Das Leben einer Frau
Das Leben einer Frau.
Eine laue, wohlige Julinacht voller Sterne breitete ihre Dämmerung über eine Gegend aus, die dazu geschaffen schien, in dieser zitternden Beleuchtung gesehen zu werden. An der fernen Grenze des Horizontes blitzte zuweilen ein flüchtiges Wetterleuchten auf und erhellte mit seinem ungewissen Strahle eine einzeln stehende Mühle, deren Hintergrund, eine hohe, von dunkelgrünen Fichten bekränzte Felswand von rother Färbung, sich scharf von dem hellen Firmamente abzeichnete. Eine hochgewölbte steinerne Brücke, die auf einer Seite ihren Stützpunkt auf dem Felsen hatte, aus dessen Spalten wucherndes Gesträuch hervordrang und sie mit phantastischem Gezweige schmückte, hob sich über den rauschenden Bergstrom, der die Räder der Mühle trieb. Mit Hast wälzten sich seine bewegten Wellen hinab in das anmuthige Thal, das sich vor einem Landhause mit eleganter Façade ausbreitete. Vom Strahl des Mondes versilbert, leuchtete dies freundliche Gebäude hell aus der Mitte eines sorgfältig gepflegten Gartens hervor, dessen tausend Blumen sich neigten und wiegten, als wollten sie mit den Sternen Grüße tauschen.
Als ob dies einsame Haus zu der Berauschung, die über der duftenden Sommernacht schwebte, einen neuen Reiz fügen wollte, öffnete sich plötzlich die Glasthüre, die auf den Balcon von Gußeisen führte, und es erschien die Gestalt einer jungen Frau, die hastig unter die blühenden Oleanderbäume trat, die den Balcon zu einer kleinen Laube umschufen. Das Mondlicht enthüllte, indem es auf ihr reizendes Gesicht fiel, den Ausdruck eines leidenschaftlichen Schmerzes, der mit dem Frieden der stillen Landschaft einen grellen Contrast bildete. Sie sank achtlos auf den Sammtsessel und barg ihr bleiches Gesicht in beide Hände; erst die schweren Thränen, die langsam durch ihre schlanken Finger glitten, weckten durch ihre brennende Berührung die junge Frau aus ihrer Betäubung auf.
„Nein, ich darf ja nicht weinen,“ sagte sie leise vor sich hin, „man würde mich fragen, warum?“ Sie fuhr wiederholt mit der Hand über die brennende Stirn und wandte sich, mit gewaltsamer Anstrengung Ruhe erzwingend, wieder der Balconthüre zu. Der erste Blick, den sie auf die Scheiben warf, ließ sie jedoch auf’s Neue zusammenzucken und hielt sie wie festgebannt.
Und doch war das Bild, das sich ihren Augen bot, friedlich und anlockend. Der große Salon trug den Charakter jener absichtslosen Eleganz, die dem höchsten Comfort auch Grazie giebt. Ueberall waltete der Hauch eines wohlthuend guten Geschmackes, und eine Fülle von Blumen vereinigte sich mit trefflicher Beleuchtung, um diesen Raum höchst wohnlich zu machen.
Neben einem geöffneten Fenster, zu dem sich mächtiger Epheu wie ein Vorhang hineindrängte, stand ein Spieltisch, von dessen Inhabern drei, wie es schien, mehr damit beschäftigt waren, ein heiteres Gespräch zu führen, als den Karten in ihrer Hand zu folgen. Besonders schien ein etwas corpulenter Fünfziger in eifriger Verhandlung mit der gegenüber sitzenden Dame, die in ihrem lebendigen Gesicht einen angenehmen Ausdruck herzlicher Heiterkeit trug; die zweite, ältere Dame schien diesem Gespräch mit Antheil zu folgen, während der Vierte der Partie, ein langer, magerer Herr, mit einem starken Ausdruck von Mißvergnügen, die Brille auf seiner spitzen Nase zurecht rückte und mit steigender Ungeduld auf die müßig ruhenden Karten blickte.
In der Mitte des Zimmers stand ein großer Flügel, dessen volle Töne schon seit einiger Zeit unter der Hand eines jungen Mädchens erklangen. Jetzt wanderten die rosigen Finger zerstreut auf den Tasten umher, während ihr hübsches Gesicht einem jungen Manne in Uniform zugewendet war, der sich auf den Flügel lehnte und lebhaft mit ihr plauderte. Sein ausdrucksvolles Gesicht wäre vollkommen schön gewesen ohne den Zug bitterer Ironie, der häufig die feinen Lippen umgab und den sonst edlen Zügen eine unbeschreibliche Härte aufprägte. Seine feurigen, dunkelblauen Augen hafteten mit einer Art von Zerstreuung auf dem frischen Gesichtchen seiner Zuhörerin, obgleich er mit Lebhaftigkeit sprach. Da traf zufällig sein Blick den der jungen Frau, die noch immer regungslos auf dem Balcon stand und den Knopf der Glasthür maschinenmäßig festhielt. Ein schwaches Roth flog über sein Gesicht, seine Lippen zuckten und er verlor für einen Augenblick den Faden des Gespräches.
Sie öffnete die Thür und trat in’s Zimmer, ein Lächeln auf den Lippen, das aussah wie eine Thräne im Auge. Freundlich näherte sie sich dem Spieltische.
„Nun, meine liebe Emilie,“ rief ihr der dicke Herr zu, indem er ihr die Hand bot, „was bringst Du für Neuigkeiten von den Elfen und Feenkindern, die Du gewiß im Mondlicht hast tanzen sehen?“
„Sind Sie wirklich so begünstigt worden, gnädige Frau?“ sprach der junge Officier, indem er sich näherte. „Fast möchte ich es glauben – ich habe einmal ein Märchen gehört von seltsamen Gaben, die die Elfen vertheilen. Doch sagt man, daß sie dafür die Herzen an sich ziehen und denen, die ihnen gelauscht haben, nichts übrig lassen, als ihre Zauberlehren.“
„Als ich noch ein Kind war,“ sagte Emilie träumerisch, „da hat man auch mir ein Märchen von den Elfen erzählt. Da wohnte [98] in jeder Blumenknospe ein kleines Elfenkind, das webte den Blüthenkelch aus seinen langen, seidigen Haaren, von seinen Wangen giebt es ihm die Farbe, und Glanz und Schmelz von seinen Augen, und wenn es so die Blume aus sich selbst herausgebaut hat, dann weht es ihr mit seinem Athem ihren süßen Duft zu. Wenn aber die Blume welkt, dann ist es der Elfe, der das Köpfchen senkt. Ich konnte dies Märchen nie vergessen, und so oft ich eine Blume breche, sehe ich das kleine Feenkind darin ersterben.“
„Ah, meine gnädige Frau, Sie schwärmen!“ rief Herr von Welly mit einem seltsamen Lächeln. „Wer ließe sich träumen, daß Sie dem Zauberspuk Ihrer Lieblinge so ganz entgangen sind und noch genug von Ihrem Herzen übrig behalten haben, um die Leiden der Blumen mitzufühlen!“ Der höhnische Zug, der ihm eigen war, glitt bei diesen Worten über sein Gesicht, und sein sprechendes Auge traf Emilien mit einem Blick voll Aufregung. Sie wandte sich erbleichend ab und trat an das Fenster.
„Nun, sehen Sie, Herr von Welly, da haben Sie meine Frau böse gemacht,“ sagte Emiliens Gemahl, Herr von Werner, scherzend. „Schnell eilen Sie, sich Vergebung zu erbitten, sonst giebt es einen Friedensbruch in unserm kleinen Hofcirkel, und das würde unsere Königin und Hausfrau nicht gestatten,“ fügte er mit einer Verneigung gegen sein vis-à-vis hinzu.
Welly folgte Emilien in die Fensternische. Ohne ihre Stellung zu verändern, fühlte sie seine Nähe; sie bebte an allen Gliedern, und als seine brennenden Blicke auf ihrem Gesicht ruhten, hob eine magnetische Gewalt ihre Augen zu den seinigen empor. Eine flehentliche Bitte um Schweigen lag in diesen großen, bescheidenen Augen, aber Welly wollte sie nicht verstehen.
„Emilie,“ sagte er in gedämpftem Tone, „wollen Sie mich zur Verzweiflung treiben?“
Sie blieb stumm, während ihr Blick mit einem fast irren Ausdruck auf ihn geheftet war.
„Nun, kaltes Herz,“ sprach er mit Bitterkeit, „so wiederholen Sie denn Ihre früheren Worte, heißen Sie mich gehen, Sie niemals wiedersehn – diesmal werde ich Ihnen gehorchen.“
„Nein,“ erwiderte die junge Frau, während ihre Hand zuckte und ihre Wange todtenbleich ward, „nein, denn ich will und kann Sie nicht verlieren!“
Mit einer stürmischen Bewegung von Glück und Triumph beugte er sich, um seine Lippen auf ihre Hand zu drücken, in diesem Augenblicke ließ sie das Fensterbret los und sank besinnungslos zur Erde.
Die älteste Tochter einer vornehmen, aber mittellosen Familie, war Emilie in ihrem sechzehnten Jahre, zwar ohne Zwang, aber nicht ohne Widerstreben die Frau eines ältlichen Mannes geworden. Einfach erzogen und von ernster Gemüthsrichtung, war ihre Phantasie noch nicht mit selbstgeschaffenen Träumen angefüllt, und sie trug Herrn von Werner, einem bewährten Freunde ihres Vaters, herzliches Vertrauen, selbst Zuneigung entgegen; dennoch fühlte sie, als sie ihr Jawort gab, daß sie damit Vielem entsagte, und die Stimmung, womit sie das elterliche Haus verließ, war keine freudige. Bald aber sollte sie ihr neues Leben lieb gewinnen. Die herzliche Zuvorkommenheit ihres Mannes verschönerte ihre Tage durch viele angenehme Stunden, das Bewußtsein, ihm sein Haus zum angenehmsten Aufenthalt gemacht zu haben, that ihr wohl, sein gebildeter Geist entwickelte den ihren, und sein unbeschränktes Vertrauen gab ihr Zuversicht zum Leben überhaupt. Nur vermißte sie zuweilen mit einem Gefühl von Unbefriedigung bei ihm die Theilnahme für manche Dinge, die einen Theil ihrer inneren Existenz ausmachten – vermißte eben unbewußt die Jugend mit ihrem lebhaften Gefühl, mit ihren süßen Uebertreibungen. Klar, wie ein Thautropfen, lag ihr ganzes Sein und Wesen immer vor dem Auge ihres Gatten, der in ihr den Schmuck seines Lebens sah, ohne jemals ihr und der Welt gegenüber aus der ruhigen Haltung zu kommen, die dem älteren Manne an der Seite einer jungen und schönen Frau so wohl ansteht.
Auf diese Weise waren sechs Jahre vergangen, als diese harmonische Existenz durch einen mächtigen Sturm bedroht ward. Emilie lernte Herrn von Welly kennen, und von dieser Zeit an wich der Friede aus ihrer Seele. Eduard von Welly war einer jener Menschen, denen oft zu begegnen eine gefährliche Sache für eine Frau ist, deren Herz nicht die Liebe zum Wächter hat. Ohne Rang und Vermögen hatte ihm doch seine anziehende Persönlichkeit, sein glänzender Geist und eine unübertreffliche Art sich zu benehmen in der geselligen Welt eine oft beneidete Stellung erworben. Verwöhnt, gesucht, umhuldigt wie eine schöne Frau, hatte ihn dennoch sein scharfer Verstand vor der Klippe lächerlichen Uebermuthes bewahrt, und obgleich der Strudel seines äußerlichen Lebens seine Tage ausfüllte, so war er durch dasselbe keineswegs befriedigt. Eine glühende, wandernde Phantasie, ein schwärmerischer Enthusiasmus, den er vor Aller Augen verbarg wie eine Lächerlichkeit, im Innern seines Herzens aber hegte und pflegte wie ein Paradies, fanden nirgends hinreichenden Stoff. Trotz mancher galanten Verbindungen war sein Herz nie ausgefüllt worden, und er war sich bewußt, in dessen Tiefe Schätze zu tragen, die kein Ungeweihter zu heben fähig war.
