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Aus der Schule geplaudert

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Textdaten
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Autor: Bernhard Wilde
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Titel: Aus der Schule geplaudert
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 266–269
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[266]
Aus der Schule geplaudert.

„Fremdling! was Du erblickt, hat Glaub’ und Liebe vollendet.
Ehre des Stiftenden Geist, glaubend und liebend wie er!“


Wie rührend einfach klingen diese Worte, welche in alterthümlichen, goldenen Schriftzügen dem scheidenden Besucher der Francke’schen Stiftungen in der alten Saalestadt Halle von einer Ausgangstafel her entgegenleuchten, unter dem frischen Eindrucke jener Riesenschöpfung des alten Pietisten-Professors August Hermann Francke! Freilich war dieser nämliche Francke seinerzeit Mitveranlasser gewesen, daß der berühmte Philosoph Wolff vom Vater des großen Friedrich „wegen Gottlosigkeit“ bei Strafe des Stranges aus dessen Staaten verwiesen wurde! Angesichts aber der gewaltigen Räume und großartigen Anlagen dieser Erziehungs- und Waisenanstalt, welche eine seltene Energie der Menschenliebe und des Gottvertrauens geschaffen, überkommt jeden ein Gefühl der Ehrfurcht vor Eigenschaften des Mannes, welche besser waren als sein pietistischer Zeloteneifer.

Zu der bevorstehenden Pfingstzeit werden es nun volle hundertachtzig Jahre, daß diese Anstalt in’s Leben getreten, die sich mit ihrer Waisenpflege, ihrem auf Hunderte von Zöglingen berechneten Pensionswesen und mit der stattlichen Mannigfaltigkeit ihrer Schulen eines weithin reichenden, wohlklingenden Rufes erfreut. Im Jahre 1862, als man den zweihundertjährigen Geburtstag des Stifters festlich beging, ist über die Entwickelung seines Werkes und dessen jetzigen Bestand so viel geschrieben worden, daß man Eulen nach Athen tragen würde, wollte man jetzt in der „Gartenlaube“ das Bekannte wiederholen. Aber einem alten Zöglinge des „Waisenhauses“ – wie die ganze Anstalt kurzerhand genannt wird – schweben ganz andere Dinge noch vor, als etwa der würdige Inhalt eines Conversations-Lexicon-Artikels über den Gegenstand berührt, wenn er der Stiftungen Francke’s gedenkt: kurzweilige, harmlos-lustige Dinge, Genrebilder von unerfindlicher Drollerie, an denen sein Herz mit Empfindungen hängt, welche aus Liebe, Rührung und innigem Behage gemischt sind.

Und die Ueberschrift, welche diesen ganzen Bilder-Cyclus zusammenfaßt, heißt: Ein Schülerstaat.

Verfasser dieses Aufsatzes begann seine Schülerlaufbahn auf den Francke’schen Stiftungen Ende der vierziger Jahre und hat die damaligen inneren Zustände der Anstalt, welche wahrscheinlich von den jetzigen wenig verschieden sind, während seines achtjährigen Aufenthaltes gründlich kennen gelernt. Es sei ihm vergönnt, von dem Leben in dem Schülerstaat, in dem er gelebt hat, einiges „aus der Schule zu plaudern“.

Zu der eigentlichen gut bürgerlichen und von dem damals noch bestehenden aristokratischen Pensionat des „Pädagogiums“ unterschiedene, speciell sogenannten Pensionsanstalt, in welcher zwei- bis dreihundert Schüler Wohnung haben, führten und führen heute noch der dritte, vierte und fünfte Eingang des einen Kolossalbaues im Innern der Stiftungen. In jedem dieser Eingänge liegen bis zum fünften Stock hinauf durchschnittlich zwanzig Zimmer, je vier auf einem Flur. Von den zwei- bis dreihundert Pensionsschülern trägt jeder seine „Pagina“, unter welcher er in des Hausinspectors Hauptbuche verzeichnet steht, und er heißt für den Letzteren gewöhnlich nur „Pagina so und so“.

