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Aus dem Lande der Freiheit/Erster Brief

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Textdaten
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Autor: Ludwig Büchner
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Titel: Aus dem Lande der Freiheit
Erster Brief
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 725, 726
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[725]
Aus dem Lande der Freiheit.


Von Ludwig Büchner.[1]


Erster Brief.


„Amerika, du hast’s doch besser
Als unser Continent, der alte!
Hast keine verfallenen Schlösser
Und keine Basalte!
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit!“

Besser, als mit diesen berühmten Versen des Altmeister Goethe, kann der Gegensatz zwischen dem mit riesiger Gewalt emporstrebenden neuen Welttheile Amerika und dem alten und vielleicht auch alternden Europa nicht wohl bezeichnet werden. Was Amerika fehlt – ist die historische Erinnerung, und wenn dieses auf der einen Seite als ein Mangel bezeichnet werden darf, so ist es doch auch auf der andern Seite ein großer Vortheil, indem es den Welttheil nöthigt, stets vorwärts, nie rückwärts zu blicken, ähnlich einem Menschen, welcher ein neues Leben angefangen hat und durch keine Erinnerung an seine Vergangenheit mehr gestört sein will. Daraus erklärt sich denn auch das hastige, nie ruhende Vorwärtsstreben des Amerikaners, welches durch keine Rücksicht auf hinter ihm Liegendes gelähmt und durch die Großartigkeit seines Welttheils selbst, durch das Ungebundene und Riesenhafte der ihn umgebenden Natur unterstützt wird. Im Gegensatze dazu gleicht unser Europa einer schon etwas alternden, durch viele Schicksalsschläge und bittere Erfahrungen vorsichtig und ängstlich gemachten Matrone, welche ihr ferneres Leben in möglichster Ruhe zu genießen wünscht. Dennoch ist und bleibt sie die Mutter des jungen Riesen im Westen und übertrifft ihn weit durch Erfahrung und Weltkenntniß nicht bloß, sondern auch durch den seit lange aufgehäuften Besitz zahlreicher geistiger und materieller Schätze. Namentlich in geistiger Beziehung empfindet Amerika, welchem seine fieberhafte Thätigkeit im Erwerben weder Zeit noch Muße zur Einkehr der Geister in sich selbst läßt, tief seine Abhängigkeit von dem durch Jahrtausende alte Cultur und Wissenschaft getragenen Europa; und dieses eigenthümliche Verhältniß mag mit dazu gewirkt haben, daß in Folge einer besonderen Verkettung von Umständen und folgend einer Jahre hindurch sich wiederholenden Einladung der Verfasser dieser Briefe sich am 11. September dieses Jahres auf dem von Hamburg nach New-York segelnden Dampfer der Hamburger Paketfahrt-Actiengesellschaft „Thuringia“ wiederfand, nachdem er von seinen Lieben in der Heimath einen dieses Mal nicht gerade leichten Abschied genommen hatte. Denn als er auf dem Perron des Darmstädter Bahnhofes an demselben Tage, als der Kronprinz des deutschen Reiches unter ungemessenem Jubel der Bevölkerung dort einzog, umwogt von drängenden Menschenmassen, seinen vier blühenden Kleinen zum letzten Male in das Auge geschaut hatte, nicht wissend, ob und ob er sie so wiedersehen würde, da durfte er sich der Thränen nicht schämen, welche sich ihm mit Gewalt in das Auge drängten. Aber der brausende Zug führte ihn rasch davon und ganz anderen Lebensinteressen entgegen, als den bisher gewohnten. In der Jugend nimmt man solchen Wechsel leicht und mit Vergnügen entgegen; in einem gewissen Alter dagegen wird es schwer, Allem, was uns an das Leben und an das gewohnte Leben knüpft, für längere Zeit Lebewohl zu sagen.

