Zum Inhalt springen

Bill Hammer

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Textdaten
<<< >>>
Autor: Otto Ruppius
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Bill Hammer. Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 81–84
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Erzählung in 4 Teilen // Heft 6–9
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[81]
Bill Hammer.
Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
Von Otto Ruppius.


Ueber dem Walde stand ein rother glänzender Schein am Himmel, hier und da von aufzuckenden feurigen Garben durchstrahlt, und mischte sich seltsam mit dem matten Lichte des ersten Mondviertels.

„Das brennt in Pleasant-Grove,“ sagte der Mann, welcher aus der Thür eines einsamen Farmhauses unter den roh gearbeiteten Portico getreten war, „wahrscheinlich ist den deutschen Mistkäfern eine Fackel angezündet worden, daß sie sehen lernen, wo der Weg aus dem Staate hinausführt!“ Einige grunzende Laute beschlossen die Aeußerung, dann beobachtete der Sprecher lautlos das sich immer weiter ausbreitende Feuerzeichen.

Zwei andere Personen waren ihm aus dem Hause gefolgt, ohne indessen ihrem sichtlichen Interesse an der Erscheinung mit einem Worte Ausdruck zu geben – eine jugendlich-schlanke, weibliche Gestalt und ein halbwüchsiger, kräftiger Bursche. Schweigend und mit einer wunderbaren Leichtigkeit klomm der Letztere an einem der Porticopfeiler empor und sandte von dem kleinen Dache aus seine Blicke scharf über den Wald, und erst als der frühere Sprecher langsam in das Haus zurückgetreten, ließ er sich behende wieder hinabgleiten.

„Er hat diesmal fehlgeschossen in seinem Hasse, es ist nicht Pleasant-Grove, das brennt,“ sagte er mit halbunterdrückter, vor Erregung zitternder Stimme, „und die „Mistkäfer“ werden ihm wohl noch einmal zeigen, wo Recht und Gesetz ist, trotz Jefferson Davis und seiner Bande. Zu St. Louis sind die Deutschen schon alle auf den Beinen und haben das Heft in der Hand, hat mir Fred Minner erzählt.“

„Sei ruhig, Bill, er hat scharfe Ohren,“ gab das Mädchen mit einem scheuen Blicke nach der Thür zurück, „er wäre nicht halb so schlimm wider die Deutschen, wenn es nicht gerade Fred Minner’s wegen wäre.“

„Der aber doch seine Zeit finden wird, wo er Miß Alice –“

„Bill!“ unterbrach ihn das Mädchen mit einem mühsam gedämpften Tone des Schreckens, und der Bursche schlug sich mit einer plötzlichen lustigen Grimasse, in der es gleichzeitig wie eine triumphirende Genugthuung zuckte, auf den Mund.

„Ich muß hinüber, Miß Alice,“ fuhr er dann auf den Feuerschein deutend in leisem Tone fort; „Gott weiß, was los sein mag, und meine Mutter ist allein. Soll ich Etwas bestellen?“

„Vater jagte Dich morgen aus dem Hause, wenn Du heimlich gingst,“ erwiderte das Mädchen hastig, „bleib hier, wo Du anderwärts doch nichts helfen kannst!“

„Das Wegjagen kommt ohnehin, sobald er das nächste Mal von Mistkäfern spricht!“ erwiderte der Knabe trotzig; „Geld habe ich schon seit zwei Monaten meiner Mutter nicht bringen können, so will ich wenigstens nach ihr sehen!“

„Aber Vater hat selbst kein Geld, und Niemand ringsherum, Du weißt es!“

„Dann soll er nicht von Mistkäfern reden und meinen, ich fürchtete sein Davonjagen. Fred aber sagt, daß die Menschen, die jetzt den Aufruhr im Staate predigen, an ihrem Unglücke selbst schuld sind. Ich sehe nach meiner Mutter, Miß Alice!“ Und ohne einen fernern Einwand abzuwarten, schlüpfte der junge Bursche die Treppen des Portico hinab, drückte hier den flachen Hut fester auf seinen Kopf und war, in raschen Schritten an dem Gebäude hinschleichend, bald hinter der nächsten Feldeinzäunung verschwunden.

Das Mädchen hatte den Kopf an einen der Pfeiler gelehnt und blickte lange in trübem Sinnen in den Feuerschein hinein, bis ein lauter Ruf im Hause sie aufschreckte und in das Innere eilen ließ. –

Bill – oder Wilhelm, seinem ehrlichen, unverkürzten Taufnamen nach – hatte sich quer durch ein Maisfeld gewunden und trat auf eine Straße hinaus, welche dem Orte des Brandes in gerader Richtung zuzulaufen schien. Rechts und links derselben standen die dunkeln Gestalten einzelner Schwarzer, in schweigender Beobachtung das Aufschießen und Sinken der feurigen Lohe am Himmel verfolgend, und der junge Bursche hielt seinen Schritt an. „Ist das Pleasant-Grove, Dick?“ wandte er sich an den ihm zunächst stehenden Neger.

„Denke nicht, Master William,“ erwiderte dieser langsam, „es ist wohl Mr. Riese’s Mühle, die brennt – er hat so ’was schon in den letzten Tagen voraus gesagt,“ fuhr er halblaut fort, mit dem Kopfe nach dem rückwärts liegenden Farmhause deutend, „und es mag wohl noch schlimm werden mit Allen, die hier herum zu der Union halten!“

„Seid Ihr auch für solche Mordbrenner, die sich Secessionisten nennen, und gegen die Deutschen, Dick?“ fragte der Bursche mit einem Beben des Zornes in seiner Stimme.

„Bst!“ winkte der Schwarze, sich ängstlich umsehend, „ich bin ein armer Nigger, der keine Meinung hat und seines Herrn Brod ißt; aber die Deutschen sind gut, Master William –“ er zog eine Grimasse, als scheue er sich, mehr zu sagen.

Da klang ein Schuß aus der Entfernung – zwei andere folgten unmittelbar danach, und auffahrend eilte Bill auf der [82] Straße davon, seinen Schritt bald in einen scharfen Trab verwandelnd, bis der ihn umgebende Wald ein Ende nahm, die Gegend sich frei vor seinen Augen ausbreitete und er mit keuchendem Athem stehen blieb. Gerade vor sich konnte er in die auflodernden Flammen hineinsehen; es waren nur drei oder vier Häuser, welche brannten, und deutlich ließ sich bemerken, daß der nächste Umkreis keine weitere Nahrung für das Feuer bot; aber es schienen dem immer neu erfolgenden Auflohen nach massenhaft aufgespeicherte Vorräthe zu sein, welche der Vernichtung geweiht wurden. Der Ausdruck einer fast wilden Erbitterung breitete sich indem Gesichte des Knaben aus, und die kräftigen, hartgearbeiteten Hände ballten sich. „O, wenn ich älter wäre –!“ murmelte er, „sie haben alle kein rechtes Herz in der Stadt und lassen sich von einer Handvoll amerikanischer Rowdies in Schrecken halten – Fred Minner ist noch der Einzige unter den Deutschen, an den sich Keins von dem Räubergesindel wagt, aber er kann es allein nicht zwingen –“

Mit einer Miene voll Bitterkeit, die fast über sein Alter ging, verfolgte er die Straße, welche sich jetzt in leichter Biegung von der Brandstätte hinwegzog, scharfen Schrittes weiter, bis die von dem Feuer matt gerötheten Außengebände der „Stadt,“ – eine Bezeichnung, die für eine ungepflasterte Straße von vierzig oder fünfzig Holzhäusern eben nur in Amerika möglich ist – vor ihm auftauchten.

Es war die Zeit, als mehrere Monate vorher der größere Theil der Sclavenstaaten Nordamerika’s sich von der Union losgesagt, Jefferson Davis zum Präsidenten der neuen Conföderation gewählt worden, war und der Gouverneur Jackson von Missouri vergebens alle Minen hatte springen lassen, um auch seinen Staat zum Anschluß an die neugebildete südliche Bundesrepublik zu vermögen. Die einberufene Staats-Convention von Missouri hatte sich gegen jeden Treubruch an der Union erklärt, und Gouverneur Jackson war zur Einsicht gelangt, daß die „Secession“ oder Abtrennung Missouri’s von dem bisherigen Verbände mit dem Norden nur durch offen erklärten Krieg gegen alle unionstreuen Bürger im Staale möglich gemacht werden könne. Auf den Raufboldgeist, der einen Grundzug im gesammten Amerikanerthum bildet, auf das specifisch südliche Gefühl der Sclavenhalter und deren Anhänger, wie auf den instinctmäßigen Haß gegen die zahlreichen deutschen Eingewanderten, welche eifrige Verfechter der „freien Arbeit“ und jetzt enthusiastische Anhänger der gefährdeten Union waren, sich stützend, hatte er die gesammte amerikanische Bevölkerung des Staates zu den Waffen gerufen, um Missouri von der „Oberherrschaft des Nordens“ zu befreien – er selbst war nach diesem Acte aus dem Regierungssitze, Jefferson-City, in das Innere des Landes zurückgewichen, die Stadt vorläufig der Unionsstreitmacht preisgebend, welche sich in St. Louis fast ausschließlich aus Deutschen gebildet hatte, und in den südlich und westlich gelegenen ungeschützten Theilen des Staats begannen jetzt, dem Aufrufe des Gouverneurs gemäß, sich Banden auf Banden von „Secessionisten“ zusammenzurotten, alles herren-, geschäfts- und gesetzlose Gesindel an sich ziehend und bald in größeren Massen unter einem Führer vereinigt, die Städte besetzend, alles der Unionsgesinnung Verdächtige brandschatzend und dann von Haus und Hof treibend, bald in kleineren Rotten das flache Land durchstreifend, sengend und brennend, raubend und mordend. Noch waren bis dahin in der Nähe der Eisenbahnlinie von St. Louis nach Jefferson City, also fast unter dem Auge der zusammengetretenen Unionsstreitmacht, wenig wirkliche Gewaltthaten geschehen; nur die aus den rückwärts liegenden Gegenden nach St. Louis eilenden Flüchtigen und Vertriebenen, wie die mit jedem Tage sich steigernde Anmaßung und Unverschämtheit der „secessionistisch“ gesinnten Amerikaner, von denen oft zwanzig anrüchige, verwegene Charaktere eine ganze Bevölkerung ruhiger Deutschen im Schach zu halten vermochten, gaben hier eine Ahnung von dem allgemeinen Stande der Dinge. Und so war auch der kleine Ort Pleasant-Grove, wie er im amerikanischen Volksmunde hieß, noch ohne größere Beunruhigung geblieben, wenn sich auch seit mehreren Tagen bereits wiederholte Gerüchte über die Bildung räuberischer Secessionshorden in der Nähe verbreitet hatten, und das plötzliche Verschwinden einer Anzahl gefährlicher amerikanischer Charaktere den Nachrichten eine Art von Bestätigung lieh.

Als Bill in die Hauptstraße des Städtchens einbog, sah er, daß die ganze Bewohnerschaft sich in voller Aufregung befand. Vor den Thüren standen die Weiber und Kinder, mit ängstlichen Augen in das Feuer starrend, während die Mitte der Straße von starken Gruppen eifrig sprechender und debattirender Männer eingenommen ward. Der Bursche wand sich zwischen den einzelnen Haufen hindurch, bald einen Augenblick den fallenden Worten horchend, bald mit den Augen nach bekannten Zügen untersuchend, bis er endlich von einer Art Rede, welche in einer der lebendigsten Gruppen laut wurde, festgehalten zu werden schien.