Emilie weckte zum ersten Male diese schlummernden Mächte in ihrer ganzen Kraft und Gluth. Sobald er sie sah, liebte er sie. Die klare Lauterkeit, die ihr ganzes Wesen umgab, die ruhige, anmuthige Heiterkeit, die einen Hauptzug ihrer Erscheinung ausmachte, gaben ihm ein süßes Gefühl von Glück und Befriedigung, so oft er in ihrer Nähe war. In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft ruhte er in dieser wonnigen Empfindung aus wie ein Kind am Busen der Mutter, und forderte vom Leben und von Emilien nichts weiter, als häufig um sie zu sein. Bald aber wurde dies stille Gefühl durch eine Leidenschaft verdrängt, die durch keine Schranke gehemmt ward, selbst nicht durch das Bewußtsein, Emiliens Glück für immer zu untergraben.
Während der ersten Monate ihrer Bekanntschaft, wo Welly sich Emilien mit achtungsvoller Auszeichnung genähert hatte, wo weder Blick noch Wort, man könnte sagen, kein Gedanke seines Herzens ihr Bangigkeit einflößen konnte, überließ sie sich dem Zauber seiner Unterhaltung mit sorglosem Vergnügen. Zwar empfand sie von Anfang an ihm gegenüber eine instinctartige Scheu und Zurückhaltung, die einem weniger arglosen Herzen wohl eine Ahnung von Gefahr hätte geben können. Ihre Gedanken waren aber so entfernt von jedem Unrecht, die letzten Jahre, während welcher mancher vergebliche Versuch gemacht worden war, ihr Herz zu gewinnen, hatten ihr eine solche Sicherheit gegeben, daß sie voll Zuversicht auf ihr eigenes Gefühl geworden war. Ach, sie hatte vergessen, daß das Herz jenem alten Märchen gleicht, wo eine Prinzessin den tausendjährigen Schlaf schlafen muß, bis der Ritter mit der Springwurzel kömmt, die Pforte zu sprengen und sie zu erlösen. Gar Viele kommen gezogen mit dem Glauben zu siegen und finden sich getäuscht. Da endlich erscheint aber der Rechte, der den Zauber besitzt, vor dem die Thüren sich öffnen und der des Schlosses Schätze und der Prinzessin Hand gewinnt. Dies goldne Schloß, was ist es anders als das Herz mit seinen reichen Schätzen, und die Prinzessin drinnen ist die Liebe! Gar Mancher kann an die goldnen Pforten klopfen, fehlt ihm aber der Zauberspruch, der sie öffnet, so zieht er unbefriedigt heim. Aber wenn der rechte Ritter kommt, wenn seine Stimme ruft: Wach’ auf, um mir zu gehören! dann vermögen die alten süßen Wiegenlieder von Ruhe und Glück das erwachte Herz nicht mehr einzuschläfern.
Als Eduard Welly das erste Wort der Leidenschaft vor Emilie aussprach, taumelte sie vor sich selbst zurück, wie vor einem Abgrunde. Ach, Alles, was in ihr schlief, war vor dem Zauber dieser klangvollen Stimme schon längst erwacht, ohne daß sie es wußte, und als er ihr sagte, daß er sie liebte, fühlte sie an dem brennenden Entzücken, das sie umfaßte, welche Riesenschritte sie schon auf dem Wege der Leidenschaft zurückgelegt hatte, doch noch fand sie Kraft genug, ihm nicht zu zeigen, was in ihr vorging. Mit zitternden Lippen und fliegender Farbe, aber mit ernsten Worten hieß sie ihn gehen und nie wagen, ihr solche Worte zu wiederholen.
Er wagte es aber doch. So muthig sie sich zu beherrschen strebte, war ihm doch ihre Aufregung nicht entgangen. All ihre erzwungene Heiterkeit konnte die Blässe ihrer Wangen, die Müdigkeit ihrer Augen nicht verstecken, als sie ihm wieder begegnete. Er fühlte, er wußte, daß er geliebt ward.
Der Anblick dieser zarten Blume, die eben noch so hold geblüht und Jedermann mit den Düften ihres süßen Wesens erfreut hatte, und die nun wie gebrochen schien, hätte ein großmüthiges Herz zur Entsagung bestimmen müssen. Aber Eduard von Welly trug in sich ein Gegengewicht für all seine glänzende Liebenswürdigkeit, das um so furchtbarer war, als er die Geschicklichkeit besaß, [99] es zu verbergen – er war durch und durch Egoist. Kein schonenker Gedanke hielt ihn zurück, mit allen Waffen der Leidenschaft Emiliens widerstrebendes Herz zu bestürmen; in dem Uebermuthe seiner Liebe glaubte er sie für Alles, was sie um ihn leiden würde, entschädigen zu können. Er war nur zu sehr daran gewöhnt, die Frauen, denen er gehuldigt hatte, sich unter seinen Willen schmiegen zu sehen, und so hoch er auch Emilien stellte, zweifelte er doch keinen Augenblick daran, daß sie ihm gehören würde.
Die junge Frau rang indessen mit einer Angst, die sie nicht zu stillen vermochte. Zum ersten Male enthüllten sich ihr die schweren Geheimnisse des Gebens, die Tiefen des eigenen Herzens. Sie faßte nach allen Stützen, die ihr bisher Gleichgewicht gegeben hatten, fand aber jetzt nichts von allem dem, was bisher das Leben selbst für sie gewesen war. Fast alle jungen Herzen bereiten die Liebe durch viel goldene Träume in sich vor; der Mann, der diese knospenden Empfindungen aufblühen läßt, ist nur die bestimmte Form des heimlich gehegten Bildes, der ersehnte Messias, der das übervolle Herz zu erlösen kommt. Emilie war aber so jung, mit so unberührter Seele in die Ehe getreten, daß die erste Einsicht in die Geschichte des Herzens ihr nur durch Andere und erst zu einer Zeit kam, wo ihr klarer hochsinniger Geist sich der angewiesenen Lebensrichtung bereits freiwillig angeschlossen hatte. So mußte denn auch die Liebe, als sie plötzlich und ungerufen kam, alle Stützen ihrer Seele aus den Fugen reißen und sie in eine neue, furchtbare Welt schleudern. Sie fühlte mit schneidender Klarheit, daß die verhängnißvolle Stunde, die allen tieferen Menschen unter Kämpfen und Zuckungen schlägt, für sie gekommen war, daß es jetzt hieß: Stehen oder Fallen – ohne Widerruf. Eine furchtbare Angst ergriff sie. Sie wollte nicht unterliegen, wollte dem Bewußtsein des Rechtes und der Pflicht nicht entsagen – um jeden Preis wollte sie sich selbst treu bleiben, aber mit Grauen begriff sie nach einiger Zeit, daß ihre Kraft schwächer war als ihr Wille. Ihr noch wenig geprüfter Muth erschöpfte sich in dem Bemühen, Welly eine Kälte zu zeigen, die sie weder vor seinen Bestürmungen noch vor ihrem eigenen Herzen zu schützen vermochte.
Als sie anfing, an sich selbst zu zweifeln, suchte sie ihr Heil in der Flucht. Sie überredete ihren Mann, mit ihr der Einladung einer Bekannten zu folgen und einen Theil des Sommers auf deren reizend gelegenem Landsitze zu verleben.
Kaum hatte sie aber angefangen, den wohlthätigen Einfluß dieses Entschlusses zu empfinden und sich zu dem rettenden Verkehr mit ihren Gedanken fähiger zu fühlen, als auch Welly in dieses Asyl eindrang. Sein Erscheinen gab ihr mehr ernsten Muth, mehr Willenskraft, als alle eigenen Anstrengungen vermocht hatten. Ihr Zartgefühl war tief empört, und der Stolz eines unverdorbenen Herzens regte alle ihre Kraft zum Kampfe gegen eine Verfolgung auf, die sie tiefer zu stellen schien, als sie selbst in dem bittersten Bewußtsein ihrer Schwäche es je gethan hatte. Sie empfing ihn mit eisiger Kälte, und das verletzte Gefühl war kräftig genug, um den Gedanken an eine zweite Flucht gar nicht aufkommen zu lassen. Er sollte nicht denken, daß sie ihn fürchte!
Das unerfahrene Herz der jungen Frau traute sich aber größere Festigkeit zu, als es befaß. Der Einfluß seiner Nähe übte langsam, aber stärker als je, seinen verhängnißvollen Zauber, und Emilie widerstand zuletzt demselben nicht mehr. Zwar suchte sie sich stets mit gleicher Festigkeit jedem Alleinsein mit Welly zu entziehen und wich so jeder Erklärung aus, aber ihr Herz war todtmüde, ihre Kraft gebrochen, ihr Muth dahin. Ihr so ergebenes freundschaftliches Gefühl für ihren Mann verwandelte sich in Todesangst vor jedem leisen Zeichen der Zärtlichkeit, das von ihm kam. Unter der grausamen Aufgabe, ihre Aufregung unter einem Lächeln verbergen zu müssen, alle diese Thränen, die ihr das Herz schwellten, nicht weinen zu dürfen, brach ihre Gesundheit. Ihre Wangen erbleichten immer mehr, und ihre langen Nächte ohne Schlaf waren erfüllt von trostlosen Gedanken. Sie konnte das Bewußtsein nicht ertragen, daß ihr bisher so klares Leben jetzt nur eine Lüge war. Und dennoch waren die Thränen, die sie in jenen Nächten weinte, nicht die bittersten ihres Lebens!
Als Welly Monate vorübergehen sah, ohne trotz seiner Ueberzeugung von Emilien geliebt zu sein, ihr auch nur um einen Schritt näher zu kommen, als er sah, wie diese Frau, deren inniges Wesen er richtig beurtheilte, dennoch den Muth fand, ihm mit abweisender Kälte entgegen zu treten, erwachte in ihm der unbändige Stolz, die nachsichtslose Eitelkeit, die so oft die besseren Eigenlasten seines Herzens beherrschten.
Er veränderte sein ganzes Benehmen; kein Wort, kein Blick sagte ihr mehr, wie sonst, daß sie alle seine Gedanken ausfüllte; eine ruhige, gleichgültige Höflichkeit schien an die Stelle der bisherigen Leidenschaft getreten zu sein.
Dies brach ihren Muth. Mag ein Benehmen wie dieses ein noch so abgenutzter Kunstgriff sein, auf ein unerfahrenes Herz wird er doch niemals seine Wirkung verfehlen. Erst jetzt ward Emilie sich bewußt, welches nie eingestandene Glück die Gewißheit seiner Liebe ihr trotz Allem gegeben hatte. Die Qual, die sie bei dieser Veränderung empfand, stieg von Tag zu Tag mit einer Gewalt, die sie um alle Fassung brachte. Bald war sie dahin gekommen, daß ihr alles erträglicher schien, als noch länger diese klangvolle Stimme Andern zugewendet zu hören, diese dunkeln Augen an ihr vorüberstreifen und auf dem Antlitz anderer Frauen ruhen zu sehen. In der Verweiflung solcher Stunden hätte sie ihr Leben darum gegeben, sich ein Glück zurückzuerkaufen, das ihr doch nur Thränen gebracht hatte, so lange sie es besaß. In einer solchen Stunde war es auch, wo Welly einmal wieder die Maske fallen ließ, und ihrem wunden Herzen das Geständniß ihrer Liebe entriß, – ein Geständniß, das sich ihren Lippen entrang, wie der letzte Seufzer eines Sterbenden.
