Bunte Plaudereien aus London, Paris und vom Meeresstrande. Nr. 1
[591] Bunte Plaudereien aus London, Paris und vom Meeresstrande. Nr. 1. Weil uns auf dem Festlande ein Vergleichsmaß fehlt, wird jede Schilderung der Wunderwelt Londons ungenügend und dürftig ausfallen. Von dem Gewirre der zahllosen Wagen jeder Gattung, der Tausende von Fußgängern, die hier die unabsehbaren Wege hin- und wieder eilen, können sich nur Augenzeugen einen Begriff machen. Dies Wogen wird in dem Augenblick noch vermehrt durch die Hunderttausende von Fremden, welche die Ausstellung nach der Weltstadt zieht. Die erste auffallende, wohlthuende Erscheinung sind die Mitglieder des prachtvollen Institutes der Policemänner. In ihrer netten, kleidsamen Uniform streifen diese Hüter der öffentlichen Ordnung rastlos auf und nieder, gefällig und dienstfertig gegen Jedermann. Bald sieht man Einen einer alten Dame beim Aussteigen auf gefährdeten Wegen dienstfertig aus dem Wagen helfen, bald mit dem Anstande eines Gentleman höflich Auskunft ertheilen, stets artig, bescheiden und uneigennützig, denn ein etwa angebotenes Trinkgeld für kleine Dienste wird stets artig, aber entschieden abgelehnt. Statt des nutzlosen Säbels unserer Polizeihelden trägt er, nebst der starken Waffe des Gesetzes, einen aufgerollten Wachstuchmantel gegen Wind und Wetter, eine feste Blendlaterne, die ihm dient beim Aufsuchen gefährlicher und verdächtiger Schlupfwinkel, und ein paar starke Schnüre, um Widerspenstige, die gegen die bestehende Ordnung verstoßen, mit starkem Arm unschädlich zu machen. Eine durchdringende schrille Pfeife gilt als Noth- und Hülfssignal, und vervollständigt die praktische Ausstattung des Dieners der Gesetze. Nie wird sich ein Policemann unnütz machen oder sich in Dinge mischen, die ihn nichts angehen, und trotz ihrer energischen Strenge gegen alle Ungehörigkeit erfreuen sich die Mitglieder dieses segensreichen Institutes doch der größten Beliebtheit beim Publicum.
Sehr komisch ist die Art und Weise, auf welche die öffentliche Mildthätigkeit auf den Straßen Londons in Anspruch genommen wird, und in wie verschiedener Weise die Bettler dort ihr Brod verdienen. Eine Anzahl Jungen mit geschwärzten oder roth und grün bemalten Gesichtern, Händen und Füßen, in den abenteuerlichsten Lumpen herausgeputzt, laufen neben den Wagen einher, indem sie die Aufmerksamkeit der Fahrenden durch Radschlagen und andere, mitunter sehr possirliche und halsbrecherische Jongleurkunststückchen auf sich zu ziehen und ihrem Publicum einen Penny aus der Tasche zu locken suchen. Das viel bewunderte Geschlecht der englischen Clowns in den Kunstreiterbuden tritt hier im Embryo auf. Mit Stentorstimme brüllt ein ganz anständig gekleideter Mann ein französisches Lied oder eine italienische Arie herab, geduldig abwartend, ob ihm seine zweifelhafte Kunstfertigkeit aus der Hand eines mitleidigen Enthusiasten einige Groschen zuwirft. Dort, wo an der Straßenecke etwas mehr Raum zur Entwicklung ihres Repertoirs sich findet, hat sich eine Gesellschaft sogenannter Negersänger mit geschwärzten Gesichtern etablirt, ihre grellen Schwänke auf offener Straße zu produciren. Soldaten benutzen spazieren wandelnd die Zeit ihrer Muße, dürfen jedoch außer ihrer Dienstzeit nie Waffen tragen, so wie der Officier nichts Eiligeres zu thun hat, als nach Erfüllung seiner dienstlichen Pflichten sich sofort in die bequemen Civilkleider zu werfen.
