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Abschiedsschreiben

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Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Seume
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Titel: Abschiedsschreiben
Untertitel: Meinem Freunde von M. ...
aus: Neue Thalia. 1792–93.
1792, Zweyter Band,
S. 40–51
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1792
Verlag: Georg Joachim Göschen Verlagsbuchhandlung
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: UB Bielefeld bzw. Scans auf Commons
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[40]
7.
Abschiedsschreiben.
Meinem Freunde von M. ...


Nimm meinen Kuß im Geist an deinem Rheine,
Und denke bey den Bechern deutscher Weine
An einen deutschen Biedermann,
Den an Neuschottlands westlichem Gestade

5
Im Labyrinthe menschenleerer Pfade

Einst deine Seele lieb gewann.

Erinnre dich, wie bey dem kleinen Male
Wir auf dem Steine lagen, und die Schale
Des Kieselbaches in der Hand,

10
Uns über Stollbergs Liede Freundschaft schwuren,

Und wie uns Schauer durch die Seele fuhren
Bey Freundschaft und bey Vaterland.

[41]

Erinnre dich, wie Arm in Arm wir giengen,
Und an dem Blick der Abendsonne hiengen,

15
Die bey Neufundland niedersank,

Und wie wir auf den Adlerbergen saßen,
Und in der Dämmrung Klopstocks Hermann lasen
Auf einer Felsenbank.

Erinnre dich, wie in der wilden Zone

20
Uns nach der Jagd ein freundlicher Hurone

Mit Edelmuth entgegen kam,
Und uns in ächter Urbewohner Sitte
Mit Ungestüm in die berauchte Hütte
Und brüderlich zu Tische nahm.

25
Hah, kannst du je das Patriarchenessen

Und unsers Wirthes Jubellied vergessen,
Der froh wie Gott uns Gutes gab:
So führe mit dem Gängelband der Mode
Der Parze Hand nach einem Stutzertode

30
Dich rächend in ein Marmorgrab.

[42]

Nein, Freund, gewiß durchirrst du noch im Bilde
Die Berge, wo der gute wackre Wilde
So oft an unsrer Seite stand,
Und, Hohn der Tiber und Minervens Hügel,

35
Auf seiner Stirne wahrer Größe Siegel,

So groß als je ein Mann, empfand.

Erinnre dich, wie in des Nordlichts Gluten
Oft unsre kleine Barke durch die Fluten
Mit zittern an das Ufer stieg;

40
Und wie wir dann, wenn hoch die Wogen drangen,

Ein Lied von Fingal durch die Wogen sangen,
Von Geistern, Harfen, Schlacht und Sieg.

Hier sitz ich, Freund, in meiner Jugend Haine
Und schreibe dir auf einem grauen Steine

45
Vielleicht das letzte, letzte Wort;

Zum zweitenmahle greif ich nach dem Staabe,
Und pilgere mit meiner leichten Haabe
Vielleicht auf ewig fort.

[43]

Das Vaterland bedarf nicht meiner Kräfte,

50
Hat Männer gnug für Aemter und Geschäfte,

Und schenkt mir gerne meine Pflicht;
Ich habe von den vielen fetten Gauen
Auch keinen Fuß, mir meinen Kohl zu bauen
Zu einem ländlichen Gericht.

55
Obgleich auf keinem Acker eine Aehre

Mit ihres Seegens schöner goldner Schwere
Mir dankbar in die Sichel sinkt;
Obgleich von keinem jungen Zöglingsbaume
Mit ihrem Purpur eine Mohrenpflaume

60
Mir Durstigen zum Brechen winkt:


So sitz ich doch mit schaurigem Gefühle
Und sehe hier in Schwermuth dem Gespiele
Der Wellen unsrer Elster zu,
Und werfe langsam meine düstern Blicke

65
Noch einmahl auf die Knabenwelt zurücke,

Und ihrer Jahre stille Ruh.

[44]

Bald gellt vielleicht mit schwerem Eisentone
Bellone von des Nordens rauher Zone
Auch mir noch einen Schlachtgesang,

70
Der jüngst von Felsenfuß der Pyrenäen

Bis an des Samogeten Winterseen
In grellen Noten wiederklang.

Dann, Freund, wenn ich an dem beeißten Norden
Vielleicht mit Schaaren unbekannter Horden

75
In fremde wilde Kriege zieh,

Und wenn ich am kaukasischen Gebürge
Mich auf den Tod mit Ghenkis Enkeln würge,
Vergiß des Busenbruders nie.

Und wenn von einem Männerarm geschwungen

80
Ein Türkenstahl mir durch das Hirn gedrungen,

Und du den Todesboten hörst,
So setze dich zu einem Trauermahle,
Und singe mir bey unsrer Bundesschale
Ein Lied, mit dem du Helden ehrst.

[45]
85
Jetzt lebe wohl, und höre von dem Freunde,

Als ob er scheidend dir im Arme weinte,
Ein Wort, das seine Seele spricht;
Nicht ob ich deiner Seele Werth verkennte,
Doch nimm mein Herz in meinem Testamente,

90
Denn Gold und Silber hab ich nicht.


Sey immer Mann, und groß durch eigne Kräfte,
Und überlaß nie andern ein Geschäfte,
Das du noch selbst zu enden magst;
Sey Harmonie in Wort und That, und weiche

95
Kein Haarbreit, stark wie eine Königseiche;

Und felsenfest sey, was du sagst.

Sey wie ein Gott im Wohlthun auf der Erde,
Und gieb der Armuth froh von deinem Heerde;
Und tröste warm des Kummers Sohn;

100
So wird man mit Entzücken dir begegnen,

Und dich, wie Kinder ihren Vater, segnen,
Der Menschheit schönster Lohn.

