Aus dem Beamtenleben/Nr. 6. Die Conservatoristin
Nr. 6. Die Conservatoristin.
An einem stürmischen Decemberabende des Jahres 187* hatte mich wiederum einmal die Reihe getroffen, als Wachhabender der vierten Abtheilung eine Nacht im alten berühmten und berüchtigten Gebäude am Molkenmarkte zu verleben. Schon ging es stark auf zehn Uhr, und ich legte die letzte der vorliegenden Arbeiten als erledigt bei Seite; da ich für einige Augenblicke frei war, so packte ich mein frugales Abendbrod, zwei belegte „Schrippen“, aus, wozu mir mein alter, langjähriger Untergebener, der Criminalschutzmann G., eine „kleine Weiße“ vom Restaurateur gegenüber, dem Lieferanten sämmtlicher Beamten des Polizeipräsidiums, besorgen sollte. Im Begriffe, dem im Vorzimmer wartenden G. einen dahin gehenden Auftrag zu ertheilen, öffnete sich die Thür, und er selbst trat mit Papieren in der Hand bei mir ein.
G., bereits fünfzig Jahre im Dienste und das Urbild eines rüstigen, echten, mit Spreewasser getauften „Berliner Kindes“ der alten Zeit, war ein Original durch und durch.
Da auch ich beinahe eine fünfundzwanzigjährige Dienstzeit hinter mir hatte, so bestand zwischen uns ein sehr gutes Verhältniß, ja eine gewisse Vertraulichkeit, die G. indessen nie in Gegenwart von Fremden durchblicken ließ. Vielmehr beobachtete er dann stets ein „strammes“ dienstliches Benehmen, „so wie es einem Untergebenen seinem Vorgesetzten gegenüber zukommt,“ meinte er nach alter Soldatenweise.
„Entschuldigen Sie, Herr Commissar,“ begann G., als er mich mit der „Schrippe“ in der Hand erblickte, „wenn ick Ihnen jrade wieder bei det Essen störe, aber et is mit dem ‚jrünen Aujust‘“ (so nennt nämlich der Berliner Volkswitz die grün angestrichenen Wagen, in welchen die auf den Wachen der verschiedenen Polizeireviere Eingelieferten zur Untersuchung oder zum Gewahrsam nach dem Molkenmarkte gefahren werden) „noch soeben eene ‚Dame‘ anjekommen, die von det zweite Revier wejen Diebstahls einjeliefert wird. Sie sitzt draußen uff de Bank, wie die reene Unschuld, aber wir kennen des schon, uns streut keene mehr Sand in die Oogen. Hier is noch der Bericht von ’n Herrn Revierleutnant; ick werde ihn uff Ihren Platz lejen, Herr Commissar; essen Sie man jetrost erst Ihre ‚Schrippen‘. Ick kann Ihnen wohl noch ’ne ‚kleene Weiße‘ dazu holen? Die da draußen hat ja noch ’n Bisken Zeit un sitzt sich keene Hühneroogen nich.“
So plaudernd verließ der Alte das Zimmer, während ich, den Rest meines Mahles für später bei Seite packend, den Bericht zur Hand nahm; er lautete: „Frau von S., Oberin des adeligen Fräuleinstiftes in der C.-Straße, hat zu Protocoll erklärt: Bereits heute vor acht Tagen bemerkte ich in den Abendstunden, daß aus meinem Portemonnaie, welches ich auf der Kommode in dem von mir allein bewohnten Zimmer im ersten Stockwerke meines Hauses hatte liegen lassen, zwei Fünfundzwanzig-Thalerscheine fehlten. Ich selbst war in der Nebenstube beschäftigt gewesen, und Niemand hatte inzwischen mein Wohnzimmer betreten, außer der französischen Lehrerin Alice R. und deren Freundin Margot B., welche die Erstere zu einem Spaziergange abholte. Fräulein R. kam zu mir in’s Nebenzimmer, um mir von dem beabsichtigten Spaziergange Mittheilung [869] zu machen, während die andere junge Dame wenige Minuten allein blieb.
Fräulein R. ist seit sechs Jahren als französische Lehrerin in unserem Stifte thätig, und schenkte ich derselben mein volles Vertrauen. Ich schwieg von der Sache, vergaß sie indessen nicht, sondern zeichnete mir einen anderen Fünfundzwanzig-Thalerschein ganz genau und trug denselben während der verflossenen Woche mit mir im Portemonnaie herum.
