit Flußgeröll überschüttet werden, um auf uns zu kommen. Die alte Stadt Wisby aus der schwedischen Ostsee-Insel Gottland, welche ich im vorigen Sommer aufgesucht und in meiner „Wisby-Fahrt“ beschrieben habe, hat zwar die riesigen Bauten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, wenigstens in stattlichen Trümmern erhalten, jedoch nur um den Preis, daß die Stadt von dem Fußgestell ihrer glorreichen Hansa-Zeit, wo sie der Mittelpunkt des nordischen Handelsverkehrs war, herunterstieg und zu einem Landstädtchen herabsank, in welchem jene Trümmer dastehen inmitten der schmucken, aber einfachen und kleinen modernen Häuser, wie Gebäude der Riesen in einem Städtlein der Zwerge. Die gute, alte Reichsstadt Soest in Westsfalen, welche im Mittelalter eine so große Rolle auf dem Gebiete des Wirthschafts- und des Rechtslebens gespielt hat, sie hat zwar ihre schönen Kirchen und sonstigen architektonischen und monumentalen Zierden zum größeren Theile erhalten, im Uebrigen aber ist ihre Herrlichkeit so sehr geschwunden, daß in der Stadt mancher Platz, wo vormals steinerne Paläste standen, jetzt von bescheidenen Holzbauten eingenommen wird, oder auch von Grasflächen und Baumstücken, und daß die spöttisch-mitleidslosen Nachbarn die vormals so sehr beneidete große Stadt das heruntergekommene „freie deutsche Reichsdorf“ nennen.
Mit Rothenburg ist das ganz anders. Es hat seine Vergangenheit erhalten, ohne seine Gegenwart zum Opfer zu bringen. Auch klafft zwischen seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart kein Abgrund. Es hat sich durch alle Mißgeschicke hindurch tapfer gehalten und bis zur Gegenwart durchgeschlagen. Allerdings ist es nicht mehr jene stolze, freie Reichsstadt, deren Bürger so wehrhaft waren, daß Ludwig Uhland von ihnen sang:
„Wie haben da die Gerber so meisterhaft gegerbt,
Wie haben da die Färber so purpurroth gefärbt –“
jene Reichsstadt, die über ein durch den Landgraben befestigtes Gebiet von sechsundzwanzig Ortschaften herrschte und deren streitbare Bürgermeister an der Spitze der städtischen Fähnlein aufzogen, um in den Fehden der Nachbarn manchmal das entscheidende Schwert in die Wagschale zu werfen, den Territorialherren, ja manchmal sogar Kaiser und Reich selber zu trotzen, oder gar Gebietseroberungen zu machen. Das Alles ist dahin, um niemals wiederzukehren. Die Stadt hat viel verloren, aber sie hat auch viel gerettet.
Sie hat heute noch dieselbe Einwohnerzahl, wie zur Zeit ihrer höchsten Blüthe im fünfzehnten Jahrhundert. Heute noch ist das ganze Gebiet innerhalb der alten Mauern überall ausgefüllt von menschlichen Wohnungen, und selbst ein Theil des weiland so ansehnlichen städtischen Vermögens ist gerettet, obgleich man sich während der dictatorischen und rechtlosen Zeit der Rheinbundherrschaft die gröblichsten Ein- und Uebergriffe in dasselbe erlaubt hat. Die zum Theil äußerst opulent und breit angelegten Straßen sind noch besetzt mit den alten, aber gut unterhaltenen Häusern der Bürger, sowohl der Patricier, welche man die „Ehrbaren“ (und im Gesammtbegriff die „Ehrbarkeit“) nannte, wie auch der Plebejer oder der Zünftigen. Die Häuser wenden ihre steilen und zum Theil zierlich decorirten Giebel der Straße zu, und in der Reihenfolge tritt – gerade wie in dem westfälischen Soest – oft ein Haus vor dem andern etwas staffelförmig zurück, damit einem Jeden möglichst viel Aussicht auf die Straße gewährt wird. Im Innern der Häuser finden wir auch noch in der Regel jene breite und hohe Halle, welche hier „die Tenne“ genannt wird und an die Vorplätze in den Häusern von Danzig, Rostock und Lübeck erinnert. In jedem Hause wohnt auch heute noch in der Regel nur eine Familie, und auch hier kann das Familienoberhaupt sagen, wie in England: „Mein Haus ist meine Burg“. Daher kommt es denn auch, daß die Stadt im Verhältniß zu ihrer Einwohnerzahl einen außerordentlich großen Flächengehalt einnimmt, und wiederum ist dieser Umstand, in Verbindung mit der gesunden Lage, die Ursache, daß man hier so viel gesunde frische Gesichter sieht. Namentlich fallen dem Fremden sofort die lieblich und rosig angehauchten Gesichter der Frauen, Mädchen und Kinder auf, eine Beobachtung, die auch der deutsche Kronprinz gemacht haben soll, als er vor einiger Zeit Rothenburg ob der Tauber besuchte.
Verschwunden sind zwar mit so manchen andern Institutionen aus alter Zeit die Deutschordensherren, jene ritterlichen Priester [495] oder priesterlichen Ritter, mit welchen die Stadt stets im Streit lag, behauptend, sie hätten in sich die bösen Eigenschaften sowohl der Junker, wie auch der Pfaffen vereinigt, mit Ausschluß der guten — jene geistlichen Herren, von welchen ein bis auf den heutigen Tag gekommenes schelmisches Rothenburger Volkslied singt:
„Kleider aus,
Kleider an,
Essen, trinken,
Schlafen gahn:
Ist das Werk,
So die Deutschherrn
Vor sich han.“
Auch die Patriciergeschlechter, in deren alleiniger Hand ursprünglich das städtische Regiment lag, sind, als sich die Umwälzung zu ihrem Nachtheil vollzogen, größtentheils ausgewandert nach anderen Reichsstädten, wo sie jedoch später ebenfalls das Geschick der Mediatisirung und der Annexion, welchem sie für immer zu entfliehen gedachten, ereilt hat. Viele Familiennamen, welche gegenwärtig noch in Ulm, Augsburg, Nürnberg etc. glänzen, sind Rothenburger Ursprungs, aber in Rothenburg sind sie verschwunden.
