Aus Graubünden
Aus Graubünden.
Wenn der Sommer naht, dann rüstet sich die fashionable, lebensmüde und weltschmerzkranke Welt zur Reise, um bald in den Bädern den Salon-, Börsen-, Bureau- und Comptoirstaub abzuspülen, bald in der einfachen, großartigen Natur die Gebilde menschlicher und gesellschaftlicher Uebercultur auf einige Wochen zu vergessen. Doch dies ist nicht so leicht, als man glaubt, denn überall, wohin der Strom der Reisenden sich wälzt, folgt ihm auch jener blasirte Comfort, und macht sich in wohl eingerichteten Hotels und bengelhaften Kellnern breit. So ist es gekommen, daß viele Routen der Schweiz dem Naturfreunde nachgerade ganz verleidet worden sind, jene „Gänsestriche“ nach Karl Vogt, auf denen während der Reisezeit die Schaar der Touristen sich bewegt, immer denselben Weg einschlagend und verfolgend, bis der „rothe Baedeker“ in der Hand ihnen zuruft: „Nun ist’s Zeit zu halten, hier muß Das und Jenes bewundert werden“, und Alle auch gut gedrillt wie auf Commando ihren Empfindungen im bewundernden Ach und O Ausdruck geben. Ziehe nur, lieber Leser, außer mancher ähnlichen Route, von Altorf das Reußthal bis Andermatt hinauf, dann über die Furka, den Rhonegletscher, die Grimsel nach dem Haslithale, und bald wird es Dir an den überfüllten, durch telegraphische Depesche bestellten Zimmern der Hotels, ihren in mehreren Sprachen conversirenden Kellnern, den unverschämten Gasthofsrechnungen, den an verschiedenen Punkten aufgestellten, den Kuhreihen blasenden Schweizerbengeln und dem für jede Kleinigkeit unverschämt forderndem Gesindel zur Genüge klar werden, daß Du auf einen „Gänsestrich“ gerathen bist. Du hast nicht nöthig, Dir irgend eine Notiz zu machen und so den Naturgenuß noch mehr abzublassen, gib Dich ihm ganz hin, wenn Du es vermagst, jedes Jahr wird Deine Reise mit allen ihren Einzelnheiten von so und so viel Touristen beschrieben, in der ersten besten Buchhandlung kannst Du sie sammt allen Empfindungen und Eindrücken für wenige Groschen erhalten.
Willst Du aber auf einige Zeit der „Gesellschaft und ihrem Treiben“ den Rücken kehren, Dich dem unverfälschten Naturgenusse ungestört hingeben, die Alpenwelt in ihrer ganzen Herrlichkeit und Erhabenheit genießen, ihre Bewohner in ureigner Einfachheit und Sitte kennen und lieben lernen, so vermeide alle jene Gänsestriche, gehe [206] besonders nach Graubünden, der Südostschweiz, dringe in die Alpenthäler ein und Du wirst Freude an Land und Leuten haben. Mit Ausnahme der Splügenstraße durch die Via mala wird dieser Canton vom Touristenschwarme bis jetzt nur wenig berührt, selbst in dem Engadin finden sich noch verhältnißmäßig wenig Fremde, darum ist auch noch Alles natürlich und frisch, von Uebercultur unberührt. Willst Du aber in Graubünden eindringen, so laß Dich vom ältesten, erfahrensten und berühmtesten aller Schweizerführer, dem – Rheine leiten, er versteht es, Dich wie über lachende Wiesen und fruchtbare Thalgründe, auch zu grausigen Schluchten und jähen Felsenwänden und Abgründen zu führen, Keiner ist wie er so tief in die erhabene Bergwelt eingedrungen.