Am heutigen Nachmittage erschien Fräulein B. wiederum, um Alice zu verschiedenen Besorgungen in der Stadt abzuholen. Ich war in meinem Zimmer am Schreibtische mit Ordnen von Rechnungen beschäftigt, während mein Schlüsselkorb mit dem Portemonnaie im Salon, welchen Jedermann durchschreiten muß, um zu mir zu gelangen, auf dem Claviere stand. Fräulein R. trat in mein Zimmer, um mir anzuzeigen, daß sie ihre Freundin auf einige Stunden begleiten werde, während Fräulein B. im Salon verblieb. Ich trat an’s Fenster, und als die Damen das Haus verlassen, eilte ich in den Salon, öffnete mein Portemonnaie – der gezeichnete Schein fehlte!!
Schnell entschlossen, zog ich die Glocke und schickte den eintretenden Diener eilig dem Fräulein R. nach. Ich ließ sie bitten mit ihrer Gefährtin auf einige Minuten zurückzukehren. Bald erschienen beide Damen bei mir, und ich theilte ihnen mit, daß mir seit acht Tagen fünfundsiebenzig Thaler, in drei Fünfundzwanzig-Thalerscheinen entwendet seien, und zwar jedesmal, wenn Fräulein B. Fräulein R. besucht hätte, und daß ich mich gezwungen sehe, der Polizei die Anzeige zu machen und Fräulein B. verhaften zu lassen, da ich nur sie in Verdacht habe.
Alice war vor Schreck halb wahnsinnig über das Verbrechen ihrer Freundin, während Fräulein B., die Angeklagte selbst, mit der größten Ruhe und Dreistigkeit bestritt, jemals aus meinem Zimmer etwas entwendet zu haben. Leider muß ich die Sache der Polizei zur weiteren Untersuchung übergeben, und hat der Schutzmann P. Fräulein B. von meinem Hause abgeholt und zur Wache des 2. Polizei-Reviers abgeführt.
Berlin, den 6. December 187..
Der Schutzmann erklärt zu Protokoll:
Heute Nachmittag vier Uhr rief man mich zu der Frau Oberin von S., woselbst ich die Angeklagte Fräulein B. vorfand, welche mir als des Diebstahls eines Fünfundzwanzig-Thalerscheins dringend verdächtig bezeichnet wurde. Fräulein B. leugnete hartnäckig, den Schein entwendet zu haben, und betheuerte fortwährend ihre Unschuld, da aber alle Indicien gegen sie waren, so sah ich mich genöthigt, sie zur Wache des 2. Polizei-Reviers zu sistiren. Auf dem Wege dorthin zeigte mir Fräulein B. ihr Portemonaie, in welchem sie ungefähr zehn Thaler in Silber und Papier bei sich führte, jedoch keinen Fünfundzwanzig-Thalerschein. Auch bat sie mich, hinter ihr zu gehen, damit ich bemerken könne, ob sie irgend etwas von sich werfe. Dies that ich auch, habe aber nicht gesehen, daß die Angeklagte sich irgend eines Gegenstandes entledigte. Weiter habe ich nichts anzuführen.
Berlin, den 6. December 187..
Der Bericht schloß mit den gewöhnliche Formen, und fand ich, Alles in Allem erwägend, daß die Sache allerdings nicht sehr günstig für Fräulein B. lag.
Mein alter G. hatte mir inzwischen die „kleine Weiße“ in’s Zimmer gebracht, leise auftretend, da er mich im Lesen vertieft fand, und nachdem ich meinen trockenen Gaumen durch den kühlen Trank erfrischt, klingelte ich und ließ die Angeklagte vorführen.
Bleich wie der Tod, trat mit gesenkten Blicken ein schlankes Mädchen von angenehmen Formen und in gewählter, aber prunkloser Kleidung in mein Zimmer, der mein criminalistisch geübtes Auge sofort ansah, daß, wenn sie den Diebstahl wirklich begangen habe, er jedenfalls ihr erster Schritt auf der Verbrecherlaufbahn sei.
Mit großem Ernst, doch ohne Härte redete ich sie an und ermahnte sie eindringlich, nicht durch hartnäckiges Leugnen ihre Sache zu verschlimmern, sondern offen und wahr einzugestehen, daß und auf welche Weise sie der Frau von S. das Geld entwendet habe. Fräulein B. blickte auf, und ich sah in zwei tief dunkle Augen von großer Schönheit, die mit traurigem Ausdruck auf mir ruhten. Hoch erröthend stand sie da, als ich sie scharf und forschend fixirte.