Unter den Eingängen war der dritte unter uns der am wenigsten beliebte. Zur ebenen Erde lagen hier die Bedux-(Bedienten) Zimmer und jene Anstalt, in welcher der „alte Hupe“ inmitten einiger Wasserbütten und des sonst erforderlichen Apparates die obligatorische eigenhändige Kopfsäuberung der jüngeren Generation beaufsichtigte. Trotz seiner großen, gelben Thalerbrille wurde dem Manne doch dann und wann ein X für ein U gemacht und von Säumigen in der letzten Stunde, des Sonnabends, bevor die Quittung über erfüllte Pflicht zum Hausinspector wanderte, flugs zwei Striche hinter den Namen in die Liste geschmuggelt, zum Zeichen, daß eine zweimalige Reinigung erfolgt sei.

Der vierte Eingang war schon ein wichtigerer. Hier wohnte der gefürchtete Hausinspector, der im Dienst ergraute, auf strenge Hausordnung haltende Dr. N.

Der fünfte Eingang war für diejenigen Schüler bestimmt, deren Eltern finanziell zu den besser Situirten gehörten. Der zweite oder Condirector der Anstalt, zugleich Haupt der Pensionsanstalt und Rector der Latina – ein bekannter, von unbedingter Ehrfurcht und Liebe der Schüler getragener Philologe, welcher einfach „der Papa“ hieß, – hatte hier seine Wohnung, und auf den Schülerzimmern waren nur je fünf einquartiert, während in den Stuben der beiden erstgenannten Eingänge meist neun Schüler wohnten. Außerdem hatten noch in jedem Eingange zwei bis drei Inspectionslehrer Dienstwohnung.

Strenge Zucht und Ordnung war die officielle Losung auf unserer Pesionsanstalt. An jeder Thür der Schülerwohnungen waren die zwölf Sätze angeschlagen, deren Uebertretung den Frevler in einzelnen Fällen auch mit „Carcer“ bedrohte. Zu diesen Fällen gehörte das Verbot für: Rauchen, Kartenspielen, Kochen und Braten, sowie das unerlaubte Ausgehen zur Stadt. Wozu wären aber die Gesetze, wenn sie nicht übertreten werden sollten? Wir dachten dies zwar kaum, aber wir thaten es doch so oft!

Viel wichtiger erschienen uns die Gesetze, welche die Schüler von Alters her sich selbst gegeben hatten, und die, fortlebend von Generation zu Generation, mit einer, man könnte sagen, rührenden Pietät im Kreise der Schüler bewahrt wurden.

Der alte Dr. L. bediente sich bei seinen Vorträgen der stereotypen Anrede: „Geliebte Jünglinge und Kinder“. Dieser Bezeichnung entsprechend, fand ein gewaltiger Unterschied zwischen „großen“ und „kleinen“ Schülern statt. Eine weite Kluft trennte beide. Bis zur Quarta waren die „Kinder“ Pudel, das heißt sie mußten den „Jünglingen“ allerlei Gänge für des Leibes Nahrung und Nothdurft besorgen, „Custos“ spielen, will sagen: Trink- und Waschwasser herbeischleppen, Tische abfegen und sonstige kleine Reinigungsdienste verrichten. Wollte ein Pudel während der „Studirstunden“ das Zimmer verlassen oder, nachdem er die Schularbeiten beendet, ein Lesebuch vornehmen (schmökern), dann mußte erst der „Senior“ oder in dessen Abwesenheit der „Subsenior“ der Stube um Erlaubniß hierzu gefragt werden. Dabei wurden die Kinder von den Jünglingen mit „Du“ angeredet, mußten diese aber umgekehrt „Sie“ nennen. Hatte man den bedeutungsvollen Sprung um die „Majorsecke“ gemacht und war Tertianer geworden, so änderte sich mit einem Schlage Alles. Befreite die untere Tertia zunächst von den bisherigen Pflichten, so gingen auf den Obertertianer sofort sämmtliche Rechte über, welche die „Großen“ der Anstalt für sich in Anspruch nahmen. Er konnte „pudeln lassen“, durfte nach den Gesetzen, die sich die Schüler selbst gegeben, die ersten Versuche des Rauchens machen, sich beim beliebten Scatspiele betheiligen, natürlich auf seine eigene Verantwortung und die Gefahr hin, beim „Gefaßtwerden“ in das Carcer zu spazieren. Mit welchem wohlthuenden Gefühle der Tertianer in diese „höheren Regionen“ [268] eintrat, hat nur der in seinem ganzen Umfange empfinden können, welcher dies selbst erlebt hat.