Geblieben ist der Kern der Bevölkerung, ein fleißiger, kluger und rühriger Bürgerstand, welcher sich vermöge dieser seiner Eigenschaften, im Gegensatze zu den „Geschlechtern“, der „Ehrbarkeit“ und den Deutschordensherren, hier auch seine bürgerliche und wirthschaftliche Stellung bewahrt hat.
Die Bewohner Rothenburgs haben nämlich den Umstand, daß weithin keine andere Stadt liegt, mit der ihnen eigenen Tüchtigkeit zu benutzen verstanden, und sich so das alte Hinterland und die alte Kundschaft bewahrt; es wird neue dazu kommen, sobald die Eisenbahn weitergeführt ist.
In mancher anderen altehrwürdigen Stadt würde es sich seltsam ausnehmen, wenn die Bürger von heute in den stattlichen Formen und Farben des fünfzehnten oder sechszehnten Jahrhunderts auftreten und die Hergänge von damals in einer Umgebung erneuern wollten, welche nichts ist als das traurige Schattenbild einer vergangenen Größe, welche sich nichts gerettet hat als die Poesie des Verfalls und die Sympathie mit dem Unglück.
In Rothenburg ob der Tauber ist das anders: Hier kann die Gegenwart „Vergangenheit spielen“, weil sie noch in vielen und in entscheidenden Stücken ein würdiges Spiegelbild der Vergangenheit ist, ohne deshalb der Gegenwart zu entsagen. Dies ist die „berechtigte Eigenthümlichkeit“ Rothenburgs, wodurch es sich von vielen deutschen Städten unterscheidet, ja vielleicht ist es nicht zu viel behauptet, wenn man sagt: von allen anderen deutschen Städten.
Dies tritt uns sichtbar und greifbar vor die Augen, wenn wir die Stadt durchwandern, unter Anderem z. B. auch in den Tafeln von weißem Marmor, welche an einer ziemlich großen Anzahl von Häusern angebracht sind und deren Inschriften uns verkünden, was sich vormals in dem betreffenden Hause zugetragen, welches Geschlecht das Haus bewohnt, welche Kaiser und Fürsten da Quartier genommen, welche historischen Personen darin geboren oder gestorben und was sonst für wissenswürdige Dinge dort passirt sind.
Nehmen wir dazu das soeben erschienene Buch des Herrn Heinrich Weißbecker, eines kundigen und zuverlässigen Forschers in Rothenburger Dingen, betitelt: „Rothenburg ob der Tauber, seine Alterthümer und Inschriften“, so sind wir im Stande, uns rasch und bequem topographisch-historisch zu orientiren. So viel ich weiß, ist es auch Weißbecker, der die Anregung zur Anbringung jener Marmortafeln gegeben.
Die in Obigem geschilderte Eigenthümlichkeit der Stadt ist es, welche die Aufführung dieses historischen Festspiels ermöglicht und uns den Schlüssel giebt zur Erklärung des wunderbaren Eindrucks, den dasselbe in uns Allen hinterlassen.
Die Bühne befindet sich, wie bereits gesagt, Ende Mai 1882 in demselben Rathhause, in welchem sich Ende October 1631 die Ereignisse zugetragen haben, die uns vorgeführt werden. Der Schauplatz ist also derselbe. Ja, die Requisitstücke sind dieselben: Die Schlüssel, welche dem siegreichen Feinde in dem Stücke überreicht werden, sind in Wirklichkeit die echten und veritabeln Schlüssel zu den noch vorhandenen Schlössern der noch vorhandenen schweren Thüren in den noch vorhandenen massigen Stadtthoren. Der kunstvoll geschnitzte Schrank, aus welchem die Schlüssel heute herausgenommen werden, ist derselbe, in welchem sie schon vor dritthalbhundert Jahren aufbewahrt wurden.
Wenn in dem Stücke die Orgel der Kirche erklingt, so ist das die Orgel der Jacobi-Kirche, welche schon 1631 erklungen. Dasselbe gilt von dem Liede: „O komm mit Deiner Gnade“, wie auch das Glöcklein, welches für die Armensünder geläutet wird, und das, welches die Senatoren auf das Rathhans ruft, noch immer dieselben sind.
Ja, der Kanonendonner kommt aus den nämlichen alten Feldschlangen, welche 1631 fungirt haben. Man hat der Stadt in der Rheinbundeszeit von all ihren Trophäen nur diese drei Geschütze gelassen — wahrscheinlich, weil sie nichts taugten; denn das eine davon ist in Folge der Schlechtigkeit des Materials, woraus es gegossen, kürzlich gesprungen, nicht ohne mehrere Leute zu verletzen. Wenn die Geschütze gelöst werden sollen, das heißt wenn die Aufführung bis zu den Stellen gelangt ist, wo der Text des Stückes das Schießen vorschreibt, wird ein rothweißes Fähnlein (roth und weiß sind die Farben des Stadtwappens: eine rothe Burg in einem weißen Felde) zum Rathhausfenster hinausgehängt, und dann erdröhnen die Geschütze.
Und die Kirchenglocken, welche in dem Stücke zu läuten beginnen, sind dieselben Glocken der St. Jacobs-Kirche, welche schon im October 1631 geläutet haben. Dieser Glocken sind sechs, nämlich die Wetterglocke, die Thorglocke, die Predigtglocke, die Mittagsglocke, die Todtenglocke und die Vesperglocke. Sie sind — so besagen die Inschriften — alle Anno 1626 gegossen, und zwar, wie es auf der Wetterglocke heißt, während der Regierung der Bürgermeister Johannes Bezold und Johannes Staudt („Joanne Bezoldo et Joanne Staudtio consulibus, aedisque hujus curatoribus, vere felicibus“, welche beiden Männer, wie wir sehen werden, auch in unserem Festspiele auftraten.