„Ist Alles recht, daß wir für die Union einstehen sollen, und ich bin ein Unionsmann so gut als Einer; aber ich habe Frau und Kinder, an die ein rechtschaffener Familienvater denkt, ehe er sein Leben unnütz auf’s Spiel setzt, und was von Secessionisten hinterm Mühlberge und im Busche steckt, ist uns dreifach überlegen. Hätten sie uns übrigens zu Leibe gewollt, so würden unsere Häuser gerade so brennen wie die Mühle, und ich sehe nicht ein, warum wir die Menschen jetzt noch reizen sollen. Riese, der Müller, hat letzte Woche den Streit mit dem rothen Mulligan gehabt, den er wegen seiner Redensarten über die Deutschen niedergeschlagen hat – jetzt sieht er die Folgen. Es ist noch immer besser gewesen, derart Menschen aus dem Wege zu gehen!“

„Und so hat sich eine ganze Stadt voll deutscher Männer immer von zehn amerikanischen Rowdies geduldig in’s Gesicht schlagen lassen!“ ward Bill’s Stimme hörbar, der mit zuckenden Lippen die Friedensrede angehört. Alle Köpfe drehten sich nach dem Burschen, der Sprecher aber maß ihn einen Moment mit den Augen und sagte dann, sich geringschätzig wegwendend: „Jungen haben hier nicht mitzureden!“ Eine glühende Röthe schoß in Bill’s Gesicht; einen Augenblick schien er zu zaudern, seine Empfindung durchbrechen zu lassen; dann aber war er mit einem Schritte dicht vor des Sprechers Gesichte. „Jawohl, Jungen sollten auch nicht mitzusprechen haben,“ rief er, während die volle Erregung aus seinen Augen blitzte; „aber wenn Männer so feig reden, daß die Jungen sich schämen müssen, deutsch zu heißen, so lassen sie sich’s nicht wehren! Kommen Sie nur heran!“ fuhr er fort, beide Hände langsam ballend, als der Andere eine drohende Bewegung machte, „ich sage Ihnen doch die richtige Wahrheit in’s Gesicht. Wenn die Deutschen nicht vor jedem Schlage zurückwichen und den Rowdies Stand hielten, wenn sie jeden, der die Faust hebt oder das Messer zieht, bedienten, wie es der Müller Riese mit dem rothen Mulligan gethan, so gäb’s bald einen andern Respect vor den Deutschen –“

„Laß es gut sein, Bill!“ unterbrach ihn eine sonore Stimme, und eine Hand legte sich leicht auf seine Schulter, „Du hast Recht, aber damit ist jetzt nichts geholfen, und Du sollst nützlichere Arbeit haben!“ Und aufblickend sah Bill in das erhitzte Gesicht eines hochgewachsenen jungen Mannes, welches sich von ihm der umstehenden Menge zuwandte. Erst jetzt bemerkte der Bursche, wie rasch sich während seiner Worte der Kreis seiner Zuhörer erweitert hatte, sah, daß die Augen der halben Bewohnerschaft auf ihm ruhten, und seine Keckheit wich einer leichten Befangenheit, die indessen rasch schwand, als der so eben hinzugetretene Freund seine Hand kräftig faßte, um ihn an seiner Seite zu halten. „Ich bin eben so wenig als Andere dafür, Nachbarn,“ fuhr der Letztere gegen die Umstehenden gewandt fort, „daß wir jetzt an einen Angriff auf die Secessionisten denken, so zweckmäßig es auch wäre, dem Gesindel gleich eine tüchtige Lehre zu geben; aber wem Hab und Gut lieb ist, der denke an eine kräftige Vertheidigung. Der Rowdy ist feig, wo er auf rechten Muth trifft, und daß unsere Häuser nicht bereits ebenso brennen wie die Mühle, liegt nur darin, daß diese Räuberbande nicht sicher über den Empfang ist, den wir ihr bereiten könnten. Laßt das geringste Zeichen von Verzagtheit blicken, und sie werden über uns sein schlimmer als ein Heerde hungriger Wölfe. Wer mit mir die rasche Organisirung eines Widerstandes versuchen will, so lange es noch Zeit ist, der sei mit seinem Gewehre so schnell als möglich bei meinem Hause. Morgen früh, denke ich, werden wir Verstärkung haben, und so heißt es: während der Nacht tapfer auf dem Posten sein, damit die Hülfe nicht für uns zu spät komme!“

Der Sprecher schritt, den Burschen mit sich führend, rasch aus dem Haufen, in welchem sich jetzt ein wirres Durcheinander von Stimmen erhob, und wandte sich nach dem untern Theile der Straße. „Wirst Du wohl einen Auftrag von mir ausführen, Bill, wenn Du auch die Nacht über nicht schlafen kannst?“ fragte er.

[83] „Ich thue Alles für Sie, Fred!“ erwiderte der Angeredete, fast zärtlich zu dem jungen Manne aufblickend.

„Aber es könnte im schlimmen Falle Gefahr dabei sein!“

„Sie haben für meine Mutter gethan, was ich nicht konnte, Fred, und ich habe mich noch vor keiner Gefahr recht gefürchtet.“

„Gut, Bill, es handelt sich um uns Alle, und ich wüßte kaum, wem außer Dir den Auftrag anzuvertrauen. Wir müssen morgen früh eine Abtheilung Unions-Militair von Jefferson-City hier haben, oder können nur unserer gesammten Habe den Rücken kehren. Ich habe Nachricht, wie es andern deutschen Orten ergangen ist, und jedenfalls wartet die Bande, die hier in der Nähe liegt, nur darauf, sich beim Morgenlichte von unserer Stärke und Haltung zu überzeugen. Ich habe Bekannte in der Nähe des Commandirenden in Jefferson, und an einen derselben wirst Du einen Brief überbringen. Fällst Du aber unterwegs den Secessionisten in die Hände und sie entdecken das Schreiben bei Dir, so hängen sie Dich möglicherweise auf, Bill – ich muß Dir die Lage der Dinge in ihrem vollen Lichte zeigen. Kommst Du indessen glücklich durch, so kannst Du Dir sagen, daß Du unser Städtchen gerettet hast, und was von der Bewohnerschaft für Dich und Deine Mutter gethan werden kann, das wird geschehen. Zu Deinem Troste magst Du übrigens annehmen, daß ein kleiner Kerl wie Du nicht die halbe Gefahr läuft, die jeder Erwachsene zu bestehen hätte.“

Der Bursche nickte überlegend. „Ich kann mich nicht viel mit Umwegen abgeben, um Jemand auszuweichen, wenn ich zu rechter Zeit eintreffen soll,“ sagte er; „höchstens daß ich mich nach der Eisenbahn hinüberschlage. Aber sie werden mich nicht hängen, wenn ich auch wirklich unter sie gerathen sollte. Für alle Fälle versprechen Sie mir, Fred, daß Sie für meine Mutter sorgen wollen, und ich will die Sache unternehmen.“

„So lange ich noch etwas zu essen habe, soll’s ihr auch nicht fehlen, darauf nimm mein Wort!“ erwiderte der junge Mann, des Knaben Hand kräftig drückend, und Beide gingen raschern Schrittes schweigend weiter. Erst als Fred in den Hof neben einem neuen, freundlichen Hause einbog, fragte er: „Du kommst von Anderson’s Farm?“

„Yes, Sir! und es ist Alles recht wegen Miß Alice, so viel auch der Alte auf die deutschen Mistkäfer schimpft!“ war die Antwort. „Wenn ich nicht gehängt werde und Sie wollen einmal die junge Lady dem Alten vor der Nase wegholen, so rechnen Sie nur auf mich!“

„Still jetzt davon,“ erwiderte der junge Mann mit einem Blicke nach der Straße, wo bereits einzelne Männer mit Gewehren sich zu sammeln begannen, „wollte nur Gott, der morgende Tag wäre schon glücklich vorüber!“ Er öffnete rasch die Hinterthür des Hauses und schritt, von dem Knaben gefolgt, in das dunkele Innere.

Fünf Minuten darauf wanderte Bill schon mit schnellen Schritten wieder durch die belebte Straße nach dem entgegengesetzten Ende der Stadt, öffnete dort die Thür zu einem niedrigen Häuschen und stürmte in die sich unmittelbar nach der Straße öffnende Wohnstube. Am Fenster saß eine ältliche, gebeugte Frau, den Feuerschein beobachtend, und mit einem „Nur einen Augenblick, Mutter!“ schlang der Knabe seine Arme um ihren Hals.

„Was ist es, Willy?“ fragte sie, sich seiner stürmischen Liebkosung halb entziehend und seinen Kopf in beide Hände nehmend, während die mattbrennende Lampe eine deutlich ausgeprägte Sorge in ihrem weißen leidenden Gesichte beschien, „hast Du wieder Thorheiten mit Deiner Wildheit begangen?“

„Nichts, Mutter, und ich begehe überhaupt keine Thorheiten!“ erwiderte er, ihre Hände fassend. „Fred Minner sagt, ich heiße nicht umsonst „Hammer“, und so lasse ich mich nur nicht von Jedem zum Ambos machen. Jetzt aber habe ich einen Auftrag für den Fred zu besorgen und komme ich nicht sogleich wieder, so wird er immer nach Dir sehen – das war’s, was ich Dir sagen wollte!“ Damit hatte er von Neuem ihren Hals umschlungen, drückte zwei ungestüme Küsse auf ihren Mund und war im nächsten Momente bereits wieder zum Zimmer hinausgeeilt. Zehn Schritte vom Hause entfernt, wandte er noch einmal den Kopf zurück und sah die Frau durch das geöffnete Fenster wie in ängstlicher Sorge ihm nachblicken; er winkte ihr einen lustigen, beruhigenden Abschiedsgruß zu und bog dann in die letzte kurze Seitengasse, welche in der Richtung des Feuers in’s Freie führte, ein.

Vor ihm schlängelte sich, sobald er das letzte Haus erreicht, ein breiter Pfad nach der unglücklichen Mühle; rechts hinüber lag eine langgestreckte Anhöhe, dieselbe, welche er auf seinem Wege nach der Stadt passirt, und hierhin nahm er raschen Schritts seinen Weg über den unebenen Grasboden. Als er indessen auf die Fahrstraße traf, überschritt er diese und verfolgte seine bisherige Richtung, immer rechts hinüber, wo ihm eine weit hervortretende Waldecke in dem ungewissen Mondlichte dunkel entgegen blickte. Eine Zeitlang wanderte er, während seine Augen stets beobachtend die Gegend überliefen, rüstig vorwärts, bis die einzelnen Waldpartien sich deutlich vor seinen Augen abzuzeichnen begannen. Da kniete er nieder und legte eine kurze Weile das Ohr auf den Boden. Mit einem Nicken der Befriedigung erhob er sich wieder. „Hier herum sind sie nicht,“ murmelte er weiterschreitend, „und habe ich erst die Eisenbahn, so ist kaum noch Gefahr, auf sie zu treffen!“ Er verfolgte den Saum des Waldes, bis sich ihm eine schmale Oeffnung in den Gebüschen zeigte. Vorsichtig lauschend blieb er hier einige Secunden lang stehen, aber nicht ein fallendes Blatt störte die Todtenstille, welche über seiner Umgebung lag, und ohne weiteres Zögern schlug er den Waldpfad ein, welcher sich vor ihm öffnete.

Es war so dunkel hinter dem dichten Laubdache, daß nur die völligste Bekanntschaft mit dem Terrain ein rasches, ungehindertes Vorwärtsgehen ermöglichen konnte, aber Bill’s vorsichtig auftretender Fuß stockte nur, sobald irgend ein Geräusch zu seinem Ohre drang. Stets war es indessen nur ein fallender dürrer Ast, das Bersten der Rinde eines alten Stammes gewesen, das ihn erschreckt, und mit jeder Minute, die ihn mehr an das eigenthümliche nächtliche Leben des Waldes gewöhnte, schritt er zuversichtlicher vorwärts; demohngeachtet aber hob sich seine Brust mit einem tiefen, erleichternden Athemzuge, als er nach fast halbstündigem Marsche plötzlich das Mondlicht durch die Walddunkelheit dringen und gleich darauf eine freie, tiefe Schlucht seinen Weg unterbrechen sah. „Die Eisenbahn, Gottlob!“ murmelte er und klomm den Einschnitt nach den Schienen hinab. Ein vielbetretener Fußpfad lief hier neben dem Geleise hin, und rascheren Schritts nahm der Bursche die neue Richtung auf. Rechts und links begleitete ein dunkeler Wald die Bahn, aber das Mondviertel stand noch hoch genug, um Licht auf den Weg des Dahineilenden zu streuen; freundliche Gedanken traten in sein Gesicht, als er vor sich in den erhellten Streifen des Nachthimmels blickte, und bald begann er mit einer leise gesummten Melodie seine Schritte taktmäßig zu begleiten. Es schien auch seine Stimmung nicht zu trüben, als die Bahn eine Biegung machte und der über den Weg fallende Schatten der Bäume ihm jede Fernsicht benahm; seinen Gedanken hingegeben und in augenscheinlichem Sicherheitsgefühle wanderte er vorwärts, bis nach geraumer Weile ein plötzlicher Zuruf von der Höhe der Böschung ihn aufschreckte und seinen Schritt anhalten ließ.

„Steh ruhig da unten, wenn ich Dir nicht eine Ladung in die Beine schicken soll!“ klang es, als Bill bei dem Erblicken einer dunkeln Figur eine unwillkürliche Bewegung zur Umkehr machte, und die Erhöhung vom Walde herab stieg eine breitschultrige Männergestalt.

„Halloh, was giebt’s denn?“ erwiderte der Bursche, keck den Kopf hebend.

„Wirst’s gleich hören, mein Kerlchen!“ gab der Herannahende zurück und faßte Bill’s Schulter, diesen nach der Mondseite kehrend und scharf in sein Gesicht blickend, „willst Du mir wohl sagen, wo Du herkommst?“

„Von Mr. Anderson’s Farm,“ entgegnete der Befragte trotzig und machte zugleich einen kräftigen Versuch, seine Schulter dem Griffe des Andern zu entwinden; „ich lasse mich nicht so anfassen, Sir, ich brauche vor Niemand davonzulaufen!“

„Ruhig, mein Schäfchen, scheinst aus der richtigen Schule zu sein, mußt’s aber doch einmal leiden!“ lachte der Examinirende und grub mit eisernem Drucke seine Finger in Bill’s Fleisch.