Die junge Frau verlebte eine schwere Nacht. Tausend Leiden, tausend Schrecknisse zeigten sich ihr, wenn sie vorwärts blickte. Jetzt, wo die Macht des Augenblicks ihren so ernsten Willen besiegt hatte, verließ sie das Vertrauen auf sich selbst so gänzlich, daß sie sich selbst verloren gab. Aber nicht lange blieb diese Muthlosigkeit Herr über sie. Noch einmal fragte sie sich, ob Rettung möglich sei. Sie dachte daran, ihrem Mann offen den Zustand ihres Herzens zu bekennen und ihn anzuflehen, sie weit, weit wegzuführen. Während sie aber diesen Vorsatz muthig ins Auge zu fassen suchte, erfaßte sie ein solches Grauen vor der Zukunft, daß sie verzagte. Sie fürchtete sich vor ihrem Manne, sie fürchtete sich vor sich selbst. Seit sie Welly hatte in ihr Herz blicken lassen, begriff sie die Möglichkeit nicht mehr, ihre Liebe zu tödten. Der Fluch, der jede verbotene Leidenschaft begleitet, erfaßte auch sie: ihre Begriffe von Recht und Unrecht verwirrten sich. Sie fragte sich, ob es denn wirllch ihre Pflicht sei, an der Seite ihres Mannes fortzuleben, während sie einen Andern so glühend liebte. Werner’s herzliche Freundlichkeit noch länger hinzunehmen, erschien ihr wie Treubruch und Verrätherei; ach, er war in diesem Augenblicke für sie nichts mehr als ein Verbot, das gebieterisch zwischen ihr und ihrem Glücke stand. Wie sollte sie an seiner Seite bleiben, während jeder Gedanke ihres Herzens ein Diebstahl an seinen Rechten war? wie sollte sie hoffen, ihn noch glücklich zu machen, wenn er einmal wußte, daß sie keinen Gedanken mehr hatte, der für ihn war?
Nein, diese Zukunft schien ihr unmöglich! Die Sophistik ihrer Leidenschaft nannte sie sogar verbrecherisch. Noch keine Erfahrung hatte sie gelehrt, daß die Qual, die in ihrer vollen Kraft ewig und unerschöpflich scheint, nichts Anderes ist als eine hohe Woge des Lebens, daß selbst die Liebe vergänglich ist in all den Beziehungen, die sie zur Leidenschaft ausprägen. Aber diese furchtbaren Zweifel, diese tiefen Irrthümer waren dennoch nicht fähig, ihre Seele ganz zu vergiften. Auch nicht einen Augenblick kam ihr der Gedanke ihren Mann zu hintergehen. Aber es gab einen Ausweg, und ihre vom Sturm umhergeworfene Seele klammerte sich mit der letzten Kraft an denselben an. Wenn es ihr gelänge, sich Freiheit zu erringen! Wenn sie mit dem Opfer der glänzenden Aeußerlichkeiten ihres Lebens sich das Recht erkaufen könnte, wenigstens ihre Gedanken, wenn auch nicht ihre Handlungen von der schweren Pflicht zu lösen, – wenn sie ihren Mann dazu bestimmen könnte, in eine Scheidung zu willigen!
Freiheit! Süßer Gedanke voll Hoffnungen, die sie sich nicht einzugestehen wagte, die aber doch in ihrer Seele aufdämmerten! Und wenn es auch keine andere Zukunft gab als die, ungestört weinen zu dürfen, so schien ihr dies schon ein Paradies gegen die Aufgabe, ein ganzes Leben hindurch ihre Liebe zu bekämpfen und die Wahrheit zu verleugnen.
Als dieser Gedanke Besitz von ihr genommen hatte, ward sie ruhiger. Es schien ihr, als dürfe sie endlich ihr Herz freisprechen, als habe sie den Weg gefunden, der sie wieder mit sich selbst versöhnen konnte. Ach, ein Weg voll Dornen und Abgründe!
[100] Als sie am nächsten Morgen in den gewohnten Kreis eintrat, schwindelte ihr. Alles schien verändert, alles von geheimnisvoller Unruhe und Unstätigkeit befangen. Sie selbst war so anders geworden seit gestern, freiwillig hatten ihre Gedanken ihre ganze Lebensrichtung umgestürzt, und es war nicht der Alp einer schweren Stunde gewesen, nein, noch jetzt im Lichte des Tages, im Angesichte der Menschen hielt ihr Wille dies Alles fest. Als sie Welly erblickte, drohte alle Fassung sie zu verlassen. Er sah, wie sie kämpfte, und zog sich gleich nach der Mahlzeit in sein Zimmer zurück, um Briefe zu schreiben, wie er hinwarf.
Seine Entfernung hob aber nur einen kleinen Theil des Gewichtes, das auf Emiliens Brust lag. Noch war ihr Mann da, dessen Blicke sie stets von Neuem erbleichen, dessen unbefangenste Worte sie zittern machten; noch waren alle die Andern da, die sie fürchtete wie argwöhnische Feinde. Um sich eine einsame Stunde zu sichern, sprach sie die Absicht aus, ihre Mappe mit einem der schönen Punkte zu bereichern, die der anmuthigen Gegend so viel Reiz gaben, und ungestört, wie man wußte, daß sie es bei solchen Anlaß liebte, schlug sie ihren Weg nach der Mühle ein.
[113] Welly sah von seinem Fenster aus Emiliens leichte Gestalt über die steinerne Brücke schweben und dann den abschüssigen Fußweg einschlagen, der von der Mühle aus in eine enge Thalschlucht hinabführte. Von abenteuerlichen Gruppirungen des Sandsteinfelsens eingefaßt, mit einem Teppich von üppigem Grün bekleidet, schien diese Stätte so still, so heimlich und entfernt von aller Welt, daß man dort die Nähe menschlicher Wohnungen kaum vermuthet hätte. Mit einem raschen Entschluß sprang Eduard auf und verließ das Haus. Mit der Gegend durch seine häufigen Streifereien genau bekannt, gelang es ihm leicht, einen Spaziergang, den er vom Schlößchen aus in entgegengesetzter Richtung einschlug, durch Umwege nach der Mühle zu wenden, und bald hatte er Emiliens Asyl aufgefunden.
Als er sie zuerst erblickte, bannten mächtige Empfindungen seinen Fuß für einen Augenblick, und mit klopfendem Herzen richtete er seinen Blick auf sie.
Die junge Frau kniete mehr, als sie saß, auf einer leichten, mit Moos überkleideten Erhöhung des Bodens. Dicht vor ihr öffnete sich in einem natürlichen, durch zwei ineinander zweigende Bäume gebildeten Rahmen ein herrliches Panorama der fernen Ebene mit ihren farbenreichen Bildern und freundlichen Ortschaften.
Aber obgleich die aufgeschlagene Mappe auf Emiliens Knieen und der Griffel in ihrer Hand ruhte, war doch ihr Auge dem reichen Bilde, das sich vor ihr ausbreitete, nicht zugewendet. Sie sah lieblicher aus als je. Ihr Kleid von blaßblauem Mousselin hob die schlanken graziösen Formen ihrer Gestalt weich hervor und harmonirte mit der frischen Weiße ihres Teints und ihren glänzend schwarzen Haaren. Ihr Strohhut lag neben ihr, der wellige Scheitel beschattete ihr Gesicht nicht so sehr, um die träumerische Schwermuth der zarten Züge zu verdecken, die dort zu lesen war.
Das Bewußtsein, daß dieses holde Wesen ihm seine Liebe geschenkt hatte, überfluthete in diesem Augenblick Welly’s Herz mit einem solchen Triumph, daß er sich in den Himmel erhoben fühlte.
Rasch eilte er vorwärts. Das Geräusch seiner Schritte weckte sie aus ihrer Träumerei, sie wandte den Kopf und hohe Röthe übergoß ihr schönes Gesicht. Ihre erste Bewegung war, sich zu entfernen, plötzlich aber hielt sie an und erwartete Welly, während die Gluth ihrer Wangen einer tiefen Blässe Platz machte. Er trat zu ihr, faßte ihre beide Hände in die seinigen und sagte mit bebender Stimme: „Nein, Emilie, jetzt dürfen Sie nicht mehr vor mir fliehen! Ich komme zu Ihnen mit einem Vertrauen, das Sie nicht täuschen werden. Das Glück, das Sie mir gestern gegeben, bedarf keiner Bestätigung mehr. Ich weiß, ich fühle es, Sie werden nicht widerrufen. Du mein Engel,“ fuhr er mit ausbrechender Gluth fort, sprich es aus, daß Du mein bist, daß Dein Leben mir gehört, wie diese Stunde!“
Emilie sah ihm lange schweigend in’s Auge, endlich sagte sie zitternd, aber mit fester Stimme: „Nein, ich widerrufe nicht! Meine Liebe ist eine Wahrheit, die ich nie wieder verleugnen werde. Ich habe mit Allem abgeschlossen, was mir bis hierher lieb und theuer war, habe alle Besitzthümer meines Lebens von mir abgestreift, um mir zu sagen, daß Ihre Liebe mir höher steht als Alles; deshalb giebt es auch nun für mich nichts mehr auf der Welt als diese Liebe. Nicht wahr, Eduard, Sie verstehen mich,“ fuhr sie fort, indem sie ihre feine Hand auf seinen Arm legte, „nicht wahr, Sie begreifen, daß ich ihn verlassen, daß ich frei werden muß? Und wenn dann auch das Leben immer trennend zwischen uns stehen sollte, so kann ich dennoch ganz und ungetheilt Ihnen angehören, jeder Gedanke für Sie, jede Thräne für Sie, nichts, nicht einmal meine Gegenwart für einen Andern!“
„So viel Liebe mein!“ flüsterte Welly. „Alles willst Du hingeben, mein Engel, um nur mir zu gehören! Aber sei getrost – mein Leben hat fortan nur einen Zweck, Deiner werth zu sein, Dich einst mein zu nennen vor Gott und der Welt. Du willst um meinetwillen einen schweren Weg gehen; was Du schon gelitten hast, was Du noch leiden wirst, kann meine Begeisterung für Dich nicht erhöhen, aber Deine Thränen sollen sich Dir einst in tausend Blumen des Glücks verwandeln, baue nur fest auf meine Liebe, meine Treue.“
„Wenn ich daran nicht glaubte wie an Gottes Verheißungen, so wäre ich verloren!“ sagte Emilie erbleichend. „Sie wissen nicht, was in mir vorgegangen ist bis gestern – seit gestern. Die Erinnerung an diese Stunde mag mein Beistand sein, wenn ich erbebe unter der Aufgabe, die mich erwartet. Gott erbarme sich meiner, wenn ich ihm sagen werde – aber es muß bald geschehen! Ich verlasse Sie jetzt, mein Freund; wenn wir uns wiedersehen, ist meine Zukunft entschieden, mein Urtheil gesprochen. Hüllen Sie mich ein mit Gedanken Ihrer Liebe, sie ist meine einzige Stütze.“
Sie schieden. Als Emilie zurückgekehrt war, schloß sie sich unter dem Vorwande eines Unwohlseins vor Jedermann ein. Ihr Entschluß stand fest, noch diesen Abend die Entscheidung über ihr Schicksal herbeizuführen, denn sie ertrug den Gedanken, nach der heutigen Zusammenkunft mit Welly ihrem Manne unter die Augen zu treten, nur dann, wenn sie sich gelobte, daß er Alles wissen sollte. Die Abendstunde nahte. Jeden Augenblick war Herr von [114] Werner von einer Jagdpartie zurück zu erwarten, die er mit einigen Herren unternommen hatte. Emilie saß in ihrem Zimmer, in brütendem Nachsinnen über das, was kommen sollte, versunken.