Was sagen die Meininger zu solchen Requisiten? Wie vermögen sie gegen diese echten alten Glocken, Schlüssel, Schränke, Feldschlangen etc. aufzukommen? Haben sie so doch nur Nachahmungen! Ihr Schwert Hermann’s des Cheruskers, die Bärenhaut der Thusnelda, der Lorbeer und die Toga des C. Julius Cäsar — alles eitel Imitation! Hier dagegen Alles von beglaubigter, unzweifelhafter — ich möchte sagen: von wahrhaft monumentaler Echtheit. Also hierher, nach Rothenburg, müßt ihr kommen, ihr Freunde historisch-antiquarischer Feinschmeckerei! Hier ist alles wahr, alles echt. Hier giebt es keine falschen Schlüssel und keine nachgemachten ägyptischen Königstöchter.
In Obigem habe ich mich bemüht, eine kurze Schilderung der örtlichen Voraussetzungen zu geben, ohne deren Kenntniß der Gang und die Wirkung des Festspiels nicht zu verstehen ist. Im zweiten und letzten Abschnitte meines Artikels werde ich dieses Festspiel selbst und das Nachspiel beschreiben; Illustrationen werden meine Erzählung veranschaulichen.
Vorläufig giebt das der gegenwärtigen Nummer beigegebene große Bild eine Gesammtdarstellung des Saals und der Bühne; es zeigt im Vordergrunde das Publicum, welches den Saal füllt, dann die Bühne, welche die eine Schmalseite des Saals einnimmt und nur eine geringe Tiefe hat. An der Rückseite derselben steht der alte Schrank, in welchem die Stadtschlüssel verwahrt werden. Außer den beiden sich rechts und links befindenden Thüren hat die Bühne noch einen dritten Zugang von großer Eigenthümlichkeit. Ich werde davon in dem nächsten Artikel reden. In der Mitte steht vor dem Sitzungstisch der Senator Nusch, im Begriffe, den Meistertrunk zu verrichten; auf der einen Seite sitzt Tilly mit seinem Leib-Dominicaner, seinen Verbündeten und Generalen, auf der andern stehen die Senatoren und die Kriegsknechte. Oben, zwischen den Trophäen — den kaiserlichen auf der einen und den rothenburgischen auf der andern Seite — präsentirt sich das Bild Nusch’s, der das Capitol und das Leben der Senatoren rettete — nicht durch Schnattern wie weiland die Gänse, sondern durch tapferes Trinken.
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Vor dem Festspiele, das um zehn Uhr beginnt, nahmen wir einen Frühschoppen rothen Tauberweines im „Rothen Hahnen“, der neben dem Haus liegt, in welchem der Altbürgermeister Nusch, der Meistertrinker des Meistertrunkes, das Licht der Welt erblickt hat.
Als man uns meldete, soeben sei der Wagen vorüber gefahren mit den Damen, die in dem Stücke auftreten, eilten auch wir hinauf nach dem Marktplatze, der von schönen alten Giebelhäusern umgeben ist. Fast in jedem dieser Häuser hat sich irgend eine merkwürdige Begebenheit zugetragen. Eine stattliche Reihe deutscher Kaiser ist über diesen Platz nach dem Rathhause gezogen, um hier von der Stadt den Ehrentrunk entgegenzunehmen. Denn ohne einen solchen ging es damals nicht. Die Hohenstaufen waren in Rothenburg. Dann der glückliche Rudolph von Habsburg und der unglückliche Adolf von Nassau, Albrecht der Erste und Ludwig der Baier, Karl der Vierte, Wenzel von Böhmen und Ruprecht von der Pfalz. Einige davon kehrten zum dritten und vierten Male wieder. Es scheint ihnen gefallen zu haben.
Das Rathhaus besteht, wie man auf den ersten Blick sieht, aus drei Theilen. Der hintere Theil ist der älteste; er ist gothisch und hat einen hohen schlanken Thurm, an den sich allerlei Sagen knüpfen. Der vordere Theil ist Renaissance voll Zierlichkeit und Reinheit des Stiles, mit schönen Portalen und einem noch schöneren dreistöckigen Erker; der dicke und kurze achteckige Thurm dient als Treppenhaus; dieser Bau entstand um 1577, jener um 1250. Noch jünger als beide ist die Colonnade, die sich vor dem neueren vorderen Bau hinzieht. Man steigt auf einer hohen Freitreppe zu ihr empor. Sie ist in einem wuchtigen Rusticastile gehalten.
Auf unserem Wege aus dem „Rothen Hahn“ zum Rathhaussaale, wo das Festspiel stattfindet, befinden wir uns schon mitten im Dreißigjährigen Kriege. Ueberall stoßen wir auf die Züge und die Wachen der städtischen Milizen, mit ihren großen Helmen, ihren Lederkollern und ihren stattlichen Hellebarden. Das macht schon Stimmung und paßt zu der Architektur.
Wir treten in den Saal. Links geht es in den Zuschauerraum, rechts nach der Bühne. Es ist nur ein Eingang da. Die Fenster befinden sich ihm gegenüber: zierliche Rundscheiben, im Glasofen geformt und durch Bleizüge mit einander verbunden. Sie reichen nicht ganz aus zur Erhellung. Allein es ist schwer, bei ganz hellem lichtem Tage Komödie zu spielen. Diese ein wenig mittelalterlich-spärliche Beleuchtung ist besser, und wenn zuweilen wieder einmal so ein recht intensives Sonnenlicht durchbricht, dann kann dies die Wirkung nur erhöhen.
