Zum Inhalt springen

Aus dem Juragebirge

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: N. N.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Aus dem Juragebirge
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 641–642
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[641] Aus dem Juragebirge geht uns folgender Bericht zu. Eine Heuerin, im September d. J. mit Mähen beschäftigt, hatte ihren Säugling wohl und fest auf die landesübliche Art in ein Wickelzeug verpackt, mit auf die Matte genommen, und denselben, um ungehinderter arbeiten zu können, im Grase niedergelegt. Ihre Arbeit entfernte sie ein Wenig von dem Platze, wo das Kind schlummernd lag, da vernimmt sie plötzlich ein Rauschen in der Luft, hört ein paar gewaltige Flügelschläge und sieht einen Steinadler pfeilgeschwind sich mit ihrem Knäbchen fast senkrecht emporheben.

Sie fällt nicht besinnungslos zu Boden, sie versteinert nicht beim jähen namenlosen Schrecken, – sie will dem Räuber ihres süßen Kindes auf dem nächsten Wege nacheilen, sie stößt gellende Schreie der Verzweiflung aus, aber sie kann dem Adler, dem König der Lüfte, der jetzt hoch in der Luft das Kind in seinen Krallen tragend kreist, um sich dann auf seinem, auf einer mittlern Staffel des Felsengebirges befindlichen Horst niederzulassen, nicht folgen, und sieht nur noch, wie das Thier in immer nähern Kreisen das Nest überschwebt, aus dem das Gekreisch seiner hungrigen Brut ihr zu Ohren schrillt.

Der Raub ist aber auch von einigen Hirten, die auf einer obern Staffel Ziegen weideten, bemerkt worden, indem sie durch den Jammerschrei des Weibes aufmerksam wurden. Die Hirten, unter ihnen der siebzehnjährige Johann Imthal, schreien nicht, denn sie wissen wohl, daß sie den Adler erschrecken könnten, und daß dieser dann seine Beute aus der schwindelnden Höhe fallen lassen würde, aber sie harrten in Ruhe und Besonnenheit des entscheidenden Augenblicks, wo der Raubvogel in seinem Horste angekommen war, und jetzt, wo sie das Kind vor dem tödtlichen Sturze gesichert sahen, erhoben sie von zwei Seiten her ein so furchterregendes Geschrei, daß der Dieb schneller noch vom Horste abstob als er ihn eben in Besitz genommen hatte. In unglaublicher Zuversicht und Kühnheit klomm jetzt Johann mit Hülfe der Steigeisen und seines Schaftes an der fast senkrechten Wand empor. Sein Fuß prüfte dabei jeden verdächtigen Stein, vorsichtig ermaß er jeden Schritt, – denn er schonte seines Lebens zur Rettung eines zweiten. Die Anfälle des Adlers achtete er nicht, da das Geschrei der Hirten und deren Steinwürfe den Erfolg derselben vereitelten, und seine Aufmerksamkeit ungetheilt dem gefährlichen Pfade widmend, stand er endlich glücklich an der seltsamen Wiege, in die der Adler das Kind gebettet.