Mit jeder Minute stieg die Todesangst der unglücklichen Frau, ihr Muth begann zu schwinden. Sie wollte Trost und Kraft im Gebet suchen, aber so wie sie an ihren Mann dachte, diesen edlen, liebevollen Menschen, der sie stets auf den Händen getragen hatte, und dem sie einen unheilbaren Schmerz zuzufügen im Begriff stand, so wagte sie nicht mehr zu beten. Gott war fern von ihr in dieser verhängnisvollen Stunde, denn sie fürchtete sich davor ihn zu finden. Furchtbare Zweifel bemächtigten sich in diesem Augenblick der Entscheidung ihrer Seele – ach, die trügerischen Bilder, die ihre Leidenschaft ihr vorgegaukelt hatte, schwanden vor der siegenden Macht des Rechtes und der Wahrheit! Sie sagte sich nicht länger, daß ihr Entschluß schuldlos wäre, sie fühlte nur zu tief, daß nichts auf Erden im Stande sei, sie von der Verantwortung all der Schmerzen freizusprechen, die sie auf den Mann häufen wollte, dessen Namen sie trug, der ihr nie Ursache zur leisesten Klage gegeben hatte, dem sie Treue und Ergebung bis zum Tode gelobt hatte. Aber ihr Loos war geworfen – sie widerrief nicht mehr.
Seit sie mit Einstimmung ihres Willens, mit glühendem Durst die Liebesworte Welly’s angehört hatte, war ihr Gefühl für ihn zu einer Stärke angewachsen, die kein Hinderniß mehr gelten ließ. Um seinetwillen glaubte sie sogar das Bewußtsein der Schuld ertragen zu können. Der Gedanke, ihm Schmerzen zu bereiten, ihn zur Verzweiflung zu treiben, erschien ihr so wahnsinnig, so unmöglich, daß jede andere Rücksicht vor dieser schwieg. Selbst der tiefe Schmerz, den sie erst gestern bei seinen bittern Worten empfunden hatte, war eine Fessel mehr für ihr Herz, – wie, nachdem sie seinen bloßen Zweifel in ihrer Liebe so schwer empfunden hatte, wie sollte sie es ertragen, diesen Zweifel in seinen Augen zu rechtfertigen? Immer glühender wandte sich bei diesem Gedanken ihr Herz dem geliebten Manne zu, und ihre Seele verlor sich in leidenschaftliche Träumereien, aus denen sie endlich der Eintritt ihres Mannes jäh emporschreckte.
Sie fuhr hastig empor und erbleichte so sehr, daß Herr von Werner besorgt hinzueilte sie zu unterstützen. Zum ersten Male gab er den Besorgnissen Worte, die sie ihm seit längerer Zeit einflößte. „Was ist Dir, Emilie? mein liebes, gutes Kind?“ sagte er mit dem Ton der innigsten Theilnahme. „Willst Du mir nicht endlich vertrauen, was Dich seit längerer Zeit so sichtlich niederdrückt? Warum dies Schweigen mir gegenüber, der keinen anderen Wunsch hat, als Dich froh und zufrieden zu sehen?“
„Nein! ich kann, ich darf nicht länger schweigen,“ flüsterte die junge Frau, indem sie ihr in Thränen gebadetes Gesicht von seiner Brust erhob. „Aber wie, mit welchen Worten soll ich Dir sagen, welche Schmerzen mein Innerstes zerreißen? Habe Erbarmen mit mir, mein Freund,“ fuhr sie fort, indem sie an ihm niederglitt, „komm mir zu Hülfe, errathe meine Verzweiflung, meine Schuld! – ja, meine Schuld, denn ich habe Dir die Treue gebrochen, und mein Herz und mein Schwur gehört einem Andern!“
Unfähig weiter zu sprechen, begrub Emilie ihr zuckendes Gesicht in beide Hände. Werner hob sie auf und zog sie an sein Herz. Stumm beugte er sich über sie, und langsame, glühende Tropfen fielen über sein erbleichtes Gesicht auf ihre geschlossenen Augenlider. Endlich sagte er mühsam: „Wer?“
„Eduard Welly,“ war die tonlose Antwort.
Er sah sie lange an und sagte tief bewegt: „Armes Kind, so hat all meine Liebe Dich doch nicht schützen können! Aber Dein Vertrauen spricht Dich heilig vor mir, es sagt mir, daß Du Muth hast, daß Du den Kampf bestehen wirst. Die Hülfe, die Du bei mir suchst, soll Dir werden! Du sollst nicht vergehen an verheimlichten Thränen, ich werde Dich weit hinwegführen, werde Dich mit der Zärtlichkeit eines Vaters behüten; Du wirst leiden, aber nicht allein und nicht ohne Trost!“
„Nein,“ unterbrach ihn Emilie, „nein, nicht diese Zukunft für mich, für uns Beide. Hast Du nicht gehört, nicht verstanden, daß ihm nicht allein mein Herz gehört, sondern auch mein Wort und meine Zukunft? Du bist gut gegen mich wie ein Engel Gottes, darum verdamme mich nicht, wenn ich Unerhörtes von Dir fordere – gieb mich frei! Ich kann Dir nichts mehr sein, kann Dir Deine unerschütterliche Zärtlichkeit nur mit Schmerzen lohnen, ich habe ja gerungen gegen diese fürchterliche Liebe mit allen Kräften meiner Seele, umsonst, umsonst! Laß mich frei, oder Du richtest mich zu Grunde!“
„Nein, Emilie, nein!“ erwiderte Werner erschüttert, aber mit tiefem Ernst. „Nicht um meinetwillen beschwöre ich Dich, von dieser Forderung abzulassen – für mich hat das Leben nun doch keine Blüthen mehr. Aber Du! Unterliege diesem Sturm nicht, wenn er Dich auch noch so tief beugt, rette Dir Deine Zukunft! Ich sage Dir nichts über Welly, Du liebst ihn, es würde unnütz sein. Aber wenn er Dich überwachte, wie eine Mutter ihr Kind, so kann doch Niemand auf Erden Dich vor dem Urtheil der Welt, und ach! verzeihe was ich Dir sagen muß, vor den Vorwürfen Deines eigenen Herzens erretten. Du, so stolz, so rein, wie würdest Du es tragen, alle Welt mit spöttischen Worten über das Heiligthum Deines Herzens verhandeln zu sehen, und allein zu stehen jeder Verleumdung gegenüber? denn es wird lange dauern, bis er ein Recht erhält Dich zu beschützen. Um Deine Zukunft zu retten, will ich gern auf Alles verzichten, Du sollst die Freiheit, die Du suchst, bei mir, an meiner Seite finden. Du kannst von mir keinen Vorwurf fürchten, verzichte nur auf ihn, auf diese Hoffnung, die Dir jetzt ein Ersatz für alle Schmerzen scheint, die aber tausend neue in ihrem Schooße trägt. Bleibe bei mir, meine Emilie, mein Kind! Denke, ich sei Dein Vater, dessen einziger Gedanke, dessen einziger Wunsch Dein Glück ist. Um Deines besseren Selbst willen glaube mir, höre mich, bleibe bei mir!“
Emilie weinte heftig. „Schone mich!“ rief sie außer sich, „ich kann, ich darf nicht. Wie Du an mich denkst, so denke ich an ihn! Die Schmerzen, die Du für mich fürchtest, die fürchte ich tausendfach für ihn – o treibe mich nicht dazu, daß ich Dir sage, was es heißt, meine Liebe zu Welly, daß ich Dir sage, wie Dein Edelmuth mir zum Fluch wird, wenn Du mein Flehen nicht erhörst! Merke wohl auf!“ fuhr sie fort, indem sie ganz nahe zu Werner trat und ihre glühende Hand auf die seinige legte, „höre mich und begreife, daß ich bis zum letzten Hauche meines Lebens nicht anders fühlen werde als in dieser Stunde. Ich habe sechs Tage lang Tag und Nacht mit meinem Herzen gerungen, habe ihn, den ich liebe, mit erheuchelter Kälte zur Verzweiflung gebracht. Ich habe gebetet und geweint, und Alles hat nur immer neue Gluth in meinem Herzen aufgehäuft, und als eines Tages mein Gefühl stärker war als mein Wille, und er erfuhr, wie es in mir stand, – selbst da noch wollte ich die Hoffnung festhalten, mich von dieser Liebe zu befreien.
Aber jetzt ist es vorüber. Seitdem habe ich ihn angehört, und wenn seine Worte Gift waren, so haben sie mich zum Leben getroffen – ich kann nicht mehr vergessen! Wenn Du mich nicht frei geben willst, so sei Dein die Verantwortung, Dein die Schuld! Wenn ich leben könnte, ohne Tag und Nacht an ihn zu denken: glaubst Du, ich wäre zu Dir gekommen, um alle Wunden meines Herzens in das Deinige zu drücken? Glaubst Du, ich fühle es nicht, welches Verbrechen es ist, Dir zu sagen, was ich Dir gesagt, von Dir zu begehren, was ich begehrt habe? Bei aller Liebe, die Du mir bewiesen, bei Allem, was Dir heilig ist, beschwöre ich Dich: laß mich frei!“
„Nun denn – es sei!“ rief Werner, kaum seiner selbst mehr mächtig, „und Gott erbarme sich Deiner!“
Emilie machte einen Schritt gegen ihn hin, als sie aber das Auge zu seinem veränderten, verstörten Gesicht erhob, entrang sich ihrer Brust ein dumpfer Schrei, sie wandte sich um und floh in ihr Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen verließen Herr und Frau von Werner das Landgut ihrer gastfreundlichen Wirthin. Emilie war körperlich so angegriffen, daß Werner alle seine Sorgfalt aufbot, um jede neue Aufregung von ihr fern zu halten, und während der Reise mit keinem Wort auf das Vorgefallene hindeutete. Seine Besorgnisse waren auch nicht ungegründet; kaum langten sie in Berlin an, so warf ein heftiges Gehirnfieber Emilie auf das Krankenlager und brachte sie dem Tode nahe.
Unter tausend widerstreitenden Qualen saß der unglückliche Mann am Bette seiner Frau und horchte auf die wilden Fieberphantasien, die regellos diesem schönen Munde entflohen – ach! einen Zusammenhang hatten sie doch, Welly’s Name kehrte immer und immer in den Bildern wieder, die ihr aus den Fugen gerüttelter Geist ihr vormalte.
Einmal hatte Welly, von unerträglicher Angst getrieben, einen Versuch gemacht, bis zu Werner vorzudringen, um zu erfahren, wie es um die Kranke stehe. Die Aufregung, die Emiliens Gatten erfaßte, [114] als er zum ersten Male seit ihrem Geständniß den Mann wiedersah, der das Unglück seines Lebens und Emiliens jetzige Gefahr herbeigeführt hatte, war aber zu mächtig, um beherrscht zu werden. Stammelnd und zitternd forderte er Welly auf, sich sogleich zu entfernen, indem er ihm zu verstehen gab, daß er nun Alles wisse. Wenn er auch ihr vergeben konnte, die einige Jahre hindurch die Freude seines Lebens gewesen war, die er immer nur fromm und unschuldig gekannt hatte, so vermochte er doch nicht dem Fluche zu gebieten, den sein Herz über den Urheber ihres Treubruchs heraufbeschwor.