Eine Menge Leute durchstreifen mit riesengroßen Theaterzetteln und andern Affichen behangen die Straßen, da Theaterannoncen größtentheils nur auf diese Weise verbreitet werden, während nicht wie bei uns die Zeitungen und Straßenecken das Publicum von den zu erwartenden Kunstgenüssen in Kenntniß setzen. Nachts tragen diese Burschen großen Theils ihre Ankündigungen in Cylinderform und Transparent-Beleuchtung auf dem Kopfe, was sehr possirlich aussieht. Ein neues Stück im Prinzeßtheater und die am Strande ausgestellte einbalsamirte Leiche der Pastrana, die Teufelskünste des Seiltänzers Blondin im Krystallpallaste und die Predigt eines beliebten Seelsorgers in einer Modekirche werden in gleicher Weise angekündigt.
Abends setzen die Theater in strahlendem Gaslicht durch riesengroße flammende Lettern das Publicum in Kenntniß, wie viel Hundert Aufführungen eine der beliebten Vorstellungen bereits erlebt habe. Nach wenig Stunden bringt Jedermann eine Masse Verkaufsankündigungen und fromme Tractätchen heim, die ihm in die Hände gedrückt worden. Mahnungen zur Gottesfurcht und Frömmigkeit und Einladungen zum Besuche sehr zweideutiger lebender Bilder erhält er auf demselben Wege nur wenig Schritte auseinander. Ein frommer Begeisterter predigt auf offener Straße und donnert gegen die Sündenlust der Welt, während an der nächsten Ecke von Haymarket in der wirklich frommen Hauptstadt von Old-England ein weiblicher Sclavenmarkt geduldet wird, wie ihn die schmutzige Phantasie eines ausschweifenden französischen Romanschriftstellers nicht widerlicher ersinnen könnte.
Es fällt Dir ein, daß Du etwas zu Hause vergessen hast; wenige Schritte lang, und eine der zahllosen Telegraphenstationen bringt die gewünschte Nachricht um einige Pfennige zu Dir in die weitentfernte Wohnung. Fast sinnverwirrend wirkt das wilde bunte Treiben auf uns ein, wir flüchten uns in eine Restauration, wo sich wieder des Ungewohnten viel findet. Der Engländer ist in Bezug auf seine Tafelfreuden und die Anforderungen an selbe überaus mäßig. Sich hermetisch von seinem Nachbar abschließend und durch Seitenwände von ihm getrennt, wie bei uns im Theater durch Logen, genügt ihm eine dünne, ungesalzene Suppe, ein Stück Fleisch, welches der schneeweiß gekleidete Koch auf einem Rädertischchen zu ihm hinrollt, und von einem mächtigen Rückenstück oder einer Keule absäbelt, so viel der Gast wünscht, und das er mit riesengroßen, in Wasser gekochten Erbsen genießt, so wie Käse und Butter, ersterer ebenfalls in großen Blöcken vorgesetzt und mit Senf genossen, vollständig zu einem ausreichenden Mittagsbrod. Als Getränk zieht der Londoner sein gutes Bier dem Weine vor, der meist nur stark mit Wasser gemischt getrunken wird. Der billige Seefisch, der Hummer, oder als Dessert die große westindische Ananas, welche das Stück mit fünf Silbergroschen bezahlt wird, gehören schon zu den lucullischen Ausschreitungen des englischen Feinschmeckers.
