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Das Volkstestament der Deutschen Christen

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Textdaten
Autor: Karl Fischer (1896–1941)
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Titel: Das Volkstestament der Deutschen Christen
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Herausgeber: Bekennende Evangelisch-luth. Kirche Sachsens
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1940
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Erscheinungsort: Dresden
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Quelle: Scan (PDF), elk-wue.de, hlb-wuppertal.de
Kurzbeschreibung: Kritik eines evangelischen Pastors am Volkstestament (vgl. Die Botschaft Gottes)
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[I]
Schriftenreihe „Um Evangelium und Kirche“. Heft 18


Das
Volkstestament
der
Deutschen
Christen
Von
Pfarrer Karl Fischer in Dresden




Dresden 1940
Herausgegeben von der Bekennenden Evangelisch-luth. Kirche Sachsens, Dresden A 1, Johann-Georgen-Allee 31

[1]
Das Volkstestament
der Deutschen Christen


Wenn die Bibel nicht nur im Glasschrank liegen, sondern wirklich gelesen werden soll, dann wird die dauernde Arbeit am deutschen Bibeltext eine unabweisbare Aufgabe sein. Wir können uns nicht daran genügen lassen, den Bibellesern den alten Luthertext in die Hand zu geben. Schwere Stellen müssen neu überdacht und aus dem heutigen Sprachverständnis neu gestaltet werden. Und darum können wir es nur begrüßen, wenn gegenwärtig von allen Seiten Versuche gemacht werden, in neuen Bibelübersetzungen der Bibel zum besseren Verständnis und zur Wirkung im Leben des einzelnen zu verhelfen. Nur eines muss das Grundgesetz für alle Übersetzer bleiben, daß sie mit heißem Bemühen dem Text gerecht werden, damit sie wirklich das sagen, was im Texte steht.

Die Deutschen Christen haben das, was andere persönlich tun, als offizielle Aufgabe aufgenommen und damit vor aller Öffentlichkeit dargetan, wie sie das Bibelwort dem Geschlecht von heute zu übermitteln gedenken. Es liegt freilich bisher keine Übersetzung der ganzen Bibel vor, nicht einmal eine solche des Neuen Testaments, sondern nur eine solche der ersten drei Evangelien[1] und zwar in Gestalt einer sogenannten Evangelienharmonie, also eine fortlaufende Zusammenstellung der Jesusgeschichten, die im einzelnen nicht erkennen läßt, woher der Text stammt, sondern sich die am geeignetsten erscheinende Form aus dem einen der Evangelien auswählt.

Gegen das Unternehmen einer solchen Evangelienharmonie ist an sich nichts einzuwenden. Solche Versuche sind schon sehr früh in der christlichen Kirche gemacht worden, und erst kürzlich hat auch die Württembergische Bibelgesellschaft eine solche Zusammenstellung unter dem Titel „Die Jesusgeschichte“[2] veröffentlicht. Aber den Versuch, den die Deutschen Christen mit ihrem Volkstestament [2] vorlegen, das sie zu dem billigen Massenpreis von 30 Pf. unter das Volk bringen, ist viel mehr, bzw. viel weniger als eine Evangelienharmonie. Das Volkstestament der Deutschen Christen ist ein für die Gegenwart „gereinigtes“[3], nach modernen Grundsätzen „in Ordnung gebrachtes“[4] Evangelium.

Diese Veröffentlichung ist für die Geschichte des kirchlichen Lebens in Deutschland zweifellos ein Ereignis. Die Deutschen Christen empfinden das auch selbst und lassen das an dem gewiß nicht anspruchslosen Namen erkennen, den sie ihrem Volkstestament gegeben haben. „Die Botschaft Gottes“[1] nennt sich das kleine Büchlein von 96 Seiten. Wir werden nach alledem in diesem Buch ein maßgebliches Bekenntnis erblicken dürfen und können nur dafür dankbar sein, daß uns auf diese Weise endlich auch klar die Frage beantwortet wird, was die Deutschen Christen von der Heiligen Schrift eigentlich gelten lassen. Die Veröffentlichung des Volkstestaments befreit uns von allen Mutmaßungen, Übertreibungen und Beschönigungen. Wir wissen nunmehr eindeutig, woran wir sind.

Das Neue Testament soll nicht beseitigt werden. Diese Tatsache erweckt in uns die Hoffnung, daß noch nicht die letzten Brücken zur christlichen Kirche abgebrochen sind. Und es ist gewiß ehrlich gemeint, daß das Volkstestament dem Worte Jesu wieder den Weg zum deutschen Volk bahnen möchte. Walter Grundmann, der die Hauptarbeit an diesem Buche geleistet hat und in seinem Nachwort sowie in anderen Veröffentlichungen als Wortführer für das gesamte Unternehmen auftritt, ist nach seinen eigenen Worten von der Überzeugung geleitet, „daß unser deutsches Volk dadurch seinem Herzensfrieden und seiner Einung auch auf dem Gebiete des frommen Lebens nähergebracht wird, wenn man ihm eine neue echte Begegnung mit Jesus von Nazareth und der in seinem Wort und seiner Person liegenden Kunde von Gott ermöglicht.“[5] Eine neue echte Begegnung mit Jesus – wer wünscht sich das nicht?