„Und wo soll die Reise hingehen?“

„Sie werden mir den Knochen zerbrechen!“ rief Bill, die Zähne aufeinander beißend, aber ohne Zucken den Druck aushaltend.

„So, dann sträube Dich nicht, mein Herzblatt, und nun rede!“

Eine Secunde lang war der Knabe ungewiß, was zu antworten, eine Secunde, deren Pein sich nur in dem Zucken seiner Mundwinkel ausdrückte, aber sein Auge blieb fest auf das Gesicht des vor ihm Stehenden gerichtet. Sein Stolz hatte ihn noch niemals [84] eine Lüge sagen lassen, und auch jetzt fühlte er, daß jede Unwahrheit in seinen Mienen zu lesen sein würde. „Ich habe einen Auftrag zu besorgen,“ sagte er in seiner frühern trotzigen Weise, „und ich denke nicht, daß Jeder das Recht hat, mich auf der Straße anzuhalten und auszufragen!“

„Sprichst Dein Englisch recht gut, Kindchen, hast auch eine Manier, die mir ganz gefällt,“ entgegnete der Andere mit einem häßlichen Lächeln, „sehe Dir aber doch an, daß Du zu dem deutschen Sauerkraut gehörst. Wollen Dir einmal die Zunge lockermachen, und Du thust gut, wenn Du nicht zu starrköpfig bist. Es sind Kriegszeiten, mein kleines Füllen, wo nicht viel Umstände gemacht werden!“ Er setzte den Finger an den Mund und ließ einen scharfen Pfiff ertönen, der nach wenigen Secunden zwei andere rauhe Männergestalten aus den Büschen brachte.

„Ich denke, hier ist etwas nicht ganz richtig,“ rief diesen der Erstere zu, „das Kerlchen wollte gerade nach Jefferson-City hinauf, und ein Bischen eindringliches Befragen kann nicht schaden!“

Bill glaubte in diesem Augenblick sein Herz sich krampfhaft zusammenziehen zu fühlen. Sein Blick flog in Gedankenschnelle über die ganze Umgebung, um indessen nur die Unmöglichkeit einer Flucht zu erkennen. Die einzige Rettung hätte ihm der Wald gewähren können, ehe er aber eine der steilen Böschungen an beiden Seiten der Eisenbahn zu erklimmen vermocht, mußten ihn längst die nachgesandten Kugeln erreicht haben. Er fühlte sich an beiden Armen gefaßt, hörte den kurzen Wortaustausch zwischen seinen Feinden und sah sich dann rauh die Erhöhung nach dem Walde hinaufgeführt, ohne noch im Stande zu sein, einen Plan für sein Verhalten zu entwerfen; er erkannte die dringendste Nothwendigkeit, sich des ihm anvertrauten Briefs zu entledigen, aber seine beiden Arme waren festgehalten, und jede verdächtige Bewegung seinerseits konnte nur zu schnellerer Entdeckung seines Geheimnisses führen. Er war unsanft durch das Strauchwerk am Rande der Böschung gestoßen worden und ward jetzt zwischen hochstämmigen, spärlich stehenden Bäumen fortgeführt; schon nach fünfzig Schritten aber sah er hinter einer Gebüschpartie helles Feuer blitzen, hörte Stimmen und rohes Lachen, und kaum zwei Minuten nachher begann der eine seiner Führer die Zweige zu theilen und voran tretend den Gefangenen nach sich zu ziehen. Da stolperte dieser und wäre zu Boden gestürzt, wenn nicht der Vorangehende ihn mit einem Fluche wieder aufgerissen hätte, aber das Gebüsch hatte dem Burschen den Hut vom Kopfe gestreift und in die Dunkelheit seiner Blätter aufgenommen; Niemand als Bill selbst war es gewahr worden, und als dieser jetzt zwischen seinen Wächtern auf den freien, grasigen Platz, in dessen Mitte das Feuer brannte, heraustrat, glänzte es auf seinem Gesichte wie der Triumph über einen gelungenen Streich.

Es war ein wunderliches Bild, was sich in dem grellen Scheine des hell lodernden Feuers dem Auge bot. Wohl an fünfzig Männer mochten auf dem Boden umher lagern, aber ein eigenthümlicher Contrast zeigte sich zwischen den verschiedenen Gruppen. Während nahe dem Feuer ein Haufen wilder Gestalten lag, in deren Mitte ein spannendes Kartenspiel seinen Gang zu nehmen schien, und jede Wendung desselben von den Zuschauern mit Flüchen oder tollem Gelächter begleitet ward, während an einer andern Stelle eine kleinere Gruppe zwischen ausgestreckten Schläfern saß und in eifrigem Gespräche die Flasche kreisen ließ, hatte sich, mehr zur Seite, wo zwei Pferde zusammengekoppelt standen, eine Anzahl Männer auf untergelegten Decken niedergelassen, die ihrem Aeußern nach zur bessern Gesellschaft gehörten. Dort wurden Cigarren geraucht, und die Worte fielen in kaum anderer Weise, als es in jedem Besuchszimmer zulässig erschienen wäre. Nachlässig an einen Baumstamm gelehnt, in einer mit goldenen Tressen besetzten Uniform, eine Art grauer Militairmütze auf dem Kopfe und einen langen Cavalleriesäbel über die Kniee gelegt, saß dort ein gebräunter, bärtiger Mann, wie es schien, in einer Auseinandersetzung, der er mit kurzen, energischen Handbewegungen Nachdruck verlieh, gegen seine noch unmilitairisch bekleidete Umgebung begriffen, und dorthin ward jetzt Bill von seinen Begleitern geführt.

„Ein aufgefangener Vogel, Cornel[1], dem einmal unter die Flügel geschaut werden soll!“ rief einer der letzteren, den Gefangenen vorführend; „er war auf dem Wege nach Jefferson-City und scheint von Pleasant-Grove zu kommen!“

Der Mann in Uniform sah rasch auf, und die noch eben im Gespräche so gefällige Miene verwandelte sich in einen eigenthümlichen Zug des Hasses. Sein Blick überflog die kleine Gestalt und blieb zuletzt in den dunkeln Augen, des Vorgeführten hängen, die fest und furchtlos auf seinem Gesichte hafteten. „Du gehörst zu dem deutschen Ungeziefer und bist nach Jefferfon-City geschickt?“ fragte er in einem Tone, der jeden Widerspruch abschneiden zu wollen schien.

„Ich bin ein geborner Missourier und habe nichts mit Ungeziefer zu thun, Sir,“ war die kecke Antwort, „die Männer haben mich von der Eisenbahn hierher geschleppt, und ich weiß jetzt noch nicht weßhalb!“

„Und was hattest Du auf der Eisenbahn zu thun?“

„Ich habe einen Auftrag zu besorgen, den ich verschweigen soll,“ erwiderte der Bursche ohne Zögern, „und wenn ich hier mit Gentlemen zu thun habe, so werde ich nicht weiter darum gepeinigt; ich könnte ganz leicht zehn Lügen vorbringen, aber ich mag nicht!“

Der Officier sah dem Knaben mit einem finstern, durchdringenden Blicke, in welchem dennoch ein gewisses Behagen an seinen Worten durchschimmerte, in’s Gesicht und hob dann den Kopf nach der Menge rauher Gestalten, welche beim Beginn des Verhörs ihre Plätze verlassen und sich herbeigedrängt hatten. „Ist Einer von den Leuten von Pleasant-Grove hier?“ fragte er.

„O, wir kennen das Kind!“ wurde die höhnende Stimme eines sich vordrängenden Menschen laut, als habe dieser nur darauf gewartet, sein Wort anbringen zu können, „’s ist der Bill Hammer, und wenn das deutsche Volk in Pleasant-Grove einen Schlag beabsichtigt, so ist er gerade der Rechte, um mit Hand und Mund vorweg zu gehen.“

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: Otto Ruppius
Titel: Bill Hammer. Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
aus: Die Gartenlaube 1862, Heft 7, S. 97–100
Teil 2

[97] Nur für einen Augenblick ging das Blut aus Bill’s Gesichte, als er das rothe Haar und den falschen Blick des Vorgetretenen erkannte; im nächsten schon zuckte es wie eine tiefe Verachtung um seinen Mund. „Du solltest doch richtig sagen, was Du weißt, Mulligan, wenn Du Dich auch mit der Wahrheit noch nie viel abgequält hast. Du weißt wohl, wie lange ich schon auf Mr. Anderson’s Farm bin, gegen den wahrscheinlich Niemand etwas einzuwenden haben wird, und daß ich so wenig nach der Stadt komme, daß ich erst gestern gehört habe, wie Du vom Müller Riese Prügel bekommen hast!“

Ein jolendes Gelächter brach bei den letzten Worten unter den Umstehenden los, der Rothkopf schien unter seinen neuen Gefährten sichtbar noch wenig Freunde gefunden zu haben; mit einem Ausdrucke erbitterter Bosheit aber schrie dieser: „Laßt ihn nur einmal: Hurrah für Jefferson Davis! rufen, und das richtige Fell wird sich gleich zeigen!“

„Wenn das solche Menschen, wie Du bist, rufen,“ erwiderte Bill, und nur der genaue Beobachter hätte bei der ausgesprochenen Zumuthung das Zucken in seinen Mienen wahrnehmen können, „so muß sich Jefferson Davis schämen und ebenso jeder rechte Mann, es nachzurufen!“

Ein tolleres Gelächter noch als vorher folgte der Abweisung, und der uniformirte Anführer sammt seiner Umgebung schien sich ausnehmend über die Scene zu amüsiren; als aber Mulligan mit einem bösen Blick auf den Burschen die Fäuste ballte, erhob sich der Officier und wies Jenen mit einer gebieterischen Handbewegung zurück. „Wir werden schnell wissen, woran wir mit ihm sind – visitirt ihn genau!“ rief er Bill’s Führern zu, und nach kaum zwei Minuten stand der Knabe bis auf’s Hemde entkleidet da, während von zehn verschiedenen Händen jeder Theil seines Anzugs untersucht, jede Tasche umgedreht und ihres Inhalts entledigt ward. Bill sah sein Messer und sein Portemonnaie in fremde Taschen wandern, sah sein buntseidenes Halstuch verschwinden, und fast schien es ihm, als schütze seine übrigen Kleidungsstücke nur die Nutzlosigkeit derselben für einen erwachsenen Mann vor einem gleichen Schicksale, aber keine seiner Mienen zeigte, daß er die kleinen Räubereien bemerkte, und in völliger äußerer Gleichgültigkeit legte er die ihm hingeworfenen Stücke seines Anzugs wieder an.

„Ich konnte mir gleich nicht recht denken, daß Jemand ohne Noth im bloßen Kopfe nach Jefferson-City marschiren sollte,“ sagte der Officier nach beendigter Durchsuchung sich seinem frühern Platze wieder zuwendend, „laßt ihn laufen!“ und schon drehte sich Bill, mit einer vielleicht zu raschen Bewegung, um sich nach seinem Rückwege umzusehen, als er seinen Arm wieder von einem seiner Wächter gefaßt fühlte.