Von dieser einzigen Eingangsthür rechts nach der vollkommen schmucklosen Bühne führt ein breiter Steg empor, eine schiefe Ebene, deren Zweck mir noch nicht recht klar ist. Ich frage darnach. Man legt den Finger auf den Mund und sagt:
„Pst! Der Hühnersteig! Sie werden ja sehen. Nur Geduld, nur abwarten!“
„Meinetwegen!“ sage ich, und suche meinen Platz auf, für den mir Magistratsrath Conrad Kraus mit vorsorglicher Liebenswürdigkeit gesorgt hatte. Der Andrang war groß. Es konnte keine Stecknadel zur Erde fallen. Es herrscht eine lautlose Stille. Das Stück beginnt. Es spielt in demselben Rathhaussaale, in dem wir uns befinden.
Da stehen die Sessel der Senatoren, gruppirt um den Rathstisch. Nur Johann Bezold, der regierende Bürgermeister von Rothenburg ob der Tauber, befindet sich auf der Bühne. Es ist Morgens früh. Er hat die Nacht über gesorgt und gewacht. Denn der Feind ist vor den Thoren der Stadt erschienen. Es sind Kaiserliche, welche die Stadt berennen, weil sie sich Gustav Adolf von Schweden zugewandt und dem Leipziger Convente (vom 20. Februar 1631) beigetreten war. Die freie Reichsstadt Rothenburg, obgleich sie nur sechstausend Einwohner hat und eine kleine schwedische Besatzung – ein Fähnlein von sechszig Reitern unter dem Befehle des Rittmeisters Rinkenberg – ist entschlossen, sich bis zum letzten Hauche zu wehren, um nicht das Schicksal Magdeburgs zu erleiden. Rothenburg weiß, daß Tilly am 17. September (1631) bei Breitenfeld durch den Schwedenkönig eine schwere Niederlage erlitten. Man hofft, die Truppen, welche Rothenburg berennen, sind nur ein Streifcorps der bei Breitenfeld zersprengten Tilly’schen Armada, und wenn es auch Tilly selber wäre, dann ist ihm doch gewiß der Schwedenkönig auf den Fersen. Indessen ist man von dem Letzteren ohne alle Nachricht, und die Schaaren des Feindes sind in beständigem Wachsen. Die Sache fängt an unheimlich zu werden.
Bürgermeister Bezold ergeht sich in einem Monolog, der uns zuweilen an das realistische Pathos Schiller’s erinnert. Seine
[509][510] Sorge ist schwer. Die Befestigungen der Stadt sind sehr ausgedehnt, und die Zahl der Mannschaft, die solche vertheidigen soll, schier ungenügend.
Mit bangem Herzen erwägt der Bürgermeister, ob die Belagerer nur ein versprengtes Streifcorps sind, oder die Vorhut der von Tilly befehligten Kaiserlichen und Ligisten, und ob, wenn letzteres der Fall, wenn Tilly mit seiner ganzen Streitmacht sich wider die Stadt wenden sollte, sie im Stande sei, erfolgreich Widerstand zu leisten.
Daß Tilly (nachdem Gustav Adolf, statt ihn zu verfolgen, sich mainabwärts nach dem Rhein gewendet) seine zersprengten Schaaren wieder gesammelt und mit dem Grafen Aldringer und dessen Italienern, sowie mit dem Charles Duc de Lorraine und dessen Lothringern vereinigt hat, und daß Hülfe von Gustav Adolf, auf die man auf gegebene Zusage rechnet, durchaus nicht zu erwarten – von Alledem weiß man in der cernirten Stadt noch gar nichts.
Der Bürgermeister beschließt, den Rath zu berufen. Wir hören die Glocke, die im Rathhause hängt und die man schon 1631 zu diesem Zwecke geläutet.
Die Senatoren kommen: stattliche Herren in schwarzen Talaren mit weiten Aermeln und großen breiten, weißen Kragen, von welchen zwei weiße Quasten herabhängen und unter welchen die goldene Ehrenkette hervorschaut. An der Linken tragen sie den spanischen Degen, auf dem Haupte den hohen, spitzen, schwarzen Hut mit breiter Krämpe. Man beschließt, Scheiblein, den Waffenmeister der Stadt, und Rinkenberg, den Commandanten des schwedischen Reiterfähnleins, zu hören. Beide rathen zum entschlossenen Widerstand, und dieser wird denn auch beschlossen.
Die jüngste Schaar der bewaffneten Bürger kommt, um die Weisungen und den Segen des Raths entgegenzunehmen. Es folgt eine rührende Scene. Während die jungen Bürger ein „Kriegerlied“ singen, nehmen die Alten von ihnen Abschied. Hans Staudt ist der Führer des Fähnleins. Sein Vater, Johann Staudt, ist Senator. Der Erstere mahnt den Letzteren, und dieser ist bereit, sein Blut für die Sache der Stadt und der Freiheit zu vergießen. Während die letzte Strophe gesungen wird, marschirt die junge Schaar ab, und zwar auf demselben Wege, auf welchem sie aufmarschirt ist, nämlich über den sogenannten „Hühnersteig“, dessen Zweck uns nun klar ist und den ich für eine außerordentlich sinnreiche Erfindung halte. Da er nicht horizontal ist, sondern aufsteigt, so gruppiren sich auf ihm die Züge mit malerischer Schönheit und Uebersichtlichkeit.
Während die jungen Krieger abmarschiren, dröhnen draußen auf den Wällen die Kanonen. Das sind aber keine Theaterknalleffecte, sondern es sind wirkliche Schüsse, Schüsse aus den echten alten Kanonen, welche der Stadt von 1631 noch übrig geblieben – Kanonen, welche wirklich draußen auf dem nämlichen Walle stehen, auf dem sie im Herbste 1631 gestanden haben.
Nun erscheint Georg Zierlein, der oberste protestantische Prediger der Stadt – und auch er ist eine historische Figur; denn er ist wirklich von 1621 bis 1661 „Superintendent“ dieser guten und tapferen freien Reichsstadt gewesen – und mahnt, den Beistand des Höchsten anzurufen, die Wehrbaren gehören auf die Wälle, aber die Kampfunfähigen möchten mit ihm sich in der Jacobi-Kirche vereinen.
