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Das Asyl einer vielbedrängten Königsfamilie

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Textdaten
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Autor: E. W.
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Titel: Das Asyl einer vielbedrängten Königsfamilie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 506–508
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[506]
Das Asyl einer vielbedrängten Königsfamilie.


„Misérable château!“ schrieb Rustan, Napoleon’s Leibmameluk, mit Kreide auf die Fensterladen des Landhauses bei Königsberg, in dem Friedrich Wilhelm III. und Louise in den Zeiten der tiefsten Erniedrigung Deutschlands während der Sommermonate 1808 und 1809 gewohnt hatten. Es war zu der Zeit, als sein Herr am 12. Juni 1812 sich sofort nach seinem Eintreffen in Königsberg nach den „Hufen“ hatte hinaus fahren lassen, um dort Logis zu nehmen, aber schon nach zweistündigem Aufenthalt sehr enttäuscht nach der Stadt zurückgekehrt war. Napoleon liebte es, sich an Orten einzuquartieren, die der von ihm gekränkten Herrscherfamilie zur Wohnstätte gedient hatten, und die schöne Preußenkönigin war dem großen Kaiser keine gewöhnliche Frau auf dem Fürstenthron seit jener bekannten Unterredung in Tilsit, wo sie, freilich vergebens, um Erleichterung des Schicksals ihres unglücklichen Landes gebeten hatte. Napoleon brach beim Abschied eine Rose und reichte sie ihr mit einer galanten Redensart.

Sie sprach in hohen Sitten
Mit königlichem Sinn:
„Ich habe nichts zu bitten
Als Preußens Königin;
Als Mutter meiner Söhne
Thu’ ich die Bitt’ allhie,
Zu geben mir die schöne
Stadt Magdeburg für sie.“

Napoleon blieb ungerührt, aber noch auf St. Helena äußerte er zur Ehre der Königin: „Sie blieb trotz meiner Gewandtheit und aller meiner Mühe Herrin der Unterhaltung und dies mit so großer Schicklichkeit, daß es nicht möglich war, darüber unwillig zu werden. Auch muß man sagen, daß ihre Aufgabe wichtig, und die Zeit kurz und kostbar war.“ Dessen mochte er sich erinnert haben, als er vor seinem Zuge gegen Rußland, mit dessen Kaiser er damals über das preußische Herrscherhaus hinweg Frieden geschlossen hatte, in der alten Krönungsstadt Rasttag hielt und seinen Reisewagen hinaus dirigirte, um zu übernachten, wo die edle, schon am 19. Juli 1810 heimgegangene und als „Schutzgöttin des Volkes“ angebetete Königin Erholung von ihren Sorgen und Kümmernissen gesucht und gefunden hatte.

„Misérable château!“ – Wahrhaftig! Der Leib-Mameluk that dem einfachen Landhause schon viel zu viel Ehre an, wenn er es überhaupt ein „château!“ nannte; es hat nie dafür gelten wollen. Aber noch ehrender ist sein „misérable“ . Es drückt seine allerhöchste Leibmameluken-Verwunderung darüber aus, daß in einem so elenden Häuschen ein König und eine Königin Hof halten konnten, von denen die Welt sprach. Aber das ist es gerade, was uns dieses Plätzchen Erde bemerkenswerth macht; ja, es ist überhaupt das Einzige, was daran bemerkenswerth ist. Stände da wirklich ein Schloß, auch nur ein recht bescheidenes, so zeigte vielleicht ein guter Königsberger in seinem Localpatriotismus darauf: „Da haben einmal die Eltern unseres Kaisers gewohnt!“ aber darüber hinaus spräche Niemand davon, und die „Gartenlaube“ hätte nicht ein Bild begehrt, um allem Volk das mehr als einfache Haus zu zeigen, mit dem der bürgerliche Sinn des hohen Dulder-Paars sich zum zweimaligen Sommeraufenthalt begnügte.