„Halt, Cornel! einen Hut hat er gehabt, so wahr als die kleine Kröte uns Alle zu Narren machen will!“ rief dieser, und in dem rasch gehobenen Gesichte des Anführers blitzte wieder der frühere finstere Ausdruck auf. „Und wo ist der Hut?“ fragte er, einen Blick auf den Burschen richtend, der sich bis in dessen Innerstes bohren zu wollen schien; „lügst Du, Bursche, so sollst Du bei Gott für die in Pleasant-Grove ein warnendes Beispiel abgeben!“

„Fragen Sie doch die Männer, Sir, ob sie mich bis hierher eine Hand haben rühren lassen,“ erwiderte Bill, der sich plötzlich fast zu schwach fühlte, ein ihn überkommendes Zittern zu unterdrücken; „sie haben mich durch das Gebüsch geschleift wie einen gebundenen Hammel, und die Zweige haben mir den Hut abgestreift; aber ich denke, ich weiß, wo er liegt – kommen Sie nur mit mir, wenn Sie mir nicht trauen!“ setzte er wie in einem plötzlichen Entschlusse hinzu und wandte sich leicht nach dem Buschwerke, durch welches er den Platz betreten. Es war ihm klar geworden, als habe es ihm Jemand in’s Ohr gesagt, daß er jeder Aufsuchung des Hutes zuvorkommen müsse, wenn es eine Hoffnung zu seiner Rettung geben solle; war doch der ihm übergebene Brief unter dem Stirnfutter des Hutes befestigt, und mit einem Gefühle, als wollten ihm seine Beine den Dienst versagen, und doch zugleich zu jedem Wagniß bereit, sah er, wie ein loderndes Holzstück aus dem Feuer gerissen wurde, um das nöthige Licht zu schaffen, fühlte seinen Arm frei gelassen, zugleich aber auch einen Haufen Männer hinter sich und zu seiner Seite. Rasch schritt er den Büschen zu, und kaum theilten sich die ersten Zweige vor ihm, als sein geschärftes Auge in kurzer Entfernung auch schon den grauen Filz sich von den dunkeln Blättern abzeichnen sah. Es galt zu handeln, ehe ihm andere Augen zuvorkamen. „Dort ist er!“ rief er – höher hob sich der Feuerbrand, und in der nächsten Secunde waren die Vordersten wie Habichte nach dem hellen Punkte gestürzt; im gleichen Augenblicke aber war auch Bill seitwärts in dem Gebüsch verschwunden, ohne daß eine kurze Minute lang seine Bewegung bemerkt worden wäre; schon hatte er den offenen Wald, in welchem kein Unterholz seine Flucht hemmte, erreicht und flog in einer Seitenrichtung athemlos zwischen den Bäumen hindurch, um den an der Eisenbahn aufgestellten Posten nicht in die Hände zu fallen, als ein lautes Geschrei in seinem Rücken ihm die Entdeckung des Briefs oder seiner Flucht andeutete [98] – mit einem Angstblick sah er sich nach einem Schlupfwinkel um; aber links zeigte ihm ein matter Lichtschimmer nur den Ausgang nach der Eisenbahn, welche ihn augenblicklich seinen Feinden sicher in die Hände liefern mußte; und rechts ließ die Dunkelheit des Waldes keinen einzigen Gegenstand unterscheiden. Unwillkürlich drehte er den Kopf rückwärts und sah dort den Wald sich erhellen, schon meinte er, selbst von dem Lichte der auftauchenden Feuerbrände beschienen zu werden, und ohne sich Rechenschaft über sein Thun zu geben, nur instinctmäßig bestrebt, freie Bahn zu gewinnen, wandte er sich dem offenen Schienenwege zu; er durchbrach in blinder Hast das Strauchwerk am Rande der Böschung und stieß hart gegen einen der baumhohen Telegraphenpfosten, wie sie den Lauf der Bahnlinie bezeichnen; kaum aber hatte er das Hinderniß in seinem Wege erkannt und war durch einen mechanisch empor fliegenden Blick belehrt, daß die Mitte des Pfahls von dem herüber ragenden Zweige eines Baumes verdeckt wurde, als er auch wie eine Katze daran hinauf zu klimmen begann. Er hatte die Höhe des Zweiges gewonnen, sich zwischen den Blättern durchgearbeitet und suchte mit dem Fuße nach einem Stützpunkte, aber er traf zwischen dem Laube nur auf schwaches, dürres Holz, das bei jeder Berührung prasselnd zu brechen drohte, und schon vernahm er in der Nähe die Rufe seiner Verfolger, die unter dem rothen Scheine brennender Holzstücke wie eine losgelassene Meute die Umgebung abzusuchen begannen.

Die Beine fest um den rauhen Stamm schlingend, gab er jeden Versuch, sich einen besseren Halt zu verschaffen, auf und blieb, kaum wagend, seiner ungestüm athmenden Lunge freie Bewegung zu lassen, über den Blättern hängen, während sein Ohr scharf jede Bewegung und jeden Ruf seiner Feinde verfolgte. Er hörte die Versicherung von der Eisenbahn her, daß nichts Menschliches die Schienen gekreuzt habe, er hörte das Buschwerk am Rande des Waldes durchsuchen, sah bereits das Licht der improvistrten Fackeln das Laub unter sich durchdringen und meinte in seinen zitternden Knieen kaum mehr die Kraft zum Festklammern zu haben; dicht unter ihm klangen Antwortsrufe auf die Schreie aus den übrigen Theilen der nächsten Waldstrecke, und ein einziges Stückchen fallende Rinde, das sich durch die Schwere seines Körpers von dem Pfahle losgelöst, hätte ihn verrathen müssen – aber die Suchenden schritten unter lauten Flüchen weiter, der Lichtschein ward schwächer, und nach Kurzem klang nur noch ein entfernter Lärm zu seinem Ohre. Noch wagte Bill, hochausathmend, keine Bewegung, und erst als er seine Beine steif werden und das Blut in denselben stocken fühlte, begann er, mit peinlicher Vorsicht jedes Geräusch vermeidend, sich hernieder zu lassen. Eine Zeitlang saß er, tief in das Strauchwerk geduckt, am Boden und überlegte seine nächsten Schritte; er war eben zu dem Entschlusse gelangt, neben den Büschen fortkriechend die Eisenbahnlinie zu verfolgen, bis er hoffen durfte, aus dem Gesichtskreise der aufgestellten Posten zu sein, und dann, auch ohne Brief, seinen Weg nach Jefferson-City fortzusetzen, als eine Stimme so in seiner Nähe laut wurde, daß er sich, unwillkürlich noch tiefer unter die schützenden Blätter duckte. „Hier heraus kommt er nicht unvermerkt, wenn er noch im Walde steckt,“ klang es, „habt nur ein scharfes Auge auf die Querstraße, so kann er gar nicht entwischen, ehe wir nicht hier weg sind!“ Und Bill sah im Geiste die erwähnte Querstraße, die den Wald und die Eisenbahn durchschnitt, seinen weitern Weg ihm verlegen und erkannte, daß er nichts thun könne, als an irgend einem verborgenen Platze den Abzug der Secessionisten zu erwarten. Dann aber war auch jede Hoffnung verloren, dem bedrängten Heimathsorte Hülfe zu schaffen; die Feinde waren allerdings kaum fünfzig Mann stark, aber er kannte die wilde Verwegenheit dieser Menschen, die nichts zu verlieren hatten, und die Zaghaftigkeit seiner eigenen friedfertigen Landsleute.

Behutsam kroch er aus dem Busche hervor und suchte den Baum, von dem ein Zweig ihn bereits verborgen hatte; er fand ihn glücklicherweise nur so dick, daß ein leichtes Emporklimmen ermöglicht ward, und bald saß er, rings von Blättern dicht umhüllt, auf einem starken Aste. Unwillkürlich trat ihm Fred Minner’s Bild vor die Augen, der wohl jetzt die Männer in Pleasant-Grove mit der Hoffnung auf die erwartete Verstärkung ermuthigte und auf die Schlauheit Bill’s, der sich gewiß nicht fangen lassen werde, hinwies – und der Bursche hätte vor Erregung und Ungeduld, daß er hier eingeschlossen sitzen mußte, in das Holz des Baumes beißen mögen. Dann dachte er an seine Mutter, die sich wohl von Fred Auskunft über seinen Gang hatte geben lassen und mit Sorge ihm in Gedanken jetzt auf seinem Wege folgte. Er hatte nur diese beiden Menschen, die er auf der Welt liebte, und er liebte auch Beide mit der ganzen Ungezügeltheit seines Herzens – vor Allem aber hätte er seiner Mutter ein besseres Loos schaffen mögen, hätte er es auch mit seinem Herzblute thun sollen. Unwillkürlich blickte er zurück nach der Zeit, wo sein Vater noch gelebt hatte und wo Alles ein so anderes Aussehen gehabt. Sein Vater war Kaufmann und Postmeister in dem kaum entstandenen Orte gewesen und hatte seine Mutter, die als armes Mädchen mit Verwandten nach Missouri gekommen, mit dem frischen Muthe der Jugend geheirathet. Fred Minner, der später als Gehülfe in das Geschäft getreten war, hatte dem Knaben oft erzählt, wie lieb sich die Beiden gehabt. Aber der Mann war gestorben, ehe er etwas für seine Hinterbleibenden hatte zurücklegen können, und Bill hatte sich mit seiner Mutter in ein kleines Haus versetzt gesehen, in welchem die verlassene Frau lange Zeit ihre Tage nur mit angestrengter Nätherei und Thränen verbracht. Erst als Fred sich ein eigenes Geschäft gegründet, waren durch seine Vermittelung und Hülfe die Verhältnisse etwas leichter geworden, und er hatte auch den Knaben, als dieser kräftig genug geworden, nach der Farm des „Squire“ Anderson gebracht, der den anstelligen jungen Menschen wohl zu verwerthen gewußt. Und hier war Bill der Mitwisser eines Verhältnisses zwischen der Tochter seines Brodherrn und seines Freundes Minner geworden, welches der Alte nie gern gesehen zu haben schien, das aber seit Ausbruch der Rebellion und der Aechtung aller Deutschen ihn augenscheinlich zu Fred’s Todfeinde gemacht hatte.

Ueber den Burschen war, seit er auf dem Aste ein vorläufig sicheres Versteck gefunden, eine Abspannung aller seiner Kräfte gekommen – wie lange er hier gesessen und von seinen gegenwärtigen und vergangenen Verhältnissen geträumt haben mochte, wußte er nicht, aber er fuhr auf, als er sich von seinem Sitze gleiten fühlte, und nur ein rasches Fassen der nächsten Zweige verhinderte seinen Sturz. Er mußte trotz seiner gefährlichen Lage geschlafen haben, und eben überlegte er, ob er nicht hinabsteigen und einen behutsamen Blick über die Eisenbahn werfen solle, als ein Rauschen der Zweige, aus kurzer Entfernung kommend, seine Aufmerksamkeit erregte. Es war so dunkel um ihn geworden, daß nicht einmal mehr ein Lichtschimmer von der Waldöffnung her zu ihm drang, und alle Wahrnehmungskraft in seinem Ohre vereinigend, lauschte er. Bald meinte er halblautes Gemurmel zu vernehmen und deutlich unterschied er endlich gedämpft gegebene Befehle. Jetzt hörte er das Gesträuch an der Böschung der Bahn fortdauernd knacken und prasseln – er konnte sich kaum täuschen, seine Feinde waren im Abzug begriffen, aber die Vorsicht, mit welcher dies geschah, ließ eben so wenig Zweifel übrig, daß sie auf dem Wege zu einem Ueberfall auf Pleasant-Grove. Ein Schauer durchfuhr bei dieser Ueberzeugung den Knaben – seine Mutter! seine Mutter! und in derselben Secunde wußte er auch, daß er sein halbes Leben daran setzen mußte, um vor der Bande in dem Städtchen zu sein und Kunde zu bringen. Angestrengt lauschte er, bis das letzte Geräusch verstummt war. Dann glitt er von dem Baume herab und trat vorsichtig nach der Eisenbahn hinaus. Zu sehen vermochte er aber hier nichts. Der Himmel hatte sich mit dichtem Dunste umzogen und ließ den früher so erhellten Nachthimmel kaum erkennen, und nur durch das Gehör vermochte Bill zu entdecken, in welcher Richtung der abziehende Trupp sich entfernte.