Aber was heißt echte Begegnung? Schon da muss die Feststellung gemacht werden, daß Grundmann keine Begegnung mit dem biblischen Christus sucht, sondern daß er die Möglichkeit einer Begegnung mit Jesus überhaupt nur gegeben sieht, wenn aus den Evangelien alles verschwindet, was eine solche Begegnung erschwert. Darum steht Grundmann nicht wie einst Luther [3] vor der Frage, wie er seinen lieben Deutschen das Wort Gottes rein und lauter predige, sondern vor der ganz anderen Frage, wieviel er vom Wort der Bibel seinen Zeitgenossen noch zumuten kann. So verschiebt sich auch der Maßstab völlig. Es wird nicht von der Bibel aus das Lot an unsere Zeit gelegt, sondern die Zeit legt das Lot an die Bibel. Die Grundsätze der Arbeit werden nicht dem Neuen Testament entnommen, sondern von außen herangetragen.

Grundmann spricht von einer dreifachen Verantwortung, von einer wissenschaftlichen, von einer christlichen, von einer deutschen Verantwortung. Das sind nun sehr verschiedenartige Dinge. Nicht, daß es widersprechende Dinge seien, oder daß nicht eine Sache von verschiedenen Gesichtspunkten her zu gleicher Zeit angefaßt werden könnte! Aber wieviel Fragen sind mit jedem einzelnen dieser Gesichtspunkte gestellt! Es gehört schon ein ungewöhnliches Maß von Selbstvertrauen dazu, ein Büchlein mit dem Anspruch vorzulegen, daß es den gesicherten Ergebnissen der Wissenschaft entspreche. Aber wie muß dieses Selbstvertrauen ins Ungemessene gesteigert sein, wenn jemand damit auch noch der gegenwärtigen Stunde des Christentums den befreienden Dienst leisten und dem deutschen Volk „die letzten tragfähigen religiösen Kräfte … in einer positiven Verbindung mit dem Glauben seiner Väter“[6] vermitteln will. Wenn soviel auf einmal gewollt wird, muß einem nachdenklichen Beobachter die Frage kommen, was denn nun schließlich bei dem Ganzen die eigentlich leitende Grundidee ist, die ausgesprochen oder unausgesprochen das Ganze beherrscht.

Wir möchten nicht den Eindruck erwecken, als ob wir die Frage der sogenannten Bibelkritik oder besser der kritischen Bibelforschung einfach vom Tische wischen wollten. Es ist schon richtig, daß an diesem Punkte der Gemeinde gegenüber viel versäumt worden ist, und daß auf diese Weise mancher hilflos feindlichen Angriffen ausgesetzt war, die er bei besserer Belehrung mit Leichtigkeit hätte abwehren können. Aber haben wir nicht gerade von der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Neuen Testament gelernt, daß die Evangelien bereits Bekenntnisbücher der christlichen Gemeinden sind, und daß es sinnlos und unmöglich ist, hinter diese Bücher zurückzugehen und aus dem Bekenntnis zu Jesus Christus das „geschichtliche“ Leben Jesu von Nazareth mit seiner „schlichten Botschaft“[3] herauszuschälen. Ist es eine [4] Forderung der Wissenschaft, die Evangelien nicht das sein zu lassen, was sie ihrem eigenen Willen nach sind? Müssen wir nicht die Frage stellen: Welcher Wissenschaft? Für die Herausgeber des Volkstestaments gelten als selbstverständliche wissenschaftliche Voraussetzung allerlei Grundsätze, die keineswegs Allgemeingut der neutestamentlichen Wissenschaft sind. Grundmann und seine Mitarbeiter erwecken den Anschein, als ob ihre wissenschaftlichen Voraussetzungen von allen Fachleuten geteilt würden, nur mit dem Unterschied, daß von ihnen mutig vor aller Öffentlichkeit die angeblich unerläßlichen Schlussfolgerungen gezogen werden. Es ist für Grundmann selbstverständlich, daß alles aus der „Botschaft Gottes“ herauszustreichen ist, was dem modernen Menschen unmöglich scheint.[7] So müssen alle Wunder fallen, die nicht natürlich zu erklären sind. Die Krankenheilungen bleiben bis auf wenige Ausnahmen stehen[8] – sie können ja Auswirkungen natürlicher Heilkräfte sein! Immerhin wird auch die Heilung der zehn Aussätzigen gestrichen und zwar mit der Begründung, daß sie deutlich eine legendäre Geschichte darstelle, und die Geschichte von der Speisung der Fünftausend wird in einer Form wiedergegeben, die den Wundercharakter völlig zurücktreten läßt.[9] Legendär sind aber vor allem die anderen Wundererzählungen, das Meerwandeln des Petrus und das Erscheinen Jesu auf dem See, der wunderbare Fischzug, die Verfluchung des Feigenbaums und selbstverständlich die Geschichte vom Jüngling zu Nain. Die Erzählung von der Tochter des Jairus findet Gnade, weil sie noch die Möglichkeit einer rein natürlichen Erklärung bietet. Sie steht bezeichnenderweise unter der Überschrift: „Vom Tode Gezeichnete stehen auf!“[10]