Wenn man das Steindammer Thor, jetzt einen stattlichen Festungsbau, verläßt und links über das Glacis schreitet, gelangt man auf eine breite Chaussee, die auf beiden Seiten von Landhäusern mit baumreichen Gärten eingefaßt ist. Etwa zehn Minuten weiter durchschneidet sie in einer Einsenkung ein Bach, dessen ziemlich hohe, mit Bäumen bepflanzte Ufer zu hübschen Anlagen benutzt sind. Einige dieser Häuser, von wohlhabenden Königsbergern gebaut, jetzt aber meist zu Gastwirthschaften eingerichtet, präsentiren sich nicht übel im Villenstil, einfach sind sie aber alle, wenn man sie mit Bauten zu ähnlichem Zweck in anderen Städten vergleicht. Eine kleine Viertelstunde hinter der Brücke über den Bach, da wo die Chaussee die Höhe des Pregelufers erreicht, liegt rechts „Louisenwahl“, links der dazu gehörige sogenannte „Busolt’sche Garten“, ein kleiner Park, der in seinem hinteren Theil jenen Bach aufnimmt, dessen Windungen ihm eine angenehme Abwechselung geben.

Das Haus selbst ist von Ziegeln gebaut, nur eine Etage hoch, nach der Vorderfronte zu mit einem drei Fenster breiten Ueberbau ohne jede architektonische Verzierung, übrigens mit einem verhältnißmäßig hohen Mansardendache versehen, nur mit Kalk abgeputzt und bisher nicht einmal durch eine Inschrift ausgezeichnet. Der hölzerne Vorbau ist kürzlich neu ergänzt, ungefähr in der Weise des älteren, nur etwas niedrigeren. Das Gewächshaus zur Seite ist ebenfalls neuern Ursprungs. Ohne eine Stufe steigen zu müssen, gelangt man durch die unter dem Balcon befindliche Mittelthür sogleich in die Wohnräume: ein kleines Gartenzimmer und zwei Stuben mit je zwei und einem Fenster zu beiden Seiten. Nach der Hofseite zu liegen noch einige Hinterzimmer neben Flur und Küche. Aus dem Mansardenstübchen hat man eine hübsche Aussicht über das breite Pregelthal bis zum Frischen Haff. Alle Räume sind niedrig, kaum neun Fuß hoch, ohne Schmuck, ziemlich beschränkt – das Ganze sicher nur den bescheidensten Ansprüchen einer Familie genügend, die sich in bürgerliche Verhältnisse zu fügen genöthigt ist. Wie ein fürstliches Paar mit mehreren Kindern und der ganz unvermeidlichen Dienerschaft dort monatelang hausen konnte, erscheint uns fast unbegreiflich. Als man die Königin auf die [507] Beschränktheit ihres Asyls aufmerksam machte, erwiderte sie lächelnd: „Ich habe gute Bücher, ein gutes Gewissen, ein gutes Pianoforte, und so kann man unter den Stürmen der Welt ruhiger leben, als diejenigen, welche diese Stürme erregen.“

Das Wohnhaus in Louisenwahl ist gegenwärtig eines der am wenigsten ansehnlichen auf den sogenannten Hufen (oder Huben). Anders freilich zu Anfang dieses Jahrhunderts. Damals führte noch hinter dem alten Steindammer Thor ein einfacher Landweg in ein langhingestrecktes Dorf hinein, von dem noch jetzt einige schwache Reste sichtbar sind.

Louisenwahl bei Königsberg.
Für die Gartenlaube photographirt von A. Michalki.

Der Weg muß schlecht genug gewesen sein, denn es war die Anlage eines erhöhten Bohlensteiges seitwärts nöthig befunden worden, um ihn zu jeder Zeit gangbar zu erhalten. Auch seine Fortsetzung weiter in’s Samland hinein ließ viel zu wünschen übrig, wie die königliche Familie bei einer Ausfahrt nach dem kaum zwei Meilen entfernten, jetzt auf der Bahn in zehn Minuten erreichbaren Medenau zu ihrer großen Beschwerde erkennen mußte, da man vier Stunden brauchte, um an Ort und Stelle zu gelangen, und bei der Rückfahrt allerhand Malheur hatte, wie es ganz gewöhnlichen Sterblichen manchmal bei solchen „Vergnügungstouren“ begegnet. Das damals dem Regierungs- und Schulrath Busolt, einem großen Verehrer der Pestalozzischen Lehrmethode, gehörige Landhaus in „Hippel’s Garten“ war gewiß im Vergleich zu den Bauerhäuschen auf den Hufen ein ansehnlicher Bau zu nennen, und so wird die Wahl erklärlich.