Mit schwerer Sorge dachte er daran, was aus Emilien werden würde, wenn der Tod an ihr vorüberginge. Er kannte ihren Charakter zu wohl, um hoffen zu können, sie von ihrem Vorsatze zurückzubringen. Trotz allem Schmerz, den ihr Verlangen einer Trennung ihm bereitete, dachte er doch weit mehr daran, wie elend sie durch die Gewährung desselben werden würde, als an das Unrecht, das ihm dadurch geschah. Die ernste Richtung, die sein Charakter überhaupt hatte, die vorgerückten Jahre, in denen er Emilie kennen lernte, hatten ihn eine tiefe, ruhige Zärtlichkeit, nicht aber die feurige Leidenschaft eines Jünglings zu ihr fassen lassen. Er begriff ihre Liebe und deßhalb hoffte er auch nichts mehr, denn er fühlte, daß gerade die Unschuld und Aufrichtigkeit ihres Wesens eine eben so mächtige Triebfeder für ihren Entschluß war, als ihre Liebe. Er kannte Emiliens Gefühl für das Rechte, ihre Frömmigkeit und sagte sich, daß Alles, was er ihr vorstellen könnte, ohnmächtig sein würde, wo diese mächtigen Hebel den Sieg nicht hatten erringen können. Während er sein Auge auf der holden, leidenden Gestalt ruhen liest, gelobte der großmüthige Mann sich heilig, sich selbst zu verleugnen und sie auf dem dornenvollen Wege zu stützen, den sie gehen wollte.
Nach langen Leiden kehrte Emilie endlich zum Bewußtsein des Lebens zurück. Der erste ungewisse Blick fiel auf ihren Mann, der mit abgehärmtem Gesicht vor ihr stand und ihr, sobald er in ihren arbeitenden Zügen die wiederkehrende Erinnerung las, mit der Bitte, ihm zu vertrauen, die Lippen schloß.
Nur langsam erholte sich die junge Frau; der zehrende Wurm in ihrem Innern, die Unmöglichkeit Welly zu sehen, ein brennendes Verlangen, die Entwicklung ihrer Verhältnisse herbeigeführt zu sehen, und der Mangel an Muth, dieselbe zu veranlassen – Alles dies erschwerte es ihrer Jugend, den letzten Sieg über die Krankheit davon zu tragen. Werner’s Zartgefühl sagte ihm bald, daß es besser sei, das Siegel zu brechen, das auf ihrem gemeinschaftlichen Elend lag, und er theilte ihr auf die schonendste Weise die Vorschläge mit, die er sich zur Herbeiführung ihrer Scheidung überlegt hatte.
Der edle Mann wollte nicht, daß sie die Trennung begehren und ihm dadurch die Möglichkeit rauben sollte, ihre äußere Zukunft einigermaßen sicher zu stellen. Er schlug vor, sie möchte auf längere Zeit zu ihren Eltern reisen, worauf er dann in einigen Monaten unter der Klage, daß sie sich weigere in sein Haus zurückzukehren, auf Scheidung antragen wolle. Auf diese Weise hoffte er ihren bis jetzt noch völlig unangetasteten Ruf zu retten und Mangel und Entbehrung von ihr fern zu halten.
Emilie war von der Großmuth ihres Manneü in einem Grade erschüttert, daß in dieser Stunde die Vorwürfe, die sie sich machte, über alles Andere den Sieg davon trugen. Hätte Werner sie jetzt angefleht zu bleiben, sie würde in der Stärke ihrer Dankbarkeit nicht den Muth gehabt haben, noch einmal Nein zu sagen.
Aber er schwieg. Gerade in dieser Stunde, wo er die gewaltige Aufregung ihres Innern sah, wo sie, durch körperliche und geistige Leiden geschwächt, unter der Last ihrer eigenen Vorwürfe sich beugte, schien es ihm unedel, ein Opfer zu fordern, das er vielleicht erhalten, aber nicht einem freien Entschlusse, sondern der Uebermacht ihrer Aufregung zu verdanken gehabt haben würde. Er war jetzt der Gewährende, sie trotz all seiner Schonung doch die Gedemüthigte, und nimmer wollte er von dieser Lage Vortheil ziehen. So ging der einzige Augenblick vorüber, der diese beiden Menschen, die einander werth, deren Hände einst für das Leben vereinigt worden waren, davor hätte bewahren können, sich unwiderruflich von einander zu scheiden.
Nach diesem letzten peinlichen Gespräch geschah Alles, wie es verabredet worden war. Emilie reiste unter dem Vorwande, ihre noch wankende Gesundheit zu befestigen, nach B. zu ihren Eltern. Werner hatte schon vor ihr Wien verlassen, unter der Angabe, eine Geschäftsreise machen zu wollen. Er ging, ohne von Emilie Abschied zu nehmen, die Aufgabe schien ihm zu schwer für sie Beide. Ehe die junge Frau schied, hatte sie noch eine lange Unterredung mit Welly. Sie war jedoch in einer so schweren Stimmung, Alles, was zwischen ihr und ihrem Mann vorgefallen war, drückte sie so ganz und gar darnieder, daß er kaum wagte, ihr von der Zukunft zu sprechen. In der Schwermnth, womit er die tiefen Spuren des Leidens in ihrem Antlitz betrachtete, in dem Feuer, womit er die Unendlichkeit seiner Liebe betheuerte, lag aber eine Fülle von Verheißungen, woran sie sich bemühte ihren Muth aufzurichten.
Körperlich und geistig gebrochen langte die junge Frau in ihrem elterlichen Hause an, wo sie die ganze Familie ihrethalben in der größten Aufregung fand. Werner hatte es ihr ersparen wollen, ihren Eltern die Mittheilung ihrer Entschlüsse selbst machen zu müssen, und hatte deshalb dieselben schriftlich mit der Katastrophe bekannt gemacht, die seine häusliche Existenz betroffen hatte. Mit dem ganzen Adel seines Charakters betheuerte er, daß Emilie keinen Vorwurf verdiene, und forderte ernst und bestimmt, man möge sie in einem Entschluß nicht beunruhigen, in den er selbst zwar mit Schmerz, aber mit ungeschwächter Achtung für seine Frau gewilligt habe.
Emiliens Eltern waren aber nicht fähig, sich zu der Höhe dieses Charakters zu erheben. Daß Emilie ihre Lebensstellung aufgeben wolle, ohne sich durch einen tiefen Fall derselben unwürdig gemacht zu haben, schien ihnen ebenso unglaublich, als daß der besonnene Werner sich einer Leidenschaft, die kindisch oder verbrecherisch sein mußte, geduldig fügen und freiwillig auf sein Recht verzichten würde. Da sie den Glauben an ihr Kind so schnell nicht verlieren konnten, wälzten sie einen schweren Vorwurf auf Werner und beschuldigten ihn, irgend eine Unvorsichtigkeit Emiliens zu einem tadelnswerthen Zweck zu benutzen.
In dieser Stimmung fand Emilie die Ihrigen, und als sie aus allen sie bestürmenden Fragen die Beschuldigungen herausfand, die man auf ihren Gatten warf, bekannte sie in der Wärme ihrer Bestürzung Alles, was sie verschuldet, was sie gefordert und er so großmüthig gewährt hatte.
Nun aber wendete sich die Anklage mit doppelter Gewalt gegen sie. Ihre Mutter, die auf ein tadelloses Leben zurückblicken konnte, nannte sie in der ersten Aufwallung ein verlorenes Geschöpf; ihr Vater war außer sich darüber, daß sie ihrer schönen, gesicherten Stellung entsagen wollte, um in zweideutiger Lage einer tadelnswerthen Zukunft entgegen zu gehen. Ihre Liebe, die sie wie ein Heiligthum im Herzen trug, wurde ihr zum Verbrechen gemacht, ihr Entschluß zur Scheidung wie ein Entschluß zur Entehrung betrachtet.
Zu Boden gedrückt unter diesen Vorwürfen, von denen einer sie mit immer neuem Gewichte traf – der, ihren Mann elend zu machen, fand Emilie kaum Kraft genug zu betheuern, daß ihre Zukunft nicht entweiht werden solle. Als man sah, daß Vorwürfe und Heftigkeit nichts über sie vermochten, begann man sie mit Bitten und Thränen zu bestürmen. Ihr Leben war ein fürchterliches. Stumpf ließ sie endlich Alles über sich ergehen und antwortete nur immer Nein auf jeden Versuch, sie von ihrem Vorsatz zurück zu bringen. Erst hier begriff sie die Seelengröße ihres Mannes in ihrem vollen Umfange. Er, der Gekränkte, hatte Worte der Liebe und des Erbarmens für sie gehabt, er hatte in seinem Glauben an sie nicht gewankt, während die Ihrigen sie verurtheilten. Noch in anderer Beziehung hatte sie Schweres zu tragen. Ihr Vater gerieth in den heftigsten Zorn, wenn nur Welly’s Name erwähnt wurde, und verbot ihr geradezu Briefe von ihm anzunehmen. Um nicht noch heftigere Scenen zu veranlassen, gab sie die geforderte Zusage und schrieb im Jammer ihres Herzens an Eduard, dem sie ihre Lage schilderte und ihn beschwor, für jetzt selbst auf einen Briefwechsel zu verzichten. Auf’s Neue gelobte sie ihm Treue und Standhaftigkeit.
So vergingen drei Monate, nach deren Ablauf Emilie einen Brief von Herrn von Werner erhielt, der ihr mittheilte, daß er die Scheidungsklage eingereicht habe. Von dieser Zeit an schwiegen die Vorwürfe und Bitten ihrer Eltern. Sie gaben die Hoffnung auf, das alte Verhältniß zurückzuführen, aber Emiliens Lage verbesserte sich darum nicht. Sie lebte wie eine Geächtete in ihres Vaters Hause, man ging an ihr vorüber, als wäre sie nicht da. Manchmal, wenn ihr in dieser Einsamkeit das Herz brechen wollte, [116] machte sie einen schüchternen Versuch, im Herzen ihrer Mutter ein weiches Gefühl für sich zu wecken – aber ach, sie mußte jedesmal von Neuem begreifen, daß ihre Mutter sie aufgegeben hatte.
Während der Dauer des Scheidungsprocesses wurde die Lethargie ihrer Existenz zweimal durch die qualvolle Nothwendigkeit unterbrochen, mit ihrem Mann vor Gericht zusammen zu treffen. Da die Gründe, die dem Verlangen der Scheidung untergelegt waren, ungenügend erschienen, wurden viele Schwierigkeiten erhoben. Nach langen Zögerungen entschied sich endlich der Proceß, die Scheidung wurde ausgesprochen.
Noch ein Mal traf Emilie nach diesem Richterspruch mit ihrem Gatten zusammen. Wortlos, halb ohnmächtig vor Bewegung beugte sie ihr Haupt vor ihm, sie wagte es nicht den Blick auf jenes Gesicht zu erheben, dessen tiefe Falten von viel schmerzlichen Stunden erzählten. Werner legte seine Hand wie zum Segen auf ihren Scheitel, auch er blieb stumm, aber in seinen milden Augen lag Güte und Verzeihung.
