Die Entstehung der Ouvertüre zu Don Juan
[592] Die Entstehung der Ouvertüre zu Don Juan. Der bekannte Schauspieler und Sänger Ed. Genast, dessen persönliche künstlerische Verdienste Niemand in Abrede stellen wird, läßt in seinen Theatermemoiren seinen Vater über die Entstehung der Don-Juan-Ouvertüre erzählen: „Von Don Juan war bereits eine Theaterprobe gewesen, aber noch war keine Ouvertüre fertig, auch bei der Vorprobe fehlte sie noch, und Guardasoni machte dem Componisten ernstliche Vorwürfe, daß wahrscheinlich nun die Oper ohne Ouvertüre gegeben werden müsse. Mozart aber, ganz unbekümmert darüber, nahm noch am Tage vor der Hauptprobe ein Souper bei einem geistlichen Herrn ein, zu welchem auch Bassi Guardasoni, Wahr und ich geladen waren. Die Gesellschaft war sehr vergnügt; der geistliche Herr, ein Lebemann, regalirte uns mit trefflichen Speisen und mit noch trefflicheren ungarischen Weinen, denen Mozart tüchtig zusprach. Die immer lebhaftere Unterhaltung ging theils in italienischer Sprache vor sich. Bis auf den geistlichen Herrn waren uns Allen die Zungen etwas schwer geworden, und erst nach 1 Uhr trennte sich die Gesellschaft. Director Wahr und ich übernahmen es, Mozart nach Hause zu bringen; auf dem Wege dahin sang er immerfort Phrasen aus Don Juan, kam aber beständig wieder aus das Champagnerlied (?) zurück. Die scharfe Octoberluft und das Singen hatten ihn, als wir in seiner Wohnung ankamen, völlig seiner Sinne beraubt. Im vollen Anzuge warf er sich auf’s Bett und schlief sofort ein. Da uns die Beine auch schwer geworden waren, und wir den weiten Weg nach Hause scheuten, setzten wir uns auf ein altes Federsopha, und Morpheus nahm uns ebenfalls in seine Arme. Aus unserem süßen Schlummer wurden wir plötzlich durch kräftige Töne geweckt, und sahen bei unserem Erwachen voll Erstaunen Mozart bei einer düstern Lampe an seinem Pulte sitzen und arbeiten. Keiner von uns wagte ein Wort zu sagen, und mit wahrer Verehrung hörten wir die unsterblichen Gedanken sich entwickeln. Ohne ferner ein Auge zu schließen, hörten wir zu und verhielten uns ganz still. Nach 9 Uhr sprang er mit den Worten aus: „Na, da steht es ja.“ Ein Gleiches thaten wir, und mit Erstaunen rief er: „Ja, was Teuxel! wie kommt denn Ihr daher?“ Mit Begeisterung küßten wir ihm seine schönen weißen Hände. Er trennte die Partitur und bat uns, sie sofort den vier Copisten im Büreau zu übergeben. „Nun woll'n wir a Bissel schlafen,“ sagte er. Abends lagen, theilweise noch naß, die ausgeschriebenen Stimmen auf den Pulten.“ – So weit Genast!
Und nun fragen wir: „Sonst Nichts?“ Mozart kommt in der Nacht um 1 Uhr so todtmüde und angetrunken nach Hause, daß er vollständig angekleidet auf's Bett und in einen tiefen Schlummer fällt. Eine Stunde später sitzt er schon wieder an seinem Pulte und componirt die Don-Juan-Ouvertüre; um 9 Uhr wurde die Partitur bereits in vier Theile getheilt, vier verschiedenen Copisten zum Aufschreiben gebracht, woraus natürlich folgt, daß jedes Orchestermitglied seine Ouvertüre auf vier verschiedenen Blättern bekam; sie wurden noch naß auf die Pulte gelegt und Abends ohne Probe heruntergespielt.
So unkünstlerisch, unverantwortlich leichtsinnig soll Mozart mit der Ouvertüre zum Don Juan, seiner von ihm selbst am höchsten geschätzten Oper, und bei der ersten Ausführung vor dem Publicum, das er als das kunstsinnigste anerkannte, auf dessen Urtheil er den meisten Werth legte, zu Werke gegangen sein? Mozart, das Ideal eines Künstlers, dessen sämmtliche Partituren, ganz abgesehen von den geistigen Schätzen, die sie enthalten, eine Sorgfalt der Ausarbeitung an den Tag legen, wie sie noch nie bei einem Künstler gefunden wurde? – Ganz abgesehen davon, daß, wenn Mozart (was wir voraussetzen) die ganze Composition und Instrumentirung der Ouvertüre fertig im Kopfe mit sich herumtrug, es rein unmöglich ist, daß er dieselbe von zwei Uhr Nachts bis neun Uhr Morgens hätte zu Papier bringen können, weil in der Don-Juan-Ouvertüre bekanntlich jede Note eigens niedergeschrieben werden muß, und sich nichts darin, nach Art moderner italienischer Compositionen, durch „come sopra“; (wie oben oder wie die schon früher vorhandene gleiche Stelle) oder „col flauto“, „con violino“ etc. etc. abkürzen läßt.