Der Park auf der andern Seite der Landstraße galt damals jedenfalls für eine Königsberger Sehenswürdigkeit. Der berühmte Humorist Th. von Hippel, Verfasser der „Lebensläufe in aufsteigender Linie“, des Buches über die Ehe und des Lustspiels „Der Mann nach der Uhr“ hatte nach Erwerb des Grundstücks (dessen ursprünglicher Name „Pojentershof“ auf preußisch-heidnischen Besitz zu weisen scheint) dort einen „englischen Garten“ angelegt und ihn in seiner Weise mit sinnigen Anlagen versehen. Die eine Partie ahmte einen Kirchhof nach, der mit Leichensteinen, Schädeln, aufgeworfenen Hügeln und Grabesblumen besät war. Vorn stand auf einer Steinplatte: „Ich, du, er, wir, ihr, sie.“ In der Mitte dieses Todtenackers las man auf einem Steine:

Hier ist all’ Eines,
Herr und sein Knecht,
Großes und Kleines,
Adel und Schlecht.
Und so auch droben
im Himmelreich.
Unten und oben
ist alles gleich.
Glückliches Leben
ohn’ Mein und Dein!
Lern’, Wandrer, streben,
Deß werth zu sein.

An dem Anfange eines langen Ganges im Garten stand auf der Seite an einem Baume:

Dies Leben ist ein Gang,
Er sei kurz oder lang,
In beiden Fällen Dank.

An einer Stelle, wo drei Wege, der eine in die Tiefe des [508] Waldes, der andere höher hinauf, der dritte über eine Brücke führen, stand Dies:

Verliebte gehn im Thal,
Und Denker suchen Höhen;
Die Wahl hat ihre Qual,
Wir gehen, wo wir gehen.

Der König hatte sich eine Bank an einem tiefbeschatteten Gange gewählt, von der in’s Thal hinab es nur eine durch das Laub hoher Bäume gestattete Ansicht giebt, recht geeignet, den dunkeln Gängen des Schicksals nachzusinnen, die dieser hohe Herr zu machen hatte; die Königin dagegen einen sonnigen Hügel, mit Rosen aller Art bepflanzt, neben einer Wand hoher Bäume, von dem eine reizende Aussicht nach dem im Abendlichte glänzenden Frischen Haff dem Auge geöffnet ist. Die königlichen Kinder ergötzten sich an dem Bache und den verschiedenen Quellen im Garten, die Steine und Dendriten mit sich führten.

Während dieses Aufenthaltes im Busolt’schen Garten studirte die Königin mit großem Eifer die Vorlesungen des damaligen Professors Süvern zu Königsberg über die allgemeine Geschichte des neuern Europa, von welchen ihr der Kriegsrath Scheffner, der durch seine Selbstbiographie auch in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, eine Abschrift verschafft hatte. Die Königin bewies bei der Beurtheilung der einzelnen Geschichtsmomente einen seltenen Scharfsinn und in der Unbefangenheit ihrer oft sehr kindlichen Fragen eine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit. In allen ihren Ansichten über die Geschichte und den Briefen an Scheffner trat ihr deutscher Sinn und ihre Vorliebe für germanisches Wesen sehr lebhaft hervor. Andererseits aber waren ihre Kenntnisse in der alten Geschichte sehr naiver Natur.