Und so bin ich also für beinahe ganze vierzehn Tage auf den Raum eines Schiffes beschränkt, das zwar nicht zu den kleinen gehört, sondern bei einer Breite von circa fünfzig und einer Länge von drei- bis vierhundert Fuß nicht weniger als tausend und mehr Menschen Unterkunft gewährt, neben ungeheuren Massen von Gepäck, Proviant, Fracht, Steinkohlen etc., und in dessen Bodenraum man hinabblickt, als ob man beinahe auf einer Kirchthurmspitze stände. Aber wäre das Schiff auch zehnmal so groß, als es wirklich ist, auf dem unendlichen Ocean gleicht es doch nur einer Nußschale, mit welcher Wind und Wetter spielen. Auch ist der Raum, über den der Einzelne an Bord eines solchen Riesenbaues zu verfügen hat, ein gar geringer; und in der Schlafkoje, wenn sie auch dem sogenannten oberen Salon der mit großem Luxus ausgestatteten ersten Kajüte angehört, muß man sich in Gesellschaft eines Gefährten mit einem Räumchen begnügen, das [726] uns zu Hause als eine Art von Gefängniß erscheinen würde. Einer näheren Beschreibung des Schiffes und seiner Einrichtungen darf ich mich überheben, da gerade die „Thuringia“, auf der ich die Reise machte, vor nicht langer Zeit einer eingehenden Schilderung in diesen Blättern gewürdigt worden ist.

Als uns am Morgen des 11. September ein kleiner Dampfer von Hamburg aus nach dem weiter hinaus in der Elbe ankernden Oceandampfer gebracht hatte, tobten Wind und Regen um die Wette mit dem Geräusch des dem Schlot entströmenden Dampfes und dem donnernden Krachen der Riesenmaschine, welche das Schiff bewegte, und die Gefühle, mit denen die meisten Passagiere bald darnach in die wogende Nordsee hinausfuhren, mögen wohl nicht die angenehmsten gewesen sein. Die gefürchtete Seekrankheit ergriff alsbald ihre zahlreichen Opfer, und der um fünf Uhr stattfindende Mittagstisch fand von der ganzen Bevölkerung der oberen Kajüte nur zwölf, der Abends gereichte Thee gar nur fünf Personen beisammen; unter ihnen ich selbst, der ich trotz starker nervöser Anlage bis jetzt noch nie von Seekrankheit zu leiden hatte.

Der folgende Abend zeigte eine gänzlich veränderte Scene. Der Wind hatte sich gelegt, der Himmel war rein und der zunehmende Mond ergoß sein mattes Licht über die weißen Kreidefelsen der englischen Küste, an der wir mit einer Geschwindigkeit von dreizehn englischen Meilen in der Stunde dahinjagten. Die Stadt Dover sahen wir im vollen Lichterglanze vor uns liegen, auf der andern Seite zeigten sich entfernte französische Leuchtfeuer. Schon Freitag Morgen vor sechs Uhr fuhren wir in den Hafen Havre ein, wo die Hamburger Post-Schiffe vierundzwanzig Stunden liegen zu bleiben pflegen, um Kohlen und neue Passagiere einzunehmen, und suchten wir uns während dieser Zeit beim schönsten Wetter (die Sonne brannte so heiß wie im Juli) die Zeit in der schönen Stadt Havre mit ihrem prächtigen, jetzt in eine förmliche Festung verwandelten Hafen so gut als möglich zu vertreiben. Sonntag Morgens um sechs Uhr war das Schiff schon wieder in Bewegung und begann jene dreitausend englische Meilen weite Reise über den atlantischen Ocean, welche an Einförmigkeit und Langeweile in der Regel nichts zu wünschen übrig läßt und den Reisenden dazu verurtheilt, entweder in sich selbst oder in seiner Schiffsgesellschaft oder in Betrachtung der auf dem Schiffe vor sich gehenden Scenen Befriedigung seiner geistigen Bedürfnisse zu finden. Zum Ersteren lassen Einem das beständige Lärmen des Schiffes und Natur und Menschen wenig Muße, daher man sich um so lieber an die letztgenannten Auskunftsmittel wendet. Bekanntlich dienen die Bremer und Hamburger Schiffe nicht blos als Passagier-, sondern auch als Auswanderer-Schiffe, und die Scenen, welche sich auf und in dem für Auswanderer bestimmten Vordertheil des Schiffes oder sogenannten Zwischendeck abspielen, sind gar mannigfaltiger Art und die bekannten und oft geschilderten.