Bei folgerichtiger Durchführung dieser Grundsätze dieser Grundsätze können aber vor allem die Geburts- und Auferstehungsgeschichten nicht aufrechterhalten werden. Grundmann sieht sich in der Tat hier vor einer „ernsten Frage“. Er muss grundsätzlich feststellen: „Ursprung und Ausgang des Christus (!) sind und wesentlich nur durch den Schleier keuscher Dichtung bekannt.“[11] Das ist eine etwas weitmaschige Formulierung, die nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß in Wirklichkeit Kindheits- und Ostergeschichten ebenso zu streichen wären wie die oben genannten Wundererzählungen. Nun, zum guten Teil müssen diese Geschichten auch das gleiche Schicksal erleiden wie die übrigen „Legenden“.[12] Aus der Jesusgeschichte verschwinden die Erzählung von dem Traum [5] des Joseph und der darauffolgenden Heimholung der Maria, die Erzählung vom bethlehemitischen Kindermord und der Flucht nach Ägypten. Die Kindheitsgeschichten des Täufers entfallen ganz. Es bleibt nur ein Stück aus dem Lobgesang des Zacharias. Aber mit diesem Stück ist eine sehr merkwürdige Verwandlung vorgegangen, die für die Haltung der Herausgeber des Volkstestaments überaus bezeichnend ist. Während im Neuen Testament dem Täufer Johannes die Verheißung gilt: „Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Du wirst vor dem Herrn hergehen, daß du seinen Weg bereitest“, läßt das Volkstestament „einen anderen Seher“[13] im Zusammenhang mit der Simeongeschichte diese Verheißung auf Jesus gemünzt sein. Von dem Jesuskind wird gesagt: „Du, Kind, bist zum Sendling des Höchsten ersehen, du gehst vor ihm her und bahnst ihm den Weg.“[14] Selbst ein flüchtiger Leser wird merken, wie folgenschwer diese Veränderung ist. Hier wird völlig offenbar, daß Jesus für die Deutschen Christen nicht der Herr ist, sondern nur ein „Sendling des Höchsten“. Er ist nicht Gott im Fleisch des Menschen, er ist Mensch wie wir alle, und alle großen Worte über ihn können nichts daran ändern, daß er seinem Wesen nach nicht auf die Seite Gottes, sondern auf die Seite des Menschen gehört.

Was wollen unter solchen Umständen dann überhaupt noch die Geburtsgeschichten im Volkstestament? Nun, Grundmann weiß, daß sie eigentlich nicht mehr darin stehen dürften. Sie stehen „noch“ da, weil die Beseitigung dieser Geschichten einfach nicht gewagt wird. Grundmann rechtfertigt die an sich nicht zu rechtfertigende Beibehaltung mit dem Satze: „Diese Perikopen, die in besonderer Weise ein Stück deutschen Volksglaubens und deutscher Kunst geworden und die in ihrem Charakter original christlich sind, können in einem Volkstestament nicht fehlen“[11][15] Natürlich schneidet auch hier die Schere allerlei weg. Bethlehem soll verstanden werden als das sonst sehr wenig erwähnte galiläische Bethlehem.[16] Das jüdische Land und die Stadt Davids dürfen nicht in Erscheinung treten, und in der Verkündigung des Engels darf es nicht mehr heißen „Christus der Herr in der Stadt Davids“, sondern nur in Anlehnung an die frühmittelalterliche Schreibweise: „Krist der Herr“[17]. In der Geschichte von den Weisen aus dem Morgenlande fehlt das Zwischenspiel mit dem König Herodes, was damit begründet [6] wird, „daß die deutsche Volkskunst sich um dieses Stück selten gekümmert hat“.[18] (!)

Wenn diese Gesichtspunkte so wichtig sind, daß sie selbst wissenschaftlichen Grundsätzen gegenüber durchschlagen, dann haben wir schließlich ein Recht zu fragen, ob nicht diese Gesichtspunkte von vornherein die entscheidenden sind. Grundmann meint, daß man die evangelischen Erzählungen von den Deutungen befreien müsse, die sie von den einzelnen Evangelisten bekommen hätten. Auf diese Weise soll das gereinigte wirkliche Bild Jesu von Nazareth hergestellt werden. In Wirklichkeit tritt aber nur an Stelle der Deutung der Evangelisten, die immerhin die „Deutung“ der christlichen Gemeinde ist, die Deutung der Deutschen Christen, die Einpressung der Evangelien in einen zuvor festgelegten Rahmen.[19] Und es hat etwas ungeheuer Erschütterndes an sich, daß man die frohe Botschaft, die uns die Quelle alles Heils ist, auf einmal zum Material für eine völlig anders geartete Lebenswelt werden sieht. Es sind alles alte Bekannte, es sind die Geschichten, die man alle von Kindesbeinen an kennt, aber man kennt sie nicht recht wieder, sie sind in ein fremdes Gewand gekleidet, und man fühlt instinktiv, daß ihnen mit dieser Maske etwas angetan worden ist. Mir war beim Lesen zumute, als ob ich die wohl vertrauten Quadern eines Domes eingerissen und als Bausteine zu einem ganz neuen Gebäude verwendet sähe.

Die Deutung des Evangeliums, die uns hier entgegentritt, ist die Deutung einer ganz bestimmten Welt- und Religionsanschauung, die nicht von der Bibel als Wort Gottes herkommt, sondern in ihr den Ausdruck einer an und für sich vergangenen Weltanschauung sieht, aus der nur so viel übernommen werden kann, wie sich mit der eigenen Anschauung verträgt. Die Herausgeber des Volkstestaments sehen ganz offenkundig vor allem ihre Aufgabe darin, den antisemitischen Einwänden gegen die Bibel und insbesondere gegen die Evangelien zu begegnen. Sie sehen sie nicht etwa darin, daß sie die Verschiedenheit der Judenfrage von heute und einst dartun, auch nicht darin, daß sie am Beispiel des jüdischen Volkes zeigen, was es bedeutet, sich gegen Gottes Willen zu entscheiden und dadurch das zugesagte Heil zu verlieren. Israel hat nicht durch seine Absage an Jesus Christus das Heil verloren, es hat überhaupt nie das Heil gehabt. Ja noch mehr, es gibt überhaupt keine Heilsgeschichte, der [7] es gibt nur eine Geschichte wechselnder religiöser Anschauungen. Es gibt keine Geschichte Gottes mit der Menschheit, es gibt nur eine Geschichte von Gottesbildern, die der Mensch sich selbst macht, und es ist nur ein Anknüpfen an eine nun einmal vorhandene Überlieferung, daß biblische Stoffe noch in die gewandelte Weltanschauung mit übernommen werden.