Das Pudeln entwickelte sich übrigens aus dem einfachen Besorgen eines Auftrages bis zu staunenswerthen Leistungen des menschlichen Geistes in Umgehung von Schwierigkeiten, welche sich solchen gewünschten Besorgungen entgegenstellten. Der Pudel von einigem Werth mußte nicht nur ein vollendeter Schmuggler sein; er mußte außerdem auch mit der Schlauheit und Gewandtheit des Indianers zu „buschen“ verstehen, das heißt dem Verbot, ohne eine gewisse obrigkeitlicherseits erbetene Blechmarke „in die Stadt zu gehen“, ein Schnippchen schlagen können. Es liegt die Vermuthung nahe, daß dieses „Buschen“ eine praktische Verkürzung von „sich seitwärts in die Büsche schlagen“ ist.

Nach der Hausordnung wurde im Winter täglich um sechs, im Sommer schon um fünf Uhr früh aufgestanden. Zehn Minuten vorher erschien der Bedux als Wecker, indem er mit kräftigen Hammerschlägen gegen die Thür der Schlafzimmer schlug. Man hatte dem Manne nach und nach den Tonfall des Hexameters beigebracht, sodaß er im Stande war, ganz kunstgerecht einen solchen mit dem Hammer an die Thür zu schlagen. Der darauf passende Pentameter wurde zwar hin und wieder von den erweckten Schläfern mechanisch nachgesummt, es blieb indessen nicht aus, daß die Meisten sich auf die andere Seite herumlegten und ruhig weiter schliefen. Man sah sich daher genöthigt, eine lautschallende Klingel einzuführen, durch welche in der That ein günstigeres Resultat erzielt wurde. Wie in dem Liede: „Das Kind und die Glocke“, dachte ein jeder Langschläfer mit Schrecken: „die Glocke kommt gewackelt“. Eilig verließen wir daher bei ihrem Schalle das warme Bett und hüllten uns in die nothwendigsten Kleider, wobei der unvermeidliche Schlafrock eine große Rolle spielte. Der gute alte Schlafrock! Wie Vieles mußte er als Liebesmantel zudecken!

Punkt fünf, respective sechs Uhr, saßen wir am Arbeitstisch; freilich nicht immer vollzählig. So mancher der „Jünglinge“ streckte sich noch im Federbett; die „Kinder“ durften dies natürlich nicht wagen. Um nun diese Nachzügler davon in Kenntniß zu setzen, wenn der von Zeit zu Zeit inspicirende Lehrer im Anzuge war, gaben die unteren, oder nach Umständen die oberen Bewohner durch Klopfen ein rechtzeitiges Warnungssignal. Der in diesen Dingen jedoch hinlänglich gewitzigte Rector wußte seine Gänge so einzurichten, daß er den Langschläfern die schützende Bettdecke wegziehen konnte, noch ehe sie den Ruf: „der Papa kommt“ recht vernommen hatten.

