Anapa
Ein eigenthümliches Gefühl ergreift den Menschen immer, wenn er an den Markscheiden großer Staaten steht. Die Natur, die sich fast immer in unbemerkbaren Uebergängen ergeht, hat an solchen Stellen in den wenigsten Fällen wahrnehmbare Trennungen markirt, allein der Geist des Menschen gefällt sich zumeist darin, Schranken, wären es auch nur ideale, zu errichten, ein Hüben und Drüben zu ersinnen, mit welchem er irgend eine Idee verknüpft. Wer z. B. am Rhein in Kehl stand und hinüber blickte nach den Thürmen Straßburgs, wird dies sicherlich empfunden haben.
Noch weit lebhafter wird dieser Ideengang da sein, wo zwei Erdtheile sich scheiden. Eilt man aus dem russischen Gouvernement Taurien an der östlichen Seite des Asow’schen Meeres herab dem schwarzen Meere zu, so stößt man auf den, sein Wasser den höchsten Gipfeln des Kaukasus verdankenden Kuban. Du stehst in Europa, vor Dir liegt Asien! Wie viele Gegensätze mögen sich Dir hier aufdrängen?! Europa und Asien! Civilisation und träger Stumpfsinn, Fortschritt und Stillstand, Freiheit und Despotie, das Alles trennt wohl hier der Mensch in Gedanken von einander, selbst wenn vielleicht, angesichts des Schauplatzes, wo Russen und Kaukasier sich blutig bekämpfen, eine andere Saite in seiner Brust mit berührt würde.
Die erste Stadt, vom Kuban aus, auf der asiatischen Küste des schwarzen Meeres ist Anapa, das im Verlaufe des seit einem Jahre spielenden Krieges häufig genannt worden ist. Anapa, auf einem Vorsprunge des Gebirges Kysilkaja gelegen, ist die stärkste jener zahlreichen Küstenfestungen, durch welche Rußland bis vor Kurzem die Völker des Kaukasus vom Meere abzusperren versuchte.
Unter seinen 8000 Einwohnern befinden sich viele wohlhabende Kaufleute, die einen besonders wichtigen Handel mit den Bergvölkern treiben. Aus dieser merkantilen Bedeutung Anapa’s entspringt für die russische Regierung zugleich eine politische, welche auf die scheinbar gutwillige Anerkennung der russischen Herrschaft Seitens der anwohnenden Stämme hinausläuft, immer aber, wie der Verlauf der Dinge gezeigt hat, auf übertriebener Täuschung beruhte.
Von Anapa bis zum Fort St. Nikolas an der türkischen Grenze befanden sich sämmtliche russische Festungen, und ihre Zahl war nicht klein, in gleicher Lage, mochten nun die kaiserlichen Gouverneure die Eroberung der Bergländer mit Güte oder Gewalt versuchen. Innerhalb der Festungsmauern sah sich der Russe in Sicherheit, hart unter den Außenwällen begann jedoch schon die Gefahr und ohne starke Bedeckung sich hinausbegeben, hieß stets das Leben auf’s Spiel setzen. So fand zu keiner Zeit zwischen den russischen Forts ein Verkehr zu Lande statt, sondern immer nur war die Verbindung auf den Wasserpfad beschränkt. Bezüglich des Treibens der Kaukasier können wir anhierbei mit dem Hinweis auf den jüngst in Nr. 41 der Gartenlaube enthaltenen Artikel „Am Kaukasus“ beschränken, und fügen nur hinzu, daß die Bergvölker die für sie so kostbaren Handelsartikel „Pulver und Blei“, welche ihnen natürlich die Russen nie lieferten, trotz aller Forts vom Meere her zu beziehen wußten, indem die von Trebisonde kommenden türkischen Schiffe meist der Wachsamkeit der russischen Kreuzer entgingen.
Als die Russen im Mai und Juni d. J. die gegen etwaige Angriffe der englisch-französischen Flotte unhaltbar gewordenen Forts aufgaben, nahmen die Kaukasier, soweit die Werke nicht gänzlicher Zerstörung preisgegeben worden, von ihnen Besitz, und zum ersten Male seit vielen Jahren wurde ihnen wieder das köstliche „Pulver und Blei“ frei und offen zugeführt. Der englische Admiral Lyons, der um diese Zeit mehrere Zusammenkünfte mit den Tscherkessenhäuptlingen an der Küste hatte, schenkte ihnen allein eines Tages [518] 18,000 Stück Patronen, die von einer einige Stunden vorher aufgebrachten russischen Prise herrührten. Anstatt durch die Russen wurden die Patronen nun gegen die Russen verschossen.
Das besser als alle übrigen Punkte befestigte und auch mit einem guten Hafen versehene Anapa wurde von den Russen nicht der Zerstörung geweiht, vermuthlich weil, wenn auch die Besatzung durch einen Seeangriff in größere Bedrängniß gerathen sollte, und der Ort unhaltbar würde, der Rückzug zu Lande leicht zu bewerkstelligen wäre. Bis zur Stunde haben die Verbündeten Anapa unbelästigt gelassen, doch scheinen nach neuesten Nachrichten die Russen auf einen Besuch gefaßt zu sein, der auch, seitdem die Anglo-Franzosen in der Krim festen Fuß gefaßt haben, wahrscheinlich genug geworden ist.
Das Schicksal, das in diesem Falle Anapa bevorsteht, würde ein ihm oft schon widerfahrenes sein, denn in den verschiedenen russisch-türkischen Kriegen wurde es von den Russen fast jedes Mal zerstört. Im Jahre 1828 eroberte eine von Sebastopol aus abgesegelte russische Flotille den Ort, der, sowie die ganze Küste bis zum Fort St. Nikolas hinab in den später folgenden Frieden von der Pforte an Rußland abgetreten wurde.