Einige Secunden stand er, sich ein Bild der ganzen Umgegend vor seinen Geist stellend; er wußte, daß bei Verfolgung der Eisenbahn ein Umweg gemacht ward, und daß, wenn es ihm nur gelang, den Wald in gerader Richtung zu durchschneiden, er mindestens eine halbe Stunde vor den Abmarschirten das Städtchen erreichen mußte. Er entsann sich der Querstraße, die sein Entweichen vereitelt – sie konnte kaum nach einem andern Orte als der niedergebrannten Mühle führen, und auf ihr hatte die Bande jedenfalls ihren soeben verlassenen Lagerplatz erreicht – er sprang die Böschung hinab und nach kaum hundert Schritten, welche er neben den Schienen hingeeilt, sah er den Seitenweg sich zwischen dem dunkeln Walde öffnen. Gern hätte er jetzt die neue Richtung im vollen Laufe verfolgt, aber die steinige, von Baumwurzeln durchgezogene Straße verlangte in der Dunkelheit volle Vorsicht, wenn nicht ein Sturz ihn vielleicht ganz unfähig zum Weitergehen machen sollte; schon jetzt mußte er zu Zeiten seinen Gang anhalten, [99] um den Schmerz, den das öftere Anstoßen an die Hindernisse im Wege ihm verursachte, vorübergehen zu lassen, und er tröstete sich nur damit, daß die Secessionisten-Truppe, sobald er seinen Weg durch den Wald zu nehmen hatte, noch schwierigeren Boden zu überwinden haben würde, als er selbst. Eine halbe Stunde mochte er mit möglichster Eile darauf los geschritten sein, und eine matte, sich über den trüben Himmel verbreitende Helle zeigte ihm den Anbruch des Morgens, als er plötzlich anhielt und seinen Körper rückwärts warf; ihm war es soeben gewesen, als habe er seinen nächsten Schritt in eine dunkele Tiefe hinab thun wollen, und er bedurfte einiger Secunden, um sich von dem schlagartigen Schrecken, der ihn ergriffen, zu erholen. Scharf blickte er vor sich, aber was sein Auge, das den Himmel gemustert, nicht sofort zu unterscheiden vermochte, das ließ ihn sein Ohr ahnen: tief unten vor seinen Füßen rauschte Wasser, bald entdeckte auch sein angestrengter Blick eine breite, dunkele Schlucht, und seine Hand berührte das obere Ende eines hinabgestürzten Balkens – die Secessionisten hatten die Brücke abgebrochen, um nach ihrem Angriff auf die Mühle jeder directen Verfolgung durch die Bewohner der Stadt vorzubeugen. Jetzt wußte auch Bill, warum sie den Umweg, die Eisenbahn hinab, genommen hatten, und einen Augenblick wollte die Verzweiflung ihre Krallen in sein Herz schlagen; der nächste Gedanke indessen schon brachte ihm hellen Trost. Er kannte den Bach, der hier unten floß, er wußte, daß er in geringer Entfernung im Walde einen Fall bildete und daß es dort leicht sein mußte, ihn zu überschreiten. Und mit dem Gedanken fühlte er auch seine volle Kraft wiederkehren; vorsichtig trat er von der Straße zwischen die Bäume hinein, dem Geräusche des Wassers folgend und sich bald mit den Händen an dem Gebüsche weiter fühlend, bald mit dem Fuße die Nähe der Schlucht erkundend – es war ein langsames, mühseliges Vorwärtskommen, und Bill meinte oft in der aufsteigenden Angst und Ungeduld vergehen zu müssen; lange währte es, bis das Geräusch des kleinen Wasserfalles zu seinen Ohren drang, und als er diesen endlich erreicht und oberhalb desselben das dämmernde Licht des anbrechenden Morgens sich in dem ruhigen Wasser wiederspiegeln sah, erkannte er erst, welchen Sprung es erforderte, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, ohne in den kleinen Strom, dessen Tiefe ihm fremd war, zu gerathen. Zu langem Besinnen hatte er indessen keine Zeit; er nahm auf jede Gefahr hin seinen Ansatz, spannte seine Muskeln zu voller Schnellkraft an und wenn er auch an dem schlüpferigen jenseitigen Boden ausglitt und in die Dunkelheit des Gesträuches stürzte, daß dieses wie mit Messern in sein Gesicht einschnitt, so war er doch trocken auf dem ersehnten Lande angelangt und eilte, kaum wieder recht zu sich selbst gekommen, durch Zweige und Gestrüppe sich arbeitend, nach der Straße zurück. Und jetzt schien er unempfindlich gegen alle Unebenheiten des Wegs geworden zu sein – er wußte, welche kostbare, unersetzliche Zeit er verloren; schon sandte der umwölkte Himmel die volle Morgenhelle hernieder, und in raschem Trabe eilte er vorwärts. In der Entfernung sah er bereits den Wald sich lichten – dort ging es zur Mühle hinab, und von da aus hatte er nur noch ein schmales Gehölz zu Passiren, um in Pleasant-Grove zu sein. Mehr und mehr begannen die Bäume von der Straße zurückzutreten, und der Knabe erwartete jeden Augenblick die Brandruinen der Mühle vor sich auftauchen zu sehen, als plötzlich, wie ein scharfes Prasseln, der Klang einer Anzahl von Schüssen an sein Ohr schlug, und kaum war er, wie von Schrecken an die Erde gebannt, stehen geblieben, als eine volle Salve dem ersten Gewehrfeuer folgte.

„Sie sind da, sie sind da!“ schrie Bill wie in Verzweiflung auf, seine Kniee drohten sichtlich unter ihm zu brechen; in der nächsten Minute indessen flog er wie ein gescheuchtes Reh dem Ausgangs des Waldes zu. Dort aber hielt er von Neuem an, und seine Augen blickten, wie im Entsetzen weit aufgerissen, in die Ferne. Links lag ein Haufen halb verkohlter, noch glimmender Balken, die frühere Mühle bezeichnend; rechts lief, eine leichte buschige Anhöhe hinab, der Weg nach der Stadt, und dort wälzten sich soeben schwarze schwere Rauchwolken empor, den Beginn einer Feuersbrunst anzeigend.

„O du Gott im Himmel!“ preßte es sich aus der Brust des Knaben, „und meine Mutter!“

Da zuckten die ersten spitzen Flammen durch den Qualm, und, als hätten sie nur andern Bahn brechen wollen, hoben sich an drei verschiedenen Orten gewaltige Feuersäulen ihnen nach; zugleich aber begann das Schießen von Neuem, bald wie Gliederfeuer, bald in rascher Aufeinanderfolge einzelner Schüsse; Schreien und Rufen klang vom Winde halb verweht herüber, und mit einem Aufschrei der Todesangst stürzte der Knabe die nach der Stadt hinabführende Straße vorwärts.

Aus den Gebüschen vor ihm trat schweißtriefend ein Mann in der gewöhnlichen Tracht der „kleinen“ Farmer, der beim Anblick des wie sinnlos heraneilenden Knaben seinen Schritt anhielt.

„Halt, Bill!“ rief er, als Jener, ohne nur von ihm Notiz zu nehmen, an ihm vorbeischießen wollte, und faßte kräftig des Burschen Arm, „hier läufst Du der Bande gerade in die Hände!“

„Laßt mich, laßt mich!“ erwiderte Bill angstvoll, als habe er die Worte kaum gehört, und versuchte sich eilig loszuwinden, „die untere Stadt brennt und meiner Mutter Haus mit!“

„Aber Du kannst nichts helfen, Junge, und wirst nur todtgeschlagen,“ gab der Mann zurück, „was sich hat retten können, ist nach der oberen Stadt geflüchtet, die scharf vertheidigt wird, und nun schießt die Mordbrennerbande nieder, was sich nur ihren Augen zeigt. Geh zurück oder komm mit mir, bis der Weg wieder frei wird!“

In des Knaben Gesicht begann sich ein Kampf zwischen Vernunft und Herzensangst zu spiegeln, bis er endlich wortlos und mit einem Ausdrucke unendlichen Jammers in das aufgehende Feuer hineinstarrte. Da klangen Schüsse in größerer Nähe als bisher, und von Neuem faßte der Mann Bill’s Arm. „Wir sind hier nicht sicher,“ rief Jener, den Burschen nach einem schmalen, abseits führenden Pfade ziehend; „warte wenigstens bei mir ab, wie die Sachen ausgehen, und dann thue, was Du willst!“ Und wie von aller Kraft verlassen, ließ sich Bill widerstandslos durch das Gebüsch führen, wo nach kurzem Gange ein rohes Blockhaus sich vor ihnen zeigte und das angstvolle Gesicht einer jungen Frau ihnen entgegenblickte. Bill hörte nichts von dem Wortaustausch der beiden Andern; kaum hatte er den innern Raum des Hauses betreten, als er wie gebrochen in einen Stuhl fiel und in ein krampfhaftes Weinen ausbrach; und je mehr der Mann Versuche machte, den Knaben durch Zureden zu beruhigen, je lauter schluchzte er, je stärker strömten seine Thränen – die Natur schien nach den übermäßigen Anspannungen der Nacht mit Gewalt ihr Recht zu fordern. Endlich rückte er zum Fenster, ließ den Kopf auf beiden untergestützten Ellbogen ruhen und horchte gespannt den sich bald nähernden, bald entfernenden Schüssen, nach kurzer Zeit aber vermochte er der wie Blei sich über ihn legenden Müdigkeit nicht mehr zu widerstehen und war eingeschlafen, ohne daß er es nur wußte. Sein letzter Gedanke, der wie ein Gespenst vor ihm stand, war, was aus seiner Mutter werden solle, wenn das Städtchen dem wilden Feinde zur Beute würde, und Fred Minner, selbst wenn er mit dem Leben davon käme, so arm würde, daß er mit sich allein schon übergenug zu thun haben werde.

Als er sich nach geraumer Zeit wieder aufgerüttelt fühlte, zog der Geruch von gebratenem Fleische dem Knaben in die Nase und weckte, trotzdem der erste Blick auf seine Umgebung ihm die letzte Vergangenheit klar vor die Seele rief, den Appetit der Jugend in voller Schärfe in ihm.

„Es ist Mittag, Bill, und Du hast noch kein Frühstück im Leibe,“ sagte der Farmer gutmüthig, „iß mit uns und dann thue, was Du willst; der Regen scheint den Mordbrennern das Pulver naß gemacht zu haben, und ich denke, Du hast jetzt freien Weg!“

Bill’s Auge flog unwillkürlich durch das Fenster in’s Freie, wo der Wind die Bäume bog, während die noch triefenden Scheiben einen kaum beendigten Regenguß andeuteten. Dann horchte er auf, aber das Schießen war verstummt, und nur das Sausen des Windes drang zu seinen Ohren. „Ich esse etwas, damit ich wieder Kraft bekomme,“ sagte er, dem Manne nach dem mit derber Kost besetzten Tische folgend, wo bereits die Frau ihrer harrte, „ich werde sie vielleicht heute noch brauchen!“ Und damit begann er schweigend und eifrig zuzulangen; kaum mochte er aber seinen Hunger gestillt haben, als er sich wieder erhob und seinem Wirthe die Hand reichte. Er fragte nach nichts, als scheue er sich vor jeder neuen Mittheilung, er nickte den Farmerleuten dankend zu und schritt dann hastig in’s Freie hinaus, durch die nassen Büsche den Rückweg nach der Straße suchend.

Starr die Augen vor sich gerichtet, eilte er der Stadt entgegen; der Wind umtoste ihn, aber er schien es kaum zu fühlen [100] und griff nur mechanisch dann und wann nach dem Kopfe, wie um seinen Hut fester darauf zu drücken. Da umbog er das letzte Gebüsch, und mit einem einzigen hastigen Blicke schien er jede Einzelnheit des vor ihm liegenden Bildes erfassen zu wollen. Die letzten vier, etwas abgesondert stehenden Häuser der langen Straße bildeten einen rauchenden, schwarzgebrannten Trümmerhaufen; sonst schien in der Doppelreihe der übrigen Gebäude nichts beschädigt zu sein – nach diesen zerstörten Wohnungen aber richtete der Knabe mit einem schluchzenden Laute seine beschleunigten Schritte. Ringsum war nicht ein einziger Mensch zu sehen, weder Freund noch Feind, und erst als Bill, bei den Trümmern angelangt, einen Blick voll Schmerz und Ratlosigkeit um sich warf, entdeckte er die Ursache dieser seltsamen Stille. Der Ausgang der eigentlichen geschlossenen Straße war durch eine Barrikade von Wagen und Fässern gesperrt – eine Befestigung, die jedenfalls Fred Minner noch zu rechter Zeit hatte herstellen lassen – und auf der Höhe derselben tauchte soeben ein Gesicht aus Bill’s Bekanntschaft auf. Der zugleich mit sichtbar werdende Gewehrlauf ließ den Zweck der Anwesenheit des Mannes leicht errathen.

„Um Gotteswillen, Mister,“ rief Bill hinauf, „wissen Sie nicht, was aus meiner Mutter geworden ist?“

„Halloh, Bill!“ kam die Antwort zurück, „krieche hier durch und sieh selbst in der Stadt nach; heute hat Niemand Zeit gehabt, sich um einen Andern zu bekümmern.“

„Es sind doch Alle aus den niedergebrannten Häusern hier gesund heraus gekommen?“ fragte Bill in einem Tone, dem er umsonst Festigkeit zu geben versuchte.

„Ich denke so, wenigstens habe ich bis jetzt von keinem Unglücke gehört,“ war die Erwiderung, „werden indessen wohl auch heute noch nicht erfahren, wie viel der Morgen gekostet hat!“

Ein schwerer Druck lag auf dem Herzen des Knaben, als er sich einen Weg zwischen dem verschiedenen Befestigungsmaterial hindurch bahnte, und schnellen Schritts wandte er sich der Mitte des Städtchens zu, von wo ihm der scharfe Wind Geräusch und verwirrte Laute entgegentrug. Links und rechts auf seinem Wege waren die Fensterladen und Thüren geschlossen, und außer einzelnen Bewaffneten, die hier und da sichtbar wurden, ließ sich nirgends ein lebendes Wesen erblicken.

An derselben Stelle, wo Bill am Abend zuvor der deutschen Unentschlossenheit eine Standrede gehalten, sah er jetzt fast die gesammte männliche Bevölkerung des Ortes bewaffnet und in einzelne Haufen geschieden stehen. Die kräftige Gestalt des Müllers Riese schritt ordnend und Befehle ertheilend dazwischen umher; vergebens aber sah sich der Knabe nach seinem Freunde Minner um. Er scheute sich, sich besonders bemerkbar zu machen, er fühlte es wie eine Art Schuld auf sich liegen, daß er seinen Auftrag nicht hatte ausführen können, daß er jetzt, nachdem sichtlich der Angriff der Secessionisten abgeschlagen worden, wie ein nutzloses Ding, das nichts geleistet und zu nichts taugte, zurückkehrte, und so wandte er sich nur an einige umherstehende Knaben seines Alters, um nach Fred, von dem er am ersten Auskunft über seine Mutter zu erhalten hoffte, zu forschen. Niemand aber wußte, wo dieser geblieben war, und selbst einzelne Anfragen in den Haufen der Männer führten nur zu einem Achselzucken als Antwort. Jeder schien im Augenblicke nur an sich und die allgemeine Gefahr zu denken. Dagegen traf Bill in dem Kreise seiner Altersgenossen auf einen mächtigen Enthusiasmus für den Müller Riese, welcher der Mann der Situation zu sein schien. Bill mußte gegen seinen Willen sich erzählen lassen, wie Riese mit einem einzigen Gehülfen die Mühle gegen die Secessionisten vertheidigt, bis ihnen fast die Flammen über dem Kopfe zusammengeschlagen; wie dann Beide dennoch glücklich entwischt seien und sich während der Nacht im Walde verborgen gehabt; wie sie dann heute Morgen die anrückende Bande bemerkt und noch zeitig genug die Stadt erreicht hätten, um den Räubern einen warmen Empfang bereiten zu können.