„Welche Kriege nennt man die punischen Kriege?“ fragte sie einmal. „Gingen sie alle gegen Carthago? Die Gracchischen Unruhen, welche sind die? Verzeihen Sie, Sie haben es mir aber erlaubt –“ und dann zum Schluß sagt sie: „Nun ist es wahrlich genug, und ich habe Sie schön mit Fragen belästigt. Fragt man aber nicht und schämt sich seiner Einfalt gegen Jeden, so bleibt man immer dumm, und ich hasse entsetzlich die Dummheit.“

Scheffner wußte, daß die Königin an Herzensbildung und Gesinnungstüchtigkeit weit über ihrer ganzen Umgebung stand, und hatte stets die größte Verehrung für sie. Aber von dem Hofleben im Ganzen gewann er den allerschlimmsten Eindruck. „Wer Hofdienerey, hohe und niedere, nicht aus Noth übernimmt,“ sagt er, „mit dem steht es entweder im Kopf oder im Herzen, oft in beyden, nicht ganz recht.“ Und an einer andern Stelle: „Einen Hof wünsch’ ich aber nicht wieder zu schauen, denn ich glaube, an einem, den man mir als einen vorzüglichen gerühmet, doch wahre Wesenlosigkeit bemerkt zu haben.“ Man merkte es auch seinem fortwährenden Drängen und Treiben in den Briefen an die Königin an, wie sehr er eine durchgreifende Aenderung, namentlich auch in der Erziehungsweise des Kronprinzen, für geboten hielt.

Alle diese Vorgänge liegen in Folge der Zusammenwirkung von mancherlei Umständen unserem Bewußtsein in so weiter Ferne, daß wir über uns selbst den Kopf schütteln möchten, wenn wir uns sagen, daß der jetzt regierende Kaiser ein Sohn jener Königin Luise ist, um die sich bereits längst eine Art von Mythos gebildet hat. Das Jahr 1848 hat so tief in unsere Geschichte eingeschnitten, daß alles Vor und Nach wie durch eine weite Kluft getrennt ist. Seitdem ist wieder schon ein Viertel-Jahrhundert verflossen, und damals war die geliebte Königin schon achtunddreißig Jahre todt. Sie erlebte nicht einmal den Befreiungskrieg gegen Frankreich, das dann drei Dynastien gewechselt und zum zweiten Male eine republikanische Regierungsform angenommen hat, nachdem es in einem neuen Kampfe gegen Deutschland unterlegen. Deutschland aber hat den endlos langweiligen Deutschen Bund überwunden und sich nach so vielen vergeblichen Versuchen, zu einer Constitution zu gelangen, vor den Thoren von Paris einen Kaiser gegeben. Und Luise, die hohe Frau, die im Mausoleum zu Charlottenburg unter ihrem wunderbar schönen Marmorbilde begraben liegt, ist seine Mutter. Als sie starb, war Wilhelm dreizehn Jahre alt. In einem Briefe, den sie nicht lange vor ihrem Tode an ihren Vater schrieb, sagte sie: „Unsere Kinder sind unsere Schätze, und unsere Augen ruhen voll Zufriedenheit auf ihnen.“ Sie schilderte dann den Kronprinzen und fährt fort: „Unser Sohn Wilhelm wird, wenn mich nicht Alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig.“ Sie hat sich nicht getäuscht; aber mit diesen Eigenschaften allein wäre er doch nicht der „Kaiser Wilhelm“ geworden. Er war nur in diesen „wie sein Vater“; freilich hätte seine Mutter eine Seherin sein müssen, um zu rathen, was ihm bestimmt war, zu erreichen.

Der Kaiser hat im vorigen Jahre Luisenwahl angekauft. Auf dem Lieblingsplätzchen der Königin Luise wurde im Juni 1871 eine Friedenslinde gepflanzt. Sie hat kräftig Wurzel geschlagen, und am letzten 2. September, dem Tage bei Sedan, ist sie Zeuge eines wahrhaften Volksfestes gewesen. Damals wurde auch der Grundstein zu einer würdigen Einfriedigung gelegt, deren Kosten durch Beiträge der Bürger aufgebracht wurden. Als Kaiser Wilhelm kürzlich auf der Reise nach Petersburg in Königsberg rastete und den Busolt’schen Garten besichtigte, machte er dem Comité das Versprechen, ein Standbild der Königin Luise zur Aufstellung auf diesem steinernen Unterbau zu schenken. Es kann keine sinnigere Stelle finden, als auf dem Platze, den die um die Zukunft ihres Volkes tief bekümmerte Königin durch ihre Thränen geweiht hat, und unter dem Schatten der Linde, die zum Andenken an den ruhmreichsten Frieden der deutschen Nation gepflanzt ist.
E. W.