Daß Morgenstunde Gold im Munde hat, wußen wir sonst gar wohl zu schätzen. So Mancher, der sorglos die sich häufenden Schularbeiten bis zum letzten Tage verschoben hatte, sah sich genöthigt, den Abend zuvor die ultima ratio des hülfebringenden Nachtwächters, „Nachtspuz“ genannt, welcher allabendlich den „Schnapper“ oder Tagwächter am Haupteingange ablöste, in Anspruch zu nehmen und unter Opferung eines Dreiers an die bekannte schwarze Tafel Eingang, Nummer des Zimmers, sowie die frühe Morgenstunde anzukreiden, in welcher der Faulenzer geweckt werden wollte. Eine am Kopfende des Bettes aufgepflanzte „Ballkeule“, ihrer eigentlichen Bestimmung nach zum Ballschlagen dienend, deutete dann dem pünktlich erscheinenden Hüter der Nacht den Arbeitsdurstigen an. Unsanft wurde der Betreffende zwar gerüttelt, ob er aber immer auch wirklich aufgestanden? Nicht immer. Gar mancher Dreier wurde umsonst hierfür ausgegeben.

Wenn man übrigens gegenwärtig allgemein so viel von Ueberbürdung mit häuslichen Schularbeiten spricht, so sei hier bemerkt, daß wir damals, vor dreißig Jahren schon, ein Lied davon singen konnten. Der Ordinarius der Tertia, ein alter bewährter Schulmann, hielt als obersten Grundsatz fest das „repetitio est mater studiorum“. Wir mußten nicht nur jede Woche ein Cicero-Capitel, zwanzig Homer-Verse, zwanzig Ovid-Verse, eine Seite Loci memoriales auswendig lernen, sondern auch das früher Gelernte nebenbei allwöchentlich wiederholen.

Nach Beendigung der ersten Morgenstudirstunde entwickelte sich auf Fluren und Treppen ein reges Leben. Kaum hatte der „Schnapper“ den bekannten Dreischlag mit der Glocke gegeben, da rannten die kleinen Pudels kopfüber mit ihren Kännchen, Gläsern und Töpfchen in der Hand zur „Hexe“. Diesen Namen führten, ohne Zusatz, jene drei Frauen im Parterre des zweiten, fünften und sechsten Eingangs, welche uns alltäglich mit Kaffee, Milch und Frühstück versorgten und das Unglaubliche möglich machten, für den späteren Verlauf des Tages alle Arten von Victualien in Portionen zum Preise von drei Pfennig zu zerlegen. Vermöge eines trefflichen Kaffeerecepts war es seit lange der Händlerin des zweiten Eingangs gelungen, die Frühstückskäufer fast ausschließlich in ihre Küche zu lenken, und hier entstand während einer Viertelstunde ein tolles Durcheinander. Jeder suchte dem Andern den Rang abzulaufen. Eine leichte Aufgabe war es auch für den armen gequälten Pudel nicht, alle die Aufträge richtig zu erfüllen. Der Senior wünschte schwarzen Kaffee mit geschmierten Semmel-Eckchen, der Subsenior den Kaffee weiß und dazu eine Reihe Brezeln. Ein Dritter hatte sich Milch bestellt mit ein paar Zwillingen oder Drillingen; ein Vierter wieder liebte Kümmel-Eckchen, trank aber ein Glas Wasser dazu. Trotz der mehrfachen Gehülfinnen, welche die gute Hexe sich zu diesem Zwecke angenommen, gelang es nur mit der größten Anstrengung, die kleinen Schreier nach Frühstück nach und nach zu befriedigen. Mit gefüllten Kannen und Gläsern, hochaufgethürmt darüber die verschiedenen Bäckereiwaaren, kehrte selbstbewußt der Pudel als Sieger aus dem Frühstückskampfe zurück; da kam um die nächste Ecke im eiligen Laufe ein etwas verspäteter Genosse ihm entgegengerannt und – pardauz, da lag die ganze Frühstücksbescheerung am Boden. Ein neuer Kampf begann. Wie ein paar Kampfhähne waren die Beiden im nächsten Augenblicke aneinander, um in einer unnützen Rauferei dem Gelächter der vorbeiziehenden, gleichfalls schwerbeladenen Cameraden zu verfallen.