Fred Minner hatte mit dem Müller zusammen die anfängliche Vertheidigung geleitet – erfuhr Bill auf sein Befragen – nachher aber war von dem Erstern nichts mehr zu sehen gewesen; möglich, daß er verwundet sei, hieß es, und in irgend einem Hause liege.


Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum nächsten Teil
zum Anfang
Autor: Otto Ruppius
Titel: Bill Hammer. Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
aus: Die Gartenlaube 1862, Heft 8, S. 127–128
Teil 3

[127] Eilig und mit gepreßtem Herzen machte sich der Bursche nach des Freundes Wohnung auf den Weg; dort fand er indessen Alles fest verschlossen, und nur der Wiederhall von innen antwortete auf sein immer verstärktes Klopfen. Einige Minuten stand er mit sorgenvoll gerunzelter Stirn, scharf überlegend in den dick überzogenen Himmel blickend; dann nickte er wie in einem gewonnenen Troste und wandte sich dem nächsten Hause zu. Er wollte die Runde durch die Wohnungen der ganzen Stadt machen, irgendwo mußte er auf seine Mutter treffen; denn konnte auch Fred durch irgend eine Nothwendigkeit zu einem augenblicklichen Verlassen des Orts gezwungen worden sein, so ließ sich doch dies bei ihr in keiner Weise denken. Und so trat er seine Wanderung an, sich von keinem der Hindernisse ermüden lassend, die sich fast mit jedem Schritte in seinen Weg stellten. Ueberall fand er die Häuser verschlossen, nur zaghaft und widerwillig ward ihm geöffnet oder auch nur durch die Thür nach seinem Begehren gefragt, und selten wurde ihm auf seine Frage mehr als eine kurze verneinende Antwort; – Niemand hatte seine Mutter gesehen, noch von ihr gehört, und selbst als er auf eine frühere Nachbarin traf, deren Haus gleichfalls niedergebrannt war, wurde ihm weder Auskunft noch Trost. Die Frau war erst, als der Rauch schon ihre Stube gefüllt, aus dem Bette geschreckt worden und wäre in dem Bemühen, sich zu retten, fast durch das beginnende Gewehrfeuer getödtet worden – sie hatte keine Ahnung, wie es ihren übrigen unglücklichen Nachbarn ergangen sei.

Immer kleiner ward die Zahl der Häuser, welche Bill noch zu durchfragen hatte, und immer mehr zog sich bei jeder neuen verneinenden Antwort dem Knaben das Herz zusammen – seine Mutter sammt Fred schienen völlig verschwunden zu sein, und er begann in seiner Angst sich jede Art von Möglichkeit, die dieses Verschwinden zu erklären vermöchte, zusammen zu stellen; sein aufgeweckter Verstand verwarf aber die entstehenden abenteuerlichen Gedanken fast eben so schnell, als sie sich gebildet hatten, und zuletzt blieben ihm nur noch zwei Annahmen, beide aber so gräßlich, daß er sie mit einer peinlichm Furcht immer noch in den Hintergrund seiner Seele drängte. Fred war zu Anfang des Ueberfalls gesehen worden – er mochte sich während dessen Bill’s Mutter erinnert und sie zu retten versucht haben; war er dabei in die Hände der wilden Rotte gerathen und seine Mutter ohne Hülfe in den Flammen umgekommen? oder waren Beide vielleicht als Opfer für die Rachsucht der Secessionisten hinweg geführt worden? Es war eine bekannte Thatsache, daß auf dem bisherigen Mordbrennerzuge weder Alter noch Geschlecht geschont worden war, wo es sich um Deutsche gehandelt.

In fieberhafter Hast setzte er seine Nachforschungen fort und fühlte nicht den wiederbeginnenden, vorn Winde gepeitschten Regen, vor dem sich selbst die bewaffneten Bürger nach geschützten Stellen zurückzogen; als aber in dem letzten Hause die Thür vor seinem Gesichte wieder zugeschlagen ward, als er sich überzeugte, daß innerhalb der improvisirten Befestigungen kein weiterer Ort sich befand, der für die Gesuchten einen Aufenthalt hätte abgeben können, da ward es ihm plötzlich, als solle die Angst und Ungewißheit ihn wahnsinnig machen; wie ein Riese hob sich der Gedanke, jede andere Vorstellung erdrückend, in ihm, daß er unter den Brandruinen der Häuser seiner Mutter Gebeine hervorzusuchen haben werde, und ohne selbst recht zu wissen, was er that, stürzte er die Straße hinab, den zerstörten Wohnungen zu. Er arbeitete sich durch die Barrikade und blieb mit zitternden Gliedern vor den schwarzen qualmenden Trümmern stehen, die ihm nicht einmal erlaubten, mit Sicherheit die Stelle anzugeben, wo eins oder das andere der Häuser gestanden.

Aus dem Chaos von Gedanken, stürmenden Empfindungen und dunklen Entschlüssen, welches in diesem Augenblicke sein Inneres durchwogte, riß ihn ein wiederholter, halbverdeckter Ruf. „Master William, ich habe Ihnen etwas zu sagen!“ klang es von Neuem, und Bill’s verstörter Blick traf auf das Gesicht des Schwarzen, mit welchem er beim gestrigen Verlassen von Anderson’s Farm das letzte Gespräch gehabt und der jetzt in einiger Entfernung sich scheu neben einer Gruppe von Büschen hielt. In der gegenwärtigen Stimmung des Knaben mußte alles ihm Begegnende Bezug auf die Vermißten erhalten, und die letzten Worte des Negers schienen ihm nur die endliche Beseitigung seiner Ungewißheit zu verheißen. Seine Stimmung sprang von der Verzweiflungsgrenze zur neuen Hoffnung über. „Halloh, Dick! warum kommt Ihr denn nicht heran?“ rief er, dem Schwarzen entgegen eilend.

„Darf nicht, Sir!“ erwiderte dieser, den Kopf in die Schultern ziehend und beim Nahen des Knaben völlig hinter das Gebüsch zurücktretend, „Mr. Anderson hält’s mit den Secessionisten, und so meinte der Mann mit der Flinte dort, ich müsse ein Spion sein. – Miß Alice hatte mich hergeschickt,“ fuhr er angelegentlich fort, „um Master William, wenn ich ihn träfe, doch um Gottes Willen zu bitten, schnell einmal nach der Farm zu kommen!“

„Sie weiß etwas von meiner Mutter oder von Fred Minner?“ fragte Bill hastig.

„Kann’s nicht sagen, Master Will, aber ich glaube, sie erwähnte Mr. Minner – jedenfalls muß es recht nothwendig sein, um was sie mich schickt!“ war die eilfertige Antwort. „Es ist ein Theil von den Secessionisten in Mr. Anderson’s Hause, die, wie es heißt, in der Nacht noch Verstärkung erwarten, und Miß Alice befahl mir deshalb, Sie nur heimlich und auf ganz sichern Wegen nach der Farm zu bringen.“

„Etwas muß sie wissen, wär’s auch jetzt nur von Fred!“ murmelte Bill, wie sich allen Zweifeln entreißend. „Vorwärts, Dick, ich bin fertig!“ rief er, sich den Hut fester auf den Kopf drückend, und mit einem Nicken der Befriedigung nahm der Schwarze seine Richtung durch den sprühenden Regen quer über das offene Land dem Walde zu.

Die Dunkelheit begann schon hereinzubrechen, als Beide nach einem mühseligen Wege sich durch ein nasses Maisfeld nahe dem Farmhause arbeiteten und Dick endlich den Knaben bat, hier ein Weilchen zu warten, damit er nachsehen könne, wie weit ihr fernerer Weg sicher sei. Der Schwarze verschwand, und Bill stand zwischen den tropfenden Maisstengeln, bemüht, einen frostigen Schauer von sich zu schütteln. Ueber ihm brauste der Sturm durch die Bäume, aus der Farm klang zeitweise ein halbverwehtes Lachen herüber, das dem Knaben die gefahrvollsten Augenblicke der letzten Nacht wieder vor die Seele rief, und ein Gefühl wie Heimathslosigkeit überkam ihn. Hier, wo er das letzte Jahr sein Brod gehabt, durfte er sich nicht mehr zeigen, sein mütterliches Haus war niedergebrannt, und kaum hätte er, seit Fred verschwunden war, gewußt, wo für die nächste Nacht ein Obdach zu finden, wenn es ihm nicht irgendwo aus Barmherzigkeit gewährt wurde. Aber nur für eine kurze Zeit behielt das Gefühl des Zagens in ihm die Oberhand; dann verwandelte sich sein ganzes Denken und Empfinden in einen grimmigen Haß gegen die Secessionisten, die das gesegnete Land in’s Elend stürzten und alles Familienglück vernichteten, wo sie nur auftraten; er hätte einen Eid schwören mögen, sie mit ewiger Feindschaft zu verfolgen und des eigenen Lebens dabei nicht zu achten – und die aus den eigenen Gedanken sich entwickelnde Erregung begann ihn warm zu machen, daß bald Nässe und rauhe Luft ihren Einfluß auf ihn verloren. Erst nach fast einer Viertelstunde stellte sich Dick wieder ein, kaum war aber dem Knaben die Zeit bis dahin lang geworden, und als dieser jetzt dem Schwarzen folgte, fühlte er eine Energie in sich, die ihn vor dem schwierigsten Unternehmen, sobald es sich nur gegen die Secessionisten richtete, nicht hätte zurückschrecken lassen.

Es war bereits so dunkel geworden, daß Beide, ohne besonderer Vorsicht zu bedürfen, ungesehen nach einem kleinen Hintergebäude gelangten, das zur Aufbewahrung der Feldgeräthschaften diente, und kaum hatte hier der Schwarze die Thür geöffnet, als ihnen auch Alice Anderson, von einer Handlaterne beschienen, in sichtbarer Aufregung entgegentrat. „Halte Wache, Dick, und benachrichtige uns bei Zeiten, sobald Jemand hierherkommt!“ sagte sie; und kaum hatte der Schwarze den Raum verlassen, als sie

[128] hastig Bill’s Hand faßte und ihn von der Thür hinweg nach dem Innern zog.

„Es ist etwas Schreckliches im Werke, Bill,“ begann sie hier mit fliegender Stimme, „ich habe nur etwas davon erlauscht, aber es ist genug, um mich das Ganze ahnen zu lassen – höre Bill, und dann sage, wie eine Hülfe möglich ist –!“

„Nur Eins zuvor, Miß Alice,“ unterbrach sie der Knabe, „wissen Sie etwas von Fred und meiner Mutter, von denen kein Mensch in Pleasant-Grove etwas wissen will?“

„Wenn Deine Mutter nicht da ist, so hat sie Fred in Sicherheit gebracht, darauf verlaß Dich – höre mich nur an!“ entgegnete das Mädchen in Hast. „Fred hat diesen Morgen, kaum daß der Angriff auf Pleasant-Grove abgeschlagen war, sich selbst auf den Weg nach Jefferson-City gemacht, um Hülfe herbeizuholen.

Ich habe ihn gesprochen und weiß, daß es sein bestimmter Plan ist, mit dem letzten Eisenbahnzuge Verstärkung für die Deutschen zu bringen. Es wußte Niemand darum, als der Müller Riese, welcher an seiner Stelle das Commando übernommen hat, und doch ist der Plan nicht geheim geblieben. Mein Vater hat Kenntniß davon und auch der Colonel der Secessionisten; ich habe sie Beide heimlich mit einander rathschlagen hören. Sie haben die Tragbalken der Eisenbahnbrücke zerstören wollen, daß der Zug durchbrechen und mit Allen darauf in den Abgrund stürzen soll – und schon seit Mittag ist Vater weg! – Bill!“ rief sie in voller Angst ausbrechend, „sage um Gotteswillen, ob Du einen Rath weißt, wie dem gräßlichem Unglücke vorzubeugen!“

Der Bursche starrte das Mädchen mit weit geöffneten Augen an; dann fuhr er wie im plötzlichen Entsetzen auf. „Geben Sie mir die Laterne – rasch! es ist gewiß schon fast sieben Uhr, und in einer halben Stunde kommt der Zug! ich muß ihm entgegen und warnen!“

„Aber Du kommst nicht über die Schlucht, wenn die Brücke zerstört ist!“ jammerte das Mädchen.