[129] Emiliens sehnsüchtiges Verlangen war nun, das Haus ihrer Eltern zu verlassen und sich einen Aufenthaltsort zu wählen, wo Niemand ihre Verhältnisse kannte. Trotz der schonenden Vorsicht, womit Werner diese Angelegenheit handhabte, waren doch Gerüchte ins Publicum gedrungen, die der Wahrheit ziemlich nahe kamen. Der Neugierde und den Urtheilen der Menge in ihrer Heimath ausgesetzt zu bleiben, schien Emilien allzu peinlich, sie sandte daher ihre Gedanken nach einer Zuflucht aus, wo sie wenigstens ungestört traurig sein dürfte.
Ihre Wahl fiel auf eine Dame, mit der sie während der ersten Jahre ihres Aufenthaltes in Wien in häufiger Verbindung gestanden hatte, und die seit etwa zwei Jahren durch den Tod ihrer beiden Kinder veranlaßt worden war, einen Landsitz in der Nähe von Prag zu beziehen, wohin liebe Erinnerungen sie riefen. An diese würdige Frau schrieb Emilie, machte sie mit allen ihren Verhältnissen bekannt und fragte, ob sie für einige Zeit bei ihr eine Heimath finden könnte.
Die Hoffnung, die sie auf die Zuneigung und vereinzelte Stellung dieser Freundin gebaut hatte, erwies sich als begründet; in kurzer Zeit langte ein Brief an, der Frau von Handel als Vorläufer diente, die, von ihrem Zartgefühl geleitet, selbst kam, die junge Frau abzuholen.
Auf’s Neue verließ nun Emilie ihr Vaterhaus – ach, um wie viel unglücklicher als das erste Mal! Das milde Wesen ihrer Begleiterin trug indessen viel zu ihrer Beruhigung bei und richtete vor allem ihre Selbstachtung wieder auf. Frau von Handel war eine jener seltenen Frauen, die bei voller Tadellosigkeit des eigenen Lebens doch ein mildes Urtheil über die Schwächen Anderer besitzen. In ihren Augen sühnten die Schmerzen, von denen sie Emilie niedergedrückt sah, Alles, was ihr streng rechtlicher Sinn im Benehmen der jungen Frau nicht billigen konnte. Selbst vom Schicksal schwer geprüft, war sie tief empfänglich für die Leiden Anderer, und ermessend, daß man dem armen Menschenherzen nicht zu viel aufbürden dürfe, veranlaßte sie selbst, daß während der Dauer der Reise Welly unter ihrem Schutz mit Emilie zusammen traf. Dagegen forderte sie auch, daß diese Zusammenkunft sich nicht wiederholen dürfe, bis Welly eine Stellung errungen habe, die es ihm möglich mache, sich mit der Geliebten zu verbinden.
Mit Ungestüm widersetzte sich der junge Mann dieser Forderung. Emilie bat ihn aber so flehentlich, ihren Ruf zu schonen, Alles, was sie um ihn gelitten hatte, stand in so tiefen Zügen auf dem reizenden Gesichte, daß er es nicht vermochte, ihren Wünschen zu widerstehen. Feurig nannte er diese Entbehrung einen neuen Sporn, Alles zu thun, um die Zukunft zu sichern, und mit Zuversicht suchte er ihre Thränen mit der Betheuerung zu stillen, daß er ihr bald ein ihrer würdiges Loos bereiten würde.
Nach dem letzten Schmerz einer jedenfalls jahrelangen Trennung von dem Geliebten verließ Emilie alle Kraft so ganz und gar, daß Frau von Handel oft mit Bangigkeit die todtenähnliche Ruhe beobachtete, die an die Stelle der früheren unaufhörlichen Aufregung getreten war. Voll Rücksicht hatte sie der jungen Frau für die erste Zeit des Aufenthaltes in ihrem Hause eine völlige Einsamkeit vorbereitet, und suchte sie nur nach und nach wieder für äußere Eindrücke und Interessen empfänglich zu macken. Die heftigen Gemüthsbewegungen der jüngsten Zeit hatten aber unverwüstliche Spuren in Emiliens ganzem Wesen zurückgelassen. Noch nach Verlauf von Monaten wich sie mit krankhafter Scheu vor jeder Berührung mit der Außenwelt zurück. Ihre erschütternden Erinnerungen hatten ganz Besitz von ihren Gedanken genommen und gewannen eine um so größere Macht, als sie dieselben schweigend in sich begrub und verlernt hatte, sich auszuweinen.
Inzwischen hatte Eduard von Welly mit kräftiger Hand begonnen, die Richtung seiner Zukunft festzustellen. Sein erster Schritt bestand darin, seinen Abschied zu nehmen, denn von jeher war seine Stellung bei der Armee nicht nach seinen Wünschen gewesen. Der zweite Sohn einer vornehmen Familie, deren bedeutende Besitzthümer als Fideicommiß auf seinem älteren Bruder hafteten, war er darauf angewiesen, sich dem Staatsdienste zu widmen. Seine erste Wahl war die cameralistische Laufbahn; er hatte seine Studien mit Auszeichnung vollendet, und eine Anstellung nach seinen Wünschen war ihm bereits zugesagt, als er sich in einer Abendgesellschaft bei einem seiner eifrigsten Protektoren zu einem Gespräch politischen Inhalts hinreißen ließ und in so schonungsloser Weise die jetzigen Zustände beurtheilte, daß der ganze Einfluß seiner hochgestellten Beschützer aufgeboten werden mußte, um ihn ernsten Unannehmlichkeiten zu entziehen. Die nächste, nicht abzuwendende Folge war der Verlust des ihm zugedachten Postens, und seine ganze Carriere schien durch seine Unvorsichtigkeit vernichtet. Ohne Vermögen und Aussichten entschloß er sich ein Officierspatent anzunehmen, was ihm aus besonderer Rücksicht für seine Familie geboten ward.
Als seine jetzige Lage es ihm wünschenswerth machte, von den früher erworbenen Kenntnissen und Talenten Gebrauch zu machen, hatte eben eine gewaltige politische Krisis die Hindernisse, die ihm bisher entgegen standen, aus dem Wege geräumt. Ein Wechsel des Ministeriums hatte Statt gefunden, talentvolle Männer, [130] die seiner Richtung angehörten, fanden die günstigste Aufnahme, und Welly, dessen geistige Bedeutsamkeit ihm manche Freunde erworben hatte, fehlte es nicht an Männern, die seine Fähigkeiten zu schätzen wußten.
Nach einigen Monaten gelang es ihm, in der neueingeschlagenen Carriere festen Fuß zu fassen, und sobald er Gelegenheit fand, seine Thätigkeit und seinen eisernen Fleiß geltend zu machen, war es nicht mehr schwer für ihn, vorwärts zu kommen, um so mehr, als er einen alten Namen trug. Er wurde nach einiger Zeit zu dem Posten eines Staatssecretairs ernannt.
Während der zwei Jahre, die ihn zu dieser Stufe führten, war seine Correspondenz mit Emilie ohne Unterbrechung fortgesetzt worden. Obgleich die Stellung, die er jetzt einnahm, ihm bei einiger Einschränkung eine Heirath möglich gemacht haben würde, lag doch noch eine Last auf ihm, die nach Emiliens eigenem Wunsche erst abgewälzt sein sollte, ehe sie sich verbanden. Er hatte während seiner Dienstjahre als Officier[WS 1] nicht unbedeutende Schulden gemacht, was bei seiner Art zu leben fast unvermeidlich gewesen, nun aber eine lästige Fessel für ihn war.
Wiederholt hatte er in dieser Zeit Emiliens Einwilligung zu einem Zusammentreffen mit ihr gefordert, erst mit leidenschaftlicher Bitte, später, als die Weigerung wiederholt ward, mit Vorwürfen, Zweifeln und Unmuth. Emilie würde auch nicht die Kraft gehabt haben, seinem Drängen zu widerstehen, wäre nicht die Festigkeit der Frau von Handel fast zur Strenge in diesem Punkte geworden. Die Dankbarkeit, mit der Emilie der trefflichen Frau ergeben war, die Rücksichten, deren sie sich ihr gegenüber schuldig fühlte, hielten sie davon zurück, etwas gegen ihren Rath zu thun. Je mehr die Aussichten zu einer Verbindung der Liebenden stiegen, desto ernster bat Frau von Handel die junge Frau, ihren Ruf für den Namen zu schonen, den sie bald zu führen hoffte, und erklärte mit Festigkeit, daß in ihrem Hause und mit ihrer Zustimmung eine ähnliche Zusammenkunft niemals Statt finden sollte.
Emilie fügte sich, aber die bittern Worte ihres Geliebten vernichteten den Rest ihres Lebensmuthes. Sie wurde immer stiller und trüber, ein leises, aber beständiges Kränkeln wirkte auch drückend auf ihre Stimmung, und zuletzt wagte sie kaum mehr, an das Leben und die Menschen irgend einen Anspruch zu nehmen. Ihre Briefe nahmen das Gepräge dieser Seelenstimmung an; zwar ließ sie keine Klage laut werden, aber der warme lebendige Hauch der Leidenschaft, der sonst aus ihren Worten sprach, hatte einer krankhaften Schwärmerei Platz gemacht, die Welly um so unbehaglicher berührte, als er gerade jetzt das Leben reicher und kräftiger umfaßte als je. Ihr Bild fing an, vor den neuen, bedeutenden Interessen, die ihn beschäftigten, langsam zurückzuweichen.
Der Ehrgeiz, der bereits in seiner frühsten Jugend einen großen Platz in seinem Geiste eingenommen hatte und nur durch die Macht der Umstände zurückgedrängt worden war, erwachte unter seinen jetzigen Verhältnissen mit doppelter Stärke. Die gegenwärtige Lage der Dinge berechtigte Männer von Talent und Willenskraft zu den kühnsten Ansprüchen; Welly ergriff mit allem Feuer seines energischen Naturells die liberalen Tendenzen der Gegenwart. Seine kühne Phantasie, seine tüchtige Beurtheilungskraft fanden ein reiches Feld der Thätigkeit in den Forderungen, die eine Zeit voll bedeutender allgemeiner Interessen stets an den Einzelnen stellt.
In dieser Periode überströmender Lebensfülle trat er auch wieder in die gesellige Welt ein, was er in der ersten Zeit aus Rücksicht für Herrn von Werner ganz vermieden hatte. Derselbe hatte aber Wien nach Regulirung seiner Angelegenheiien für immer verlassen, die Gerüchte, die Welly’s Namen mit der Scheidung der Frau von Werner in Verbindung gebracht hatten, waren nach und nach verstummt, da man den jungen Mann Wien jahrelang nicht verlassen sah, und so folgte er den wiederhollen Aufforderungen, die ihn in die geselligen Kreise zurückzogen, nicht ungern. Er ward überall mit erhöhter Auszeichnung aufgenommen und von den exklusivsten Kreisen gesucht.
Vor Allem war ihm das Haus des Ministers von Wangenheim angenehm, und er machte häufig Gebrauch von der Freiheit, es zu besuchen, da es sich durch einen fein gewählten Cirkel und eine höchst liebenswürdige, wenn auch schon matronenhafte Hausfrau auszeichnete. Als er einst wieder einen Abend dort zubrachte, fesselte gleich beim Eintritt eine neue Erscheinung seine Aufmerksamkeit, deren Schönheit ihn frappirte, und der er durch den Minister alsbald vorgestellt ward.