Mittlerweile ging es am Röhrbrunnen, der nie versiechenden silberklaren Quelle, gleichfalls äußerst lebhaft zu. In langen Reihen standen sie hintereinander, die Custoden, jeder mit seinen Wasserkrügen in der Hand und strenge Wacht darüber haltend, daß keiner es wagte, außer der Reihe zum Brunnen heranzutreten.

Das Freistündchen war gar bald herum und das Wasch- und Reinigungsgeschäft kaum beendet, wenn die Glocke zur Schule rief. Nunmehr begannen die Bettfrauen, „Betthexen“ genannt, ihr Reinigungswerk in aller Hast, denn um zwölf Uhr, wenn die Schüler zurückkehrten, mußten die Zimmer alle wieder in Ordnung sein. Zur Mittagszeit wanderten vor den noch geschlossenen Thüren des gewaltigen Speisesaales etwa fünfhundert hungerige Magen auf und ab. Die Jünglinge hatten hier wieder allein das Privilegium, auf den breiten Quadersteinen in geschlossenen Reihen auf- und abzuspazieren, während die Knaben sich ungeordnet durch einander rechts und links daneben umhertummelten. Das einfache Besteck von Messer, Gabel und Löffel, welches jeder Neuling zum eigenen Gebrauche erhielt, war in vielen Fällen gar bald bis auf den Löffel reducirt. Es genügte auch, wenn nur dieser vorhanden war; an den meisten Tagen gab es doch nur etwas zu „löffeln“. Hier mußte in Wahrheit Hunger immer der beste Koch sein, denn die verschiedenen in der Küche vorhandenen Köchinnen hatten gar manchmal den Brei, wenn auch nicht verdorben, so doch recht unschmackhaft hergestellt. Was würde unsere verwöhnte Jugend heute dazu sagen, wenn sie wöchentlich einmal beispielsweise mit nichts als Brod und Kartoffelbrei regalirt würde, auf dem eine Schicht Hammeltalg in aller Eile zu gerinnen beflissen war! Es wurde mit dem ganzen Essen auch nicht viel Federlesen gemacht. Ein kurzes Gebet, dann ein heißhungeriges Schlürfen, wiederum ein Gebet und Gesang, und noch ehe eine Viertelstunde vorüber war, wanderten wir wieder mit dem „Gaul“ (Brodportion) in der Hand den Vorhof entlang. Dieser Gaul, dessen etymologische Abstammung mir stets unklar geblieben (etwa „Kaul“ für „Keil“?), spielte eine große Rolle, und wer ein „Eckchen“ bekam, der gehörte zu den vier Ersten an einem Tische. Jeden Abend um sieben Uhr wiederholte sich die Vereinigung im Speisesaale zum gemeinschaftlichen Essen. Außer Suppe erhielten wir den Nachtgaul und dazu ein „gleichschenkeliges Dreieck Butter“.

An zwei Abenden in der Woche war Kartoffelkrieg. Wir erhielten Franz Drake’s Urgewächs in Naturuniform. Wer am schnellsten greifen konnte, der war Sieger, denn die meisten der geschätzten Knollen wanderten in die Tasche. Und nun begann auf den Stuben ein Kochen und Braten, trotz Carcer und Hausgesetzen. In den verschiedensten Formen und Farben wurden die [269] Mahlzeiten zubereitet. Eine Portion Schmalz, eine zerschnittene Zwiebel mit den zerdrückten Kartoffeln durchgebraten, womöglich etwas Wurstgemengsel dazwischen, ergab das Lieblingsgericht, den „Stamps“. „Und wer den besten Stamps gemacht, der hat die meisten Gäste.“ Ein Schlückchen Doppelkümmel, auch verbotene Waare – die gestatteten Eßwaaren, welche mit den heimathlichen Kisten ankamen, hießen beiläufig gleichfalls „Kümmel“ – mußte nach der genossenen fettreichen Speise das Gleichgewicht wiederherstellen. Das Feuerungsmaterial bestand aus Spiritus oder aus Holz, welches mittelst Austausches gegen aufgesammeltes Brod – ein für beide Theile vom Standpunkte der Moral bedenkliches Geschäft – vom Einheizer erworben wurde. Letzterer, unter dem Namen „der Staar“ eine der populärsten Figuren, hatte zu Neujahr das Privilegium, mit einem poetischen Gruße Trinkgelder zu sammeln. Ein solcher pflegte etwa so zu beginnen:

„Es kommet auch in diesem Jahr
Der alte, gute, treue Staar,
Der Staar mit seinen sieben Stären –
Gar schwer wird’s alle zu ernähren“ etc.