Das unbeholfene, durch die Unruhe der jungen Vögel geängstigte Knäbchen schrie kläglich seinem Retter entgegen. Dieser säumte deshalb nicht, der Brut seines Räubers die Hälse umzudrehen und sie der Tiefe zuzuschleudern. Kaum aber hatte der Verwegene dies gethan, als auch der Adler weder des Schreiens noch der Würfe der Ziegenhirten mehr achtete. Wüthend stürzte er sich auf den Mörder, und fast wäre es ihm im jachen Anfluge gelungen, ihn durch einen seiner gewaltigen Flügelschläge den erwürgten Jungen nachzusenden. Dadurch gemahnt an die Schwierigkeiten seiner Lage, übersah Johann erst die Gefahr derselben im vollen Umfange. Im Aufsteigen des Rückweges[WS 1] nicht gedenkend, leuchtete ihm nun im Niederschauen die Unmöglichkeit ein, sich sammt dem Kinde von dieser Höhe durchzulassen, und da die Wand der dritten Staffel weit überhing, so gab es noch weniger einen Ausweg nach oben. So mußte er denn sich und das kaum errettete Kind zugleich für verloren erachten, denn wie er auch sann, wohin er auch ausschaute, in keiner Weise wollte es ihm gelingen, ein Auskunftsmittel zu entdecken. Obschon sich der Hülflose in mißlicherer Lage nie befunden, so gab er sich doch der Verzweiflung nicht hin. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke durch ein gewagtes Absteigen ohne die Bürde des Kindes sich selber mindestens zu erretten, aber er verwarf den ansteigenden Gedanken mit edler Entrüstung. Der vertrauensvoll auf ihn gerichtete Blick der beraubten Mutter, die bis zum Fuße der Wand ihm nachgeklettert, von da aus jede seiner Bewegungen verfolgte, rührte ihn tief, und obwohl er kaum zweifeln konnte, daß diese Felsenplatte sein Golgatha und des Adlers Horst sein Grab sein werde, so wollte er dennoch der nicht sein, welcher der armen Mutter ihre letzte Hoffnung raube; – wie zur sichern Verheißung hielt er deshalb das schreiende Kind weit über den Rand hinaus der Mutter entgegen.

Johann’s regungsloses Verhalten in dieser gewagten und unbeschützten Stellung blieb vom kreisenden Adler weder unbemerkt noch unbenutzt. Der Geißhirten Warnung erscholl zwar noch zeitig genug, zur Rettung des Säuglings, kaum aber, daß Johann denselben in den Horst gelegt, so schleuderte des Adlers Stoß ihn selbst mit solcher Heftigkeit zu Boden, daß er über des Felsens Kante halben Leibes hinaushing.

Ein Klagelaut unaussprechlichen Jammers erklang aus der Tiefe – er entquoll der Brust der verzweiflungsvollen Mutter des nun für immer verlorenen Kindes. Wo aber kaum ein Wunder noch retten konnte, da erhielt den Jüngling der Feind selbst am Leben. Ein Flügelschlag des blind wüthenden Thieres schnellte ihn wieder vom Rande des Abgrundes zurück und so gewaltsam, daß er über das Nest hinflog und hinter diesem niederfiel.

Der Steinadler stürzt sich nämlich niemals senkrecht auf seine Beute, sondern er schießt in schräger Richtung dem Ziele zu; deshalb war der überhangende Fels kein Hinderniß für ihn, auf Johann fortwährende Angriffe aus der Höhe herab zu machen; nun aber hatte Johann zu seiner Vertheidigung Nichts als seinen Schaft, von diesem konnte er jedoch des Raumes Enge wegen wenig oder keinen Gebrauch machen, und er gerieth [642] nun in Verlegenheit, wie er sich mit Nachdruck und Erfolg des gewaltigen Raubthieres erwehren solle. Seine ruhige Besonnenheit verließ ihn nicht; er entdeckte schnellen Umblicks sofort eine passende Waffe im Horste des Adlers selbst, denn da diesem aus schwanken Ruthen und Haidekraut aufgeschichtetem Bau, dicke Aeste und Zweige zur Grundlage dienten, so entriß er dem Gesperre rasch einen kurzen und schweren Prügel und kam damit dem ersten Schnabelhiebe seines Feindes so nachdrücklich zuvor, daß er betäubt vom Nestrande wieder abfiel, auf dem er eben festen Fuß gefaßt hatte, um mit gespreizten Flügeln und unter lautem Zischen dem Jünglinge zu Leibe zu gehen; ein zweiter und dritter wuchtiger Schlag auf den Kopf tödtete ihn vollends, und ein letztes Erzittern seine schlaffen Schwingen verkündete, daß des Alpenkönigs Macht gebrochen sei.

Aber auch der Sieger fühlte sich zum Tode erschöpft, sobald des Kampfes Aufregung aufgehört hatte; und schon zufrieden damit: doch nun in Frieden sterben zu können, streckte er die müden Glieder auf hartem Lager hin. Nach kurzer Erholung schämte er sich jedoch dieser feigen Resignation, er trat wiederum hinaus in’s Freie und rief zur Staffel über ihm: „Heda, oben, habt Ihr ein Heuseil zur Hand?“

„Nein, armer Junge, keinen Faden eine Spanne lang!“ – lautete die entmuthigende, traurige Antwort.