Der alte Nusch, der eigentliche Held des Dramas, der Senator und Altbürgermeister, geht mit dem Superintendenten nach der Kirche. Man hört das Lied: „O bleib’ mit deiner Gnade“ mit Orgelbegleitung. Es ist die Orgel der benachbarten Jacobi-Kirche, welche gespielt wird. Es ist die große Glocke von Sanct Jacobi, welche läutet. Und der Gesang wird wirklich in dieser Kirche gesungen. Wollt ihr noch mehr Realismus? Während der Choral, die Orgel und die Glocken ertönen, verharrt Bürgermeister und Rath in stillem Gebet. Das ist die Exposition, die Einführung in das Stück. Nun folgt das eigentliche Drama.
Während der Senat noch versammelt ist, kommen Boten auf Boten. Sie erinnern uns an das altgriechische Drama, z. B. an den „König Oedipus“ von Sophokles. Der erste Bote bringt dem hohen Rathe hocherfreuliche Botschaft:
„Von Würzburg her nahen sich lange Colonnen. Das sind die Schweden. Das ist Gustav Adolf. Nur noch eine kurze Frist – dann muß sich Alles wenden.“
Der zweite Bote meldet, daß auf der ganzen Linie der Muth wieder auflebt; der Dritte, daß die jungen Krieger den andringenden Feind geworfen haben und Wunder der Tapferkeit aus den Wällen verrichten.
Dieser Stufenleiter von Aufmunterung folgt in einem außerordentlich wirksamen Gegensatz eine andere: wie die Freudenbotschaften sich steigerten, so überstürzen einander nun die Hiobsbotschaften. Der vierte Bote ist selber verwundet. Er meldet:
Die vermeintlichen Schweden, die von Würzburg her in langen Colonnen anrücken, sind in Wirklichkeit alle Kaiserliche, und – wo Gott vor sei – der alte Teufel, der Tilly, soll selber dabei sein. Ist das der Fall, ist es wirklich die ganze vereinigte Armada der Kaiserlichen und der Liga, dann gnade uns Gott – dann sind wir verloren!
Der fünfte Bote aber macht jedem Zweifel ein Ende. Er meldet: Tilly ist da mit seiner ganzen Armee. Sein Herold ist vor dem Thore. Er verlangt Uebergabe der Stadt auf Gnade und Ungnade und Erklärung binnen kürzester Frist.
Der Donner der schweren und leichten Geschütze, das Gedröhne des Kampfes begleitet diese Meldung, welche von dem versammelten hohen Rath mit Entsetzen aufgenommen wird. Und dennoch lassen die würdigen Väter der Stadt den Muth noch immer nicht sinken. Sie klammern sich an den Strohhalm einer äußersten höchst problematischen Hoffnung.
„Ist Tilly da,“ sagen sie, „dann ist auch der Schwedenkönig auf seinen Fersen. Nur Muth! Kämpfen wir weiter!“
Da kommt der sechste Bote, um zu melden, daß das Galgenthor (jetzt das Würzburger Thor genannt) bereits dem Tilly in die Hände gefallen.
Ihm folgt der Altbürgermeister Nusch auf dem Fuße. Er erzählt, wie er in der Jacobi-Kirche um Errettung der Stadt zu Gott gebetet; dann will er hinaus auf den Wall. Dort ist der stärkste Thurm, genannt der „Ganser“ in die Luft geflogen, sammt Allem, was darauf und darin war, und die junge Schaar ist vernichtet. Nusch schließt mit den Worten:
„Ich hab’ die weiße Fahne ausgehängt,
Am Galgenthurm. Nehmt mir den Degen ab,
Wenn ich’s verdiene!“
Der siebente Bote meldet, daß Scheiblein, der städtische Waffenmeister, gefangen und daß den Schweden freier Abzug gewährt ist, Tilly aber jede Vereinbarung mit der Stadt verworfen und nur Unterwerfung auf Leben und Tod angenommen hat.
Und nun erfolgt der Aufmarsch Tilly’s und seines Gefolges, und zwar ebenfalls über jene breite schiefe Ebene, welche man scherzweise den „Hühnersteig“ genannt hat. Mit Tilly kommt der Herzog Karl von Lothringen, der Prinz Louis von Pfalzburg, der Aldringer, der Oberst von Ossa und des Feldherrn Leibdominicaner, ein freches und fanatisches Pfäfflein, das am liebsten alle diese protestantischen freien Reichsstädte mit Feuer und Schwert von dem Erdboden weggefegt sehen möchte.
Tilly selbst und die Generale sind in großer spanischer Tracht, Alles geziert mit Schwarz-gelb, den Farben des Kaisers, Einige auch im Harnisch. Dann folgt ein Fähnlein Tilly’scher Landsknechte mit der schwarz-gelben Fahne. Sie singen während des Aufmarsches das „Tilly-Lied“.
Draußen aber schmettern die Fanfaren des Siegers, der Victoria schießen läßt.
Der Aufzug der Kaiserlichen zur Bühne hinauf macht einen außerordentlich malerischen Eindruck. Man kann den Zug, während er zur Bühne hinaufsteigt, sehr schön übersehen. Droben ordnet sich das Ganze zu zwei großen Gruppe: links Tilly mit Generalen und Dominicaner, rechts Bürgermeister Bezold und die Senatoren, dahinter die Landsknechte.