Mit angenehmer sonorer Stimme erwiderte sie endlich, indem zwei große Thränen langsam die wieder bleich gewordenen Wangen herabrollten: „Auch Ihnen, Herr Commissarius, kann ich nichts anderes eingestehen, als was ich bereits seit dem schrecklichen Augenblicke gesagt habe, wo mir dieses Verbrechen zur Last gelegt wurde – ich bin unschuldig an demselben. Offen und wahr will ich Ihnen von mir und meiner heutigen Lage im Hause der Frau von S. erzählen. Vielleicht finden Sie darin etwas, was Licht in diese dunkle Sache bringt und die Schande von einer Unschuldigen abwälzt. Ich heiße Margot B. und bin die Tochter eines begüterten Grundbesitzers in der Nähe von Genf. Seit einem Jahre halte ich mich hier in Berlin auf, um Musik zu studiren, und wohne im Damen-Pensionat der verwittweten Majorin A. in der K.-Straße. Seit drei Monaten bin ich, unter Zustimmung meiner Eltern mit dem Musikdirector F. verlobt. Fräulein R. kenne ich aus einem Genfer Institut, in welchem sie Lehrerin, ich Schülerin war.
Als ich nach Berlin kam, suchte ich sie in dem adligen Fräuleinstift der Frau von S. auf, woselbst sie seit sechs Jahren Lehrerin ist, wurde auch freundlich von ihr aufgenommen und der Oberin vorgestellt. Wir verkehren seit diesem Tage, soweit ihre und meine Zeit es erlaubt.
Heute vor acht Tagen kam ich zu ihr, um sie zu einem Spaziergange abzuholen, wozu sie auch bereit war. Sie kleidete sich an, und wir gingen in’s Wohnzimmer der Oberin, welcher Fräulein R. jedes Mal Mittheilung machen muß, wenn sie das Stift verläßt. Wir fanden Frau von S. nicht in ihrem Zimmer, hörten sie aber in der Nebenstube mit den Stühlen rücken. Ich blieb in ersterem, während Fräulein R. zu ihr hinein ging. Wir hatten bereits den Salon verlassen, nachdem meine Freundin zu mir zurückgekehrt war, als Letztere plötzlich ausrief: ‚O, ich habe etwas vergessen; warten Sie, bitte, einen Augenblick!‘ Dann lief sie schnell durch den Salon in das Wohnzimmer der Oberin zurück, während ich im Corridor wartete, woselbst sie mich nach wenigen Secunden wieder traf. Wir machten darauf einen weiten Spaziergang durch den Thiergarten und kehrten Jede in ihre Wohnung zurück.
Im Laufe der Woche kam Fräulein R. eines Abends in unser Pensionat, um der Inhaberin, Majorin A., von der sie sich im October fünfzig Thaler geliehen hatte, dreißig davon zurückzubringen, und machte mir dabei den Vorschlag, am heutigen Tage mit ihr kleine Einkäufe zur Weihnachtsbescheerung zu besorgen, was ich auch zu thun versprach.
Zu diesem Zwecke begab ich mich heute Nachmittag zwischen drei und vier Uhr zu ihr. Ich fand sie in ihrem Zimmer, meiner harrend, und wir gingen wie gewöhnlich zu der Oberin hinüber. Dieselbe war in ihrem Wohnzimmer am Schreibtisch beschäftigt; ich machte ihr nur mein Compliment und trat in den Salon zurück und dann auf den Corridor hinaus, da Fräulein R. noch einige Minuten mit der Dame sprach. Alsdann trat sie etwas eilig zu mir heraus, die ich bereits die Treppe erreicht hatte.