Im Volkstestament der Deutschen Christen fehlt jede positive Verbindung Jesu mit dem Alten Testament. Christus ist hier nicht Erfüller, sondern Zerstörer, er ist der große Revolutionär, der zu seiner Zeit nur ein Nein zu sagen hat. Die großen Kampfgeschichten finden wir alle wieder.[20] Wir finden wieder, was Jesus gegen die Sabbatgesetzlichkeit zu sagen hat, wenn es auch verwundern mag, daß fast überall allgemein vom Feiertag[21] statt vom Sabbat[22] gesprochen wird. Wir finden wieder die Auseinandersetzung mit der pharisäischen Gesetzlichkeit und die großen Wehen gegen die Pharisäer selbst, finden wieder das Gespräch über die Ehescheidung, die Drohung gegen Jerusalem, in dem die Propheten gesteinigt werden, das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum, die Geschichte vom großen Gastmahl. Und wo Klagen und Anklagen zu erheben sind, da werden auch die israelitischen Namen genannt: Jerusalem[23], Kapernaum[24], Chorazin[25], Bethsaida[26]. Selbstverständlich wollen auch wir keine von diesen so überaus ernsten Erzählungen missen. Sie sind uns der furchtbarste Spiegel, der uns entgegengehalten werden kann. Wir haben uns ja vor ihnen zu fragen, ob wir nicht selbst in gleiche Schuld zu geraten drohen, ob nicht wir selbst dem Geist der Selbstgerechtigkeit und Unduldsamkeit verfallen, der die Pharisäer an Jesus Christus so entsetzlich schuldig werden ließ. Aber die Herausgeber des Volkstestaments fühlen sich durch die Schuld Israels nicht in ihrem eigenen Gewissen angesprochen. Sie fühlen sich nirgends zu dem Bekenntnis veranlaßt: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer, die haben dir erreget das Elend, das dich schläget und das betrübte Marterheer.“[27] So wie die Erzählungen zusammengestellt sind, schaut uns aus ihnen nicht die eigene, sondern eine fremde Schuld an, an der sich der Leser völlig unbeteiligt fühlen soll und darf.

Dieses Bild muß entstehen, wenn die andere Seite einfach unterschlagen wird, wenn jegliche Anknüpfung an die Welt des Alten Testaments als bloße spätere Deutung durch die Evangelisten [8] gelisten ausgeschieden wird. Solche Ausscheidung geschieht sogar dort, wo diese Beziehung zur Beleuchtung des Gegensatzes zwischen Altem und Neuen Testament dienen könnte wie in der Geschichte vom Hauptmann zu Kapernaum, die nach dem Matthäustext wiedergegeben wird[28], um den Lukasvers zu umgehen „Er hat unser Volk lieb und die Schule hat er uns erbaut“, aber ohne die Mahnworte: „Ich sage euch: Viele werden kommen vom Morgen und vom Abend und mit Abraham und Isaak und Jakob am Tische sitzen, aber die Kinder des Reiches werden ausgestoßen in die Finsternis hinaus, da wird sein Heulen und Zähneklappen.“ Diesen Vers, der zu den härtesten Worten Jesu gegen das fromme Israel gehört, getraute man sich offenbar seinen Lesern nicht verständlich genug machen zu können. Unter diesen Umständen brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Leute beim Einzug Jesu in Jerusalem nicht rufen dürfen: „Hosianna dem Sohne Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“, sondern sich auf den Zuruf beschränken müssen: „Heil und Segen dem Gottgesandten! Gelobt sei Gott!“[29] Auch die rufenden Blinden dürfen in Jesus nicht den erwarteten Messias begrüßen, wie sie es nach dem einmütigen Zeugnis aller Evangelisten tun mit der Bitte: „Ach Herr du Sohn Davids, erbarme dich unser.“ Bartimäus darf nur sagen: „Krist Gottes, erbarme dich mein“, obwohl doch schon das Wort „Christus“ die gleiche Bedeutung wie das Wort „Messias“ hat. Die Geschichte vom kananäischen Weib fällt ganz aus. Sie sei in ihrem Grundcharakter nicht erkennbar, meint Grundmann.[11] An dieser Geschichte muß ja alles den deutsch-christlichen Leser stören, der Bittruf der Frau „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich mein“, die harte Antwort Jesu „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel“, und gar die Zuspitzung „Es ist nicht fein, daß man den Kindern ihr Brot nehme und es vor die Hunde werfe“. Es darf eben nichts vor die Augen des Lesers kommen, was ihn irgendwie in seinen gewohnten Anschauungen beunruhigen könnte, nichts, womit er sich auseinandersetzen müßte. Es wird sogar in der Geschichte vom alten Simeon verschwiegen, daß sie im Tempel spielt. Wir hören nur, daß die „Eltern mit dem Jesuskind kamen, um es vor Gott zu bringen.“[30] Man wundert sich nur, daß von diesen Grundsätzen immer einmal Ausnahmen gemacht werden, daß z. B. die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel aufgenommen worden ist und [9] darin sogar das Wort steht: „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß, wo mein Vater ist?“ Auch der Messiasanspruch Jesu in Nazareth ist nicht gestrichen. Wir bekommen das Aufschlagen der Jesajastelle erzählt, auf deren Verlesung hin Jesus das große Wort spricht: „Heute ist dieses Schriftwort erfüllt vor euren Ohren.“ Aber vielleicht wird unsere Verwunderung etwas geringer, wenn wir die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel auch um ihrer Behandlung in der deutschen Kunst willen in das Volkstestament aufgenommen ansehen. Und bei der Szene in Nazareth, die auch den Herausgebern unseres Büchleins als ein Stück vollmächtiger Verkündigung noch wertvoll ist, braucht man nur den Luthertext neben die Grundmannsche Übersetzung zu stellen, und man wird merken, wie der besondere Messiasanspruch Jesu dabei zurücktritt. Es mag diese Nebeneinanderstellung zugleich als Beispiel für die Sprache des Volkstestaments dienen. Bei Luther heißt es: „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn.“ Das Volkstestament gibt die Übersetzung der Jesajastelle in folgenden Worten: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich erkoren, Gottsuchern Heil zu künden; er hat mich gesandt, zu verheißen Gefangenen Freiheit und Blinden Gesicht, aufzurichten Gebrochene, auszurufen das Heilsjahr des Herrn.“ Die Sprache ist flüssig und wohlkingend. Aber es ist gewiß kein Zufall, daß das Wort von der Salbung vermieden wird, daß die Gottsucher an Stelle der Armen treten genau wie bei der ersten Seligpreisung, die im Volkstestament die Fassung erhält: „Heil euch Gottsuchern. Euch gehört Gottes Reich.“ So werden fast unmerklich die Worte Jesu um ihre Eigenart gebracht und ins Allgemeine einer auch sonst gültigen Lebensweisheit abgebogen.