„Ich muß, ich muß!“ stöhnte Bill, wie trotz seines Entschlusses von ihrem Einwürfe getroffen. „Halt, das ist es!“ rief er und griff nach einem zusammengerollten Seile, auf das seine suchenden Augen unter den übrigen Geräthschaften getroffen, „und nun, Miß Alice, beten Sie zu Gott, daß er mir es gelingen läßt – es ist heute kein Glückstag für mich gewesen!“ Die Laterne unter dem Flügel seines Rockes bergend, daß ihn der Schein nicht verrathe, eilte er davon, ehe noch das Mädchen im Stande war, ein Abschiedswort für ihn zu finden.

Bill hatte sich nach dem nächsten Maisfelde gewandt, das ihn bis zu einiger Entfernung vom Hause vor jeder Entdeckung sicher stellen mußte, und verfolgte in Hast eine breite Furche, die sich ihm geboten. Nur in einzelnen Strahlen ließ er das Licht vor sich fallen, um nicht aus der Richtung zu gerathen, und trat bald auf freies Land hinaus. Hier kannte er jeden Fuß breit, aber ein wüthender mit Regen vermischter Sturm empfing ihn, der ihn, bei jedem Schritte vorwärts, wieder zurück zu werfen drohte, und erst als er mit Anstrengung einen Fußweg am Saume des Waldes erreicht, erhielt er einigen Schutz. Den Kopf gegen den Wind gebeugt, die Laterne, deren Licht ihn nur blendete, verdeckt, strebte er vorwärts, so rasch es nur seine Kräfte vermochten; die Eisenbahnbrücke konnte jetzt kaum mehr als zehn Minuten Entfernung vor ihm liegen, und schon hörte er durch das Geräusch des Sturmes ein entferntes Brausen, das ihm zeigte, wie hoch der Bach vom Regen angeschwollen sein mußte. Da blieb er plötzlich stehen und horchte hinter sich. Schon zweimal war es ihm gewesen, als folge Jemand im Walde neben ihm seinen Schritten, und jetzt meinte er deutlich das Knacken eines durchbrochenen Gesträuchs gehört zu haben. Aber es blieb ihm keine Zeit, weitere Untersuchungen darüber anzustellen, sein Aufhorchen war auch nur ein mehr unwillkürliches gewesen; vorwärts eilte er wieder, und deutlicher ward mit jedem Augenblicke das Rauschen und Brausen der Wasser in der tiefen, steilen Schlucht, in welcher der Waldbach sein Bett gewählt. Schon betrat er die Schienen der Eisenbahn, welche der Brücke zuführten, da fegte ihm der Sturm mit einer Macht entgegen, die ihn einen Augenblick völlig betäubte; in der nächsten Minute aber weckte ihn ein donnerähnliches Krachen und Prasseln vor ihm, und er wußte, daß die von den Secessionisten ihres Haltes beraubte Brücke soeben vor dem Andränge des Wassers zusammengebrochen war. Als er mit raschen Schritten das steil abfallende Ufer der Schlucht erreicht, wo nicht ein Stückchen Balken mehr das frühere Dasein des Baues bezeichnete, schwang er seine Laterne, um einen möglichst großen Lichtkreis zu gewinnen, aber nur der schwarze gähnende Abgrund, aus welchem das Tosen der wilden Fluthen heraufklang, zeigte sich seinen Blicken – und seiner Berechnung nach konnte kaum noch eine Viertelstunde Zeit bis zu Ankunft des Zugs, der ohne seine Warnung mit allem Lebenden, das er herbeiführte, rettungslos in das Verderben stürzen mußte, übrig sein. Ein unwillkürliches, aber inbrünstiges „O Gott im Himmel, laß es doch gelingen!“ entrang sich seiner Brust; dann trat er rasch einige Schritte am Ufer hin, wo sich ihm der Stumpf eines abgehauenen Baumes gezeigt hatte, und entrollte das mitgebrachte Seil. Er legte es doppelt, hing es über den Stumpf und ließ sich jetzt mit dessen Hülfe, die Laterne an seinen Arm gehangen, vorsichtig an der steil abfallenden Erdwand hinunter. Jeden Stützpunkt, den seine Füße finden konnten, benutzend, erreichte er rasch und glücklich den Boden der Schlucht und sah sich nun auf einem steinigen Absätze, die dunkele, weiß schäumende Fluth vor sich. Sein erster Blick belehrte ihn indessen, daß hier hindurch zu kommen unmöglich sei; der scharfe, wilde Strom hätte ihn bei dem ersten Schritte in das Wasser mit sich fortgerissen, und zwei Secunden lang stand er rathlos. Wieder schwang er die Laterne nach allen Richtungen, und sein Auge blieb endlich an einem Gegenstände zu seiner Linken hängen, an dem die Wellen sich schäumend brachen. Vorsichtig versuchte er näher zu kommen und faßte glücklich das Bruchstück eines frühern Brückenpfeilers als Halt für seine Untersuchung – ein junger Baum, den die Fluth mit sich gerissen, lag vom Wasser überströmt zwischen beiden Ufern eingeklemmt. Hier allein konnte ein Uebergang vollbracht werden, wenn dieser überhaupt möglich war. Sein Licht hoch haltend, spähte Bill scharf nach dem jenseitigen Ufer; er sah die gebrochenen Aeste des Baumes dort aus der sie umschäumenden Fluth ragen und hätte aufjauchzen mögen – jetzt war er sicher, sein Unternehmen durchzuführen, wenn nur der Zug so lange ausblieb, als er Zeit für sich bedurfte. Rasch faßte er das eine Ende seines Seiles und zog damit das andere von der Höhe des Ufers, wo es um den Baumstumpf lief, herab – er schnitt sich damit den sichern Rückweg ab, er wußte es, aber ein Rückwärts gab es nicht mehr für ihn. Dann knüpfte er in Hast eine weite doppelte Schlinge und warf diese hinüber nach den Aesten des gestürzten Baumes; wohl hatte er drei Mal nach verfehltem Wurfe das Seil wieder durch das Wasser zurückzuziehen; beim vierten Wurfe indessen blieb die Schlinge hängen; er zog mit aller Macht, um den Halt zu prüfen, aber sie saß fest, und in bebender Eile schlang er jetzt das Tau um den gebrochenen Brückenpfeiler zu seiner Seite, spannte es an, soviel seine Kräfte es vermochten, und knüpfte es fest; dann trat er, mit der einen Hand kräftig das Seil fassend, mit der andern die Laterne hoch haltend, ohne Bedenken nach dem überströmten Stamme hinab. Schon bei seinen ersten Schritten merkte er, daß es seiner ganzen Vorsicht bedurfte, um auf der schlüpfrigen Bahn festen Fuß zu gewinnen; je weiter er aber der Mitte des Baches zuschritt, je höher stieg das Wasser an seinen Beinen herauf, und oft fühlte er, wie die Macht des Stromes ihn fast unwiderstehlich hinunter in die Tiefe zu drängen drohe, und wie es seiner ganzen Kraft bedurfte, um sich den nöthigen Halt am Seile zu geben. Er hatte die Mitte der Fluth erreicht, wo ihr Zug am stärksten war, und blickte eben besorgt vor sich, denn hier schien sich der Stamm völlig auf den Grund gesenkt zu haben, da klang es plötzlich von der Höhe des rückwärts liegenden Ufers: „Halloh, wer ist dort unten?“ Bill zuckte zusammen, das war die Stimme seines bisherigen Brodherrn, Anderson, desselben Mannes, welcher die Brücke zerstört. Harrte er auf den herankommenden Zug, um sich von dem Gelingen seines teuflischen Werkes zu überzeugen? oder war er es gewesen, den Bill beim Beginn seines Weges hinter sich gehört? Eins stand dem Knaben in voller Gewißheit vor der Seele: Gelang es dem Manne, ihn zu erreichen, so war es mit der Rettung des Zuges vorüber! und hastig, ohne an die erhöhte Gefahr zu denken, trat Bill in das tiefere Wasser, das, obgleich er auf den Baumstamm traf, ihm bis über die Kniee ging und mit gewaltiger Kraft ihn fast in den kochenden Strudel daneben gezogen hätte. Noch zeitig genug hatte Bill mit beiden Händen das Seil gepackt und trat jetzt mit Anstrengung aller seiner Kräfte auf’s Neue vorwärts.

Textdaten
zum vorherigen Teil
<<< >>>
zum Anfang
Autor: Otto Ruppius
Titel: Bill Hammer. Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
aus: Die Gartenlaube 1862, Heft 9, S. 140–141
Teil 4 // Schluß

[140] „Wer ist dort unten? Antwort, oder ich schieße!“ klang es von Neuem, aber Bill arbeitete sich um so hastiger weiter. Hatte er nur das jenseitige Ufer erreicht, so löste er das Seil, und dann sollte es einem Menschen wohl schwer werden, ihm zu folgen. Er hatte jetzt die Laterne wieder an den Arm gehangen, den rückwärts fallenden Schein möglichst durch seinen Körper verdeckend, und schon sah er die Zweige des Baums am jenseitigen Ufer deutlich vor sich, da rauschte es hinter ihm wie ein Erdfall, und ein lauter Fluch folgte dem Geräusche – Bill wußte, daß Anderson in diesem Augenblicke das steile Ufer auf jede Gefahr hin hinabgerutscht war, und von einer panischen Furcht gepackt, ergriff er einen sich ihm entgegen streckenden Ast des gefallenen Stammes, sich kräftig durch das übrige Zweigwerk hindurch arbeitend. Da fühlte er auch schon, wie sich das Seil mächtig anzog; in fliegender[WS 1] Hast, als spüre er die Hand des ihm Folgenden bereits in seinem Nacken, suchte er nach dem Halte der Schlinge – da saß sie an einem kurzen Aststücke, und mit einem Ruck, in welchem die Todesangst seine ganzen Kräfte vereinigt, hatte er sie losgerissen.

Hinter sich hörte er einen lauten Schlag in’s Wasser, aber er dachte nicht daran, sich umzublicken; mit einem mächtigen Satze sprang er an das Ufer und begann hastig die steil aufstrebende Wand der Schlucht zu erklimmen. Wie er hier hinauf gekommen war, wußte er in späteren Stunden selbst nicht, alle seine Gedanken waren nur auf seinen Verfolger gerichtet, und selbst als er halb athemlos die Eisenbahn betrat, als ihn hier Sturm und Regen in voller Macht empfingen, trieb ihn die Angst noch ein Stück in vollem Laufe vorwärts. Die Laterne mit dem Rockflügel verdeckend, blieb er endlich bei einer augenblicklichen Pause des Sturmes stehen und lauschte – nichts von einer Verfolgung ward hörbar, und jetzt brach sich in vollem innerlichem Jauchzen das Gefühl des errungenen Sieges in ihm Bahn. Noch war ja der Zug nicht da, und er konnte warnen und retten, konnte mit einem Schlage Alles vergelten, was Fred Minner jemals für ihn und seine Mutter gethan; für die Secessionisten aber mußte jetzt die Vergeltung kommen.