Als wir ungefähr zwanzig Schritte vom Hause entfernt waren, kam uns ein Diener athemlos nachgelaufen, mit der Aufforderung, zurückzukehren; wir folgten, und beim Eintritt in das Zimmer der Oberin wurde mir von derselben der furchtbare Vorwurf gemacht: ‚ich habe sie bestohlen‘.“
Hier schlug das junge Mädchen schluchzend beide Hände vor’s Gesicht, und nachdem sie wieder etwas ruhiger geworden war, setzte sie hinzu. „Ich habe Ihnen nun Alles der Wahrheit gemäß erzählt, Herr Commissarius, und will nur noch die Bitte hinzufügen, nehmen Sie sich meiner an, daß meine Unschuld an’s Tageslicht kommt, denn ich bin gewiß keine – Diebin.“
Ich mußte mir eingestehen, daß ich vom ersten Augenblicke an, da ich sie sah, ein ungewöhnliches Interesse für die junge Dame gefühlt hatte, doch ich war bereits im Dienste alt geworden und meinem Grundsatze treu geblieben, mich nie vom äußeren Scheine bestechen zu lassen.
Ich verriet der Angeklagten daher auch nicht, daß ich wohl zu ihren Gunsten gestimmt sei, sondern ermahnte sie nochmals eindringlich, die Wahrheit zu gestehen, um ihre Strafe [870] nicht durch Leugnen noch zu erhöhen, sie aber blieb dabei. „Ich bin vollkommen unschuldig.“
„Wenn Sie gar nichts einräumen wollen, mein Fräulein, so ist es meine Pflicht, Sie untersuchen zu lassen, ob Sie das Geld irgendwo bei sich am Körper versteckt haben,“ sagte ich ihr darauf.
„Auch dazu bin ich bereit, überhaupt zu Allem, was diesen schrecklichen Verdacht von mir nehmen kann,“ erwiderte sie ruhig.
Ich ließ die Angeklagte in das Zimmer führen, wo eine Frau die des Diebstahls verdächtigen weiblichen Gefangenen vollständig entkleiden muß, um zu untersuchen, ob dieselben irgend etwas versteckt am Körper bei sich tragen. Nach einer Viertelstunde brachte der alte G. das Fräulein zurück mit der Meldung: „Nich det Jeringste nich jefunden.“
Trotzdem durfte ich die Angeklagte noch nicht entlassen und beauftragte den G., sie zur Isolirhaft nach der Hausvogtei hinüber zu führen, was auch seinerseits geschah.
Inzwischen war die Zeit schnell dahingegangen, und ich beschloß, die noch übrigen Nachtstunden auf meinem Ruhebette zu verbringen, doch ging mir die Sache fortwährend im Kopfe herum, und ich dachte hin und her, ob nicht doch ein Anderer diesen Diebstahl begangen haben könnte, da ja eine Menge Dienstboten etc. im Stifte wohnten. Endlich senkte sich ein kurzer Schlummer auf meine müden Lider, in dessen unruhige Träume mir das soeben Erlebte folgte; ich sah die großen dunklen Augensterne der unglücklichen Margot immerfort bittend auf mich gerichtet. –
Am nächsten Morgen meldete mir mein alter G. die Frau Majorin A. und führte gleich darauf eine höchst respectabel aussehende Dame in den fünfziger Jahren in mein Zimmer.
„Um Gottes willen, Herr Commissarius, was ist aus dem armen Mädchen geworden?“ rief die Dame nach den üblichen Begrüßungen in größter Aufregung aus. „Es ist ganz unmöglich, daß sie eine Diebin ist. Die Frau von S. hat mir die Sachlage brieflich noch gestern Abend mitgetheilt, und nur meine häuslichen Angelegenheiten und die einbrechende Nacht hielten mich ab, hierher zu eilen, um mich als Bürgin dafür zu stellen, daß das Fräulein B. vollständig unschuldig ist, und jedenfalls nur ein falscher Verdacht die Unglückliche belastet. Eine Diebin, sie, deren Angelegenheiten so wohl geordnet sind und die von den Eltern so reichlich mit Geld versehen wird!“
Schweigend zuckte ich die Achseln.
„Herr Commissarius, Sie glauben doch nicht, die arme Margot habe diesen Diebstahl wirklich begangen?“ rief die Dame entsetzt aus.
„Frau Majorin, wir Leute von der Polizei sind genöthigt, die mit einem Verdachte Belasteten so lange für schuldig zu halten, bis der wahre Thäter entdeckt ist,“ entgegnete ich.
„Das arme unglückliche Kind!“ flüsterte die Majorin, während sich ihre Augen mit Thränen füllten.