Leider und unbegreiflicher Weise erzählt der sonst so glaubwürdige und bis in die aschgraue Möglichkeit ausführliche und gewissenhafte Jahn von der Entstehung der Don-Juan-Ouvertüre Aehnliches, im 4. Theile, Seite 300 seines meisterhaften Werkes über Mozart. So unwahrscheinlich – ja unmöglich auch dieser Bericht klingt, so begnügt er sich doch mit einer einfachen Erzählung der alten Fabel ohne Genast’s drastische Einzelnheiten. Jahu sagt:
„So nahte der Tag der Aufführung, der 29. October 1787, heran, und die Ouvertüre wurde nicht geschrieben, war am Abend vor der Ausführung noch nicht fertig, zur großen Beunruhigung der versammelten Freunde, worüber Mozart sich sehr zu belustigen schien. Es ist bereits früher erzählt, wie er sich spät von der lustigen Gesellschaft trennte und dann bei einem Glase Punsch, während seine Frau ihm Geschichten erzählte, sich an’s Niederschreiben machte; wie ihn die Müdigkeit so überwältigte, daß er einige Stunden schlafen mußte, ehe er wieder an die Arbeit gehen konnte. Allein um sieben Uhr war der Copist bestellt, und zur bestimmten Zeit wurde ihm die Ouvertüre übergeben. Es war die letzte Frist, wenn die Stimmen noch bis zum Anfang der Oper (!!) ausgeschrieben werden sollten, der sich aus diesem Grunde um etwas verzögerte (!). Vom Blatt spielte nun das wohlgeschulte und begeisterte Orchester die Ouvertüre so gut, daß Mozart während der Introduction zu den ihm zunächst stehenden Instrumentalisten sagen konnte: Es sind zwar viele Noten unter die Pulte gefallen, aber die Ouvertüre ist doch recht gut von Statten gegangen.“ (sic).
Wir wollen zugeben, diese Scene habe bei der Hauptprobe stattgehabt – bei der Aufführung nun und nimmermehr! Mozart konnte, durfte und wollte sicher nicht das Risico einer so riesenhaften Blamage übernehmen, wenn z. B. durch das Fehlen einiger Takte in Violin- oder Baßstimmen (was bei der Eile, mit der die ganze Copiatur von Statten gegangen sein soll, sehr wohl der Fall sein konnte) die ganze Ouvertüre sich in ein Chaos verwandelt hätte und umgeschmissen worden wäre.
Als Confect mag aber noch der Passus in Genast’s Erzählung angeführt werden, wo es buchstäblich heißt:
„Aus unserem süßen Schlummer wurden wir plötzlich durch kräftige Töne geweckt, und sahen bei unserem Erwachen Mozart bei einer düsteren Lampe (nicht also am Clavier und spielend, sondern –) an seinem Pulte sitzen und arbeiten. Keiner von uns wagte ein Wort zu sagen, und mit wahrer Berührung hörten wir die unsterblichen Gedanken sich entwickeln.“
Diese Herren wurden durch Clavierspielen aufgeweckt, der Spieler sitzt aber an seinem Schreibpult und schreibt, und so hören sie mit wahrer Verehrung die unsterblichen Gedanken sich entwickeln!!! Es ist, wie gesagt, eigentlich gar nicht der Mühe werth, daß man sich über dieses harmlose Märchen so ereifert; weder ein Componist noch ein bloßer Copist wird je daran geglaubt, und das Ganze als ein Andenken an den unsterblichen und für ewige Zeiten unvergeßlichen Mann mit in den Kauf genommen haben. Wenn aber jetzt, nach mehr als 70 Jahren Jemand auftritt, der die Welt allen Ernstes glauben machen will, dieses Märchen sei wahr, und der dabei sogar seinen Vater als Augen- und Ohrenzeugen anführt, aus dessen eigenem Munde er diese Wunder bestätigen gehört, wenn ferner und schließlich ein solches Märchen durch viele Blätter geht und wie eine neu ausgegebene Antiquität angestaunt wird: dann mag es, zumal für solche, die blödere Sinne haben als wir, nicht überflüssig sein, ihre unnötigerweise erhitzte Phantasie etwas abzukühlen und ihnen zuzurufen: „Seid ruhig, die Don-Juan-Ouvertüre ist ebenso wenig in einer Nacht geschrieben, als Rom in einem Tage erbaut worden.“