Bezold will sich als der allein Schuldige dem Zorne Tilly’s preisgeben. Tilly aber heißt ihn schweigen: Sechshundert Tapfere habe er an dieser einen Belagerung verloren, so viel sei die ganze Stadt nicht werth:
„– dies Bürgerpack,
In offnem Aufruhr gegen Reich und Kaiser.“
Der Bürgermeister beruft sich auf die großen Leistungen der Stadt, für die nie eine Zahlung erfolgt, sowie auf die Privilegien und Freibriefe derselben, namentlich auf die neuesten:
„Vom Friedland einer, zwei vom Kaiser selbst.“
Tilly weist jede Berufung auf Vertrag, Brief und Siegel mit den Worten zurück:
[511]
„Ihr habt mit unsern Feinden conspirirt;
Und Renegaten hält man kein Versprechen.“
Die Fürsten und Generale stimmen eifrig zu. Desgleichen der Dominicaner. Jene wollen das Reich, dieser will den Glauben retten, und deshalb stimmen sie für Plündern, Brennen, Hängen und Köpfen.
Da erscheint der alte Senator Nusch im Vordergrund, mit einem Kissen, worauf die Stadtschlüssel liegen – die wirklichen echten alten Schlüssel zu den jetzt noch vorhandenen echten alten Thoren der Stadt. Er überreicht sie dem Sieger und bittet um Gnade, bedient sich aber dabei der unvorsichtigen Wendung:
„Wer weiß, ob Magdeburg –“
Der erzürnte Tilly unterbricht ihn sofort, indem er ihn anherrscht:
„Schweig, Unglücksmensch!
Ihr geht den gleichen Weg, und Euer Loos
Wird wohl das gleiche sein. Es bleibt dabei“,
nämlich bei dem Blutgericht gegen Bürgermeister und Rath, das dem Aldringer aufgetragen wurde.
Resignirt sagt Bezold:
„Laßt nun denn sterben, aber laßt die Stadt
Nicht büßen das, was wir allein verschuldet!“
die Stadt habe nicht rebellirt wider Kaiser und Reich, sie habe aber bei ihrem Glauben verbleiben wollen, worauf sie ein verbrieftes Recht habe, nur deshalb sei sie dem Leipziger Convent beigetreten.
Dazwischen schreit der junge Hetz-Dominicaner:
„Wo Unterthanen-Afterweisheit sich
Mit dummem Bürgerstolze so vereint,
Da giebt es Christen, schlimmer als die Heiden!“
Tilly dictirt endlich als Sieger: Vierstündige Plünderung; 30,000 Thaler Contribution; Lieferung von 6000 Ellen Tuch und 3000 Paar Schuhe. Oberst Ossa wird beauftragt, das alles zu executiren. Und nun wendet sich der Eroberer Magdeburgs wieder an den Bürgermeister und Rath mit den Worten:
„— Und nun zu Euch,
Die Ihr hier Recht spracht über Gut und Blut!
Heut fordre ich Euch Richter vor Gericht.
Wer Aufruhr stiftet, ist dem Tod verfallen.
Wählt oder loost! Vier Häupter müssen fallen
Durch’s Henkerbeil. Dies ist mein letztes Wort.“
Die vom Rath aber weisen diese Art Gnade zurück und antworten wie aus einem Munde:
„Wir loosen nicht. Wie Einer stand für Alle,
So gehn auch All’ für Einen in den Tod.
Für Alle Gnade — oder Tod für Alle!“,
und Tilly antwortet:
„Dann sollt Ihr All’ in Eurem Hochmuth sterben.“
Der Dominicaner freut sich dessen.
Dann dringt Frau Magdalene Hirsching ein, die Nichte des Bürgermeisters, mit ihren Kindern, halb gegen den Willen Tilly’s, des Weiberfeindes, der sie abwehrt mit den Worten:
„– Wißt Ihr nicht,
Daß ihr Gewinsel mir bis in den Tod
Zuwider ist und mir die Galle weckt?“
Allein die muthige Frau läßt sich nicht zurückweisen. Als die Landsknechte sie hinauswerfen wollen, beschwört sie Tilly bei dem Andenken seiner Mutter, bei seinem Glauben, welcher doch auch nicht wolle, daß Eigenthum, Ehre und Ehe verletzt werde, wie dies im Augenblicke in dieser freien Reichsstadt geschehe.
Tilly ruft zwar einmal dazwischen:
„Schafft mir dies Weib hinaus! Sie ist wie toll!“
Aber er kann sich doch nicht ganz dem Eindruck entziehen, welchen ihre beredten Worte auf ihn machen.
Der Dominicaner ruft ihm zu:
„Laß Dich von Weiberthränen nicht bethören.“
Auch ihren Glauben vertheidigt die stolze und starke Frau. Da poltert der Dominicaner:
„Was faselt auch vom Glauben noch das Weib?“
Auch Tilly wird wieder grimmig. Der Bürgermeister schlägt sich in’s Mittel mit den Worten:
„Geht, Kinder, geht! Des Mannes Herz ist Stein.“
Und Magdalene geht. Jetzt treten zwei andere Personen in den Vordergrund. Während alle übrigen Gestalten des Stückes historisch verbürgt sind, scheinen diese ein Product der Phantasie des Dichters zu sein.
Es ist der rothbärtige Rathhausdiener und Kellermeister Balthasar Reimer und Anna, sein kluges und holdseliges Töchterlein, auf das die Dichterworte paßten: „Sie ist so sitt- und tugendreich und etwas schnippisch doch zugleich.“
Zuvor befiehlt der Graf Aldringer, den Tilly mit Hegung des Blutgerichtes betraut hat, dem Bürgermeister, selbst den städtischen Meister Hämmerlein, den Henker, zur Stelle zu schaffen. Er giebt ihm eine Wache bei mit den Worten:
„Mit Eurem Leben stehet Ihr für Beide,
Den Freiknecht und den Bürgermeister, ein.“
Magdalene flucht Tilly und den Seinen.
Das kluge Kellermeisters-Töchterlein begleitet ihren stolzen Abgang mit den bewundernden Worten:
„Da geht sie hin, wie eine Königin.“
Dann aber spricht sie für sich:
„Versuchen wir’s mit einer andern Macht,
Die andre Helden ebenfalls bezwungen!“
Sie versucht es, dem alten Tilly nach dem heißen Tag einen kühlen Trunk anzubieten. Aber Tilly nimmt nichts aus Weiberhänden.