Gelegentlich führt die Sorge vor „Judaismen“ allerdings zu noch schärferen Eingriffen in den Text. Die Antwort Jesu auf die Frage des Pilatus: „Bist du der Juden König?“ lautet nicht wie im Urtext: „Du sagst es“, sondern: „Das hat man dir erzählt.“ Und im Fortgang der Verhandlung fragt Pilatus weiter: „Was soll ich denn mit dem anfangen, den ihr mir als [10] Judenkönig bezeichnet? Das sind keine Übersetzungen mehr, sondern Eingriffe, über die jeder selbst das notwendige Urteil fällen mag. Auf Konto dieser Sorge kommt auch die Streichung von Geschichten, die aus irgendeinem Grunde heute als „jüdisch“ verschrieen sind, die also dem Sperrfeuer des Spottes unterliegen. Es wird also nicht der Versuch gemacht, die Zeitgenossen zu einem besseren Verständnis zu führen, sondern man gibt lieber die umkämpften Geschichten preis. Auf diese Weise entfallen die Gleichnisse vom Schatz im Acker, von den klugen und törichten Jungfrauen, vom reichen Mann und armen Lazarus. Das erstere wird verworfen, weil es sich ähnlich schon bei den Rabbinen findet, die beiden anderen entstammten der Anschauungswelt der „Stillen im Lande“, der Anawim, nicht der Anschauungswelt Jesu.

Wir wollen Grundmann nicht in den Arm fallen, wenn er die tiefen Gegensäte zwischen Jesus und dem Judentum seiner Zeit aufzeigt, wie er es ausführlich in seinem Buche „Jesus der Galiläer und das Judentum“ tut. Die christliche Gemeinde hat immer die Botschaft Jesu auf dem Hintergrunde der pharisäischen Frömmigkeit gesehen, und im Lebenswerk des Apostels Paulus wird es noch einmal deutlich, wie sehr der Gegensatz Jesu zum Gesetz die frohe Botschaft von der Gnade bestimmt. Aber was uns von Grundmann und allen seinen Freunden im tiefsten trennt, das ist seine Auffassung von dieser Auseinandersetzung. Für Grundmann ist die Botschaft Jesu nicht das endgültige Heraustreten Gottes aus seiner Verborgenheit, nicht die Vollendung einer von Anbeginn der Welt laufenden Heilsgeschichte. Eine Heilsgeschichte gibt es, wie wir schon feststellten, für Grundmann überhaupt nicht. Er könnte niemals das Bibelwort aufnehmen: „Nachdem vor Zeiten Gott manchmal und auf mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn.“ Für ihn gibt es keine Väter und keine Propheten, gibt es keine in bestimmten Einzelereignissen und in bestimmten Männern sich vollziehende Geschichte Gottes mit der Menschheit, es gibt in Wirklichkeit nur die Auseinandersetzung verschiedener Religionen. Zwischen Jesus und den Pharisäern geht es um den Gegensatz zweier Religionen, die nach ihrem Lebenswert zu fragen sind, die aber als solche zunächst nur Ereignisse auf dem Felde des menschlichen Geisteslebens sind. Die Botschaft Jesu wird nicht [11] deswegen anerkannt, weil sie seine Botschaft ist und als gültiges Wort vor uns tritt, sondern sie wird anerkannt, weil und soweit sie dem entspricht, was uns auch ohne Jesus Lebenswert ist. Für Grundmann gibt es darnach überhaupt kein Altes Testament. Es gehört in seine Bibel, wenn man dieses Wort hier noch aussprechen darf, nicht hinein. Denn wenn er auch nicht nur negative Beziehungen zum Alten Testament kennt, so bestreitet er doch ausdrücklich seine Heilsnotwendigkeit und empfindet seine Benutzung als unnötigen Umweg über die israelitische Geschichte. Er muß folgerichtig auch seinem Jesus das Alte Testament aus der Hand nehmen, und er tut das, indem er sich in seinem Buche „Jesus der Galiläer und das Judentum“ ausdrücklich zu dem Urteil von Emanuel Hirsch bekennt, daß das Alte Testament nur der durch Gott gefügte geschichtliche Boden der Sendung Jesu sei, daß aber von einer Anerkennung des Alten Testaments als verbindlicher Gottesoffenbarung bei Jesus nicht die Rede sein könne. Die Deutschen Christen gehen also mit einer vorgefaßten Meinung an die Bibel heran und bekräftigen damit nur unseren Satz, daß sie die Bibel nicht als Maßstab und Richtschnur ihres Glaubens ansehen, sondern die Bibel dem Maßstab einer anderen Welt- und Lebensanschauung unterwerfen.