Ich verhielt mich allen diesem Exclamationen gegenüber als ruhiger Beobachter. Plötzlich fuhr die Dame von ihrem Sitze auf, trat zu mir heran und sagte mit Energie:
„Wissen Sie auch, mein Herr, daß sich mein Verdacht auf eine ganz andere Person richtet?“
„Welche Person wäre dies und welche Anhaltspunkte haben Sie für Ihren Verdacht?“
„Das französische Fräulein im Internat der Frau von S. ist stets mit ihren Geldverhältnissen in Unordnung, und auf sie richtet sich mein Argwohn. Ihre sehr elegante Toilette kostet ihr viel, auch weiß ich bestimmt, daß sie einem Vetter, der ein Verschwender ist, den sie aber liebt, häufig Unterstützungen nach Genf schickt. Ich selbst habe ihr auf ihre Bitten im October fünfzig Thaler geliehen, von denen sie mir in der vergangenen Woche plötzlich dreißig zurückbrachte, ohne daß sie irgend welche Einnahme hat haben können, da das Gehalt der Lehrerinnen im Stift nur vierteljährlich bezahlt wird. Das verschwundene Geld dürfte eher bei ihr zu suchen sein als bei Margot, und ich bitte Sie dringend, Herr Commissarius, thun Sie augenblicklich Schritte, dieses Verbrechen aufzuklären, die wahre Schuldige zu ergreifen, Margot zu befreien! Jeder Augenblick, den sie in der Haft schmachtet, erscheint mir als ein Verbrechen gegen die Unschuldige.“
Aufmerksam war ich der langen Rede gefolgt, und gestand der Frau Majorin jetzt ein, daß ich selbst bereits Verdacht geschöpft habe, die Französin sei die wirkliche Diebin. Die Inhaftirung Unschuldiger kommt leider ja so oft vor, und noch ist kein Mittel gefunden, diese wunde Stelle im Strafverfahren zu heilen. Sofort erließ ich eine Depesche an das 2. Revier, mir die Französin R. zur vierten Abtheilung zu sistiren. Das arme, vielleicht unschuldige Mädchen wurde sofort aus der Haft befreiet. Das Wiedersehen der Majorin und Margots war ein sehr bewegtes, ich sprach ihnen Trost zu und die Hoffnung aus, daß sich Alles bald aufklären werde. Binnen einer Stunde wurde die Französin in mein Zimmer geführt, während der sie begleitende Beamte mir noch einige Worte zuflüsterte. Es war eine kleine untersetzte Person von ungemeiner Lebendigkeit, mit unruhig blickenden, brennenden schwarzen Augen. Sie stürzte sich sofort mit offenen Armen auf die Gefangene und sagte in einem Gemisch von schlechtem Deutsch und ihrer Muttersprache: „O, Himmel, meine arme Kind, ma pauvre Margot!“ Fräulein B. wies sie indessen mit ernsten Blicken von sich und zog sich in den Hintergrund des Zimmers zurück.
Jetzt trat ich vor und ersuchte die Französin, mir den Hergang der gestrigen Affaire im Stift der Frau von S. ganz genau zu schildern was sie auch ziemlich übereinstimmend mit dem von der Angeklagten bereits Gesagten that.
Darauf fragte ich: „Sie leben in guten Geldverhältnissen, mein Fräulein?“
„Oh, oui, monsieur, ick ’aben pour l’année fünfhundert Thaler.“
„Und können Sie alle Ihre Ausgaben davon bestreiten?“
„Ah, sickerlich!“ rief sie lebhaft aus.
„Also fehlt Ihnen niemals Geld?“
„Non, jamais.“
„Und dennoch behauptet die hier anwesende Frau Majorin A., Ihnen im October dieses Jahres fünfzig Thaler geliehen zu haben. Ist es so?“
„Madame A.? gewiß – ah, c’est vrai – gewiß, darauf ’aben ick ganz vergessen,“ sagte sie nach einigem Nachdenken mit erzwungenem Lachen.
„Sie brachten der Dame in der letzten Woche davon dreißig Thaler zurück?“
„Oui – gewiß, trente écus,“ erwiderte sie etwas kleinlaut.
„Hatten Sie inzwischen denn besondere Einnahmen gehabt, so daß Sie im Stande waren, Ihre Schuld zu tilgen, noch bevor Sie das Vierteljahrs-Gehalt bekamen?“
„Ah, sickerlich! Ick ’aben erhalten ein présent von hondert écus von eine Freundin.“
„Und wo befindet sich diese Freundin?“ forschte ich weiter.