Da kommt denn der Papa Kellermeister selber.
„Wer bist Du?“
Und Reimer, der oben Rathsdiener und unten Kellermeister ist, antwortet:
„Hier oben bin ich Diener,
Doch drunten bin ich Herr.
Ich heiße Balzer Reimer,
Bin Castellan – nicht mehr.
Doch drunten in dem Keller,
Da bin auch ich Tyrann
Und sperre edle Geister
Wohl Jahre lang in Bann.
Je wilder die Gesellen
In ihrer Jugendzeit,
Je länger ich sie banne,
Je größer meine Freud’.
Herr Graf, ich hüte Einen
Nun viele Jahre schon,
Aus unsrer besten Lage,
’Nen wahren Sonnen-Sohn.
Erlaubt, daß ich ihm heute
An unserm Todestag,
Ein würdig Todten-Opfer,
Die Freiheit geben mag!
Daß es sich in die Herzen
Wie Himmelstrost ergießt,
Und Jeder ohne Schmerzen
Des Lebens Traum beschließt!“
Dieser poetische Hauch beginnt das Eis Tilly’s etwas zu schmelzen. Er wird sogar ein ganz klein wenig gnädig, soviel es seine grimmig-ernste Natur erlaubt. „Ei, ei,“ spricht er,
„Ei, ei, mir scheint, daß Du Dein zweites Amt
Als Kellerwart verständnißreich verwaltest.
Der Wunsch sei Euch gewährt! Drum trinket nur
Von Euerm Besten! Ihr braucht Muth zum Sterben.“
Reimer erlaubt sich die Bemerkung, daß es doch sehr schön wäre, wenn Tilly und die andern hohen Herrschaften mittrinken wollten. Dann tritt der stattliche Senator Winterbach auf mit dem historisch echten Pokal, gefüllt mit sechs Liter (oder dreizehn baierische „Halbi“) Tauberwein. „Verzeih!“ sagt er zu Tilly,
„Wir haben in der Seelenangst vergessen,
Den Willkommtrunk zu reichen unserm Gast.“
Tilly antwortet:
„Ich trinke keinen Wein. Trinkt Ihr nur selbst!“
Senator Rückert bittet:
O, thut Bescheid, erweist uns diese Gnade!
Hier trinkt der Herr zuerst und dann die Andern.“
[512] Tilly nimmt und trinkt auf das Wohl des Hauses Lothringen. Der Duc de Lorraine trinkt Pappenheim zu. Dieser dem Aldringer etc. Der Lothringer trinkt zum zweiten Male:
„Es ist bei Gott ein höllisch feiner Tropfen,
Und wenn man doppelt näht, dann hält es besser.“
Oberst Ossa aber warnt:
„Doch thut
Des Guten nicht zu viel. ’S ist Tauberwein
Und nicht das leichte Töchterlein der Mosel.“
Der Dominicaner aber, gierig und neidisch, ruft:
„So bleibt doch über Nacht nicht in dem Humpen!“
Er erhält ihn dann auch und trinkt mehr als die Soldaten.
Der Pokal geht an Tilly zurück. Er bewundert das Kunstwerk, auf welchem der Kaiser und die sieben Kurfürsten dargestellt sind.
Der Senator Winterbach erklärt ihm die Entstehung desselben:
„Kaiser Matthias war’s, für den gemacht
Zum Willkomm wurde der Pokal. Er kam nicht.
Darum seid Ihr es, der die erste Weihe
Ihm gabt durch Euer karges Nippen.“
Das geht denn doch dem Tilly an sein gut kaiserlich Herz. Er trinkt zum zweiten Mal und etwas mehr.
Dann kommen die unglücklichen Todescandidaten – Bürgermeister und Rath. Sie haben keine rechte Freude mehr am Trunk und Tilly scherzt – natürlich ein wenig grausam:
„Und noch halb voll? Ist denn der ganze Rath
Nicht mehr im Stande, den Pokal zu leeren?“
Der alte Nusch sagt:
„Nicht, wenn uns Todesangst den Hals zuschnürt.“
Und Tilly, dem Kaiser, der auf dem Pokal bildlich dargestellt ist, zu Ehren, trinkt wieder:
„Ich habe Jahre lang des Weines Gift
Gemieden. Heut’ trink’ ich zum dritten Mal.“
Der rothbärtige Kellermeister benutzt in kluger Weise diese Stimmung zu einigen Scherzen.
Tilly schweigt. Er sinnt nach. Dann befiehlt er, den Pokal auf’s Neue zu füllen, und spricht zum Rathe:
„Schlecht Euer Rath! Schlecht Euer Waffenglück!
Vielleicht, daß ihr mit Euern weiten Kehlen
Beweisen könnt ein besseres Geschick.“
Der Kellermeister kommt mit dem frisch gefüllten Pokale. Tilly nimmt ihn und sagt:
„Der Humpen hier ist voll zum Rand gefüllt.
Ist wer von Euch im Stande, ihn zu leeren
Mit einem Zug – dann soll Euch Gnade sein.“
Nach einer bangen Pause tritt der alte Senator Nusch vor mit den Worten:
„In Gottes Namen, Feldherr, will ich’s wagen.“
Er spricht sein Glaubensbekenntniß, nimmt den riesigen Pokal in beide Hände und beginnt zu trinken.
Er trinkt langsam und mit Berechnung. Er braucht viele Minuten, und während dieser ganzen Zeit herrscht in dem Publicum eine athemlose Stille, sodaß man hätte eine Stecknadel zur Erde fallen hören. Von dem Gange des Stückes im Allgemeinen unterrichtet, hielt ich diesen Moment für den Augenblick höchster Gefahr. Der Hergang konnte erhebend, aber er konnte auch lächerlich wirken; denn das Trinken an und für sich ist kein heroischer Act, sondern muß erst durch die Umstände dazu werden. Aber es wurde in der That dazu: der Hergang wirkte erhaben und erhebend.