Das Urteil über das Alte Testament ist zugleich auch ein Urteil über das Neue Testament. Ist das Alte Testament keine Heilsgeschichte, dann ist es das Neue auch nicht, sondern es ist, wie wir schon gesehen haben, das Dokument einer bestimmten Frömmigkeit, der Frömmigkeit Jesu von Nazareth, zu der wir aus allerlei Gründen noch ein positives Verhältnis haben, die aber selbstverständlich unserem Urteil unterliegt. Die Deutschen Christen sprechen gern und oft davon, daß sie die Vollender der Reformation Luthers seien. Hier wird sonnenklar, daß zwischen Luther und den Deutschen Christen ein unüberbrückbarer Abgrund klafft. Luther stand unter dem Wort, und all sein Tun ging darauf aus, die Kirche und die Welt wieder ganz an die Autorität dieses Wortes zu binden. Er hatte gerade in dieser Bindung die große Freiheit seines Lebens gewonnen. Er hat in eine Bibel eigenhändig die Mahnung hineingeschrieben: „Ihr, unsere Nachkommen, betet auch mit Ernst und treibet Gottes Wort fleißig; erhaltet das arme Windlicht Gottes; seid gewappnet und gerüstet, als die alle Stunden gewarten müssen, wo euch der Teufel etwa eine Scheibe oder ein Fenster ausstoße, [12] Türe oder Dach aufreiße, das Licht auszulöschen.“ Für die Deutschen Christen gibt es solche Sorgen nicht. Sie stehen nicht unter dem Wort, sondern über dem Wort. Sie dekretieren, was von der Bibel noch gelten darf und was nicht. Darum fehlt ihnen jegliche Ehrfurcht und Demut gegenüber der Heiligen Schrift. Sie stellen sich bewußt außerhalb der Gemeinde, für die ein solcher Umgang mit der Bibel einfach unerträglich ist. Ich habe dieser Ehrfurchtslosigkeit gegenüber dasselbe Gefühl wie jene Hausfrau, die einem Gast die alte Familienbibel wieder aus der Hand nahm, weil er sie mit spitzen Fingern und mit einer brennenden Zigarette in der Hand aus dem Bücherregal genommen hatte.

Diese Ehrfurchtslosigkeit zeigt sich auch in der Art, wie die Übersetzer im einzelnen mit dem Wortlaut der Bibel umgehen. Es sollen unverständlich gewordene Worte ausgemerzt werden und durch verständlichere ersetzt werden. In Wirklichkeit wagen die Herausgeber Grundwahrheiten der Bibel ihren Lesern nicht mehr zuzumuten und biegen durch eine andere Übersetzung den ursprünglichen Sinn um. Es ist schon seltsam, daß das Wort „Sünder“ gern in Anführungszeichen gesetzt oder umschrieben wird mit „die ihr für Sünder haltet“, als ob es sich nur um vermeintliche und nicht um wirkliche Sünder handle, womit der leichtfertigen Behandlung einer der ernstesten Fragen Tür und Tor geöffnet ist, und das mit Hilfe einer „Übersetzung“ des Neuen Testaments! Charakteristischerweise schließt das Gleichnis vom verlorenen Schaf mit dem Satz: „So wird sich Gott mehr freuen über einen Gottentfremdeten, der heimkehrt, als über neunundneunzig Selbstgerechte, die nicht nach Heimkehr verlangen.“ Sogar in kleinen Zügen macht sich diese Art geltend. Das Wort „Fasten“ wird mit größter Scheu umgangen. Es wird allgemein von Entsagung gesprochen, und bei der Heilung des Mondsüchtigen, wo Jesus von der Austreibung durch Beten und Fasten spricht, redet das Volkstestament nur von „glaubensstarkem Beten“. Auch das Wort von der Bluttaufe wird vermieden. In einer Zeit, wo wir von Feuertaufe und ähnlichen Dingen zu reden gewöhnt sind, glaubt Grundmann für den christlichen Märtyrertod statt Bluttaufe das Wort „Todesweihe“ einführen zu müssen. Aber es bedarf weiter keiner Aufzählung. Es mag genügen, die eigentliche Verschiebung des biblischen Sinngehalts noch an zwei Beispielen darzutun, indem ich [13] Luthers Übersetzung des Heilandsrufes und der Seligpreisungen neben die des Volkstestaments stelle, zugleich als Beleg dafür, wie dieses Buch mit Kernworten, die jedem Christen in ihren lutherischen Wortlaut sich von Kindesbeinen an eingeprägt haben, umspringt. Der Heilandsruf lautet in der Wiedergabe Luthers: „Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn es ist also wohlgefällig gewesen von dir. Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und niemand kennt den Sohn denn nur der Vater; und niemand kennt den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und vom Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ Das Volkstestament gibt diese Kernstelle in folgender Verdeutschung wieder: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du es den Wissensstolzen und Selbstgerechten verborgen hast, und hast es den kindlich suchenden Herzen offenbart. Vater! daß mich deine Gnade erkor! Alles ward mir anvertraut vom Vater, und keiner hat erkannt, wer der Vater ist, allein der Sohn, und wem es der Sohn offenbart. Her zu mir alle, die ihr euch müht unter des Lebens Last! Ich will euch erquicken. Stellt euch unter mein Gebot und lernet von mir: Durch mich wirkt Gottes Güte, und von Herzen bin ich ihm gehorsam. So wird eure Seele in Gott geborgen. Mein Gebot bringt Freude; was ich auflege, könnt ihr tragen.“ Man beachte, wie alles ins ganz Persönliche, Innerseelische abgebogen wird. Die Stelle „Niemand kennt den Sohn denn nur der Vater“ fehlt ganz!