„Meine Freundin? ah oui – gewiß, diese Dame ist – à Cassel;“ versetzte sie in einiger Verlegenheit.
„In Cassel also; nun, da sind Sie wohl so gut, die genaue Adresse Ihrer Freundin anzugeben?“ sagte ich, ein Blatt Papier zurechtlegend, mit der Feder in der Hand.
„Mais à quoi? – aber warum, monsieur?“ forschte sie, ängstlich auf mich zu tretend.
„Nun, damit ich sogleich telegraphisch bei der Dame anfragen kann, ob sich die Sache auch so verhält,“ antwortete ich kühl.
Entsetzt starrte sie mich an und stotterte: „L’adresse – oh, mon dieu! Ick nicht weiß gewiß, ob diese Dame sich befinden noch à Cassel …“
„Wenn aber Ihre Freundin Ihnen ein so reiches Geldgeschenk sendet, so werden Sie ihr doch gewiß dafür brieflich Dank sagen und müssen die Adresse wissen,“ warf ich ein, sie scharf fixirend.
„Oh, mon dieu – mon dieu, quel malheur!“ rief sie aus, die Hände vor’s Gesicht schlagend.
Ich trat hart an sie heran und sagte strenge: „Mein Fräulein, ich sehe kein so großes Unglück für Sie darin, mir die Adresse Ihrer Freundin zu sagen; wenn dieselbe irgendwo existirt, so würden Sie durch eine Anfrage bei derselben vielleicht bald dieses peinlichen Verhöres ledig; indessen,“ fügte ich mit erhobener Stimme hinzu, „fürchte ich, diese Freundin existirt überhaupt – nicht, und es regt sich der Verdacht in mir, als haben Sie das Geld von Niemand zum Geschenk erhalten, [871] sondern haben es Jemand – entwendet. Wahrscheinlich ist nicht Fräulein B. die Diebin, sondern Sie …“
Jedes meiner Worte traf die Französin wie ein Keulenschlag; sie fiel auf einen Stuhl und krümmte und wand sich, wie in großen Schmerzen, dabei ausrufend: „Oh non, non, ick ’aben nichts – oh mon dieu, mon dieu, sauvez-moi, retten mick, retten mick!“
Ich war jetzt vollständig überzeugt, daß nur sie die Diebin war, glaubte sogar, daß sie das Geld noch bei sich führte, zumal mir der sie begleitende Beamte zugeflüstert, daß sie unterwegs in ein Haus getreten sei, vorgeblich um ein Band fester zu schürzen. So ließ ich sie denn ohne Säumen, trotz ihres hysterischen Schluchzens, von G. zur Untersuchung abführen, und nach Verlauf einer halben Stunde brachte mir derselbe triumphirend den gezeichneten Fünfundzwanzigthalerschein der Frau von S., welchen die Französin im Strumpf bei sich versteckt hatte; das alte Original flüsterte mir mit schmunzelndem Lächeln zu: „Von die hat de Müller’n noch jenug Schererei schabt, Herr Comm’ssar. Det scheint mich ’ne ‚Feine‘ zu sein.“
Somit war die Französin vollständig des Diebstahls überführt, den sie denn auch offen eingestand. Sie sagte zu ihrer Entschuldigung, daß sie durch die fortgesetzten beträchtlichen Unterstützungen an ihren verschwenderischen, doch glühend von ihr geliebten Vetter in Genf fast vollständig von allen Mitteln entblößt und auf den wahnsinnigen Gedanken gekommen sei, sich durch einen Griff in die Casse der Oberin zu helfen, welche That ihr dadurch erleichtert sei, daß die Dame einige Male größere Summen im Portemonnaie bei sich geführt.
Ehe die Französin zur Haft gebracht wurde, machte sie den Versuch, Fräulein B. um Verzeihung zu bitten; doch diese wies sie mit den Worten ernst von sich: „Ich werde mich bemühen, Sie und die bitteren Stunden, die Sie mir bereitet, zu vergessen.“ Die Augen mit den Händen bedeckend, verließ die R., vollständig gebrochen, das Zimmer.
Wer aber nahm von der unschuldigen Margot das beschämende Gefühl, für eine Diebin gegolten zu haben? Wer entschädigte sie für die Qualen, die sie gelitten? Wer löschte die bittere Erinnerung aus ihrem jungen Herzen: „Du hast eine Nacht im Gefängniß gesessen“? Niemand.