Je weiter man im Rheinthale stromaufwärts vorschreitet, immer schöner und malerischer, immer großartiger wird es, bis endlich Graubündens alte Hauptstadt, Chur, vor uns, und das in neuester Zeit so oft genannte untergangbedrohte Felsberg in größter Nähe liegt. Nicht fern von Felsberg verbinden sich die beiden Rheine, der vordere, aus Westen kommend, mit dem ihm aus Süden im rechten Winkel zuströmenden Hinterrhein. Ihm wenden wir uns zu, und betreten eine Gegend, die im reichen Wechsel vom Lieblichen zum Großartigen und Erhabenen, bis endlich zum Wilden und Schauerlichen fortschreitet, und von keiner andern der ganzen Schweiz übertroffen wird. Wir sind im Domleschgthal. Zu beiden Seiten des Hinterrheins fallen die Berge steil ab, tannendüstere Bergabhänge und grüne Matten, zerrissene Felswände und sanfte Wiesengründe, hochragende in ewigem Schnee schimmernde Bergriesen und saatenumwallte Hügelreihen, wettergraue Burgtrümmern und weißleuchtende Kapellchen, freundliche Dörfer und wolkenumkreiste Sennhütten, kurz die reichste Fülle der entzückendsten Gegensätze umgibt uns.
So gelangt man bis Thusis. Dicht hinter diesem von Feuerflammen und Wasserfluthen wiederholt heimgesuchten Städtchen öffnet sich der Eingang zu der wildromantischen Via mala. Schon der erste Anblick ist gewaltig und vielverheißend. kaum daß man zwischen dem Johannisstein und der Carpteig die Via mala betreten hat, und schon findet man sich in eine schauerliche Gebirgsklause eingezwängt. Mit jedem Schritte wachsen die Felswände himmelanstrebender, mit jeder Windung wird die Kluft tiefer, in welcher der Rhein den Ausgang zu erkämpfen strebt, mit jedem neuen Aufsteigen rücken die verwitterten, moosbehangenen Felswände näher zusammen. Mit den Wurzeln krampfhaft in die Spalten der Felsen sich einklammernd hängen schwere, schwarze Bäume über den Abgrund hinaus, häufig halb erstorben, weil sie Jahrhunderte in diese Wildniß gebannt waren, ohne daß Menschenhand sie zu fällen vermochte. Bald liegen sie, vom Orkane oder der Lawine entwurzelt, gleich Schlagbäumen von einem Steinbrocken zum andern hinüber, den Ausdruck des Unheimlichen und Grausenhaften nur noch erhöhend, bald aber auch stehen sie, von vorragenden Felsen geschützt, in voller Kraft und der schönsten Entwicklung ihres Geästes, während dicht daneben sich andere unter unsäglicher Mühe im Sturme und Wetter emporgearbeitet haben. Siehe, wie zackig, knorrig und gedrungen sie sind, ihr Leib ist eisenhart und zäh durch und durch, gleichwie man es in einem Leben von Sturm und Ungemach wird. Da steht ein Stamm stolz und kerzengerad aufgerichtet, aber alle seine Zweige reichen in spitzem Winkel zum Boden, gleich ob eine Riesenfaust den Stamm oben am Gipfel umkrallt und, herunterfahrend, alle Aeste abwärts gerissen und gebogen hätte. Der Winter that’s mit seinen Eis- und Schneelasten. Andere Stämme konnten nicht widerstehen; gleich den vom Orkan auf die Seite geworfenen Masten eines Schiffes ziehen sie sich in schräger Richtung mit zum Theil aus dem Moosgrunde gerissenen Wurzeln längs des Bodens, während andere gänzlich niedergeschmettert auf dem Grunde liegen, und ihre noch immer grünen Zweige wie hülfeflehend emporstrecken; noch andere aber zu jammervollen, unheimlichen, cretinenartigen Mißgestalten verwachsen und verkrüppelt, kaum noch erkennen lassen, was sie sein könnten. Ja, hier und da erblickt das Auge einen längst gestorbenen Baum, dessen gebleichtes Gebein aus den grünen Reihen der lebenden herausblickt, oder der von oben bis unten in graue langwallende Flechtenzotten gehüllt, den Wanderer unwillkülich an den riesigen Geist der Berge erinnert.