Natürlich ist hier von dem vielgerühmten Comfort der Kajüten, der übrigens auch schon in der zweiten Kajüte auf ein sehr bescheidenes Maß reducirt ist, nichts zu entdecken, und der Aufenthalt eigentlich nur bei gutem Wetter, wo man sich auf Deck aufhalten kann, erträglich. In der That ist dann auch das Deck der Lieblingsaufenthalt der Zwischendecker, welche sich in nicht zu kalten Nächten, in ihre Bettdecken eingehüllt, wie Wollsäcke, daselbst zum Schlafen niederlegen. Liebende und ihre Verliebtheit offen zur Schau tragende Pärchen, schreiende und sich wälzende Kinder, alte zusammengekauerte Mütterchen bilden die Staffage, während das für die Bewohner der zweiten Kajüte bestimmte Deck ein Mittelding zwischen erster Kajüte und Zwischendeck bildet und die eigentlich lustige Gesellschaft, soweit eine solche überhaupt möglich ist, vorstellt. Man hört bisweilen das Leben auf einer solchen Seereise als ein lustiges und angenehmes schildern; in Wirklichkeit aber leidet es an einer unvergleichlichen Einförmigkeit und Langeweile, und die letzten Tage werden beinahe allen Passagieren zu einer Marter und namentlich den armen Seekranken.

Das Wetter begünstigte übrigens unsere Reise mehr, als man es im Monat September erwarten konnte, und so liefen wir schon am 24. September in die Bai von New-York ein, deren malerische Umgebung schon so oft geschildert worden ist. Man sieht die berühmten amerikanischen Flachboote nach allen Seiten umherschießen, um den ungeheuren Verkehr zwischen dem von zwei Meeresarmen umströmten New-York und den dasselbe an den gegenüberliegenden Uferseiten umgebenden Städten oder Vorstädten zu vermitteln, und sieht sich alsbald selbst durch ein solches Boot von dem in Hoboken gelegenen Landungsplatz der Hamburger Dampfer nach der Riesenstadt versetzt, deren aller Beschreibung spottendes Getöse und Gedränge uns sofort den Eindruck der Weltstadt macht und uns erkennen läßt, daß wir uns inmitten eines der großen Centralpunkte des Weltverkehrs befinden. Selbst das vielbeschriebene Gedränge der Londoner City scheint durch das unbeschreibliche Treiben in den unteren Theilen des New-Yorker Broadways übertroffen zu werden. Im Uebrigen unterscheidet sich New-York in seinem äußeren Anblick nicht viel von dem Ansehen europäischer Städte und verräth seinen jugendlichen Ursprung und seine rapide Entwicklung vielleicht nur dadurch, daß die großartigsten Prachtbauten, welche jeder Metropole zur höchsten Zierde gereichen würden, in der Regel flankirt sind von kleinen, unansehnlichen Häuschen oder Baracken, wie man sie sonst nur in Landstädten zu sehen gewohnt ist. Auch seine quadratische Bauart unterscheidet es wesentlich von alten, aus allmählicher Agglomeration entstandenen Städten. Endlich giebt ihm die fast auf jedem Schritt sichtbare Mischung von deutschem und amerikanischem Wesen ein eigenthümliches Gepräge. Die Zahl der in New-York lebenden Deutschen ist bekanntlich eine so große, daß New-York als die drittgrößte deutsche Stadt bezeichnet zu werden pflegt. Was übrigens die Deutschen hier treiben, wie sie leben und bemüht sind, deutsches Wesen und deutschen Geist zu pflegen und unter sich aufrecht zu erhalten – davon werde ich den Lesern der Gartenlaube in einem meiner nächsten Briefe berichten.



  1. Wir benachrichtigten unsere Leser bereits früher, daß der berühmte Verfasser von „Kraft und Stoff“ (Ludwig Büchner) behufs Vorlesungen nach Amerika berufen worden sei und uns von dort aus regelmäßige „Reisen und Vorlesungsbilder“ senden würde. Heute beginnen wir mit einem Vorbericht, dem nun baldigst die Schilderungen des geistreichen Naturforschers folgen werden.
    Die Redaction