Eilig bog er sich nieder und legte das Ohr auf die nassen Schienen; nach kaum drei Secunden indessen sprang er rasch wieder auf seine Füße und sah nach dem Lichte in seiner Laterne; er hatte deutlich das Rollen der nahenden Wagen vernommen, und nun spähete er, die Augen mit der Hand gegen den Regen schützend, die schnurgerade Bahnlinie entlang, in die Nacht hinaus. Dort hinten, aber noch weit, weit entfernt, glänzte etwas wie ein feuriges Pünktchen; es schien unbeweglich an einem Orte zu stehen, aber Bill’s Herz begann bei dem Anblicke lebendiger zu schlagen – er wußte, das war der Zug, und so weit die Entfernung von ihm auch schien, so waren es doch nur Minuten, die ihn von dem Knaben trennten. Und das Pünktchen ward heller und strahlender, jetzt ließ sich auch schon eine Bewegung desselben unterscheiden, wie ein leuchtendes Meteor schwebte es heran, mehr und mehr an Größe und Glanz gewinnend. Und mit diesem Lichte naheten Hunderte von Menschenleben in der Schnelle des Windes, und Keines der Herangeführten ahnte, daß der Tod auf dem Wege stand und schon die Hand ausstreckte, um die reiche Ernte einzuheimsen; daß sich ein weites, dunkeles Grab aufgethan hatte, um sie Alle zu bergen, die in trügerischer Sicherheit sich dem eisernen Rosse anvertraut. Noch hatte der Bürgerkrieg seine Gräuel nicht bis zu meuchelmörderischen „Wholesale“-Schlächtereien getrieben, und den Unionsleuten fehlte noch der Begriff, bis zu welcher Höhe des Fanatismus und der Rohheit es ihre eigenen Landsleute zu bringen vermochten. Und zwischen dem heransausenden Zuge und dem Verderben stand nur ein schwacher Knabe, zu nichts Weiterem fähig, als ein Warnungssignal zu geben, das der Regensturm zum großen Theile verwischen mußte; kehrte der Zugführer nur eine halbe Minute das Auge nach einer andern Richtung, wurde das schwache Licht, das in Bill’s Laterne fast niedergebrannt war, nur einige Secunden zu spät bemerkt, so war keines Menschen Macht im Stande, den drohenden Sturz aufzuhalten. Näher und immer näher raste der Zug, das kleine feurige Pünktchen war zur strahlenden Sonne geworden, ein glühender, langgezogener Rauchstreifen machte sich in der dunkeln Nacht bemerkbar – da hob Bill seine Laterne und begann sie in weitem Kreise um seinen Kopf zu schwenken. Aber sein Signal blieb unbeachtet. Näher und näher donnerte der Zug, jeder Druck der mächtigen Hebel stieß die rollenden Wagen weiter ihrem Sturze zu, und ein unbeschreibliches Angstgefühl erfaßte den kleinen Warner. Immer die Laterne im Kreise schwingend, rannte er dem Zuge entgegen, er schrie, was er vermochte, ohne es fast zu wissen, aber schon war das blendende Licht in seiner unmittelbaren Nähe, er mußte von der Bahn springen, um nicht überfahren zu werden und hätte sich in der Verzweiflung seines Herzens zur Erde stürzen mögen – da schrillte die Dampfpfeife und gab das Alarmzeichen. Bill sah den kaum enden wollenden Zug an sich vorübersausen, aber hörte das hastige Knarren der Hemmmaschine, hörte das Schnauben der Locomotive ersterben, und mit einem Herzen, in dem sich peinliche Angst und neuerwachte Hoffnung stritten, stürzte er in windschnellem Laufe den Wagen nach. O Glück! dort hielten sie still; aber ehe der Knabe heran war, war dort auch schon das entsetzliche Schicksal, welches dem Zuge bereitet worden, entdeckt – wenige Schritte von der Schlucht nur hielt die Locomotive, und ihr Vorderlicht beleuchtete grell den gähnenden Abgrund. Bill sah eine kleine Anzahl halb athemloser Männer sich entgegen kommen, sah sich mit Zeichen der Anerkennung überschüttet und an beiden Armen, halb getragen, den Wagen zugeführt; er sollte erzählen, was hier geschehen und wie er zur Kenntniß der gräßlichen Gefahr gelangt sei; aber Bill gab nur kurzen Bescheid, seine Gedanken flogen dem erwarteten Freunde zu; das einzige Wort „die Secessionisten“ indessen schien seinen Begleitern völlige Aufklärung zu geben.

Und als er nun naß und barhäuptig, aber die Laterne noch immer in der Hand, wie im Triumphe unter die aus den Wagen strömenden Reisenden, die sich fast nickt von dem Schrecken über den kaum vermiedenen sichern Tod zu erholen vermochten, geführt wurde, als jeder von diesen zuerst die Hand des heldenmüthigen Knaben drücken und ihm ein preisendes Wort sagen wollte: da brach sich ein Gesicht durch die Menge Bahn, dem Bill, jauchzend beide Hände empor hebend, zustrebte.

„Du, Bill, Du bist der Erretter gewesen?“ rief Fred Minner, welcher den Knaben stürmisch an seine Brust zog – aber dieser ließ ihm keine Zeit zu weiteren Ausrufungen. „Gott sei Dank, daß Du hier bist,“ erwiderte er hastig, „jetzt, Fred, nur ein einziges Wort: weißt Du, wo meine Mutter geblieben ist?“

Da faßte der junge Mann seinen kleinen Freund beim Arme und zog ihn nach einem der Wagen, in dessen Innerem eine bleiche Frau fast noch allein saß. „Da, Mutter Hammer,“ rief der Erstere eintretend, „da ist der Bursche, gegen den Niemand wieder ein Wort sagen darf – er hat heute über zweihundert Menschen das Leben gerettet!“ und mit einem Aufschrei der Freude flog Bill an den Hals der Vermißten – die er jetzt selbst dem Tode abgerungen hatte.

Die nöthigen Aufklärungen waren jetzt bald gegeben. Schon als Bill seinen Weg nach Jefferson-City angetreten, hatte Minner die Frau zu größerer Sicherheit nach seinem Hause genommen; als er indessen nach dem abgeschlagenen Angriffe der Secessionisten sich selbst nach Hülfe auf den Weg gemacht, hatte er sie nach einer der Eisenbahn nahe gelegenen deutschen Farm gebracht, wo sie bis zu wieder eingetretener Ruhe sich aufhalten sollte. Aber die Angst um Bill’s Schicksal hatte die Mutter nicht bleiben lassen, und schon gegen Abend war sie nach der nächsten Station gewandert, um Fred mit dem rückkehrenden Zuge abzuwarten.

In den kürzesten Umrissen nur theilte Bill seine eigenen Erlebnisse mit; als er aber den muthmaßlichen Zerstörer der Brücke nannte, als er erwähnte, daß auf dessen Farm die Secessionisten-Bande ihr Quartier genommen, da fuhr Fred auf: „Halloh, wir nehmen das ganze Nest aus, wenn wir es einigermaßen klug anfangen, es sind zwei Compagnien deutscher Freiwilliger hier. Komm mit mir, mein Junge!“

Außerhalb standen, nur nothdürftig von den Wagenlampen beleuchtet, die damals noch nicht uniformirten Streiter für die

[141] Union in dichtgedrängter Masse um ihre Officiere, welche mit den Beamten des Zugs berathschlagten, auf welche Art am besten die Schlucht zu überschreiten sei; kaum aber waren die ersten Worte zu Bill’s Ohren gedrungen, als er lebhaft rief: „Ich führe Sie einen sichern Weg; es mag ein Umweg von einer Stunde sein, aber wir kommen dann auch von einer Richtung, woher es Niemand vermuthet!“ Und nun theilte Fred Minner den Hergang der Dinge mit, der bald zu dem allgemeinen Entschlusse führte, vor dem Marsche nach Pleasant-Grove Anderson’s Farm heimzusuchen.

Eine Stunde darauf kroch Bill aus einem Maisfelde, wenige Schritte von Anderson’s Hause, hervor, sandte einen scharfen Blick durch die Dunkelheit rings umher und näherte sich dann vorsichtig den beleuchteten Fenstern des Gebäudes, hinter denen wirrer Lärm zu seinen Ohren drang. Er war als Späher der angekommenen Truppenmacht vorausgegangen, denn es ließ sich fast vermuthen, daß, wenn der alte Anderson unversehrt nach Hause gekommen war, irgend welche Maßregeln Seitens der Secessionisten, sich gegen die geretteten Freiwilligen sicher zu stellen, getroffen worden sein mußten. Das Bild aber, welches sich dem Knaben bei einem Blick durch die Fenster bot, sprach nur von der völligsten Sicherheit der Feinde. Zwei geräumige Zimmer waren mit Matratzen und Strohbündeln gefüllt, auf welchen sich die wilden Gestalten, welche Bill nur zu gut kannte, soeben ihr Nachtlager bereiteten; ihre Gewehre lehnten im wirren Durcheinander in den Ecken, und die auf einzelnen Tischen befindlichen Flaschen unter theilweise umgestürzten Gläsern ließen errathen, auf welche Weise der Abend verbracht worden war. In einem dritten Zimmer saß der Colonel mit seinen Gefährten beim Kartenspiel, während ein Schwarzer zu ihrer Bedienung bereit stand – Alles athmete die völligste Unwissenheit über den Stand der Dinge, und Bill hatte sich soeben wieder leise zurückgezogen, als eine schwere Hand in schmerzhaftem Griffe seine Schulter faßte. „Ist das nicht der kleine Spottvogel, der uns entwischt? Sieh, sieh! und das Kindchen gedenkt jetzt zu spioniren!“ klang es in seine Ohren, „werden aber diesmal weniger Umstände gemacht werden!“

Der Knabe hatte beim ersten Tone den Menschen erkannt, welcher ihn auf seinem beabsichtigten Gange nach Jefferson-City zuerst angehalten, und ein tödtlicher Schrecken durchfuhr ihn. Er wußte seine Landsleute in der Nähe, aber sie erwarteten seine Rückkunft, und ehe sie durch sein Ausbleiben herangezogen wurden, konnte er längst dem Fanatismus der rohen Bande zum Opfer gefallen sein. „Lassen Sie mich los, Sir!“ rief er mit unterdrückter Stimme, sich unter dem Griffe seines Gegners windend, „ich gehöre hier in’s Haus, und wenn Sie mir nicht glauben wollen, so rufen Sie Miß Alice!“

„Gehörst hierher, und wolltest doch geheime Botschaft nach Jefferson-City bringen?“ höhnte der Andere. „Warte, kleine Kröte,“ rief er, den Burschen mit einem Drucke seiner rauhen Hand nach dem Hause drehend, „werden sorgen, daß Dir derartige Geschäfte für immer vertrieben werden!“

Da sauste es durch die Luft, und ein Schlag schmetterte auf das Haupt des Secessionisten nieder, daß dieser lautlos, wie ein gefällter Stamm, zu Boden schlug. „Fred!“ rief der überraschte Knabe, als sein Blick in dem aus den Fenstern fallenden Lichte auf die Gestalt des Freundes fiel, der, das Gewehr in der Hand, sich eben zu einem zweiten Schlage, sobald dieser nothwendig werden sollte, fertig machte; aber dieser winkte ihm hastig Stillschweigen, und erst als er sich überzeugt zu haben schien, daß der Daliegende kein Glied mehr rührte, faßte er hastig Bill’s Hand und führte ihn eine Strecke in das Dunkel hinein. „Ich dachte mir doch, daß die Menschen nicht ohne aufgestellte Wache rasten würden, und daß Dir etwas passiren könnte,“ sagte er hier; „wie steht es?“

„Sie haben von nichts eine Ahnung, und auch der alte Anderson ist nirgends zu entdecken!“

„Bist Du Deiner Sache gewiß?“

„Sieh selbst durch die Fenster, sie sind Alle bei einander und machen sich zum Schlafen fertig, der Cornel aber spielt im Hinterzimmer mit drei Anderen „Jeucre“!“

Fred ließ einen leisen Pfiff ertönen, und ringsum in der schweigenden Finsterniß fing es an lebendig zu werden; vorsichtig auftretend begannen die herankommenden Freiwilligen das Haus zu umzingeln; eine kleine Abtheilung derselben aber nahte sich den erleuchteten Fenstern, während Fred mit dem Commandirenden sich dem Portico der Eingangsthür zuwendete, und eben als die Letzteren das Haus betraten, brachen von den hineingestoßenen Gewehrläufen klirrend die Fenster in Stücke.

Die Gefangennahme dieser Secessionistenbande war der erste Schlag der Missourier Unionstruppen außerhalb St. Louis, der den Beginn eines mörderischen, heute noch nicht beendigten Krieges im Staate einleitete; doch fanden es die Südmänner für gut, sich nicht mehr in diese Nähe der deutschen freiwilligen Hauptmacht zu wagen.

Anderson war weder bei dem gelungenen Ueberfalle seines Hauses noch während der Nacht sichtbar geworden, und als Alice durch den Knaben von dessen Begegnung mit ihrem Vater und den sie begleitenden Umständen erfahren, ließ sie am Morgen ahnungsvoll Nachsuchungen nach dem Vermißten anstellen – der Mann ward weit unterhalb der zerstörten Brücke, wohin ihn der Strom gerissen haben mußte, mit zerschmettertem Kopfe an einem Strauche hängend gefunden. – Fred Minner beaufsichtigt heute die ihres Herrn beraubte Farm; Alice indessen hat sich zu Verwandten nach St. Louis begeben, und es scheint, als werde es noch geraume Zeit währen, ehe der Eindruck, welchen der gewaltsame Tod ihres Vaters auf sie gemacht, ein Tod, den sie durch die Verkettung der Umstände selbst mit herbeigeführt zu haben meint, sich so weit verwischt, daß sie mit klarem Auge die Ereignisse betrachten und Fred’s Hoffnungen auf eine Vereinigung mit ihr verwirklichen wird; ihre Stelle auf der Farm nimmt vorläufig Bill’s Mutter, die hier eine dauernde Heimath gefunden, ein; Bill selbst aber ist Tambour in demselben Freiwilligen-Regimente, von welchem er einen Theil dem Untergang entriß. Der Oberst hat ihn unter seine besondere Obhut genommen, und wohl mag er einst noch als junger Mann mit Ehren und wohlerworbenem Range geschmückt heimkehren.

Bill Hammer aber ist nur der Typus eines großen Theils der in Amerika geborenen deutschen Jugend, in welcher dem nordamerikanischen Volke immer neues Blut und neue Lebenskräfte zugeführt wird.


  1. corrumpirter Ausdruck für Colonel, Oberst.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fliegengender