Zwei Baumarten sind es besonders, welche die Hochflächen und Abhänge der Felsen bedecken, und die oft bis zu einer Höhe von 7000 Fuß ansteigen, die Lärche und die Arve. Jene mit ihrem helleren Grün und der reichen und zarteren Färbung ihrer Nadelbüschel und den schön geschwungenen Bogenlinien ihrer Aeste sticht anmuthig ab gegen die dunklere Farbe der Arvennadeln. Dick, knollenartig, aufwärts gekrümmt und in compacten Klumpen sitzen sie an den von Flechtenzotten behangenem Geäst. Unter welchen Mühen und Beschwerden aber der Segen der Wälder oft nur gewonnen werden kann, dies zeigt unsere beifolgende Abbildung. Sie versetzt uns in die mehrerwähnte Via mala. Die steilen Bergabhänge gestatten dem Holzschläger nicht, das auf den Höhen wachsende Holz langsam und sicher zu Thale zu fördern. Wollte er es die jähen Felswände herabstürzen, dann wäre es der menschlichen Benutzung auf immer entzogen, es würde in den unzugänglichen Schluchten faulen und verwittern, an den spitzen, scharfen Felsenkanten im Fallen zerbersten. Da mußte der Mensch auf andere Mittel sinnen, um dennoch zu seinem Nutzen die Alpenschätze auszubeuten.
Die steilen Abhänge erklimmend, errichtet man, an Ort und Stelle angekommen, eine Vorrichtung, wie sie unsere Abbildung vorführt. Ein Flaschenzug reicht vom Abhange bis zur sichern Straße, zwischen ihm läuft ein starkes Seil, an welchem der Stamm über den Abgrund hinweg bis zu jener Stelle rollt, wo er verladen werden soll. Beide Endpunkte sind hier 900 Fuß von einander entfernt, gleichwohl überwindet der Mensch alle Schwierigkeiten und läßt sein Bau- und Brennholz, sowie die im Walde gebrannten Kohlen diesen merkwürdigen Weg passiren, während unter ihm, im fast unermeßlich tiefen Grunde der Rhein dahin tobt. Aber welch’ wilder Geselle ist er hier unfern seiner Geburtsstätte! Hat man ihn nur in Deutschland gesehen, wie er blaugrün, klar und durchsichtig dahin fluthet, ein Bild der Kraft, Besonnenheit und ernsten Männlichkeit, so kennt man ihn hier nicht mehr. Durch das schauerliche Felsenlabyrinth der Via mala windet er sich in den wunderlichsten Sprüngen und in unzugänglichen Tiefen. Zwischen Felsmauern eingekerkert will er sein Gefängniß sprengen. Aus der Tiefe herauf vernimmt man sein Tosen und Kämpfen, wie er sich herauszuarbeiten bemüht ist. Schroff fallen die Felswände ab, im Laufe der Jahrtausende hat der wilde Bergstrom den Felsen unterwühlt, bis dieser nachstürzte. Da blieb dem Menschen keine Bahn, er mußte die Berge durchbrechen und sich einen Weg bahnen, von einem Ufer zum andern aber Brücken über die schauerlichsten Abgründe schlagen. Doch der Rhein zürnte dem Gebilde der Menschenhand, jene Brücken, in den Jahren 1738 und 39 erbaut, wurden ein Jahrhundert später, den 27. August 1834 in Folge eines Wolkenbruches fast zerstört. So außerordentlich tief auch der Rhein hier fließt – man kann bequem vierzehn Pulsschläge zählen, ehe ein hinabgeworfener Stein ins Wasser schlägt – seine Fluthen schwollen damals bis an den Bogen der Brücke. Nimmt er aber bei Thusis erst die Nolla, jenes aus einem Seitenthale zufließende schwarze Ungethüm auf, so verändern sich, trotz seines Sträubens, seine bisher reinen Fluthen in eine widrige, trübe, tintengleiche Masse, so daß man kaum glauben kann, wie plötzlich dieser schöne Alpensohn verwandelt werden konnte. Und so geht es fort bis zum Bodensee, in ihm läutert er sich, rein und in blaugrüner Farbe geht er aus ihm hervor, ein Bild des nach tollen Jugendstreichen geläuterten kräftigen Mannes.