Bei den Seligpreisungen bedarf es keiner besonderen Erklärungen. Da sie dem Bibelleser wohl vertraut sind, genügt die Gegenüberstellung. In der Lutherbibel lauten sie: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reines [14] Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig find die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel wohl belohnet werden. Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.“ Im Volkstestament lesen wir folgendermaßen: „Heil euch Gottsuchern. Euch gehört Gottes Reich! Heil euch, die ihr hungert nach ewigem Leben, Ihr sollt satt werden. Heil euch, die ihr Kümmernis habt. Ihr sollt froh werden! Heil euch, wenn euch die Leute hassen, schmähen und verfolgen um meinetwillen. Ihr sollt voll Freude und Zuversicht sein, denn Gott wird es euch lohnen. Heil den Gütigen! Ihnen begegnet Gottes Güte! Heil den Aufrichtigen! Sie werden Gott schauen! Heil den Friedensstiftern! Sie sind Gottes Söhne!“

Wer so mit dem Neuen Testament umspringen kann, wer den Mut hat, sich kühn neben die Evangelisten zu stellen und zu schreiben: „Um das Bild von der Person und der Botschaft Jesu zu gestalten, haben wir die Einzelberichte und Einzelworte, die, wie allgemein zugestanden wird, das Urgestein der Überlieferung von Jesus bilden, gesichtet und wie die ersten Evangelisten selbständig geordnet“, der bezeugt damit, daß er das Neue Testament nicht als ein Buch der Kirche ansieht, sondern als ein privates religiöses Buch, mit dem jede Zeit anfangen kann, was sie will. Und die Gemeinde von heute soll das hinnehmen nicht als eine persönliche Zusammenstellung von Gelehrten und Dichtern, sondern als Grundlage für den Gottesdienst! Denn wenn uns auch Grundmann versichert: „Wir wollen Luthers Neues Testament nicht verdrängen oder ersetzen“, so wird diese Versicherung widerlegt durch die Grundsätze, nach denen das Volkstestament hergestellt ist, widerlegt vor allem durch die Praxis in den deutsch-christlichen Gottesfeiern, die sich der neuen Übersetzung bedienen.

Mit dieser Feststellung kommen wir zu dem letzten und entscheidenden Einwand gegen das deutsch-christliche Volkstestament. Seine Verfasser leben nicht in der Kirche und wissen nichts von einer Verantwortung für die Gemeinde, die ja nicht nur die gegenwärtige Generation umfaßt. Ihre These „Christentum, nicht Kirchentum“ wird durch dieses Volkstestament nicht nur [15] bestätigt, sondern in ihrer ganzen Zerstörungskraft enthüllt. Es ist kennzeichnend genug, daß das abträgliche Wort „Kirchentum“ gebraucht wird, wo wir mit ehrfürchtiger Anbetung von der Kirche Jesu Christi reden und singen. Kirchentum – das soll heißen, daß die Kirche nur etwas Äußerliches ist, nur eine Organisation, nur ein menschliches Hilfsmittel, das man ändern oder auch ganz beiseitelegen kann. Nichts, nichts davon, daß die Kirche einen Leib hat wie wir alle unseren Leib haben, und daß bis zum Anbruch des neuen Lebens am jüngsten Tage Leib und Seele nicht getrennt werden können, ohne daß man stirbt. Auch die Seele des „Christentums“, wenn dieses Wort in diesem Zusammenhang überhaupt ein Recht hat, muß sterben, wenn man den dazu gehörigen Leib verneint. Es ist eitel Schwärmerei, Jesus Christus ehren und lieben zu wollen, ohne seine Gemeinde zu lieben. Das Neue Testament muß uns aus den Händen fallen, wenn wir es nicht als Fundament und Bekenntnis der „einen heiligen christlichen Kirche“ in die Hände nehmen. Was kann es für uns als Gemeinde Jesu Christi ausmachen, nach welchen Grundsätzen die Evangelisten die ursprünglichen Erzählungen zusammengestellt und gedeutet haben? Für uns ist das die Ordnung und „Deutung“ der Kirche, das Bekenntnis der Kirche zu dem, was Gott in Jesus Christus für die Menschheit getan hat. Aber freilich – das alles ist für die Männer des Volkstestaments eine fremde Welt. So wenig wie sie eine Heilsgeschichte kennen, die zu Jesus Christus hinführt, so wenig können sie eine Heilsgeschichte kennen, die von Jesus Christus herkommt. Für sie ist der Geist Gottes einfach der in der Geschichte der Menschen waltende Geist. Gott spricht kein besonderes Wort, seine Geschichte geht nicht quer durch alle Menschengeschichte hindurch. Seine Wege sind im Grunde nur die Wege des Menschen, von einem „höheren“ Gesichtspunkt aus gesehen.