An den erwähnten Stampsabenden fand auch gleichzeitig Docirstunde statt. Die Jünglinge mußten hierbei den Knaben eine Art Nachhülfsstunde ertheilen. Je lauter docirt wurde, desto mehr glaubte man dem Inspectionslehrer gegenüber seine Schuldigkeit zu thun. In den eigentlichen Studirstunden an anderen Abenden mußte Alles mäuschenstill hergehen. Geräuschlos gruppirten wir uns je Vier um ein Talglicht; der Letzte davon mußte das Licht putzen. Wehe aber, wenn er es vergaß, oder dasselbe in seiner Ungeschicklichkeit gar auslöschte! Er war der Strafcasse mit einem Dreier verfallen. Diese Strafcassen enthielten eine lange Reihe von Paragraphen, gegen die zu verstoßen sich jeden Augenblick Gelegenheit fand. War die Casse gefüllt, dann erfolgte ein allgemeiner „Satz“. Wir saßen bei Bratwurst und neuen Kartoffeln oder Chocolade und Kuchen.

Um neun Uhr mußten die Kleinen zu Bett. Und nun begannen die Stunden der schlimmsten „Uebertretungen“. Die verbotenen Pfeifen wurden angezündet und wanderten in das aufgeschlitzte Futter des langen Schlafrockes, sodaß nur noch das Mundstück daraus hervorlugte, bereit, auch sogleich zu verschwinden, wenn ohne vorheriges Anklopfen die Stubenthür sich öffnete. Nur die Herren Inspectoren nahmen sich dieses Recht; die Commilitonen hielten streng unter sich daran fest, vor Eintritt in ein Zimmer vernehmbar anzuklopfen, wenn sie sich nicht der Gefahr aussetzen wollten, die vergessenen drei Schläge auf den Rücken zu erhalten. Jetzt wurden auch die verborgen gehaltenen Spielkarten hervor geholt, und bald fand sich ein drei- oder vierblätteriges Kleeblatt von Scatspielern zusammen. Einige auch saßen beim Schachbrett, ein Spiel, welches nicht nur erlaubt war, sondern auch zu jener Zeit sorgfältig unter uns gepflegt wurde.

Einer der größten Schachmatadore war Sch., ein Negerjüngling. Durch seinen Protector, einen schlesischen Fürsten, wurde er der Schule erst überwiesen, als er schon zum schlanken, kräftigen Jüngling herangewachsen war. Seine geistige Ausbildung war jedoch nicht weit über die ersten Elementarien hinaus gelangt. Er mußte trotz seiner siebenzehn Jahre in der Quinta beginnen. Eine verfehlte Idee, die bald auch mit der Wiederentlassung des schwarzen Sohnes vom Mondgebirge endete. Sch. machte, obgleich er unter den Kindern in der Schule saß, eine Ausnahme. Er genoß alle Privilegien der Jünglinge. Rauchen war sein Element. Durch Nase, Mund und Ohren zugleich blies er den Tabaksqualm, dabei rollten ihm die feurigen Augen im Kopfe, wenn er wieder einmal seinen Gegner im Schachspiele „matt“ gesetzt hatte. Und er besiegte sie Alle, ein wahrer Ajeeb damaliger Zeit. Aber auch in anderen Dingen blieb er Sieger: im Schwimmen, Turnen und Ringen that es ihm Keiner gleich.