Während der letzten Vorgänge war die Oberin von S. angelangt, welche, durch die Verhaftung ihrer Lehrerin sehr erschreckt, in großer Aufregung deren Entfernung zur Haft beiwohnte. Die alte Dame war ganz außer sich über das Geschehene, schalt sich selbst ob ihres falschen Verdachtes und bat Fräulein B. herzlich um Vergebung. Das tief gekränkte Mädchen vermochte indessen nicht viel zu sprechen und sagte nur mit sanfter Stimme:
„Ich zürne Ihnen nicht, Frau Oberin. Sie konnten nicht anders handeln. In der Ferne werde ich das Erlebte vergessen lernen.“
„So leben Sie wohl!“ erwiderte Frau von S., ihr die Hand reichend, „und verzeihen Sie mir, wenn Sie können! Der Schein trügt ja so oft. Habe ich doch auch noch die traurige Erfahrung gemacht, von derjenigen betrogen zu sein, der ich mein ganzes Vertrauen schenkte.“
Margot lächelte schwach mit stummen Lippen, und die alte Dame empfahl sich still und betrübt.
An der Thüröffnung aber erschien jetzt eine hohe, kräftige Männergestalt und begrüßte die Angeklagte mit den Worten: „Meine arme unschuldige Margot!“ Sie stürzte sich laut schluchzend in die Arme, die sich ihr entgegenstreckten. Ich aber wußte nun, welche Macht die geschlagenen Wunden heilen werde – die der Liebe.
Es war eine stille, heilige Minute für die drei Menschen. Ich alter Knabe, der ich in den langen Jahren einer düstern Thätigkeit doch bereits den ergreifendsten und haarsträubendsten Scenen beigewohnt hatte und daher nicht leicht zu rühren bin, mußte eine Thräne im Auge zerdrücken, als ich das arme bleiche Mädchenbild anschaute.
Die guten Menschen beeilten sich, mir für die Freundlichkeit gegen die unschuldig Angeklagte zu danken, und kehrten dem traurigen Orte den Rücken, um draußen in der Freiheit aufzuathmen.
Als mein alter G. die Leute hinausgeleitet hatte; steckte er noch einmal seinen weißen Kopf durch die Thürspalte und sagte: „Ja, ja, Herr Comm’ssar, so kann Eener sich noch uff seine ollen Dage irren. Wie der Schein oft trügt! Nu jammert mir det junge Ding, dat des so unschuldig ’ne Nacht in solch olles Ratzenloch hat zubringen müssen. Aber den andern schwarzäugigen Satan wollen wir det schonst besorjen. Na, der Herr Staatsanwalt fackelt ja nich … sonst mit die muß sich Eener in Acht nehmen, denn det scheint mich, wie jesagt, ’ne ‚Feine‘ zu sind. – Na, weiter befehlen der Herr Comm’ssar woll für’n Ogenblick nichts?!“ – –
Unter den täglich wechselnden neuen Ereignissen kam mir das kleine Erlebniß mit der schönen Margot bald aus dem Sinne, und ich wurde erst wieder lebhaft daran erinnert, als mir am ersten Tage des neuen Jahres ein zierliches Briefchen mit dem Poststempel „Genf“ überbracht wurde, in welchem mir die vormalige Angeklagte nochmals ihren Dank aussprach und mir zugleich mittheilte, daß sie nach ihrer Entlassung sofort zu ihren Eltern gereist, wohin ihr der Bräutigam nach kurzer Frist gefolgt sei, nachdem er in Berlin seine Verbindlichkeiten gelöst habe. – Weiter las ich, daß der erste Weihnachtstag sie zur glücklichen Frau gemacht und sie sich jetzt auf dem Wege nach London befinde, woselbst ihr Gatte eine glänzende Stellung erhalten habe.
So prophezeite ich damals richtig, daß die Liebe der Balsam für Margot’s Wunden sein werde.
Die beklagenswerthe Französin büßte ihren Leichtsinn durch eine neunmonatliche Haft; sie fühlt ihr Unglück noch viel härter, seit sie weiß, daß der verschwenderische Vetter, für den sie zur Verbrecherin wurde, mit der leichtfertigen Frau eines reichen Banquiers aus Genf entflohen ist und sich nach Amerika eingeschifft hat, nachdem er sich in einem Briefe gänzlich von der früheren Geliebten losgesagt.