Clara war die einzige Tochter des Hauses, eben von einer großen Reise zurückgekehrt, die sie nach ihrem Austritt aus der Pension mit einer Verwandten unternommen hatte. Sie war eine herrliche Blondine, groß, voll und im reinsten Ebenmaß gebaut, ihr frisches, aber ausgezeichnetes Gesicht fesselte durch eine ungewöhnlich schöne Stirn, einen spöttischen Mund und so taubenhaft sanfte Augen, daß ihr Blick diesen übermüthigen Lippen niemals Recht gab. Während Welly sich mit ihr unterhielt, entdeckte er einen ihren Jahren vorangeeilten Geist von so pikantem Gepräge, daß er voll Interesse ihren Worten folgte und sich den ganzen Abend über dabei ertappte, die Art und Weise zu beobachten, wie sie ihre kleinen Gnaden austheilte oder entzog.
Von den meistens über eine Form gegossenen Erscheinungen der übrigen Damenwelt ziemlich gelangweilt, überließ sich Welly von nun an dem Reiz, den dies lebhafte, geistvolle Mädchen über ihn ausübte. Ohne sein Herz dabei betheiligt zu fühlen, suchte er sie überall auf, zeichnete sie aus und überhäufte sie mit den tausend kleinen, namenlosen Aufmerksamkeiten, die in den Augen der Welt so viel bedeuten. Je länger dieser Verkehr dauerte, je mehr Clara’s Gunst von vielen Seiten gesucht wurde, desto empfänglicher wurde seine Eitelkeit für die offenkundige Auszeichnung, womit sie ihn aufnahm. Eine gewisse Aufregung fing an sich seiner zu bemächtigen.
Unmerklich gewann das Interesse, das ihm das junge Mädchen einflößte, eine so bedeutende Herrschaft über ferne Gedanken, daß er sich dieselbe eingestehen mußte. Zwar wies er die Vorwürfe, die sein Herz ihm machte, mit Unmuth von sich, aber wenn ein neuer Brief von Emilie ankam, der trotz dem zarten Geist, der ihn dictirte, doch durch seine Mattheit einen unvortheilhaften Contrast mit dem frischen, lebensvollen Wesen Clara’s bildete – wenn er bei jedem leisen Versuch, sich aus den Fesseln zurückzuziehen, die er sich selbst so leichtsinnig übergeworfen hatte, Clara’s reizendes Gesicht erbleichen, ihren Uebermuth in die unterwürfigste Weichheit übergehen sah, so fehlte ihm der feste Wille, sich aus der Bestrickung dieser Verhältnisse loszureißen. Er wies alle störenden Gedanken ab und überließ sich blind dem Zauber der angenehmen Gegenwart.
Ein ganz unerwartetes Ereigniß rüttelte ihn aus seinem Selbstvergessen auf. Er erhielt die Nachricht, daß sein älterer Bruder durch einen Sturz vom Pferde plötzlich um’s Leben gekommen war, ein Unglücksfall, der ihn, da derselbe kinderlos starb, plötzlich in eine glänzende Lage versetzte.
Hier war, zu seiner Ehre sei es gesagt, sein erster Gedanke Emilie. Die Möglichkeit, dem Schwanken und der Unsicherheit seines Verhältnisses zu ihr sogleich ein Ende machen zu können, rief ihr liebliches Bild lebhaft vor seine Seele und weckte eine lebendige Sehnsucht, sie endlich wiederzusehen und besitzen zu dürfen.
Sobald seine erste Aufregung sich beruhigt hatte, eilte er zum Minister, um ihm die Veränderung seiner Aussichten mitzutheilen und sich Urlaub zu erbitten, da seine Anwesenheit am Orte des Todesfalles augenblicklich nothwendig war. Als er ausgesprochen hatte, faßte Herr von Wangenheim seine Hand und sagte mit Wärme: „Nehmen Sie meinen herzlichen Glückwunsch, lieber Welly. Dürfte ich ihm doch die Hoffnung zugesellen, daß Ihre jetzigen Verhältnisse Sie nicht veranlassen möchten, Ihre Talente dem Staate zu entziehen. Kehren Sie bald wieder zu uns zurück,“ fügte er mit einem bedeutungsvollen Blicke zu; „ich hoffe mit Bestimmtheit, daß wir Sie bald wiedersehen werden, und wünsche Ihnen mit doppeltem Vergnügen eine frohe Zukunft, denn Ihre Wünsche sind vielleicht auch die meinigen.“
Bei dieser directen Anspielung auf Absichten, die ihm in diesem Augenblicke so fern lagen, verlor Welly die Fassung, da er sich sagen mußte, daß sein Benehmen gerechte Ursache zu derselben gegeben habe. Mit ziemlicher Unsicherheit verabschiedete er sich bald darauf von den Damen; Clara’s trauriges Gesicht verwirrte ihn und weckte die Sympathie, die ihn zu ihr zog, aufs Neue mächtig genug, um den Enthusiasmus der vorigen Stunde bedeutend niederzudrücken.
Bei der Ankunft auf seinem neuen Erbe empfing ihn eine Masse von Geschäften und verwickelten Angelegenheiten, die ihn auf lange Zeit in Anspruch nahmen. Von hier aus schrieb er an Emilie, theilte ihr seinen Glückswechsel mit und bereitete sie auf seine baldige Ankunft vor, wozu die jetzige Lage der Dinge ihn berechtigte. Während er schrieb, zauberte seine Phantasie ihm ihre reizende Schönheit so lebhaft vor das innere Auge, daß er die alte Gluth wiederfand und mit feurigen Worten vom nahen Wiedersehen [131] zu ihr sprach. Jeder neuere Eindruck erblaßte vor der lebhaften Erinnerung, die in seiner jetzigen Einsamkeit ihr Bild mit den lieblichsten Farben malte. Ihre frische, mädchenhafte Heiterkeit, die ihn in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so entzückt hatte, ihre bei aller Zartheit so große Willenskraft, ihr Geist, ihre Unterhaltungsgabe, ihr reiches Gemüth – alles dieses wachte in tausend kleinen Zügen in seinem Andenken auf, und als endlich der rasche Wagen ihn zu ihr trug, klopfte sein Herz mit dem alten Feuer hoch auf.
Eben so glühend erregt, aber weniger freudig sah Emilie seiner Ankunft entgegen. Als sie seinen letzten Brief erhalten hatte, als ihre mütterliche Freundin mit Freudenthränen ihre Stirn küßte und ihr Glück und Segen wünschte, da hatte sie einen Moment so vollständiger Seligkeit, daß sie Alles vergaß, was sie jemals gelitten hatte. Solche Augenblicke einer erhabenen Freude geben einen Begriff und einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit. Das völlig befriedigte Herz fühlt, daß es einen Zustand geben muß, wo diese Regungen, die nur selten und bei manchen Menschen nie zum Durchbruch kommen, einst einen weitern Spielraum, eine gesicherte Dauer finden müssen, daß der Geist, der so übermenschlichen Aufschwungs fähig ist, im Menschenleben viele seiner besten Kräfte nicht zur Entwicklung kommen sieht. Kurz, wie immer, war auch bei Emilien dieser überwältigende Freudesturm; plötzlich fiel ein Gedanke schwer und eisig dazwischen – er wird kommen, flüsterte ihr Herz, aber wird er mich auch noch lieben? Ein erlöschender Blick in den Spiegel zeigte ihr ein verblühtes Antlitz, vor dem sie erschrak, wie vor einem Gespenst, und die begeisterte Freude, die ihr für einen Augenblick alle Schönheit zurückgegeben hatte, starb vor diesem Gedanken.
Endlich kam die Stunde, die mit so großem Herzklopfen, so mächtiger Gemüthsbewegung erwartet wurde. Da jetzt Emiliens Verbindung mit Welly nahe bevorstand, hatte Frau von Handel sie ermächtigt, ihrem Verlobten ein Zimmer in ihrem Hause anzubieten, da sie auf dem Lande wohnte, wo ein täglicher Besuch von Prag aus mit mehr Aufsehen verknüpft war, als wenn er einfach bei der gastfreundlichen alten Dame abstieg.
Als der leichte Wagen durch das Thor rollte, fühlte Emilie sich einer Ohnmacht nahe. Zitternd, mit gefalteten Händen und klopfendem Herzen, erwartete sie des Geliebten Eintreten, endlich, endlich öffnete sich die Thür, Welly stürzte herein und sank zu Emiliens Füßen. Bebend, außer sich ruhte sie in seinen Armen und drückte ihr Gesicht gegen seine Brust. Welly war gleich ihr in mächtiger Bewegung, aber als der erste Sturm ihrer Gefühle vorüber war, als sie zuerst einander Auge in Auge gegenüber standen, fuhr er zurück, er sah sie wieder und wieder an, er erblaßte und verstummte, endlich faßte er sie mit einer Bewegung der Angst in die Arme und rief: „Um Gotteswillen, meine Emilie, bist Du so krank gewesen?“
„Nein,“ erwiderte sie, indem sie schrecklich bleich wurde, „ich habe mich nur gegrämt.“
„Armer Engel,“ sagte er matt, „das war um meinetwillen, aber ich will Dir vergelten.“ Auf’s Neue überschüttete er sie mit zärtlichen Worten, mir Verheißungen einer seligen Zukunft; Emilie hörte ihm mit einer Seligkeit zu, die sie festzuhalten strebte, wie ein Armer einen süßen Traum. Es war ihre letzte glückliche Stunde.
Als sich Welly nach diesem ersten Wiedersehen allein fand, als der aufregende Einfluß der alten Erinnerungen vorüber war, fühlte er eine solche Mattigkeit, eine solche Entzauberung, daß er die Augen vor seinen eigenen Gedanken schloß, denn sie schienen ihm ein Abgrund. Was war aus diesen Reizen geworden, die ihn einst so mächtig gefesselt hatten? Kaum vermochte er aus den verblühten, zergrämten Zügen Emiliens jene bezaubernde Frau wieder herauszufinden, die er vor wenig Jahren verlassen hatte.
Mit allen Kräften suchte er diesen Eindruck los zu werden. Er richtete seine Gedanken auf ihre schrankenlose Ergebenheit für ihn, auf ihren liebenswürdigen Geist, ihr zartes, reiches Gemüth, er suchte sich zu bereden, daß das Zusammensein mit der einst so heiß Geliebten das erloschene Gefühl wieder anfachen würde, denn er war ein Mann von Ehre, und sie hatte seinetwegen ihre ganze Existenz hingegeben. Aber ach! die verlorene Illusion kam nicht wieder, und statt auf’s Neue zu erwachen, sanken seine Sympathien für Emilie mit jedem Tage mehr.
Nicht allein ihr Aeußeres fand er verändert, auch ihr ganzes Sein und Wesen. Die vollständige Isolirung, die ihr reizbares Zartgefühl ihr seit ihrer Scheidung zum Bedürfniß machte, hatte mit ihrer trüben Stimmung zusammengewirkt, um sie ganz in sich selbst versinken zu lassen. Ihre angeborene Heiterkeit war unter den tiefen Leiden, die sie getragen hatte, und unter anhaltender Kränklichkeit so ganz vernichtet worden, daß selbst Glück und Hoffnung sie nicht auf’s Neue zu beleben vermochten. Schon vor Eduard’s Eintreffen war die Furcht, seine Liebe zu verlieren, ein heimischer Gedanke bei ihr geworden, und darum vermochte sein Versuch, sie über sein Gefühl zu täuschen, nicht, sie vor den furchtbarsten Zweifeln zu schützen, als diese gefürchtete Wirklichkeit da war. Dieser nagende Zweifel machte die unglückliche Frau äußerst befangen und unsicher in Welly’s Gegenwart; sie wagte kaum ihrer Liebe Worte zu geben, obgleich sie dieselbe leidenschaftlicher empfand als je.