Nach kurzer Rast setzen wir unseren Spaziergang fort, oder wir besuchen einen der in massenhafter Zahl etablirten Vergnügungsorte für die Menge. Nicht die prachtvolle Alhambra oder Cremongarden, gegen welche [592] das Kroll’sche Etablissement in Berlin oder das Victoriatheater mit seinen prächtigen Räumen winzig erscheint, wo zahllose Flammen ein Meer von Licht verbreiten und Gaukler aller Nationen die Menge amüsiren, ja selbst ganz erträgliche Balletvorstellungen das Publicum locken, nicht London-Pavillon, wo Chinesen mit unbegreiflicher Gewandtheit sich mit spitzen Messern werfen und diese einen engen Kreis um das menschliche Ziel bilden, nicht Music-Hall, wo Leotard seine wilden Sprünge macht, alle diese großen, wunderbar reich ausgestatteten Locale ziehen uns weniger an, als ein kleines Theater am Strand, wo komische Gerichtsscenen aufgeführt werden, in welchen die Ereignisse des Tages, die Schwächen und Thorheiten hervorragender Persönlichkeiten mit schlagfertigem, aber beißendem Witz gegeißelt werden. Der Proceß der „Emailleuse“, Mad. Rachel aus Paris gab das Thema her, und der viel besprochene, Aufsehen erregende Proceß derselben gegen eine hochgestellte Modedame wurde in parodirender Form unter dem jubelnden Gelächter der Zuschauer dargestellt. Die „Emailleuse“ besitzt das Talent, Gesicht, Hals, Arme, Haare, Augenbrauen etc. etc. ihrer Kunden in der Weise zu retouchiren, daß die von ihr Behandelte nicht nur um viele Jahre jünger aussieht, als Mutter Natur es für geeignet hält, sondern die Farbe widersteht mehrere Tage lang allen Einflüssen der Luft und der Witterung, ist mit einem Wort täuschender und dauerhafter aufgetragen, als dies manche Schöne in verschwiegener Kammer zu thun im Stande ist, wenn sie, der Natur grollend, derselben nachzuhelfen versucht.
Lange Zeit war die reiche Lady L. eine treue Kunde der verschwiegenen „Emailleuse“, ohne nach dem Preise zu fragen, und ließ sich von der französischen Künstlerin verjüngen und verschönen, als letztere mit einer Rechnung über die bescheidene Summe von 5000 Pfund an’s Licht rückte. Vergebens suchte die erschrockene Dame ihre Verschönerin zu einer milderen Forderung zu bewegen, ebenso vergebens bot sie ihr, da sie ohne Einwilligung ihres nicht in das Geheimniß gezogenen Gemahls über eine solche Summe nicht verfügen konnte, sogar einen Theil ihrer Diamanten an. Wohl oder übel mußte sie ihren Gatten von der sonderbarsten aller je contrahirten Schulden in Kenntniß setzen, der denn auch die Bezahlung auf das Entschiedenste verweigerte. Mad. Rachel wurde klagbar, und die Persönlichkeit der Verklagten, die Originalität des Processes und die Details, die über die Art und Weise der Kunstleistungen der Künstlerin an Lady L. in den Gerichtsverhandlungen zur Sprache kamen, verfehlten nicht in allen Kreisen das größte und für die Betreffenden sehr unliebsame Aufsehen zu machen. Der Proceß gab „für das Geschäft der Madame Rachel eine Reclame vom reinsten Wasser“, der Gerichtshof indeß, wenn er auch anerkennen mußte, daß die Leistungen der Mad. Rachel vollständig tadellos gewesen und Lady L. früher viel jünger ausgesehen habe, als jetzt – man war so ungalant von zwanzig Jahren zu sprechen – ermäßigte doch die Forderung von 5000 auf 1000 Pfund Sterling, welche das Gericht der Emailleuse zuerkannte.
Die stolze Künstlerin aber, die sich in ihrem Recht verletzt glaubte, strich die ganze Forderung und nahm nichts, weil sie nicht Alles bekommen konnte.
Wenn auch nicht zu bezweifeln steht, daß die Geheimnisse der Mad. Rachel in Zukunft noch oft von den Löwinnen der Hauptstadt in Anspruch genommen werden dürften, so zweifle ich doch, daß dies ohne vorherigen Accord über den Preis geschehen wird.