Der alte Senator, der sich opfert für seine Freunde im Rath — die Anstrengung, die es ihn kostet – die Spannung, mit der Alle, die sich auf der Bühne befinden, dem peinlichen Wagnisse folgen, die Einen mit Schadenfreude und Neugier, die Anderen zwischen Furcht und Hoffnung hin- und hergeworfen — der lebhafte Ausdruck, welchen diese wechselnden Gefühle bei den verschiedenen Darstellungen finden — die Theilnahme des Publicums für das Schicksal der Stadt und ihrer Vertreter — Alles das mag gleichmäßig dazu beigetragen haben, diese mächtige Wirkung zu erzielen. Es fiel uns ein Stein von dem Herzen, als der alte Nusch seine Herculesarbeit endlich bezwungen. Er sinkt in einen Sessel, aber er hält sich da aufrecht, während man ihn beglückwünscht, und Tilly spricht:
„Ich gab mein Wort. Ich werd’ es redlich halten;
Es wäre doch wahrhaftig jammerschad’,
Die Welt solch edler Recken zu berauben;
Der Trunk gilt mir für eine Heldenthat.“
Der Bürgermeister und der Henker, welche von der Wache vorgeführt werden, während der Letztere auf das Lebhafteste versichert, er werde nie Hand anlegen an seine hohe städtische Obrigkeit, werden in Gnaden entlassen.
Tilly appellirt an die Nachwelt, welche ihn hoffentlich glimpflicher beurtheilen werde, ihn
„Den rauhen Sprößling einer rauhen Zeit.“
Und dann folgt zum Schluß noch ein ergreifendes Lied, das die Rothenburger unter Glockengeläute und Orgelspiel (der Jacobi-Kirche) singen.
Der Eindruck der Festvorstellung war auf Alle ein tiefer. Einige wollten etwas allzu viel städtischen Localpatriotismus in dem Stücke finden. Andere sprachen von Reminiscenzen an Schiller, und namentlich an Wallenstein. Aber schließlich einigte man sich dahin, den idealen Schwung zu bewundern, der jedoch die getreue Localfarbe nicht ausschließt, die durch Dialektanklänge sehr glücklich erhöht und belebt wird — und dann sich die Moral aus dem Stück zu entnehmen: Aufrichtiger Patriotismus für Kaiser, Reich und Vaterstadt, aber auch treues Festhalten an bürgerlicher, politischer und religiöser Freiheit, vor Allem aber keine Religionsfeindseligkeiten mehr, keine Hetzdominicaner, keinen Dreißigjährigen Krieg, sondern Frieden und Freiheit! Das waren die Gefühle und die Gedanken, die in dem Ganzen nachklangen, als wir gegen ein Uhr den Rathhaussaal verließen.
Dem Festspiel des Vormittags folgten am Nachmittage der Festzug und das Volksfest.
Der Zug, welcher die Stadt von einem Ende bis zum andern durchzog und den unser Hauptbild veranschaulicht, bestand aus drei Gruppen. Erstens die Rothenburger. Zweitens die Kaiserlichen. Drittens der Troß und das Volk.
Das Hauptschaustück war der prachtvoll decorirte, von vier auserwählten Pferden gezogene Festwagen, auf welchem stehend die Rothenburga thronte, eine majestätische Schönheit, die städtische Mauerkrone auf dem Haupte. Neben ihr saßen die Bürgermeisterin und Magdalena mit den beiden Kindern. Dann folgte der hohe Rath nebst seinem Kellermeister und seinem Scharfrichter. Den Schluß machten die Schweden und die Rothenburger Bürger in Waffen. Die am Morgen Gefallenen sind wieder am Leben. Das war die erste Gruppe.
An der Spitze der zweiten sehen wir Tilly mit seinen Fürsten und Generalen; auch der Dominicaner fehlte nicht. Er war, wenn wir nicht irren, zu Esel. Dann folgten Pfeifer und Trommler, eiserne Reiter und Landsknechte. Den Schluß machten die drei Geschütze, darunter eines gesprungen. Auch Alles wirkliche Geschütze von 1631.
Die ganze Pracht des mit bewundernswerther historischer Treue costümirten Zugs konnte sich natürlich auf der Straße weit besser entfalten als auf der engen Bühne.
Und daß auch der Humor, der bei einem Volksfeste nicht fehlen darf, nicht zu kurz kam, dafür sorgte die dritte Abtheilung: Der Marketenderwagen, der Wagen der Marodeure, der Feldscheer und der Bader; Alles das riß die Zuschauer zu ausgelassener Heiterkeit hin.
Draußen auf dem Walle aber, an jener Stelle, welche „die Katze“ genannt wird, beim Kummer-Eck-Thurm und an dem 1631 gesprengten „Ganser“ lagerten wir uns, sowohl die Mitglieder des Festzugs, wie auch die Anderen, das Publicum, das ihm das Geleit gab. Es waren Scenen wie in „Wallenstein’s Lager“. Die Feldherren hatten ihr Zelt. Desgleichen die Damen und die Männer des Rathes. Auch wir profanen Gäste wurden mit der größten Liebenswürdigkeit zugelassen. Musik und Gesang lösten einander ab, und die riesigen steinernen Maßkrüge kreisten so fröhlich. Die Feindschaft hatte ausgespielt. Tilly trank vergnügt mit Nusch und, wie man bemerkt haben will, war er ihm im Trinken sogar über. Die Männer, welche sich am Morgen wollten köpfen lassen, fraternisirten mit einander, und selbst der roth gekleidete Henker nahm Theil an dem allgemeinen Behagen und legte nicht einmal sein blitzendes Beil weg, als ich mit ihm anstieß. Es war freilich von Pappe.