Mit jedem Tage fühlte der junge Mann sich unglücklicher. Er sprach von Hochzeit, von Freude und Zukunft, schon war der Zeitpunkt ihrer Verbindung festgesetzt, aber eine tiefe Bitterkeit, sogar ein aufkeimender Groll gegen die arme Emilie füllten sein Herz an. Obgleich seine Worte sie hätten befriedigen können, fühlte sie doch, wie es stand. Wenn zwischen zwei Menschen, die sich so nahe stehen, eine innere Scheidewand aufwächst, so ist das etwas Fürchterliches. Die Veränderung tritt erst so leise auf, daß sie kein Recht zu Vorwürfen oder Klagen giebt – es ist etwas, das man nicht sieht, aber fühlt, das sich, sobald man darüber sprechen will, in eigene, kränkliche Laune aufzulösen scheint. Aber das Herz läßt sich nicht bereden, ruhig zu sein, sein leiser Ruf tönt ruhelos herauf, und manchmal bricht ein scharfer Schrei hervor, der sich den Glauben erzwingt. Das eigene tiefe Herz weiß, wenn es elend sein muß, und in Emilien rief es immer lauter: Du wirst nicht mehr geliebt! Ihre Angst stieg zu einem so hohen Grade, daß sie sich zuletzt unfähig fühlte, diese Qual zu tragen. Sie faßte den Entschluß, sich um jeden Preis Klarheit über Welly’s Gefühle zu verschaffen.
Matten Schrittes, aber fest entschlossen betrat sie eines Tages Eduard’s Zimmer, um ihm zu sagen, daß sie an keine Zukunft mehr glaube, um ihm zu sagen, er sei frei. Er war nicht da. Zum Tode erschöpft, stützte Emilie sich auf seinen Schreibtisch, um ihn zu erwarten, da fiel ihr Auge zufällig auf einen angefangenen Brief und traf ihren eigenen Namen. Eine brennende Neugierde bemächtigte sich ihrer. Mit bebender Hand nahm sie das Blatt auf und las folgende Worte:
Wenn ich Dir noch nicht von hier aus geschrieben habe, wie ich doch versprach, so geschah es, weil ich in einer jener Stimmungen bin, über die zu sprechen fast noch mehr Muth gehört, als sie zu ertragen. Du weißt, mit welchen schönen Hoffnungen ich diese Reise antrat – wie wirst Du es aufnehmen, wenn ich Dir sage, daß sie alle zerstört sind! Ich habe Emilie wieder gefunden, aber wie! Verwelkt, abgestumpft, körperlich und geistig verändert bis zur Unkenntlichkeit. Und an diese Ruine muß ich mein frisches Leben knüpfen! Kaum ertrage ich den Gedanken an die Zukunft. Was könnte sie mir bieten, wäre ich frei! jetzt ist sie nur eine grausame Fessel für mich. Wenn die Ehre mich nicht bände, wenn ich noch zurück könnte – aber nein, nein, es ist unmöglich.“ – – – – – –
Als die unglückliche Frau bis hierher gelesen hatte, brach sie in krampfhaftes Lachen aus und stürzte, das Blatt in der Hand, aus dem Zimmer, aus dem Hause. Ihre Gedanken verwirrten sich, es war ihr als würde sie verfolgt, sie lief weiter, immer weiter, bis endlich Kraft und Besinnung sie völlig verließen, und ihre fühllose Gestalt am Wege niedersank.
Etwa eine Stunde später fuhr ein Reisewagen diese Straße entlang. Der Anblick einer elegant gekleideten Dame ohne Hut und Shawl, allein und ohnmächtig, in geringer Entfernung von Prag, mußte den Inhabern desselben auffallen. Sie hielten an, nahmen die junge Frau in ihren Wagen auf und brachten sie nach Prag in ein Gasthaus. Die Sorgfalt, die dort auf sie verwendet ward, brachte die Unglückliche bald wieder zu sich – kein wohlthätiger Schleier bedeckte ihr Elend mehr, mit voller Macht kehrte die Erinnerung wieder. So sehr auch Bewußtsein und Kraft sie verlassen hatten, als der furchtbare Stoß von geliebter Hand sie traf, eben so mächtig wuchs ihre Energie jetzt aus den Ruinen ihrer zerstörten Liebe empor. Mit klarer Willenskraft überdachte sie die Schritte, die sie jetzt thun wollte. Ihr empörtes Gefühl ertrug den [132] Gedanken nicht, je wieder auf irgend eine Weise mit Welly in Berührung zu kommen.
Sie sandte nach dem Prager Banquier, an den Werner die Gelder angewiesen hatte, die sie regelmäßig bezog, und ließ sich von ihm die Summe auszahlen, deren sie zu ihrem Vorhaben bedurfte. Dann schrieb sie mit fester Hand einige Zeilen an Frau von Handel, der sie das Vorgefallene andeutete. Sie sprach ihr den wärmsten Dank für alle empfangene Güte aus, verschwieg aber selbst ihr, wohin sie gehen würde. Nachdem sie diesen Brief dem Banquier mit der Bitte übergeben hatte, ihn durch einen Boten an die Adresse zu befördern, ließ sie sich einen Wagen bringen und verließ Prag noch an demselben Nachmittag.
Während der ersten Stunden ihrer Abwesenheit aus Frau von Handel’s Hause ward sie dort nicht vermißt, da sie die Gewohnheit hatte, die Morgenstunden in ihrem Zimmer zuzubringen. Welly vermißte allerdings, sobald er von einem kurzen Gang in den Garten zurückkam, sogleich seinen angefangenen Brief und konnte ein höchst unbehagliches Gefühl nicht entfernen. Als zur Mittagszeit Emilie umsonst in Haus und Garten gesucht ward, als Stunden vergingen, ohne sie zum Vorschein zu bringen, und die Unruhe der Frau von Handel zu immer lebhafterer Sorge stieg, weckte dieser Umstand eine namenlose Angst in seiner Seele. Endlich gestand er in seiner heftigen Aufregung der Frau von Handel, was vorgefallen war, und sie, die Emiliens Reizbarkeit, ihre stets erhöhte Gemüthsstimmung kannte, theilte seine Besorgnisse im höchsten Grade. Ohne selbst zu wissen wozu, stieg Welly endlich zu Pferde, um die Umgegend zu durchstreifen, als ein Bote Emiliens Brief überbrachte, der allen Zweifeln eine trostlose Lösung gab.
Er begann Emilie zu suchen, nach allen Seiten, nach allen Richtungen. Er verfolgte die Spur, die sich ihm von Prag aus bot, mit peinlicher Spannung, aber bald verlor er jeden Anknüpfungspunkt; es schien, als habe die junge Frau mit scharfsinniger Besonnenheit die Mittel gefunden, jede Spur zu verwirren.
Nach wochenlangen vergeblichen Nachforschungen kehrte Welly endlich entmuthigt und freudlos auf seine Güter zurück.
Etwa zwei Jahr später fuhr ein eleganter Wagen mit zwei herrlichen Rappen bespannt in Eger ein und hielt vor dem besten Gasthofe an. Ein junger Mann von vornehmer Haltung sprang aus dem Reisewagen und hob eine junge Dame von glänzender Schönheit heraus. In der Art, wie sie sich auf seinen Arm stützte und wie ihre hübschen, scheuen Blicke die seinigen suchten, erkannte man die schüchterne Liebe einer kaum zur Frau gewordenen Braut. Er selbst war mit zärtlicher Sorgfalt um sie bemüht, doch trug sein abgespanntes Gesicht nicht den Wiederschein eines so vollständigen Glückes als das ihrige.
Als er mit ihr die Treppe hinaufstieg, um die ihnen bestimmten Zimmer aufzusuchen, kam ihnen ein alter Herr entgegen, der mit gebeugtem Haupte und, wie es schien, von schweren Gedanken erfüllt, nicht von der Erde aufsah. Bei seinem Anblick erbleichte und schwankte der junge Mann, in diesem Augenblick sah der Aeltere auf und fuhr mit einem lauten Ausruf zurück. Als er sich von der ersten Bewegung erholt hatte, nahmen seine Züge einen furchtbaren Ausdruck an; er ergriff den Arm des jungen Ankömmlings und sprach mit eisigem Ernst: „Kommen Sie mit mir, Herr von Welly!“ Als jener betroffen zurückwich, rief der Greis mit schrecklicher Stimme: „Elender, Du mußt!“
Von einer furchtbaren Angst erdrückt, fast willenlos folgte Eduard Welly seinem Führer, der ihn über die Straße in das gegenüber liegende Haus zog. Ohne ein Wort zu sprechen, führte er ihn dort die Treppe hinauf, indem seine Hand stets mit eisernem Griff den Arm des jungen Mannes festhielt, und öffnete die Thür eines kleinen Zimmers. Von unheimlicher Ahnung betroffen hatte Welly die Hand seiner jungen Frau losgelassen, die stumm und bestürzt den Beiden folgte.
Der alte Mann zog Welly in den Hintergrund des Zimmers, und indem er von dem dort befindlichen Bett den Vorhang zurückwarf, rief er mit dem Ausdruck des höchsten Schmerzes: „Da sieh Dein Werk!“ und sank vor dem Lager nieder.
Noch einmal stand Welly vor Emilien. Zu Asche erbleicht, mit wankenden Knieen stand er da, und sein Blick wurzelte auf dem abgezehrten Antlitz der Geschiedenen. Friede und Verklärung leuchteten von dem ruhigen Gesicht, ein Lächeln voll Milde umschwebte die erblaßten Lippen, und die bleichen, feinen Hände lagen gefaltet auf ihrer Brust.
Nach einer tödtlich langen Pause erhob sich Werner und sprach mit unnatürlicher Ruhe: „Vor zwei Jahren ließ der Zufall mich mein Weib hier finden – es war wenige Monate nachdem Sie ihr den Todesstoß gegeben hatten. Gott sei Dank, sie gab zu, daß ich bei ihr blieb. Zwei Jahre lang sah ich dies holde Geschöpf vor meinen Augen langsam dem Tode zuwelken, ein Opfer des nagenden Grams. Während dieser Zeit habe ich jeden Tag in meinem Herzen gelobt, an Ihnen, der sie zu Grunde gerichtet hat, eine heilige Rache zu nehmen – ich wartete nur, bis sie meiner nicht mehr bedurfte. Aber fürchten Sie nichts,“ fuhr er mit bitterm Ton fort, „Sie sind sicher. Der Mann, den Sie beleidigt, dem Sie nicht nur sein Alles geraubt, sondern es nachher wie ein werthloses, abgenütztes Spielzeug bei Seite gestoßen haben, dessen Haar Ihre Schuld bleicht, dessen Glück durch Sie in Jammer verwandelt ward – er wird Ihnen nichts anhaben, denn ich habe es dieser Verklärten in ihrer Sterbestunde gelobt. Ihnen zu vergeben vermag ich nicht, aber ich überlasse Sie ihrem eigenen Gewissen und der Hand Gottes, die Sie auch heut diesen Weg geführt hat! Gehen Sie, verlassen Sie diese Stätte, die Ihre Gegenwart entheiligt, und vergessen Sie, was Sie hier gesehen – wenn Sie es können!“
Mit diesen Worten begrub der alte Mann sein blasses Gesicht in den Kissen des Sterbelagers.
Wie von Furien verfolgt floh Welly aus dem Hause, ohne auch nur die todtenbleiche Clara zu bemerken, die ihm halb bewußtlos folgte.
Welly ist ein berühmter Staatsmann geworden und steht an der Spitze einer glänzenden reichbegabten Familie, aber niemals wieder hat man ihn lächeln sehen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Ofifcier