Das Nachwort des Volkstestaments schließt mit dem Aufruf: „Lernt mit Jesus glauben an den Vater, und strebt mit ihm nach seinem ewigen Reich.“ Mit Jesus glauben! Die ganze Armut der neuen Verkündigung wird hier offenbar. Aus einem solchen Glauben hätte das deutsche Volk für anderthalb Jahrtausende seine Kraft nicht schöpfen können. Dieser Glaube ist nicht mehr von den ewigen Geheimnissen umwittert, die in der Seele unserer großen Dombaumeister lebten. Diesem Jesus, mit dem wir den Weg des Glaubens gehen sollen, hätte [16] Albrecht Dürer nicht seine ganze Leidenschaft gewidmet. Die Matthäuspassion Joh. Seb. Bachs wäre der Welt nie geschenkt worden, wenn Jesus Christus dem großen Meister nicht der Herr, nicht der Sohn des ewigen Gottes gewesen wäre. Matthias Claudius hätte von einem Jesus, der uns nur ein Vorbild unseres Strebens ist, niemals gesagt: „Wer nicht an Christus glauben will, der muß sehen, wie er ohne ihn raten kann. Ich und Du können das nicht. Wir brauchen jemand, der uns hebe und halte, weil wir leben, und uns die Hand unter den Kopf legt, wenn wir sterben sollen.“ Aber wir brauchen nicht weiter aufzuzählen. Wer in der Kirche lebt, sieht eine Wolke von Zeugen vor sich, die alle, alle im Glauben an Jesus Christus das Heil und die Kraft ihres Lebens gefunden haben. Deswegen beugen wir uns auch unter das ganze Zeugnis der Bibel, in dem allein er uns heute begegnet. Mögen die biblischen Bücher entstanden sein, wie sie wollen – wir lassen die Gelehrten gern ihre Arbeit tun –, für uns sind sie, so wie sie sind, das Werk des heiligen Geistes, der damit die Kirche Christi baut und erhält, und wir zittern vor dem ernsten Wort: „So jemand davontut von den Worten des Buches dieser Weissagung, so wird Gott abtun sein Teil vom Holz des Lebens und von der heiligen Stadt, davon in diesem Buch geschrieben ist.“

Das Volkstestament ist eine neue Station auf dem großen Rückzug der Deutschen Christen aus der Welt der christlichen Gemeinde. Es wird nicht die letzte Station sein. Wir können die Deutschen Christen nicht daran hindern, wenn sie diesen Rückzug organisieren in der Meinung, daß „die Lage des Christentums in der modernen Welt“ ihn notwendig mache, oder wenn sie ihn sogar für einen siegreihen Rückzug halten. Wir können nur sagen, daß wir zu bleiben gedenken, was die Gemeinde Jesu Christi immer war, und daß wir nichts anderes sein wollen als „Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbauet auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.“



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Verantwortlich: Pfarrer Karl Fischer in Dresden
Druck: Dresdner Akzidenz-Druckerei vorm. Rich. Müller, G.m.b.H., Dresden

Anmerkungen (Wikisource)

  1. a b Fischer liegt nicht spätere Ausgabe mit 296 S., sondern eine früher Ausgabe mit 96 S. vor. Für die folgenden Fußnoten wird ausgegangen von Weimar ohne Jahr, 96 S., doi:10.17192/eb2017.0086.
  2. Stuttgart 1939, 208 S., GND.
  3. a b derartige Forderung findet sich in Entschließung des Gaues Groß-Berlin der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“. In: Junge Kirche. Band 1, 1933, S. 322 (geschichte-bk-sh.de).
  4. bei Gottfried Feder: Das Programm der N.S.D.A.P. und seine weltanschaulichen Grundgedanken (= Nationalsozialistische Bibliothek. Nr. 1). F. Eher Nachf., München 1927, S. 14 (DNB). findet sich zwar diese Formulierung. Ein inhaltliche Bezug wird aber nicht direkt deutlich.
  5. S. IX
  6. Walter Grundmann: Unsere Arbeit am Neuen Testament. Grundsätzliche Bemerkungen zu dem von ‚Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘ herausgegebenen Volkstestament. In: Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben (Hrsg.): Verbandsmitteilungen. Nr. 1, 1939, S. 22 (laut Elisabeth Lorenz: Ein Jesusbild im Horizont des Nationalsozialismus. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, S. 22 u. 43, ISBN 978-3-16-154602-0).
  7. S. XI
  8. „Sein Aufbruch“, Z. 77–218 u. 407–415
  9. „Sein Aufbruch“, Z. 381–406
  10. „Sein Aufbruch“, Z. 164–218
  11. a b c Quellenangabe bisher nicht möglich, da der Bearbeitung Volltexte von bsplw. Grundmann: Unsere Arbeit am Neuen Testament (1939) nicht vorliegen
  12. S. XII
  13. „Sein Ursprung“, Z. 71
  14. „Sein Ursprung“, Z. 72f
  15. Entsprechender Gedanke auch auf S. XII
  16. „Sein Ursprung“, Z. 7f
  17. „Sein Ursprung“, Z. 23
  18. Grundmann: Unsere Arbeit am Neuen Testament. 1939, S. 16 (laut Lorenz: Ein Jesusbild im Horizont des Nationalsozialismus. 2017, S. 452)
  19. Vgl. S. XI
  20. „Sein Kampf“, 342 Z.
  21. „Sein Aufbruch“, Z. 60f u. 314; „Sein Kampf“, Z. 23, 34, 35, 37, 54, 65, 77, 78 u. 82
  22. „Sein Kampf“, Z. 26, 33, 39, 50 u. 73
  23. „Sein Kampf“, Z. 220 u. 242
  24. „Sein Kampf“, Z. 285
  25. „Sein Kampf“, Z. 280
  26. „Sein Kampf“, Z. 280f
  27. Paul Gerhardt: O Welt, sieh hier dein Leben. 1647, Strophe 3, EG 84.
  28. „Seine Botschaft“, „Jesus ruft zum Glauben“ Z. 11–26
  29. „Sein Kreuz“, „Der letzten Entscheidung entgegen“ Z. 21f
  30. „Sein Ursprung“, Z. 53