Im Feldgarten, auf dem immergrünen, weit ausgedehnten, mit alten Kastanienbäumen umrahmten Rasenplatze, mit seiner geräumigen Turnanstalt und Vorrichtungen zu allerlei Spielen im Freien, da waren wir so recht eigentlich zu Hause. „Hic Rhodus, hic salta,“ hieß es, wenn es galt, nach geschehener Forderung im Zweikampfe die geschmeidigen Glieder zu erproben, um nach allen Regeln der Ringkunst den Gegner in das Gras beißen zu lassen. Hier auch wurden die Neuaufgenommenen (Novizen) mit Gras gefüttert und durch Fuchsprellen zum „Hausschüler“ geweiht, wofür im Winter die Schneewäsche eintrat. Hier wurde endlich den glücklichen Abiturienten jedesmal am Semesterschluß das letzte Lebewohl gesagt.

Das waren sonnige, wonnige Tage, wenn wir nach einem endlos erscheinenden Semester mit Riesenschritten dem langersehnten Schluß zueilten. „Vivant feriae!“ stand mit großen Lettern an allen Thüren und Plätzen zu lesen. Schon Wochen vorher sammelte man aus denjenigen Stuben, deren Senior Abiturus war, alle alten Schreibehefte zusammen, um „Fidibi“ nach Hunderten und Tausenden anzufertigen, die dem angehenden Studio nebst Seidel und Studentenpfeife auf seinen ferneren Kneip- und Rauchweg mitgegeben wurden. Das auszubringende „Vivat“ erforderte eine ganz besondere Vorbereitung. Ein riesiges Transparentbild wurde zu diesem Zwecke hergestellt, welches in der Mitte ein aus den Spitznamen des Gefeierten bezügliches Ereigniß darstellte. Spitznamen hatten wir Alle, auch die Herren Magister.

Nachdem die „Vivats“ nach und nach aus den einzelnen festlich decorirten und illuminirten Stuben ausgebracht worden waren, bewegte sich ein langer Zug von Stocklaternenträgern zum Feldgarten, unter Absingung des alten Studentenliedes „Gaudeamus igitur“. Im Feldgarten angekommen bildete man um die glücklichen „Muli“ oder Maulesel, wie wir nunmehr die „Schwergeprüften“ nannten, weil sie eine Zwischengattung zwischen Schüler und Student, wie der Maulesel zwischen Esel und Pferd darstellten, – einen Kreis. Ein Freudenfeuer wurde angezündet, und all die faulen Knechte und Eselsbrücken, welche über den dornenvollen Weg des Examens hinweggeholfen, den Flammen übergeben. Beim Scheiden aus diesem „Jammerthale“, wie die stehende Formel besagte, brachte sodann der zurückbleibende erste Primaner den „Mulis“ ein donnerndes dreifaches Vivat. Mit einem: „Wohl auf noch getrunken“ kehrten wir alsdann zurück, um unter den Fenstern des „Papa“, nachdem diesem ein Ständchen gebracht worden war, die Fackeln auszulöschen. Und das: „Wohl auf noch getrunken“ wurde bei dem nun folgenden „Abiturientenknipp“ im übervollen Maße ausgeführt.

„Vivant feriae!“ Hiermit will auch ich meine Plaudereien schließen, damit dem alten „Hausklepper“ nicht etwa der Vorwurf gemacht wird, er habe zuviel „aus der Schule geplaudert“. Seid mir gegrüßt, Ihr braven Jugendgenossen, die Ihr nach Hunderten, ja nach Tausenden zählt! Und ob Ihr auch auf dem ganzen Erdenrund, „hoch oben am grünen Tisch“ oder arbeitend „tief unter der Erd“, verstreut sein möget, diese Blätter, welche ihren Weg in die entferntesten Winkel der Culturländer nehmen, werden Euch erreichen. Und fragt Ihr, wer mit diesen Zeilen die Jugenderinnerungen in Euch wachgerufen, dann gedenkt mit freundlicher Erinnerung des einstmaligen Trägers der „Pagina 212“!

Bernhard Wilde.