[46]

Sey Freund von allen; aber lange sichte
Und prüfe scharf und faß in jedem Lichte,

105
Und blicke tief bis auf den Grund

Dem Manne, dem du in die Arme sinkest;
Denn wisse, wenn du Gift statt Heilung trinkest,
So bleibt dein Herz auf ewig wund.

Trau nicht den Menschen; dicker Firnis decket

110
Die wahre Farbe, welche tief verstecket

Sich selten, in der Leidenschaft nur zeigt:
Verachte stolz den stolzen goldnen Thoren,
Doch mehr noch jenen, der mit leisen Ohren
Sich bis zum Gürtel schmeichelnd beugt.

115
Stets handle fest nach männlichen Gesetzen;

Die du dir schriebst, und eines zu verletzen
Sey Hochverrath an der Vernunft:
Trägst du Zufriedenheit in deiner Seele,
So ist dein Glück für Menschen groß, so quäle

120
Dich nicht um Beyfall einer Zunft.

[47]

Mißtraue jedem Lobe, jedem Tadel,
Und prüfe strenge jeder Handlung Adel,
Für die man ein Diplom begehrt;
Doch wage nicht mit alten Ketzerflammen

125
Den Mann, den man verdammet, zu verdammen,

Denn Gott nur kennet seinen Werth.

Durchwandle froh mit deinem Freund die Auen,
Doch wag es nicht, auf ihn dein Glück zu bauen;
Wer ist der Mensch, für den du bürgst?

130
Steh selbst, und suche die Vernunft zu rächen,

Damit du nicht, wenn fremde Säulen brechen,
Des Lebens Ruh auf immer würgst.

Flieh vor dem Weibe, Freund; in ihren Netzen
Ist erst Berauschung und sodann Entsetzen;

135
Und in der ganzen Schöpfung liegt

Kein Wesen, das mit allen Engelgaben,
An denen sich die blinden Opfer laben,
Am Ende grausamer betrügt.

[48]

Und wenn ein Weib dir mit verklärten Blicken

140
Ein hohes paradisisches Entzücken

Durch deine trunkne Seele bebt;
Und wenn sie dich aus deiner Erdenhülle
Mit ihres Zaubers süßer Nektarfülle
Zu einem Gott erhebt;

145
Freund, wehe dir, wenn du im Hochgenusse

Der Schönheit blind zu einem Götterkusse
Dem Engel in den Arm dich wirfst,
Und tief, gleich Libers schwerberauschten Zechern,
Der Wollust Taumel aus gekrönten Bechern

150
Zum göttlichen Geheimniß schlürfst.


Das Feuer, das dein Wesen heute nähret,
Wird morgen Glut und wüthet und verzehret
Die kleine Stütze deines Glücks:
Es quält dich Angst, und jagt dich auf und nieder;

155
Du siehst Verrath in jedem deiner Brüder,

Und in der Richtung jedes Blicks.

[49]

Du irrest nicht; des Mädchens Flamme währet,
Bis Lunens Hochlicht zweymahl wiederkehret;
Dann sucht sie neuen Zeitvertreib,

160
Und kann mit deinen heiligsten Gefühlen

Mit deinem Leben, wie mit Würfeln, spielen:
Gebrechlichkeit, dein Nahm’ ist Weib!

Verzeih mir, Freund, wenn meine bittre Klagen
Der Schöpfung Meisterstück so kühn zu richten wagen;

165
Gieb nie, gieb nie dein ganzes Herz;

Laß nie dein ganzes Ich in Liebe weben,
Versuche nie zum Gott empor zu schweben,
Und du entgehst betrogner Hoffnung Schmerz.

Freund, hoffe nichts, und fürchte nichts auf Erden

170
Mit Leidenschaft, und du wirst glücklich werden.

So glücklich, als es Menschen sind:
Denn Glück, unwandelbar und ungestöhret,
Das selbst der Neid mit stummer Achtung ehret,
Blüht für kein Menschenkind.

[50]
175
Durchblicke kühn die alte graue Decke

Der Vorurtheile; rufe laut und wecke
Den Nebenwandler aus dem Traum;
Doch stöhrtest du ihm seine gute Reise,
Und rücktest ihn gewaltsam aus dem Gleise,

180
So gieb der alten Weise Raum.


Durchkrieche nicht der Schulen Winkelzüge
Um aufgeblähter Weisheit Federsiege,
Die schnell die Skepse dir verwischt:
Erforsche nur, um gut und froh zu leben

185
Und deinen Musenstunden Salz zu geben,

Und lache, wenn der Tadler zischt.

Freund, lebe wohl, und ruf in deine Seele
Oft See und Fluß und Wald und Fels und Höle
Zurück, durch die wir Arm in Arm

190
Oft zu den guten biedern Wilden schlichen;

Und ist das schöne Bild von dir gewichen,
So strafe dich der Thoren Schwarm.

[51]

Freund, hoffe, daß des Weltenhalters Wage
Uns noch am Abend unsern Rest der Tage

195
In einer Hütte wägen wird;

Daß noch der Schatten eines Baums uns decken,
Noch ein Gesang der Nachtigall wird wecken,
Wenn wir genug umher geirrt.

Nimm meinen Kuß im Geist an deinem Rheine;

200
Und denke bey den Bechern deutscher Weine

An einen deutschen Biedermann,
Den an Neufundlands westlichem Gestade
Im Labyrinthe menschenleerer Pfade
Einst deine Seele lieb gewann.

Seume.