„Es muß eins in der Wildheutrifft liegen. Holt das herauf und laßt’s dann zu mir herab, ich kann’s schon erwarten.“

Die Hirten beeilten sich, seinem Willen nachzukommen und Johann durchsuchte seine Taschen nach einem etwa vorhandenen Brotrindchen, um es, nachdem er es an seinem Munde angefeuchtet hatte, dem wimmernden Kinde zum Saugen an den Mund zu halten. Das Kind sich wieder in eines Menschen wiegenden Armen fühlend, entschlummerte bald und Johann war glücklich darüber.

Da kamen endlich die Männer, die nach dem Seile ausgewesen, zurück und riefen ihm zu, das herab gelassene zu ergreifen. Welch Glück, daß bei dem Kampfe mit dem Adler sein Schaft, eine lange Stange, an dem einen Ende mit einem eisernen Haken, an dem andern mit einer Spitze versehen, dessen sich die Gebirgsbewohner sowohl zum Forthelfen beim Aufsteigen bedienen, indem sie sich auf den Schaft stützend, die Spitze in die Felsenritzen einstoßen, als auch beim Herabsteigen, indem sie den Haken an einem hervorragenden Steine anhängen und sich dann an die Stange herablassen, – daß beim Kampfe dieser Schaft nicht herabgeworfen wurde. Mittelst des Schaftes zog er nun das Seil zu sich heran, da solchem wegen der überhängenden Wand weit ab vom Borde der Platte, in freier Luft, ein Spiel des Windes, hin und her schwankte und mit den Händen nicht zu erreichen war. Sobald er des Stranges habhaft geworden, warf Johann Schaft und Adler voraus in die Tiefe, trat mit beiden Füßen in die dem Strickende eingeknüpfte Schlinge, wie in einen Steigbügel ein, schnallte dann, zur Sicherung der aufrechten Stellung und des freien Gebrauches seiner Hände mit seinem Ledergürtel sich und den straffen Strick unterhalb der Schultern fest zusammen, – nahm vorsichtig das schlafende Kind in den linken Arm und rüttelte nun mahnend am Seile und rief getrosten Muthes: „Holt an!“

Kaum jedoch, daß der Zug kräftiger Arme Johann dem Boden entrückt hatte, so schwang er nach Außen weit hin, und gerieth in ein so bedrohliches Drehen und Schwingen, daß er schwerlich einem verderblichen Anstoße an die Felsen entgangen sein würde, hätten nicht die Hirten, die Gefahr gewahrend, angehalten und dann nur ganz allmälig den Schwebenden in die Höhe gezogen. Dadurch gewann Johann Zeit, sich mit vorgestreckter rechter Hand von der Wand abzuhalten, oder mindestens doch die Gewalt der Anstöße zu brechen. Weder Furcht noch Grauen wandelten den Muthbeseelten während dieser gefahrvollen Fahrt an, – aber es war ein grausenhafter Anblick für die unten Stehenden, zwei in der Frische des Lebens stehende Wesen zwischen Himmel und Abgrund schweben zu sehen. Ein Faden des rettenden Seiles durfte reißen – nur eine der hülfreichen Hände erlahmen und Beide, Kind und Jüngling, waren dem gräßlichsten Tode, zerschmettert in die jähe Tiefe zu stürzen, geweiht. Die arme Mutter war zum Glück des angstvollsten Anblicks enthoben. In ihrer Liebe Ungeduld hatte sie sich auf dem gewöhnlichen Wege beeilt, zu den rettenden Hirten zu gelangen. Dort lag sie auf den Knieen und flehete inbrünstig zu Gott. Da! – endlich war das Werk vollbracht, – das Knäbchen lag in den Armen des schluchzenden Weibes und als es nun in vollen Zügen die Labung der Mutterbrust einsog, – da hatte die Freude keine Worte – nur heiße Thränen des Dankes. – Die Hirten aber – diese einfachen Leute voll Gefühls – entblößten mit Johann ihre Häupter, falteten andachtsvoll ihre Hände und dankten dem Allmächtigen für Johanns, für des Kindes Rettung.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Knökweges